ich kann es Ihnen nicht ersparen, wieder einmal meldungen wie die folgende zur kenntnis nehmen zu müssen:
"Schwere Misshandlungen durch die eigene Mutter: In Köln hat eine Frau ihr fünf Monate altes Baby lebensgefährlich verletzt, indem es den Jungen gegen eine Zimmerwand warf. Im baden-württembergischen Eppingen entpuppte sich ein angeblicher Unfall als Kindstötung."
in früheren beiträgen findet sich mehr zum thema (eine auswahl, regelmäßige leserInnen hier werden sich an vieles weitere erinnern) : eins, zwei, drei, vier
dazu möchte ich auf ein interview aufmerksam machen, in dem der präsident des deutschen kinderschutzbundes, heinz hilgers, eine art zwischenfazit zur infantizidalen situation in diesem land zieht. auszüge:
"Zum Rückblick auf das Jahr 2005 gehört leider hierzulande auch, gehören auch die dramatischen Fälle von Kindesmisshandlungen, die die Öffentlichkeit erschütterten in diesem Jahr. Es waren besonders grausame Geschehnisse: Vernachlässigung oder Misshandlungen, die tödlich endeten. Im Fall der Jessica aus Hamburg wurden die Eltern wegen Mordes verurteilt. Nur die Spitze eines Eisberges, sagen Kinderschutzorganisationen. Und in dieses Bild scheint ein Bericht der Zeitung "Die Welt" zu passen, die heute aus bisher unveröffentlichten Statistiken des Bundeskriminalamtes zitiert. Danach sind die Fälle von Kindesmisshandlungen seit 1996 um 50 Prozent gestiegen. (...) Zuerst mal die Frage, Herr Hilgers: Wie können wir denn erkennen, ob die Zahl der Fälle tatsächlich angestiegen ist oder ob einfach mehr Fälle gemeldet werden?
Heinz Hilgers: Ja, jedenfalls nicht an der Kriminalstatistik. Die Kriminalstatistik weist die gemeldeten Fälle aus. (...) Wir wissen auf der anderen Seite, dass etwa im selben Zeitraum die Zahl der Kinder, die - aus anderen Untersuchungen -, die Zahl der Kinder, die regelmäßig mit Gegenständen geschlagen werden, von einer Million auf etwa 700.000 zurückgegangen ist. Und das sind natürlich viel höhere Zahlen als die Zahlen, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind.
(...)
Insgesamt betrachtet: Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Jugendliche, wie schätzen Sie die Situation derzeit ein in Deutschland, wenn Sie sie bewerten würden?
Hilgers: Ja, also ich würde sagen, die Dunkelziffer ist etwas kleiner geworden. Aber nur ganz wenig. Die Situation ist nach wie vor schlimm. Und man darf nicht vergessen: Jeder Einzelfall ist furchtbar. Und es ist dringend erforderlich, dass wir uns offensiver mit Hilfeinstrumenten an die Eltern wenden."(...)
die bereitschaft, genauer hinzuschauen, hat also zugenommen - ähnlich wie durch die thematisierung von vergewaltigung bzw. sexualisierter gewalt gegen frauen ebenfalls die angezeigten, mithin statistisch erfassten "fälle" derartiger gewalt prozentual gestiegen sind. man könnte sagen, dass der dreck sichtbarer geworden ist - besser: sein ganzes ausmaß. und dennoch lässt sich die trostlose realität in ihrem ganzen ausmaß immer noch nur erahnen - geschätzte 700.000 kinder, die mit gegenständen geschlagen werden - die phantasie kennt dabei keinerlei grenzen. recherchieren Sie selbst.
in dieser zahl sind dabei noch nicht mal die enthalten, die "nur" mittels armen und beinen ihrer "erziehungsberechtigten" geprügelt werden.
weiter geht es mit dem thema der prävention und möglichen interventionen:
(...)"Doch was ist mit Familien, wo alles sehr harmonisch aussieht, die scheinbar auch keine sozialen Probleme haben und wo dennoch später ja Gewalt auftreten kann? Also wie will die Gesellschaft dem einen Riegel vorschieben?
Hilgers: Man kann nicht allem einen Riegel vorschieben. Das ist sehr deutlich und das ist auch nicht möglich - auch nicht mit Pflichtuntersuchungen für die Früherkennungsuntersuchungen. Nein, das geht nicht. Es wird immer möglich sein, dass es schreckliche Fälle gibt. Das ist schlimm für jeden Einzelfall, aber ganz auszuschließen ist das nicht. Wir müssen als Gesellschaft insgesamt natürlich eine bessere Einstellung zu den Menschen, zu den Eltern gewinnen, die Verantwortung für Kinder tragen," (...)
ein problem bei den derzeit diskutierten maßnahmen staatlicher und institutioneller eingriffe (denen ich als provisorische sofortmaßnahme im interesse der opfer nicht grundsätzlich abgeneigt bin) besteht imo in der tendenz, das generelle gewaltproblem besonders an familien festzumachen, die nach allen kriterien unter ökonomischer verarmung, schlechter bildung etc. leiden. sicher - wie früher schon einmal ausgeführt, tragen schlechte bis existenziell bedrohliche ökonomische bedingungen einiges zur wahrscheinlichkeit von gewalttätigen strukturen innerhalb von familien bei. primär auslösend jedoch sind sie nicht. die hier thematisierte gewalt kommt in allen gesellschaftlichen klassen vor, auch in den sog. ober- und mittelschichten. es erscheint nicht nachvollziehbar, warum diese von interventionsprogrammen ausgeschlossen bleiben sollten. so wird das problem ungerechtfertigt verkürzt und an einer bestimmten gesellschaftlichen gruppe festgemacht - einer gruppe zudem, die bereits zunehmend im focus staatlicher und institutioneller maßnahmen steht - die grenze zwischen tatsächlicher hilfe und systematischer entmündigung, kontrolle und repression in zeiten zunehmender ökonomischer verelendung mitsamt den begleitenden sozialen selektionsprozessen ist eine sehr fließende. bei betrachtung der ständig perfektionierten ausweitung der innerstaatlichen repressionsapparate in der gesamten sog. westlichen welt jedenfalls kann ich mich des eindrucks nicht erwehren, dass weitreichende staatliche eingriffe gerade in den bereits sozial stigmatisierten gruppen sehr schnell für zwecke instrumentalisiert werden können, die mit der vielleicht z.t. aufrichtig gemeinten hilfe nichts mehr zu tun hätten. nennen Sie das meinetwegen übersteigertes misstrauen meinerseits - aber den vertreterInnen unserer sog eliten bedingungslos ihre hehren absichten zu glauben (nicht nur bei diesem thema), bedeutet in aller regel die akzeptanz einer im großen und ganzen völlig fiktiven realitätsvorstellung, was nur unter weitgehendem verzicht auf´s eigene fühlen und denken zu erreichen ist.
wo waren und sind denn diejenigen vertreterInnen der politischen klasse, die bspw. das faktum der jährlich mit gegenständen geprügelten 700.000 kinder als den gesellschaftlichen offenbarungseid benennen, der es ist? eben - es gibt sie nicht. sie müssten wohl zum einen mindestens teilweise ihre eigene wahlklientel kritisieren (erinnern Sie sich noch an diese zahlen (recht weit unten, aufgeschlüsselt nach parteivorlieben) ...?), zum anderen aber gehört diese art "erziehung" letztlich zum repertoire der macht - wer das überlebt, wird entweder ein objekt der psychiatrie, ein objekt der polizei- und justizapparate - oder aber, bei weitgehender unauffälligkeit, ein der macht kompatibler "staatsbürger" werden, der mitsamt seinem späteren tun die existenz hierarchischer apparate, die existenz von ungerechtigkeit und das prinzip der gewalt zur "regulierung" sozialer konflikte als quasi "natürliche" ordnung der dinge nicht nur akzeptiert, sondern auch unterstützt. die macht würde sich quasi ins eigene fleisch schneiden, wenn es mehr und mehr menschen geben würde, die es nicht mehr nötig hätten, in quasi psychotischen realitäten zu existieren, sondern selbstbewußt und vertrauensvoll genug sind, ihren eigenen emotionalen und intellektuellen wahrnehmungen zu vertrauen - und die empathie- und liebesfähig wären. aus wär´s aller wahrscheinlichkeit recht schnell mit der perversen zumutung, die die menschliche welt heute in großen teilen darstellt. ernsthaft: kann es im interesse der "eliten" liegen, sich selbst den vielleicht wichtigsten ast abzusägen, auf dem sie es sich gemütlich gemacht haben? wahrscheinlich mehr oder weniger instinktiv dürfte darum der schon früher zitierte generalstaatsanwalt von berlin ganz im sinne der obigen zusammenhänge seine aussagen getätigt haben.
weiter im interview:
"Wie weit haben sich denn die Erziehungsvorstellungen geändert nach Ihrer Erfahrung und Einsicht? Also in einer Umfrage haben wohl 70 Prozent der Kinder angegeben, Ohrfeigen zu bekommen. Das galt früher als ein ganz normales, notwendiges Erziehungsmittel. Hat sich daran was geändert in größerem Maßstab?
Hilgers: Ja, positiv. Die Gewalt in den Familien ist im historischen Zusammenhang deutlich zurückgegangen, sowohl über die Generationen hinweg als auch in den letzten 15, 20 Jahren. Das ist erfreulich.(...)"
das ist tatsächlich erfreulich, und vielleicht eine der wichtigsten gesellschaftlichen entwicklungen überhaupt (wichtiger jedenfalls als die täglichen fiktionalen realitäten in form der zahlen des dax, des bsp usw. das problem besteht z.t. auch darin, dass allzuviele leute letzteres als einzig "ernsthafte" realität wahrnehmen). wenn Sie wissen wollen, warum - lesen Sie lloyd deMause.
im letzten satz allerdings nochmals ein etwas kryptischer hinweis auf die besonders schweren fälle:
"Sie werden aber die Familien in besonderen Problemlagen, im Armutsbereich, nicht erreichen. Da sind offensivere Methoden notwendig."
es wird genau zu beobachten sein, was das für methoden sein werden.
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eine information als nachtrag noch:
"Nach Schätzungen der UN-Kinderhilfswerks Unicef sterben in Deutschland pro Woche zwei Kinder durch Misshandlung oder Vernachlässigung. Rund 200000 lebten in verwahrlostem Zustand oder müssten Misshandlungen erleiden."
eine schätzung - aber rechnen Sie´s einfach mal hoch aufs jahr, auf ein jahrzehnt - und je weiter Sie in den jahrzehnten zurückgehen, um so höher müssen Sie die wöchentliche zahl ansetzen...und dabei auch im hinterkopf behalten, dass es hier "nur" um die sozusagen sichtbare gewalt geht - die primär psychischen formen wie z.b. verweigerte kommunikation, emotionaler mißbrauch etc. sind im obigen noch gar nicht berücksichtigt. ebenso die primär sexualisierten gewaltformen.
edit: die morgige taz enthält ein interview mit einer mitarbeiterin einer ärztlichen kinderschutzambulanz, welches einige der bereits genannten aspekte bestätigt. auszug:
"Wie hat sich die Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahren verändert?
Wir können keine Zunahme von Misshandlungen beobachten, bemerken allerdings immer mehr Vernachlässigungen. Die Bereitschaft, sich mit Kindern zu beschäftigen, ihnen Zeit und Ressourcen entgegenzubringen, nimmt ab. Kinder, die vernachlässigt werden, haben ein besonders hohes Risiko, auch andere Gewaltformen zu erfahren. Deshalb ist diese Entwicklung nicht zu unterschätzen."
ich werde das schlechte gefühl nicht los, dass sich als synonym für "vernachlässigung" auch gleichgültigkeit einsetzen lässt. und die wiederum lässt sich im schlimmsten fall als symptom für das finale absterben menschlicher beziehungen ansehen.
ebenfalls erklärt die frankfurter rundschau das elend der kinder zum thema des tages (ob´s im silvestertrubel viele interessieren wird?), und schreibt in einem kommentar:
"In erster Linie bleibt die Wohlfahrt der Kinder Aufgabe der Gesellschaft selbst. Sie hat sich zur Scham zu erziehen, dass in ihrer Mitte hunderttausendfach Hilflose gequält, missbraucht und vernachlässigt werden."
scham ist sicher ein notwendiger schritt auf dem weg der heilung, dabei sollte es dann allerdings nicht bleiben. das problem scheint mir aber eher darin zu liegen, dass es für viele zeitgenossInnen uncool ist, sich (für etwas) zu schämen - das kann einem doch glatt die laune versauen.
mal schauen, wann das medial gerade entdeckte elend wieder von den titelseiten verschwunden ist.
momentan habe ich weniger ruhe und zeit zum schreiben, als ich mir wünsche - und das wird vermutlich leider auch noch eine zeit so bleiben. ärgerlich, wenn der kopf eigentlich voll ist mit gedanken, der körper dazu mit teils entsprechenden gefühlen, aber eben auch gefühlen, die ganz anderes verlangen. die übliche zersplitterung eben, die ich trotzdem keinesfalls als normal bezeichnen will.
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weitere fragmente also zu einem unübersichtlichen thema. beginnen wir mit einer - für mich - recht neuen entdeckung: einer regelrechten ideologie des objektivismus, begründet von der - na, das passt schon - kapitalistischen ikone namens ayn rand, zu deren biographie auch hier mehr zu lesen ist. ihre heutigen apologeten versammeln sich im netz unter namen wie objektivismus.de bzw. objektivisten.de und präsentieren da ganze sammlungen tragikomischer psychophysischer verwirrungen. so wird bspw. in der "epistemologie des objektivismus" zum zusammenhang zwischen "vernunft" und emotionen folgendes postuliert:
"Emotionen sind ein Produkt der Gedanken
Eine Emotion ist eine Reaktion auf ein Objekt das man wahrnimmt (oder das man sich vorstellt), wie etwa einen Menschen, ein Tier, ein Ereignis. Das Objekt an sich hat jedoch keine Macht, ein Gefühl im Beobachter hervorzurufen. Das kann es nur tun, wenn der Beobachter zwei intellektuelle Elemente hinzufügt, die die notwendigen Bedingungen für Emotionen sind: Identifikation und Bewertung. Emotionen sind Bewusstseinszustände mit körperlichen Begleiterscheinungen und intellektuellen Ursachen. Die vier Schritte in der Erzeugung einer Emotion sind Wahrnehmung (oder Phantasie), Identifikation, Bewertung und Reaktion. Weil der menschliche Verstand mit der Zeit seine Bewertungen zu automatisieren lernt, fehlt es den Menschen häufig an einem expliziten Gewahrsein der Zwischenschritte „Identifikation“ und „Bewertung.“
Die Vernunft ist für den Menschen das einzige Mittel zum Wissen
Emotionen sind automatische Konsequenzen der vorausgegangenen Schlussfolgerungen eines Verstandes, ungeachtet dessen, wie dieser Verstand in dem Prozess zu ihnen zu gelangen, ge- oder missbraucht wurde. Jedes Erscheinen eines Konflikts zwischen Verstand und Emotion ist in der Tat eine Kollision zwischen bewussten und unterbewussten Gedanken.(...)"
mal davon abgesehen, dass hier ohne einen hauch von bedenken lebendiges (menschen, tiere) und unlebendiges/abstraktes (ereignisse und objekte im eigentlichen sinne) undiffrenziert insgesamt als objekte bezeichnet werden, ähnelt die dahinterstehende vorstellung von psychologie sehr pawlow´s reiz- und reaktionsschema, welches hier modifiziert wird durch ein paar - ausschließlich! - intellektuelle aktionen des wahrnehmenden. das ist, die heutigen erkenntnisse der neurowissenschaften berücksichtigend, schlicht unsinn. das verhältnis dürfte - wenn überhaupt eine hierarchie gesetzt werden kann - potenziell eher umgedreht sein: emotionen bilden die basis für jegliche tätigkeit des objektivistischen bewußtseins. dazu negieren die objektivisten komplett die körperlichen wahrnehmungsmodi, ohne die das objektivistische bewußtsein keinerlei input besitzen würde. um es klipp und klar zu sagen: das dahinter stehende menschenbild ist ein absolutes veraltetes, stammt aus den geisterbahnen der mechanistischen philosophie und ist tendenziell aufgrund seiner falschen gewichtungen lebensfeindlich. warum? weil hier eine komplett verdrehte gewichtung zwischen emotionen und vernunft als absolutes gesetzt wird. das wegdefinieren der die objektivisten augenscheinlich störenden gefühle gelingt nicht total - falls sie nicht völlige autisten sind, kommen sie immerhin nicht drumrum, die existenz von emotionen anzuerkennen. aber sie werden ausschließlich als sekundäre anhängsel des verstandes gewertet, die keinerlei echte relevanz hinsichtlich ihrer aussagekraft oder der informationen besitzen, die sie transportieren. mühsam wird eine art fragiler waffenstillstand zwischen beiden konstruiert, so wie es die objektivisten vorführen:
"Richtig ist, dass der Objektivismus davon ausgeht, dass Gefühle keine Quelle von Erkenntnis sind und keine Handlungsanleitungen sein dürfen. Aber Vernunft und Emotionen schließen sich nicht gegenseitig aus, sie stehen nicht in einem feindlichen Verhältnis zueinander. Gefühle sind ebenso wichtig wie die Vernunft, aber sie dienen unterschiedlichen Zwecken, über die wir uns im klaren sein müssen, wenn wir ein glückliches Leben führen wollen. Nathaniel Branden schreibt in einem Beitrag für die Zeitschrift The Objectivist Newsletter aus dem Jahre 1962, dass die Frage: "Aber was ist mit der emotionalen Seite der menschlichen Natur?" tatsächlich bedeutet: "Aber was ist mit meinen irrationalen Wünschen?"
aber natürlich nicht. empathische gefühle dürfen keine handlungsanleitung sein; liebevolle - und auch destruktive - gefühle sind keine quelle der erkenntnis - wie weit ist die westliche kultur eigentlich heruntergekommen, damit ein derartiger mist hier offiziell als angesehene philosophische richtung, der bis heute bspw. in den usa relevante teile der dortigen ökonomischen und administrativen "eliten" beeinflusst, durchgehen kann? woher der wind weht, macht die frage im letzten satz deutlich: "irrationale wünsche" - erstmal muss definiert werden, ob es hier um negative oder positive irrationalität geht, zweitens aber fehlt der hinweis auf die jeweilige kulturelle bedingtheit dessen, was so als irrational bezeichnet wird. drittens aber werden "irrationale wünsche" häufig gerade dann als "irrational" (im verbreiteten sinne = "irgendwie schädlich, verrückt") wahrgenommen, wenn der wahrnehmende mensch das in seiner oder ihrer sozialisation gelernt bzw. vermittelt bekommen hat - meistens von bezugspersonen, die ihren eigenen emotionen bereits ordentlich entfremdet sind. und viertens ist die wahrnehmung (im eben definierten sinne) "irrationaler wünsche" keinesfalls zwangsläufig, sondern stellt in vielen fällen bereits einen ausdruck für das ins trudeln geratene psychophysische gleichgewicht innerhalb eines menschen dar - das "innere" wird dann als diffus bedrohlich, seltsam, verunsichernd und un-logisch - eben "irrational" - erlebt. alles in allem scheint diese art von philosophie hauptsächlich eine reaktion auf nichtverarbeitete traumatische prozesse darzustellen. zu offensichtlich ist die ständige abwehr und zwanghafte niederhaltung all dessen, was von den objektivisten als "emotional" und "irrational" bezeichnet wird. und die "unterschiedlichen zwecke"? aus der täglich zu bewundernden objektivistischen praxis dürfen wir schließen, dass gefühle im "privaten" bereich zu bleiben haben, der "verstand" aber ganz emotionslos die gesellschaftlichen belange zu regeln habe. die frage, warum gefühle offensichtlich auch destruktiv sein können / werden können, was darin für informationen über die aktuellen menschlichen verhältnisse stecken - die frage kommt offensichtlich niemandem der objektivisten in die ach so klaren köpfe. stattdessen gibt´s pure ideologie :
"Kapitalismus ist das System der Objektivität
Objektivität ist realitätsorientiertes Denken, während Tugend realitätsorientiertes Handeln basierend auf diesem Denken ist. Der Kapitalismus, das System des freien Handels, erlaubt es jedem Produkt oder jeder Dienstleistung, einen auf dem ökonomischen Gesetz von Angebot und Nachfrage beruhenden objektiven Marktwert zugewiesen zu bekommen. Alle Bestrebungen zu Monopolisierung oder Preisabsprachen können nicht lange anhalten, weil der freie Wettbewerb die Preise wieder auf eine vernünftiges Niveau zurückdrängen wird. Darum sind sowohl ökonomische Werte als auch die mit ihnen verbundenen Gewinne im Kapitalismus objektiv. Da eine freie Gesellschaft mit der Zeit immer sachkundiger wird, bewegen sich die ihren Produkten zugewiesenen Marktpreise von lediglich gesellschaftlich objektiv, in Richtung philosophisch objektiv. In anderen Worten, der Appeal eines Produkts muss letztlich dem individuellen Menschenleben dienen oder der Bedarf des Markts daran wird schließlich austrocknen. Wirtschaftliche Macht sollte nicht mit politischer Macht verwechselt werden, da erstere nur freiwilligen Handel beinhaltet, während letztere mit der Initiierung physischer Gewalt oder der Drohung damit verbunden ist."
das "realitätsorientierte denken" lässt sich aktuell z.b. in der diskussion über die folter beobachten - siehe den letzten beitrag. und zu einer reinen märchenstunde wird´s dann zum ende: was für einen "produktappeal" haben denn die tausenden von überflüssigen bis offen schädlichen produkte, die ein völlig durchgeballerter kapitalismus heute per massenmedialer manipulation durch werbung als "notwendigkeiten" auf den markt schmeisst? das objektivistische raster, welches hier einen anscheinend objektiv-vernünftigen konsumenten postuliert, kennt offensichtlich keinerlei synthetisch produzierten pseudobedürfnisse, mit denen oft genug psychophysische defekt- und mangelzustände kompensiert werden sollen. und das die wirtschaftliche macht nur "den freien handel" beinhalten sollte und natürlich niemals mit physischer gewalt arbeitet (nein, direkt selbst machen sie sich ihre sauberen hände natürlich meistens nicht schmutzig...) - eine derartige behauptung lässt sich schon als gesteigerte realitätsflucht bezeichnen.
so. wer zeit und muße hat, sich durch den objektivistischen wahn durchzuarbeiten, kann die eigenen gedanken gerne an dieser stelle kommentierend veröffentlichen. mir reicht´s für den moment ersteinmal.
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ich hatte im letzten beitrag ziemlich weit unten hinsichtlich der folter vom typus der sadistischen psychopathen geschrieben, die von denen, die ihre methoden überlebt haben, als primär am perversen lustgewinn (durch das leiden anderer) interessierte gekennzeichnet werden. wie gesagt, gibt es solche leute (theweleit hat ihrem möglichen funktionsmodus in Das Land, das Ausland heißt ein ganzes kapitel gewidmet), und wie ebenfalls gesagt, sind sie es, bei denen heutige psychiatrische diagnosen bezgl antisozialer persönlichkeiten noch am ehesten passen würden. es war allerdings nicht meine absicht, sie von den normalen folterern so zu unterscheiden, wie´s den anschein haben könnte. ich bin bei meinen worten selbst ein ganzes stück weit dem gleichen ewigen irrtum verfallen, dem wir alle hier mehr oder weniger unterliegen: das objektivität grundsätzlich etwas mit vernunft, sachlichkeit, ruhigem überlegen zu tun hätte. diese definition suggeriert einen gegenpol zu den wild schäumenden emotionen und leidenschaften, wie wir sie - mehr oder weniger unbewußt und unberechtigt - mit dem begriff der sadistischen psychopathie assoziieren.
der irrtum liegt kurz gesagt darin, dass der objektivistische modus durchaus auch in einer verpackung ankommen kann, die unseren vorstellungen von objektivität nicht nur nicht entspricht, sondern sie sogar ad absurdum führt. und das hängt mit der als-ob-qualität zusammen, die der objektivistische modus - wie es seiner funktionsweise entspricht - unter bestimmten bedingungen perfekt produzieren kann: pseudoemotionale simulationen. das im letzten beitrag skizzierte modell von mertz berücksichtigend, müssen wir davon ausgehen, dass so ziemlich jede uns bekannte emotion auch in form einer simulation auftreten kann. ein beispiel dafür, welches unter den heutigen gesellschaftlichen bedingungen leider sehr relevant ist, wäre der hass. hass als echter affekt kann durchaus rationalen emotionalen motivationen entspringen: hass als enttäuschte/gewendete liebe, hass als spontane reaktion auf unmögliches zwischenmenschliches verhalten, als reaktion auf extreme unterdrückung usw. dieser hass wird sehr wohl in aller regel als etwas wahrgenommen, was eine primäre körperliche grundlage besitzt - ein gefühl, was sich an ganz verschiedenen stellen des körpers in verschiedenen arten manifestieren kann. er bezieht sich auf etwas reales, womit hier gemeint ist, dass er sich auf in weitestem sinne soziale und interpersonale beziehungssituationen bezieht. er besitzt sekundär eine objektive qualität in dem sinne, dass er zeitweise für eine wahrnehmungsreduktion sorgt (bzw. gleichzeitig einer solchen entspringt), und damit die wahrnehmung anderer aspekte des gehassten menschen bzw. der auslösenden situation sehr erschwert bis unmöglich machen kann. trotz allem lässt sich dieser hass keineswegs als gleichgültigkeit interpretieren, sondern als ausdruck eines - wenn auch ins negative gewendeten - realistischen interesses an einem konkreten anderen.
und gerade letzteres lässt sich vom abstrakten, offen objektiv daherkommenden hass nicht sagen. hier tritt der objektivistische modus in seiner mehr oder weniger gewohnten form auf: mit vernunft und sachlichkeit begründen gerade mit vorliebe ideologien jeglicher coleur, warum diese oder jene menschen - in ihrer unterstellten funktion als träger von "schädlichen" ideen - allgemein hassenswert zu sein haben. und in der folge, wie ein blick in die historie zeigt, auch der leider verdienten vernichtung zugeführt werden müssen. das ist einer der wichtigsten punkte, in denen sich faschistische (als prinzip, nicht als ideologie begriffen) systeme weltweit ähneln - egal, ob sie "politisch", religiös oder sonstwie begründet werden. immer wird ein objektivistisches raster zugrundegelegt - falsche "rasse", klasse, religion, falsches geschlecht -, welches den realen - und meistens bedeutet das auch: widersprüchlichen menschen - als abstraktion aufgepfropft wird in dem sinne, dass sich die objektive wahrnehmung der so "hassenden" alleine auf die proklamierten "objektiven" eigenschaften der jeweiligen opfer focussiert - und diese derart zu verabscheuungswürdigen nicht-mehr-menschen werden lässt, zu "parasiten", "insekten", "schädlingen", "verrätern", "ungläubigen". was aber mit solchen zu geschehen hat, wissen wir spätestens bei betrachtung des letzten jahrhunderts ganz genau. an diesem punkt trifft sich der nazi-bürokrat eichmann mit dem tscheka- gründer dscherschinski, an diesem punkt treffen sich aber bspw. auch ein george w. bush und ein bin laden - sie hassen sich als abstraktes, genauso wie sie untereinander beliebig zeitweise koalieren können, wenn es denn der sache dient - eine sache, die im übrigen inhaltlich ebenso beliebig austauschbar erscheint. für machtmenschen ist die struktur wichtig, die ihnen das ausagieren ermöglicht - inhalte sind prinzipiell zweitrangig (auch, wenn das ein widerspruch zu der immer behaupteten aufopferung für die jeweilige sache zu sein scheint - die diese machtsysteme tragenden menschen sind meiner meinung nach grundsätzlich auch in anderen systemen denkbar, solange diese auf hierarchien und unterordnung beruhen.)
dieser hass (sollen wir das wirklich hass nennen?) kommt sozusagen entkörpert daher, bezieht sich letztlich nicht auf konkretes tun oder nichttun (auch, wenn hier die aufhänger gesucht werden), sondern auf fiktive, imaginierte eigenschaften der gehassten (das diese fiktionen - außer bei totalem realitätsverlust vielleicht - immer auch einige körnchen realität enthalten, hängt mit der im letzten beitrag skizzierten arbeitsweise des objektivistischen modus zusammen, der als werkzeug der subjektivität immer nur den wahrnehmungsmässigen input verarbeiten kann, der wiederum primär körperlich erzeugt wird. wenn diese wahrnehmungsfunktionen nun funktionell oder strukturell begrenzt und / oder geschädigt sind, werden sie dementsprechend mehr oder weniger verzerrte und seltsame realitäten produzieren - vielleicht immer noch das nachdrücklichste beispiel dafür sind "die juden" in der wahrnehmung der nazis).
diese abstrakte - hm, qualität plaziert diesen hass außerhalb jeder menschlichen beziehung - was gerade durch die abstraktion geschieht. auch kriege machen das sehr schön deutlich:
"Ganz eigenartig war Silvester hier. Es kam ein englischer Offizier mit weißer Fahne herüber und bat um Waffenruhe von 11 bis 3 Uhr zur Beerdigung ihrer Toten. (...) Sie wurde gewährt. (...) Die Waffenruhe aber wurde ausgedehnt. Die Engländer kamen aus ihrem Graben heraus in die Mitte, tauschten Zigaretten und Fleischkonserven, auch Photographien aus mit den Unsern, sagten, sie wollten nicht mehr schießen. So herrscht vollständige Ruhe, die einem seltsam vorkommt. Wir und sie gehen und stehen auf der Deckung, über dem Graben. - (...)
Silvester riefen wir uns die Zeit zu und verabredeten, um 12 Uhr Salven zu schießen. Der Abend war kalt. Wir sangen Lieder, sie klatschten Beifall (wir liegen 60 - 70 Meter gegenüber), wir spielten Mundharmonika, dazu sangen sie, und wir klatschten. Dann fragte ich, ob sie nicht auch ein Musikinstrument da hätten, und dann kriegten sie einen Dudelsack vor (...) sie spielten ihre schönen elegischen schottischen Lieder darauf, sangen auch. Um 12 Uhr dann knatterten Salven von beiden Seiten in die Luft! Dazu ein paar Schüsse unserer Artillerie, ich weiß nicht, wohin die schossen, die sonst so gefährlichen Leuchtkugeln prasselten auf wie ein Feuerwerk, mit Fackeln wurde geschwenkt und Hurra geschrien.(...)"
(aus einem deutschen feldpostbrief vom 3. januar 1915 an der westfront, zitiert nach "innenansicht eines krieges. deutsche dokumente 1914 - 1918"; dtv; münchen 1973; s. 91/92; isbn 3-423-00893-8)
zur emotionalen vernunft gekommen...als reale menschen hatten sie keinen grund, sich zu hassen und zu töten - in dieser realität konnten sie sich persönlich sympathisch oder unsympathisch, liebenswert oder bescheuert oder auch alles gleichzeitig finden - als abstraktes hingegen nahmen sie sich gegenseitig als "franzosen", "deutscher" usw. wahr - und konnten sich im namen einer "höheren sache" (reine fiktionen - nationen, kaiser, könige, götter, staaten) mehr oder weniger unbelastet (das ist sehr relativ, ich weiß) gegenseitig ermorden - "wir führen hier nur unsere befehle aus" - und müssen dazu ganz objektiv an die sache herangehen. mittlerweile lassen sich auch wahrscheinliche ursachen dafür benennen, die derlei psychophysische funktionswechsel zumindest zu begünstigen scheinen - aber dazu ein anderes mal.
der eher selten auftretende typ des psychopathen (im "klassischen" sinne begriffen) scheint mit seiner offen egozentrischen maxime des eigenen lustgewinns am leiden anderer dieser abstraktion zu widersprechen. dieser eindruck jedoch täuscht imo: er funktioniert genauso objektiv, genauso fern jeder sphäre authentischer beziehungen - aber seine objektivität funktioniert anders; er arbeitet in einem ständigen psychotischen zustand, mit einem außer rand und band geratenen objektivistischen modus, der - aus gründen, die ich hier nicht weiter ausführen kann -, zur erlangung eines - wenn auch krankheitswertigen - psychophysischen gleichgewichts zur produktion von anscheinend ganz und gar subjektiven, ganz und gar emotionalen (und oft auch sehr überzeugenden) simulationen tendiert. im gegensatz bspw. zum im letzten beitrag beschriebenen selbstverständnis des folterers aus der türkei, der an seine ideologie geglaubt hat, dürften einem psychopathen derartige pseudoinhalte völlig egal sein. er benutzt sie und das jeweilige system eher offen für seine ganz persönlichen zwecke, die wiederum von seiner objektivität diktiert werden. ich hoffe, der unterschied - der für die jeweiligen opfer allerdings belanglos ist, aber zum verständnis der phänomene trotzdem wichtig erscheint - ist klar?
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beim anblick der überschrift des letzten beitrags musste ich irgendwann grinsen - über unsere sprache, die - offen und verdeckt gleichzeitig - doch letztlich zwangsweise immer auch viel reales über uns aussagt: "bleiben Sie doch mal sachlich" - das können wir wortwörtlich nehmen, als aufforderung, uns selbst zu einer sache, zum objekt zu machen - den objektivistischen modus einzuschalten und mittels der daraufhin einsetzenden wahrnehmungsreduktion alles störende (und / oder bedrohliche, meistens gefühle) für den fordernden und für uns selbst auszuschalten. vielleicht denken Sie dran, wenn Sie das nächstemal dazu aufgefordert werden.
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eigentlich wollte ich jetzt noch mehr zu den möglichen ursachen für das ungleichgewicht zwischen subjektivität und objektivistischem modus schreiben, dazu auch noch mehr beispiele für situationen, in denen der letztere dominiert - z.b. ist es eine interessante erkenntnis, dass sowohl unter der folter als auch bspw. in den nazi-kz und auch im gulag diejenigen menschen am wenigsten psychische schäden (in diesem fall müssen wir von den körperlichen trennen) aufwiesen bzw. -weisen, die sich einen starken glauben - entweder ideologisch oder religiös - bewahren konnten. mit anderen worten: unter realen und extremen gewaltbedingungen eine eigene starke fiktion gegen die objektivierenden fiktionen ihrer peiniger setzen konnten. und damit die realen schmerzen relativieren und überleben konnten. ein beispiel dafür wären in den nazi-kz die zeugen jehovas, die nichtsdestotrotz den charakter einer sehr hierarchischen und dogmatischen sekte bis heute nicht verloren haben. das ganze thema weist deutlich in den bereich psychotraumata und zur frage, was eigentlich psychophysisch durch gewalt in menschen ausgelöst wird.das erwähnte phänomen jedenfalls ist imo ein hinweis darauf, dass der objektivistische modus in existenziell bedrohlichen situationen in verschiedenen formen auf den plan treten kann - als überlebenshilfe. die frage ist allerdings, welcher preis dafür gezahlt werden muss, wenn diese gewalt nicht als vereinzeltes erlebnis, sondern strukturell permanent über jahrhunderte und durch generationen hindurch vorhanden ist. es besteht ein an anderen stellen hier schon erwähnter starker verdacht darauf, dass in einer solchen situation in vielen menschen dieser modus ständig hyperpräsent ist und schließlich sogar dominant wird - was sich dann insgesamt auch im jeweiligen selbstverständnis und den welt- und menschenbildern ganzer kulturen ausdrücken kann. sie werden ver-rückt. (und wenn heutzutage politikerInnen, manager, soldaten, aber auch bankangestellte, arbeiter in waffenbetrieben und ökologisch schädlichen produktionsbereichen ihr tun jeweils als vernünftig und von sachzwängen diktiert darstellen, dann sollten wir das wörtlich nehmen und endlich begreifen, dass der wahnsinn in seinen übelsten und destruktivsten formen schon lange unter dem label der vernunft angetreten ist. das ist zwar ungemütlich, weil er uns damit direkt auf die pelle rückt - aber es wird uns nichts anderes übrigbleiben, wenn wir denn tatsächlich belegen wollen, eine intelligente, lernfähige und fühlende spezies zu sein).
ebenso sind die möglichen beziehungen zwischen diesem modus und dem phänomen, was heute als dissoziation bezeichnet wird, einer näheren betrachtung wert. aber gerade zum letzteren thema fehlt mir so einiges an wissen - ein wissen, was aktuell übrigens immer mehr wird und inhaltlich darauf hinausläuft, dass dissoziative zustände erstens bis heute bei uns allen wesentlich verbreiteter und normaler sind als bisher angenommen; und zweitens die sog. multiplen oder dissoziativen persönlichkeiten historisch keine neue erscheinung sind, sondern unter anderen beschreibungen und namen tatsächlich schon sehr, sehr lange in der geschichte bekannt sind (was, nebenbei gesagt, auch ein weiteres indiz für die stimmigkeit der psychohistorische betrachtungsweise der menschlichen geschichte darstellen würde). mir drängen sich dazu viele fragen auf, auf die mir aber antworten fehlen: stellen dissoziative zustände nur eine weitere erscheinungsform des objektivistischen modus dar? (dagegen spricht allerdings aus meiner sicht einiges); fördern dissoziationen den objektivistischen modus? stellen sie zwei getrennte wege der "traumabewältigung" dar? da dissoziationen psychotraumatologisch mit extremformen von gewalt assoziiert sind: stellen sie den letzten "rettungsanker" dar, nachdem der objektivistische versuch der gefahrenbewältigung gescheitert ist? wie aber sind in diesem verhältnis alltägliche trancephänomene zu sehen, die ebenfalls dissoziative zustände darstellen? ist der objektivistische modus nicht doch auch als trancezustand (= wahrnehmungsreduktion) zu begreifen? fragen über fragen. falls Sie dazu ideen haben - nur raus damit!
wieder einmal anders als geplant (so wie das leben meistens ist), hat mich ein artikel bei spon zum versuch veranlasst, das in der überschrift erwähnte verhältnis näher zu betrachten. dieses thema wäre sowieso hier irgendwann fällig gewesen, und zieht sich als hintergrund auch durch diverse frühere beiträge. die versprochenen antworten auf die vielfältigen kommentare hier sind dabei nicht vergessen. und in einem gewissen sinne lässt sich der folgende beitrag bereits auch als ergänzung / antwort zu vielen der in den kommentaren aufgeworfenen fragen verstehen.
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nun aber zum erwähnten artikel mit der überschrift Schäuble am Pranger - als ein weiterer (und ebenfalls aufschlußreicher ) beitrag zur sog. folter-debatte - dieser begriff hat allerbeste chancen auf den titel unwort des jahres - gedacht, möchte ich auf eine spezielle argumentationsfigur hinweisen, die nicht nur hier zum einsatz kommt, sondern in dieser gesellschaft an allen ecken und enden bis in die allerpersönlichsten bereiche hinein anzutreffen ist. im artikel taucht sie so auf:
"Mit seinen Äußerungen zu Folter und Rechtsstaatlichkeit hat sich Innenminister Schäuble heftige Kritik eingehandelt. Der Christdemokrat bekommt zu spüren, dass eine sachliche Debatte über das Thema zurzeit kaum möglich ist."(...)
"Die zum Teil hochemotionalen Reaktionen heute zeigen aber, dass der Innenminister trotzdem keinen leichten Job haben wird. Wer heute die Fortsetzung der im Kampf gegen den Terror unverzichtbaren Geheimdienstarbeit fordert, wird von manchen fast in die Ecke von Folter-Fans gestellt. Tragfähige Erkenntnisse über global agierende Terror-Netzwerke lassen sich aber nur global gewinnen, dabei kann man nicht immer die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik anlegen. Eine ernsthafte, ruhige Diskussion zu diesem Thema ist jedoch zurzeit kaum möglich"(...)
ich muss sagen, dass meine spontane reaktion ganz und gar nicht sachlich im sinne des hier seine eigene pervertierung offenbarenden autors gewesen ist, sondern im dringenden und durch und durch subjektiven bedürfnis bestand, dem schreiber einen fetten tritt vors schienbein zu geben. und ich kann hier gleich anmerken, dass ich diese emotionale reaktion angemessen finde. zumal wünsche und / oder phantasien noch lange keine zwangsläufige materielle verwirklichung nach sich ziehen, dafür aber durch ihre jeweilige art und intensität durchaus informationen vermitteln - und zwar sowohl über den auslösenden menschen, den inhaltlichen gegenstand oder die situation, als auch über mich selbst.
diejenigen, die sich nicht ganz darüber im klaren sind, was dieser artikel eigentlich letztlich zur angeblichen "verteidigung" von freedomanddemocracy n i c h t auschließen möchte, seien z.b. hierauf verwiesen:
"Etwas heftiger sind dann die Schläge auf den Bauch. Auch sie werden mit den Absicht geführt, dem Gefangenen Schmerzen zuzufügen. Aber dies soll mit offener Hand, nicht mit der Faust geschehen, um keine inneren Verletzungen zu verursachen. Als eine der effektivsten Techniken wird beschrieben, die Gefangenen Tage lang stehen zu lassen. Sie werden für mehr als 40 Stunden mit Hand- und Fußschellen stehend gefesselt. Erschöpfung und Schlafdeprivation würden dann zu Geständnissen zu führen. Eine andere oder zusätzliche Maßnahme ist die "kalte Zelle". Der Gefangene muss nackt in einer Zelle stehen, in der es nur ein paar Grad warm ist. Dazu wird über die Gefangenen hin und wieder kaltes Wasser geschüttet.
Häufig angewendet wird wohl auch das sogenannte Water Boarding. Dabei wird der Gefangene auf einem Brett festgebunden. Über das Gesicht wird eine Plastikfolie gelegt und der Gefangene dann kopfüber mit Wasser übergossen. Dadurch entsteht unwillkürlich die Angst zu ertrinken, was angeblich zu einer schnellen Bereitschaft führt, ein Geständnis abzulegen."
warum nun begreife ich die anfangs zitierten sätze als perversion? weil sie das symptom eines gewaltverhältnisses darstellen, welches sich zuerst entweder im autor selbst befindet, oder aber von diesem aus gründen, über die noch zu reden sein wird, zumindest aufgegriffen und als scheinbar richtiges transportiert wird. und letzteres setzt nicht unbedingt einen strukturellen defekt im autor selbst voraus, wohl aber mindestens einen funktionellen. will sagen: um so etwas schreiben zu können, scheinbar ganz rational und objektiv, muss sich der autor mindestens zeitweise in eine innere position der distanzierung, der fiktionalität und vor allem der empathielosigkeit begeben - und das bei einem thema, bei dem es im weitesten sinne um den umgang miteinander innerhalb unserer spezies geht. und wie aus dem vorstehenden satz faktisch schon hervorgeht, lässt sich diese besondere postion nur mittels wahrnehmungsreduktion erreichen. egal, ob diese reduktion defektbedingt (siehe alexithymie oder auch autismus) oder aber aus unreflektierter gewohnheit (bei grundsätzlich intakter persönlichkeit) bezogen wird.
wovon redet der da, zum teufel? ist objektivität nicht etwas erstrebenswertes? und nötig als gegengewicht zur oftmals abscheulichen irrationalität und ungerechtigkeit subjektiver meinungen und einstellungen? stellt die rationale objektivität nicht auch das wirksamste antidot gegen das dar, was so allgemein - und auch psychiatrisch - als wahnsinn begriffen wird? beruht nicht die ganze durchsetzungsfähigkeit der westlichen kultur und ihre wissenschaftlichen erfolge gerade auf dieser art von objektivität?
viele fragen. fragen, auf die bereits ebensoviele verschiedene antworten versucht und gegeben wurden - der "subjektivität-objektivität-komplex" ist ja auch etwas, worüber sich stundenlang philosophieren lässt. aber so schlimm soll´s hier jetzt nicht werden. mir geht es um eine beschreibung dieses scheinbaren gegensatzes, die sich einfach primär an den menschlichen gegebenheiten orientiert - und nicht an den menschlichen fiktionen über diese gegebenheiten. und das ist nicht anmaßend, sondern sowohl möglich als auch dringend nötig.
nötig deswegen, weil sich im obigen sponzitat deutlich erkennen lässt, wie in dieser gesellschaft mittels dieses angeblichen gegensatzes handfest machtpolitik betrieben wird: die sog. objektive (objektivierende, objektivistische) position wird als alleinige "rationale, vernünftige und sachliche" position bezeichnet - "ernsthaft" ist dabei noch eine steigerung - und dieses vorgehen zwingt zum unausgesprochenen schluß, dass alle anderen möglichen positionen also "irrational, unvernünftig, unsachlich und unernst" sind. wenn Sie also der meinung sein sollten, dass es absolut nicht okay ist, wenn irgendwo vom irgendwem gefoltert wird und die dabei erlangten "erkenntnisse" z.b. von behörden dieses staates ohne ganz direkte beteiligung genutzt werden, sind Sie also in den augen dieses autors quasi als ernsthafte/r gesprächspartnerIn disqualifiziert. Sie sind nicht objektiv genug, sprich: Sie lassen sich womöglich zu sehr von Ihren (empathischen) gefühlen leiten.
was wird mit einer solchen logik tatsächlich angerichtet, worauf beruht sie und wie funktioniert sie?
erstens: sie negiert absolut besonders die empathischen menschlichen gefühle, wischt sie quasi als irrelevant vom tisch - als ob sie nicht vorhanden wären. das bezeichne ich als defekt - wer so argumentiert, bei dem muss als voraussetzung ganz zwingend eine wahrnehmungsreduktion vorliegen - ob funktionell (also eine zeitweilige ausblendung / verdrängung) oder strukturell (eine grundsätzliche krankheitswertige störung der wahrnehmungsmöglichkeiten) - anders lässt sich eine solche position nicht erreichen.
ein einwand gegen meine argumentation könnte darin bestehen, dass z.b. in einem fall wie dem, durch den der frankfurter polizeipräsident daschner bekannt geworden ist, ja die sache doch nicht so einfach wäre, wenn es bspw. um ein entführtes kind geht. meine antwort darauf: doch, es ist so einfach. eine emotionale rationalität bei einer möglichen forderung nach einer ausnahme vom folterverbot lässt sich hier sicher bei den eltern und nahen verwandten des kindes finden und auch sogar nachvollziehen (ebenso ist es imo bei der todesstrafe, wo sich mögliche rache- und vergeltungswünsche bei manchen(!) angehörigen und freundInnen der opfer ebenfalls nachvollziehen lassen). bloß: die beiden eben erwähnten und sehr eng begrenzten gruppen sind auch die beiden einzigen, die diese wünsche notfalls in einem positiv rationalen sinne (unter maßgeblicher beteiligung der emotionen) für sich realistisch begründet vortragen können. was noch lange nicht heisst, dass man sie deswegen akzeptieren muss.
diejenigen schreibtischtäter jedoch, die wie neulich in der welt und jetzt bei spon ihre faktischen forderungen nach einer staatstragenden aufweichung des folterverbotes u.a. mittels der objektivitätskeule medial verbraten, können die eben skizzierte position für sich keinesfalls in anspuch nehmen. bei ihnen läuft es daraus hinaus, dass sie mittels abstraktionen und fiktionen eine angebliche notwendigkeit dafür konstruieren, dass sich staatliche institutionen bereits einfach bei behaupteten angeblichen "gefahrenlagen" in einem ebenso angeblichen "öffentlichen interesse" über die angeblich vorhandenen zivilisatorischen standards der westlichen (schein-)demokratien hinwegsetzen können. und das bedeutet real nichts anderes, als den abstraktionen den vorrang vor den realen menschen zu geben. damit bekommt die sog. objektivität als notwendige wahrnehmungsmäßige basis der abstraktionen den status eines terrorinstrumentes, und damit wird auch sichtbar, wie pervers (=verdreht) das verhältnis subjektivität - objektivität hier tatsächlich ist.
zweitens: wie schon erwähnt, ist es eine der übelsten hiesigen kulturellen angewohnheiten, die sog. objektivität als einzig richtiges gelten lassen zu wollen - auch wenn das aus gründen, die gleich noch näher beschrieben werden, nur nach hinten los gehen kann und ein im schlimmsten sinne des wortes wahnsinniges vorhaben darstellt, so ist dieses primat der objektivität doch bis heute hartnäckig in uns allen verankert. klaus theweleit schrieb dazu 1977 zwar in einem speziellen zusammenhang (besonders an "die linke" gerichtet), aber dennoch imo auch allgemeingültig:
"Geradezu gewalttätig wird die Verwendung des rational/irrational-Gegensatzes, wennn sie mit dem subjektiv/objektiv-Gegensatz gekoppelt wird. (...) In seiner vulgärsten (und verbreitetsten) Form nennt dieses Denken objektiv/rational/real alles, was mit der gesellschaftlichen Produktion zusammenhängt und subjektiv/irrational/irreal alles, was bloß beim Menschen, im `Psychischen´ erscheint und den Sieg der Rationalität des `objektiven´ Prozesses behindert (...)"
"In Wahrheit sind diese Gegensatzpaare auf das Paar negativ/positiv bezogen, auf die Unterscheidung richtig/falsch. Es sind wertende Begriffe, vor allem verurteilende. Sie stützen Systeme, nicht Erkenntnisse, und die Systeme, aus denen sie stammen, sind überlebt.(...)"
(der nächste satz bezieht sich vor allem auf eine bestimmte orthodox-kommunistische position, anmerk. mo)
"Sie streiten sich z.b. immer noch darüber, was `richtiges´ oder `falsches´ Bewußtsein ist. Dabei ist `Bewußtsein´ immer falsch, wenn es in Gegensatz zum `Unbewußten´, zur Emotionalität, zur menschlichen Affektivität gesetzt wird, und das wird es in der Regel. `Richtig´ und `falsch´ ist eine Unterscheidungsmöglichkeit innerhalb axiomatischer Systeme."
(klaus theweleit "männerphantasien" bd. 1; hier zitiert nach einer ausgabe von 1977, s. 273/274)
wobei ich denke, dass sich die verwirrung zum begriff "bewusstsein" auch daraus ergibt, dass unsere sprache hier unpräzise ist (wahrscheinlich nicht zufällig): "ich bin mir bewusst" steht i.d.r. für eine position der scheinbaren objektiven erkenntnis, während "bewusstsein" als ganzes gesehen je nach kontext sowohl für die gesamten kognitiven und psychischen prozesse gesetzt wird, als auch gerne alleine mit den kognitiven fähigkeiten (und hier primär mit den objektiven und abstrakten) gleichgesetzt wird. und gerade die letztere position wird von theweleit imo berechtigt kritisiert, auch wenn in seinen worten nicht ganz herauskommt, dass es hier auch und gerade um die körperliche (psychophysische) basis der emotionen und der menschlichen affektivität geht. "klassisch" linke positionen neigen bis heute dazu, letztlich ideologien als "falsche gedanken", die dann sekundär auch "falsche gefühle" produzieren sollen, für die soziale passivität bis hin zum offen reaktionären handeln "der massen" verantwortlich zu machen. und das ist absolut unhaltbar, ignoriert alles heutige wissen um die menschliche struktur und führt zwangsläufig in die irre. sowie in der folge zur politischen bedeutungslosigkeit.
ohne direkten bezug zu dieser speziellen auseinandersetzung, aber mit sehr viel bezug zum allgemeinen thema, hat der hier bereits oft zitierte j.e. mertz (siehe literaturliste) in seinem buch einen meiner meinung nach sehr interessanten versuch gemacht, das verhältnis zwischen objektivität und subjektivität als ausdruck psychophysischer funktionen zu begreifen. ich kann das hier natürlich leider nur umreißen. in den grundzügen läuft seine analyse darauf hinaus, das das, was er als "konstruktivistisches ich" benennt (und was ich hier öfter "objektivistisches bewusstsein" nenne, gleichbedeutend mit der instrumentellen vernunft und dem westlichen begriff von rationalität), eine funktion, ein werkzeug darstellt (er geht sogar soweit, das als "nützlichen defekt" zu bezeichnen) - und zwar ein werkzeug der subjektivität, wobei letztere als primärer menschlicher zustand begriffen wird. das bedeutet nichts anderes als die aufhebung des scheingegensatzes - in diesem sinne ist die objektive position niemals ausserhalb der subjektivität zu finden, sondern - überraschung - ihr immanent! unsere subjektivität können wir ohne größere schwierigkeiten (wenn wir denn einigermaßen gesund sind) in all ihren gefühlen, intuitionen, erfahrungen, lüsten und schmerzen mit unserer körperlichkeit assoziieren, d.h. uns ihrer körperlichen basis bewusst sein. die objektive position hingegen beruht auf der gleichen basis - welche sollte sie auch sonst besitzen? -, ist daher also eigentlich immer ebenso subjektiv wie alles andere, wird aber quasi durch einen trick von dieser subjektivität scheinbar getrennt und gewinnt dadurch etwas, was sich als eine als-ob-eigenrealität bezeichnen lässt:
"Die wichtigste Besonderheit dieses Körpervorgangs vom psychischen Typus liegt wohl darin, daß er subjektive Erfahrungen generiert, die selbst ganz und gar körperliche Vorgänge sind, auch wenn sie niemals als solche erlebt werden, sondern immer nur als nicht-körperliche, als ob sie nicht körperlicher Art wären. Die subjektive Erfahrung täuscht: Als fundamentalste und folgenreichste Täuschung imponiert die erfahrungsmäßige Entkörperung des `Psychischen´, `Mentalen´, `Geistigen´. Diese Entkörperung ist reine Fiktion, sie ist real nicht möglich. Bei diesem fest eingebauten Programmfehler des Psychischen scheint es sich um einen nützlichen, kreativen Defekt zu handeln: Auf der Basis dieses scheinbar entkörperten Prozesses entsteht nämlich die ganze Welt der menschlichen Fiktion mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten. Auch das Bewußtsein ist ein Teil dieses scheinbar entkörperten fiktiven Gesamtprozesses."
(j. e. mertz, "borderline..."; s.78)
wenn Sie oder ich heute nacht also träumen, wenn Sie sich zufällig gerade mit matheaufgaben herumschlagen oder pläne machen, wie Sie weihnachten verbringen wollen und dafür eine einkaufsliste im kopf zusammenstellen; wenn Sie sich eine phantastische geschichte ausdenken oder aber mit einer grippe flachliegen und im fieber halluzinieren - dann sind das zwar alles anscheinend körperlose vorgänge, sozusagen virtuelle realitäten und teils auch deutliche simulationen - bloß: all diese vorgänge sind real und konkret untrennbar an Ihren körper, besonders Ihr gehirn, Ihre nervensysteme und wahrnehmungsfähigkeiten, gebunden. sie existieren nicht irgendwo "außerhalb" in einer fiktiven imaginären sphäre. das klingt zwar beim nachdenken zunächst banal, ist aber eine realität, die nicht nur die westliche kultur - und da besonders etliche philosophische und auch psychologische strömungen - seit jahrhunderten nicht zur kenntnis nehmen will und in ihren modellen vom menschlichen leben meistens ignoriert. was auch an folgendem liegen dürfte:
"Entstehungsgeschichte und Funktionsmerkmale dieses fiktiven Arbeitsmodus haben womöglich etwas damit zu tun, daß das Gehirn selbst als Organ, das an der Produktion der subjektiven Erfahrung wesentlich beteiligt ist, dem Zugriff eben dieser subjektiven Erfahrung weitgehend entzogen ist: Als subjektive Erfahrungswesen können wir die ureigene körperliche Arbeitsbasis unserer Erfahrunng nicht vollständig wahrnehmen und bleiben diesbezüglich, also beim Versuch einer Selbstreflexion oder Selbstdefinition, immer auf Fiktionen angewiesen. Ein Vorgang, dessen materielle Grundlage nicht unmittelbar erkennbar ist, bekommt in der subjektiven Erfahrung immer eine (zumindest zusätzliche) gespenstische Qualität: Subjektive Erfahrung, die keinen unmittelbaren, d.h. sinnlichen Zugang zu ihrer eigenen körperlichen Arbeitsbasis hat, erfährt sich selbst ganz unvermeidlich als körperlosen Vorgang und muß sich selbst zunächst in solchen Kategorien reflektieren. Das fiktive, d.h. psychische bzw. bewußte Ich erlebt sich immer nur als vollkommen entkörpertes Gespenst, das sich als scheinbar Nicht-Körperliches in Opposition zum scheinbar Nur-Körperlichen (dem entseelten Körper) befindet: Das Psychische als illusionäres Artefakt erzeugt zwangsläufig das illusionäre Artefakt des Nur-Körperlichen. Beides, reine Psyche und bloßer Körper sind realitätswidrige Fiktionen aus der Werkstatt des fiktiven Arbeitsprozesses selbst.
Das Psychische wäre also ein Fabrikat, das keinen direkten Einblick in die Fabrikationsstätte hat, von der es unaufhörlich fabriziert wird. Bildlich: Ein Flugpassagier, der das Flugzeug, in dem er sitzt und das ihn trägt, nicht wahrnehmen kann, muß sich selbst als eine ganz besondere Art von Flugwesen wahrnehmen, als Flugwesen eben, das ohne Flugzeug fliegen kann und nunmehr mit den richtigen Flugzeugen um die Wette fliegt. Jede bewußtseinsorientierte Psychologie sitzt dieser kapitalen, ziemlich verrückten Illusion auf und vervielfältigt nur diesen immanenten Irrtum des Bewußtseins selbst."
(mertz, "borderline..."; s.78)
ich finde diese argumentation ersteinmal plausibel, besonders vor dem hintergrund der bisherigen ergebnisse der neurowissenschaften, aber auch aufgrund meiner eigenen persönlichen erfahrungen gerade mit körpertherapeutischen prozessen. beim näheren nachdenken zwingen sich jedoch unzählige fragen und konsequenzen regelrecht auf, von denen einige auch wieder zurück zum eingangsthema - folter, ihre mediale propagierung und die voraussetzungen dafür - führen werden.
zunächst aber noch dieses: mertz begreift psychotische prozesse - die er in zwei strukturell unerschiedliche formen teilt: eine grundsätzlich autistische form, die unter bestimmten bedingungen durchaus kompatibel mit den jeweiligen, gesellschaftlich produzierten normen der sog. objektiven realität ist, sowie eine schizophrene form, die von der heutigen zuständigen psychiatrie meist alleine als psychotisch gewertet wird, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie ganz offensichtlich bspw. durch halluzinationen nicht kompatibel mit der herrschenden aktuellen realitätsnorm ist (mit dieser postulierung von zwei qualitativ unterschiedlichen psychotischen wegen ähnelt sein modell übrigens auch ähnlichen gedanken bei arno gruen und theweleit) - grundsätzlich als ausdruck einer aus dem gleichgewicht geratenen und sich verselbstständigen objektiven position innerhalb des "menschlichen funktionsganzen". in seinen worten:
"Die Psychose beginnt in der Regel nicht erst mit dem offensichtlichen Wahnsinn, der auffällig störenden Verrücktheit, sondern lange, lange vorher, die Psychose beginnt haargenau als beliebig rationales, im objektiven Sinne beliebig realitätstüchtiges Kontrollbewußtsein, das allerdings in einer funktionalen Monopolposition operiert. Kurzum, der psychotische Prozeß wäre weitgehend identisch mit dem an sich gesunden Prozeß des objektiven Kontrollbewußtseins, das jedoch im Falle einer Psychose aus dem Funktionsganzen ausbricht, sich verselbstständigt und auf das vollständige Subjekt, dem es entstammt und von dem es sich funktional quasi emanzipiert hat, wie auf ein Fremdes, Nichtichhaftes zurückblickt. Das, was den Psychotiker hauptsächlich plagt, quält und verfolgt, ist das vollständige Subjekt, das er (fiktiv) hinter sich gelassen hat."
"Weicht die stets objektive Realitätsbewältigung des Psychotikers von den jeweils geltenden objektiven Realitätsnormen seiner Bezugskultur ab, so gilt er als `verrückt´, gelingt ihm eine flächendeckende Anpassung an die geltenden objektiven Realitätsnormen, so könnte er z.B. die unauffällige Existenz eines theoretischen Physikers führen oder vielleicht sogar durch die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie, etwa einer Relativitätstheorie, auffallen." (ein deutlicher hinweis auf einstein, der u.a. von temple grandin als aspergerautist definiert wurde; anmerk. mo)
"Den Endprodukten des objektiven Arbeitsmodus ist es prinzipiell nicht anzusehen, ob sie von einer psychotischen oder intakten Person stammen. Es besteht jedenfalls kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Perspektiven einer strikt objektiv operierenden Wissenschaft einerseits, unserem gewöhnlichen objektiven Kontrollbewußtsein anderseits oder der strikten Objektivität des Psychotikers in einer akuten Phase.
Es ist der Psychotiker selbst, der mit seinen auffälligen objektiv abnormen Entgleisungen, die immer innerhalb des objektiven Modus stattfinden (von der objektiven Normkonformität zum objektiven Normverstoß), die verborgene Wahrheit der Wissenschaft und des Alltagsbewußtseins endgültig auffliegen läßt. Der Psychotiker widerlegt die objektive Methode im existenziellen Selbstversuch und am eigenen Leib, er zahlt meist einen hohen Preis für diese endgültige Widerlegung."
(mertz, "borderline..."; s.84/85)
bevor ich nochmals auf die wahrscheinlich für die meisten ungewohnten ansichten eingehe, noch eine anmerkung zur frage, wie vor dem hintergrund des obigen modells dann die subjektivität zu begreifen ist:
"Das authentische (inter)subjektive Geschehen wird jedoch keineswegs von den Gesetzen der Rationalität oder einem objektiven Realitätsverständnis regiert. Trotz fehlender Rationalität im engeren Sinne und fehlender Objektivität muß der subjektive Prozeß dadurch nicht unbedingt ir-rational im weiteren Sinne oder ir-real werden. Der subjektive Prozeß repräsentiert eine ganz eigene, andere Realität, die einer ganz eigenen, `anderen´ Rationalität gehorcht (das, was ich weiter oben als emotionale Rationalität benannt habe, mo)
Diese subjektive Welt kann mit den Mitteln des rationalen und objektiven bzw. objektivierenden Kontrollbewußtseins nicht adäquat erschlossen und auf dieser Ebene nicht angemessen abgebildet werden (...)"
(mertz, "borderline..."; s.83)
so. auch die obigen thesen dürften mit dafür verantwortlich sein, dass dieses buch so hartnäckig ignoriert wird. dabei haben sie durchaus das potential, einige destruktive kulturelle mythen zu zerstören. ich fasse sie nochmals mit eigenen worten zusammen, und möchte auch auf ein paar auf der hand liegende konsequenzen hinweisen.
1. das, was wir als "objektivität" begreifen, ist kein echter gegensatz zur subjektivität, sondern ein funktionaler teil von dieser. wie der effekt dieser scheinbar eigenen und körperlosen qualität der objektiven position wahrscheinlich zustande kommt, ist weiter oben beschrieben.
2. der objektivistische modus ist "für sich" keineswegs krankhaft, sondern ein integrierter teil der menschlichen struktur. er zeichnet sich aus durch die produktion von virtuellen räumen, welche die voraussetzungen für die produktionen von fiktionen, abstraktionen und simulationen bilden. das können sowohl bspw. abstrakte mathematische uind logische gesetze, baupläne usw. einerseits, als auch träume, phantasien aller art, erdachte geschichten, halluzinationen usw. sein (hier leigt imo auch die berühmte bruchstelle zwischen "genie und wahnsinn"). die verschiedenheit der möglichen produktionen macht bereits deutlich, dass es sich hier um eine art werkzeug handelt - und nicht um eine tatsächliche eigene qualität, wie sie etwa die subjektivität darstellt.nebenbei gesagt, dürfte dieser modus auch den entscheidenden unterschied zwischen menschen und tieren ausmachen sowie die dominante position der spezies mensch auf diesem planeten ermöglichen (fähigkeiten wie bspw. die zur kalkulierenden planung sind imo bisher bei keinem einzigen tier beobachtet worden).
3. der objektivistische modus kann nichts "aus sich selbst heraus" schaffen, sondern verwertet für seine produktionen immer den sensorischen input unserer wahrnehmung in all ihren facetten - das bildet selbst dann immer noch die untrennbare körperliche basis, wenn sich dieser modus fiktiv selbstständig gemacht hat. alles, was wir fiktional produzieren können, lässt sich auf existierende phänomene der realität beziehen. und das, was in diesem bereich als kreativität gilt, dürfte sich hauptsächlich auf die fähigkeit beziehen, verschiedene elemente dieser realität in neuer und überraschender weise zu kombinieren.
4. der objektivistische modus dürfte der hauptverantwortliche faktor für die existenz von durch und durch fiktiven göttern, nationen und ähnlichen kulturellen produktionen darstellen.
5. der objektivistische modus ist strukturell eine autistische position, da er funktional mittels mehr oder weniger starker wahrnehmungsreduktion arbeitet, von der besonders die körperlichen wahrnehmungsarten (zb. propriozeption) betroffen sind. die virtuellen räume des bewußtseins müssen mittels focussierung und abziehung der aufmerksamkeit von der dominanten äußeren realität erzeugt werden - die ständig vorhandenen vielfältigen beziehungen des menschen zur welt werden fiktiv aufgehoben. im ungleichgewichtsfall ist er verantwortlich für die extremensten formen zwischenmenschlicher isolation.
6. der objektivistische modus kann vom menschlichen funktionsganzen auch bei der bewältigung gefahrvoller situationen genutzt werden - er unterliegt in solchen situationen normalerweise keiner bewußten kontrolle und arbeitet dabei mit einer enormen geschwindigkeit sowie gesteigerter wahrnehmungsreduktion. das eröffnet eine breite spur zum bereich traumatischer folgen von zwischenmenschlicher gewalt einerseits sowie zur frage, wie sich dieser modus bei ungünstigen pränatalen einflüssen während seiner entwicklung verhält.
7. wenn menschen innerhalb sozialer beziehungen anscheinend zueinander "auf distanz gehen", misstrauen entwickeln oder sonstige störungen auftreten, bedeutet das auch immer eine verobjektivierung der gegenseitigen wahrnehmung, dementsprechung auch eine reduktion von gegenseitiger aufmerksamkeit und empathie sowie eine focussierung auf bestimmte verhaltensweisen und mögliche gefahrensignale. als korrekturinstanz würde dieser modus damit auch die möglichkeit eröffnen, innerhalb von beziehungen auf die berühmte metaebene zu wechseln, um dort mögliche quellen von störungen auszumachen. lösen lässt sich auf dieser ebene allerdings nichts, sondern als nächster schritt muss die rückkehr zur qualitativ anders funktionierenden vollen subjektivität mitsamt der aufgabe von kontrolle (und der wiederkehr von vertrauen) folgen. funktional bedeutet das eine verkleinerung des objektiven modus mit der folge, dass mehr und andere wahrnehmungen zugelassen werden können.
8. innerhalb des objektiven modus lassen sich zwar erklärungsmodelle und simulationen realer vorgänge entwerfen und durchführen, niemals jedoch kann sich tatsächlich echtes verständnis auf dieser ebene entwickeln (und das dürfte selbst für das verstehen von bspw. mathematischen aufgaben gelten). das lässt sich nur mittels der vollen subjektivität mit all ihren wahrnehmungsoptionen erreichen - die berühmte intuition ist u.a. in diesem bereich angesiedelt. ich würde mich hüten, zu den themen dieses blogs zu schreiben, wenn ich nicht ganz persönliche erfahrungen und erlebnisse hinter mir hätte, die mir die hier skizzierten modelle und berichte von anderen in entscheidendem maße verständlich machen würden. ohne diese persönliche basis wäre das hier nichts als eine intellektuelle spielerei.
9. der objektivistische modus kann krankheitswertig entgleiten und funktional hypertrophieren (sich aufblähen). was dann zur folge haben kann, dass a) der eigene körper als "fremd", bzw. als objekt empfunden wird; b) eine extreme wahrnehmungsreduktion v.a. der körperlich basierten wahrnehmungen, die z.b. für die empathiefähigkeiten eine rolle spielen, dauerhaft einsetzt; unter anderem auch wg. dieser reduktion c) die eigenen fiktionen sich als dominant vor bzw. über die realität schieben und im extremfall als äußeres erlebt werden (halluzinationen); und d) das eigene "ich" als pures geistiges und isoliertes gebilde erlebt wird. falls eine oder mehrere der beschriebenen zustände von dauer sind, so ist imo die wahrscheinlichkeit dafür groß, dass beim betroffenen über kurz oder lang eine der hier im blog als beziehungskrankheiten bezeichneten störungen diagnostiziert wird - wenn die betreffende person nicht über große simulative fähigkeiten zur anpassung an den objektiven realitätsbegriff verfügen sollte.
10. es ist meiner meinung nach eine erschreckende wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, dass die jahrhundertelange realität traumatischer sozialer gewalt bis heute bei uns allen nicht nur zu der mehr oder weniger starken eben skizzierten entwicklung eines ungleichgewichts zwischen dem objektiven werkzeug und der subjektivität geführt hat - wofür eben auch die auffällige verherrlichung der objektiven position innerhalb der westlichen kultur ein indiz darstellt -, sondern wir auch davon ausgehen müssen, dass es parallel zu einer mehr oder weniger deutlichen schädigung bzw. vielleicht sogar rückentwicklung der qualitativ anderen subjektiven fähigkeiten bei uns gekommen ist. gerade die arten der kinder"erziehung", wie zb. von deMause dargestellt, führen ganz zwangsläufig zu einem mißtrauen gegen die meistens schmerzhaften eigenen authentischen gefühle, gegen die - im kontakt mit machtmenschen meistens schmerzerzeugenden - eigenen authentischen bedürfnisse sowie ganz allgemein gegen die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten. letzteres ist im falle von gewalt gegen kinder für diese sogar fast die einzige option, den absolut unerträglichen und nicht zu verarbeitenden schmerzvollenn input zu überleben - eben mittels wahrnehmungsreduktion per dissoziation, derealisierung usw.
(dazu ist ebenso auffällig, dass zb. gefühle in einer vielzahl von fällen tatsächlich sehr verzerrt sein können und sind, viele menschen die existenz von intuition nicht zu kennen scheinen und sogar leugnen etc.etc. woher aber diese verzerrungen stammen können, ist eine frage, über die wir uns schleunigst gedanken machen sollten.)
all das führt in der folge zu einer im wahrsten sinne des wortes ver-rückten weltwahrnehmung. und wenn solche prozesse vorgänge innerhalb einer kultur quasi zum mainstream gehören, bleibt keinerlei ausweichmöglichkeit vor dem schluß übrig, dass wir es in solchen fällen mit einer insgesamt ver-rückten kultur zu tun haben...in der sich dann eben auch verrückte eliten nicht nur als "normal" darstellen können, sondern auch hauptsächlich mit dem eigenen und stellvertretenden ausagieren verrückter bedürfnisse beschäftigt sind.
11. eine ganz persönliche einschätzung: ich halte das gerät, an dem ich und Sie gerade sitzen, für eine fast perfekte materialisation des objektivistischen bewußtseins. ein computer ist a) ein werkzeug; b) ein produzent von virtuellen räumen und simulationen (und zwar ausschließlich); c) arbeitet - ebenso wie das objektivistische bewußtsein unter stress - mit einer enormen geschwindigkeit; d) ist primär eine ordnende maschine; und e) sowohl ohne äusseren input - software, energie - als auch ohne die materielle basis der hardware einfach ein haufen schrott (womit der wesentliche unterschied zum objektivistischen bewusstsein benannt wäre).vor diesem hintergrund wird es besonders interessant sein, sich einmal die schon angedeuteten verbindungen zwischen autismus und computern näher anzuschauen. aber das ist ein zukunftsprojekt.
*
das war jetzt ein recht weiter rundblick, der uns am ende aber wieder zum bedrohlichen thema folter führt. wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, bestehen jede menge gründe dafür, auch die folter als maßgeblich vom objektivistischen bewußtsein geprägtes mögliches verhalten von menschen anzusehen. ich habe mich in der letzten zeit intensiver mit diversen berichten und analysen zum thema folter beschäftigt, u.a. in bezug auf verschiedene zeiten und epochen: relativ aktuell mit kolumbien, türkei, argentinien, usa, sowie historisch mit nazideutschland und der offen stalinistischen phase der sowjetunion.und dabei sind für mich mehrere strukturen deutlich geworden (und glauben Sie nicht, dass ich beim lesen so kühl geblieben bin, wie es jetzt hier virtuell rüberkommt):
1. die methoden und einstellungen der folterer ähneln sich ebenso weltweit wie die berichte derjenigen, die noch unter der folter zur wahrnehmung ihrer folterer und zur analyse ihrer gefühle fähig waren.
2. die rechtfertigungen der folter seitens der jeweils herrschenden eliten ähneln sich ebenso - primat haben die jeweils aktuellen ideologischen fiktionen. ein beispiel dafür, in dem auch noch staatliche und religiöse fiktion zusammenfließen, aus der türkei - anlässlich eines staatlichen massakers gegen teilnehmerInnen an einer demonstration zum ersten mai 1989, bei dem viele überlebende verhaftete gefoltert wurden, sagte der damalige zweite vorsitzende der damals regierenden "mutterlandspartei", galip demirel, folgendes:
"Sultan Mehmet der Eroberer hat folgendes Gesetz erlassen: `Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist der Brudermord heilig.´ Er hat gut daran getan. Das heißt, im Interesse des Staates ist das Töten des Bruders gerechtfertigt und richtig, wie ein Befehl Allahs. Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist alles erlaubt. Wenn der eigene Bruder sich gegen die öffentliche Ordnung auflehnt, darf er getötet werden."
(ömer erzeren,"septemberspuren"; rororo aktuell, reinbek 1990; s.39/40; 980-isbn 3 499 127288)
die "öffentliche ordnung", die hier absolutistisch von einem offiziellen vertreter des staates beschworen und über allem - vor allem menschlichen leben - positioniert wird, ist nichts weiter als eine abstraktion - eine abstraktion im dienste der interessen einer kleinen elitären herrschaftsschicht. ich bleibe an dieser stelle bei meiner einschätzung, dass sich solches vorgehen strukturell kein stück von den methoden unterscheidet, die zb. auch die mafia zur aufrechterhaltung ihrer "ordnung" einsetzt - gewalt, mord und einschüchterung.
3. die psychophysische verfassung der folterer hat verdammt viele strukturelle ähnlichkeiten mit dem wissenschaftlich unbeteiligten und objektiven blick, wie er in unserer kultur als "vorbildlich" dargestellt wird. ein interview mit einem ex-folterer in der türkei, welcher 1986 in einer türkischen zeitung über die foltermethoden berichtete (und damit einigen wirbel verursachte), macht das deutlich:
"Es ist die Rede von `Operationstisch´, `Metzgerhaken´, `Technik´, `Verfahren´. Ist die Tätigkeit eines Folterers mit der Tätigkeit eines Arztes - sagen wir eines Chirurgen am OP-Tisch, der einen Nierenstein entfernt - vergleichbar?"
Sedat Caner: "Ja. Der Chirurg hat ein bestimmtes Ziel vor Augen. Um den Patienten zu heilen, entfernt er durch die Operation irgendeinen Teil im Körper. Der Folterer hat auch ein Ziel vor Augen. Der Verhörte ist ein Vaterlandsverräter, ein Schädling. Du mußt ihn zum Sprechen bringen. Aus seinem Mund muß ein Geständnis kommen. In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch. So bist du erzogen worden. Der Folterer ist wie ein Roboter. (...)"
(ömer erzeren, "septemberspuren"; s.93)
das ist deutlich genug - "In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch", sondern wird in der wahrnehmung des folterers zum objekt verwandelt. der sich bereits vorher ebenso zum objekt ("roboter") verwandelt hat - empathie und mitgefühl mehr oder weniger völlig ausgelöscht. das ist eine elementare vorbedingung dafür, überhaupt foltern zu können. und dieser prozeß ist funktional absolut identisch mit der objektivistischen position, die ein wissenschaftler (und die ihn unterstützenden politikerInnen) bspw. bei tierversuchen einnimmt, und überhaupt bei jeder wissenschaftlich-objektiven beobachtung.
es gibt unter folterern durchaus auch wahrscheinlich gehäuft leute, die selbst nach den mangelhaften modellen der heutigen psychiatrie bspw. als sadistische psychopathen verstanden werden können, die tatsächlich einen lustgewinn aus der folter anderer ziehen. ich habe quer durch die länder und epochen immer wieder berichte von solchen leuten gefunden. die mehrheit der folterer jedoch dürfte eher dem typ eines eichmanns entsprechen - pflichtbewußt, autoritätshörig und hierarchiesüchtig. und extrem objektiv. aber aus dieser relativen "normalität" ist imo keinesfalls zu schließen, dass wir es hier nicht mit einer schweren pathologie zu tun haben. im gegenteil.
wahrscheinlich haben die meisten leserInnen hier schon vom milgram-experiment gehört. weniger bekannt ist ein kleines detail aus diesem experiment:
"Psychosomatische Symptome sind oft die Folge verweigerten empathischen Mitfühlens. (...) Die meisten Versuchspersonen (im Milgram-Experiment) führten die Anweisungen des Versuchsleiters zwar gehorsam aus, hatten dabei aber psychosomatische Symptome wie Zittern, Schwitzen oder auch Krämpfe."
(arno gruen, "der wahnsinn der normalität"; s.62 - siehe literaturliste)
auch der oben zitierte folterer konnte aufgrund verschiedener psychophysischer (ein präziserer begriff) symptome nicht mehr "weiterarbeiten". interessant in diesem zusammenhang ist auch die information, dass von den medizinischen berufen sowohl zahnärzte als auch chirurgen meines wissens nach sowohl eine erhöhte suizidrate aufweisen als auch öfter mit suchtproblemen zu kämpfen haben. der dauernde zwiespalt zwischen schmerzzufügung im zahnarztstuhl, empathie beim aufschneiden von bäuchen sowie der notwendigkeit, eben diese empathie zugunsten eines objektivistischen blickes zeitweise zu reduzieren, macht sich anscheinend auf diese art bemerkbar. so wie die wissenschaftliche position, die die teilnehmerInnen am milgram-experiment in unterordnung unter die "wissenschaftliche autorität" als "notwendig" akzeptierten, mit ihren eigenen empathischen fähigkeiten kollidierte. in solchen situationen jedenfalls scheinen menschen aus kulturen mit einer "wissenschaftlichen" bzw. objektivistischen sozialisation (wobei wahrscheinlich grundsätzlich vorhandene gewaltstrukturen innerhalb einer gesellschaft diese position erst so richtig fördern) dazu zu neigen, dieser position auch die ausdehnung in den bereich sozialer beziehungen zu erlauben - und in diesem bereich hat diese objektivität aber so ziemlich nichts verloren, bzw. sollte dort nur sekundär als möglichkeit zur beziehungskorrektur eingesetzt werden.
der eingangs erwähnte sponautor hat sich bei seiner argumentation jedenfalls die gleiche objektivistische position zu eigen gemacht (die auch die grundlage für die konkrete folter darstellt). und die normalität und gewohnheit eines solchen vorgehens ist es, die absolut besorgniserregend ist.
...wotans weltnetzseite (der aktive link war lange genug online) nennt, muss man(n) nicht lange nachdenken - ja, das ist deutschland - von schlesien über elsaß-lothringen bis ins sudetenland. hossa! und die kameradInnen im beschränkten geiste alle aufgeführt - vom "mädelring thüringen" über den "sächsischen heimatschutz" und die "british national party" bis hin zur koreanischen demokratischen volksrepublik werden die eigenen wünsche nach unterordnung, hierarchien, prügel und stechschritt hübsch in der welt verteilt. da trifft sich der nazi gerne auch mit dem militaristischen und nationalistischen stalinisten, erst recht, wenn dieser auch gegen "den us-imperialismus" antritt. der antisemitismus als evergreen des rechtsextremen wahns ist natürlich an vorderster stelle dabei, und dazu gibt´s noch instrumentalisierung von kriegsopfern - wichtig ist dabei, das diese opfer unbedingt deutsch sein müssen, um sie aufrechnen zu können - "tausche ein dresden gegen ein treblinka, und jetzt sind wir quitt". all diese widerwärtigkeiten werden jedoch noch getoppt vom link auf eine seite namens "nationale gegen kinderschänder" - die perfidie und verkommenheit dieser sich als "kinderfreundlich" gerierenden bande muss erstmal erreicht werden:
"Ganz kleine Kinder oder Neugeborene wurden meistens gleich getötet, da man sie nicht für Arbeitseinsätze gebrauchen konnte. KZ-Aufseher taten dies oft auf sehr grausame Art und Weise. "Eine Frau gebar ihr Kind, ich wickelte es in Kleidungsstücke und legte es neben der Mutter auf den Boden, dann brachte ich der Mutter aus einem anderen Waggon ein Lebensmittelpaket. Baretzki kam mit dem Stock auf mich zu und schlug mich und die Frau. 'Was spielst du mit dem Dreck' schrie er mich an. Das Kind fiel auf den Boden, und er trat es zehn bis fünfzehn Meter mit dem Fuß fort wie einen Fußball." (Simon Gotland Paris. Aussage im Auschwitz- Prozeß) "Es war 1944, daß es zu solchen Szenen gekommen ist unter Oberscharführer Moll. Er nahm das Kind von der Mutter weg, hat es weggetragen, was ich gesehen habe im Krematorium 4, wo es zwei große Gruben gegeben hat. Er hat die Kinder hineingeworfen in das kochende Fett von diesen Leuten" (Filip Müller, arbeitete im Sonderkommando in Birkenau)."
(quelle)
ob wohl das wort kinderfachabteilung in diesen kreisen bekannt ist?
Nach eigener Aussage gab Dora V. den Kindern die in Wasser aufgelösten Tabletten [Luminal) zum Trinken. Dann seien die Kinder „eingeschlafen“ und hätten sich nicht mehr bewegt. In eineinhalb bis zwei Tagen sei dann der Tod eingetreten. Wenn in seltenen Fällen ein Kind bis zu einem Dämmerzustand“ erwachte, habe Baumert eine neue Medikamentengabe angeordnet [...]. Als Todesursache für die so getöteten Kinder , wurde, wie Baumert aussagt, „meistens Lungenentzündung angegeben“ [...].
und die kinder vom bullenhuser damm werden ihnen vermutlich auch kein begriff sein:
"Im KZ Neuengamme führte der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer Tbc-Versuche an Häftlingen durch. Dazu ließ er im November 1944 zwanzig jüdische Kinder, zehn Jungen und zehn Mädchen, aus dem KZ Auschwitz nach Neuengamme bringen. Betreut wurden die Kinder von zwei französischen Häftlingsärzten, den Professoren René Quenouille und Gabriel Florence, und den zwei holländischen Pflegern Anton Hölzel und Dirk Deutekom. Um das Verbrechen zu verbergen, ließ die SS-Führung die Kinder und ihre vier Betreuer wenige Tage vor Kriegsende in ein seit Oktober 1944 als KZ-Außenlager genutztes Schulgebäude im kriegszerstörten Stadtteil Rothenburgsort bringen und dort ermorden."
faschismus ist keine meinung - und nur oberflächlich eine "ideologie" -, sondern eine schwere psychosoziale störung (mit entsprechender psychophysischer basis), deren ausagierte symptome üblicherweise als verbrechen und terrorismus in jedem nur denkbaren sinne daherkommen. und bei dem die betroffenen sich für die einzig vernünftigen menschen halten. in diesem punkt ähneln sie z.b. auch den echten psychopathen. professionelle antisoziale sozusagen. so wie herr oder frau "wotan".
...auf die vielen kommentare der letzten zeit hier brauchen noch eine weile - jana hatte ja das wort "verfransen" genannt, und das ist tatsächlich bei den thematiken hier so eine sache, die schnell passieren kann. obwohl ich glaube, dass ich das bisher ganz gut ausbalancieren konnte. aber die diskussion jetzt hat natürlich grundsätzlichen charakter, und da geht´s dann schnell mal über alle (sinnvollen) grenzen. aber ich bin dabei, für die erwähnten antworten eine form zu entwickeln, die diese gefahr im besten falle unterlaufen könnte. mal sehen.
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erschwerend dazu kommt natürlich die übliche depression beim betrachten des (psychopathologischen) treibens unserer spezies, bzw. von relevanten teilen derselben. es ist, je nach eigener verfassung, mehr oder weniger zum ständigen weglaufen, zum ständigen hände-vor-den-kopp-hauen, zum an-die decke-gehen oder einfach nur zum weinen.nur ein beispiel:
wenn sich in der zeit mal wieder jemand darüber echauffiert, dass "deutsche Staatsbürger von fremden Geheimdiensten drangsaliert" werden, so ist die perversion offen sichtbar - mit betonung auf "deutsch" und "fremd" werden hier mitnichten einfache zivilisatorische standards eingefordert - nein, die foltermethoden der cia (wie auch die praxis der todesstrafe in den usa - beides dinge, zu denen ich sehr klare gefühle und gedanken habe) werden hier benutzt, um mal wieder die misstönende kakophonie aus antiamerikanischen ressentiments (die etwas anderes sind als die imo sehr nötige kritik an den ökonomischen, sozialen und politischen verhältnissen in den usa), dem ewigen deutschen komplex der eigenen "fehlenden souveränität" (die in d-land anscheinend immer nur als "staatliche" gedacht werden kann), sowie der inszenierung der eigenen aktuellen "deutschen identität" als etwas besseres erklingen zu lassen - kein stück geht es dabei um menschenrechte, die nur jenseits der identitätsstiftenden halluzinationen von nationen und staaten einen sinn machen und auch nur gegen diese konstrukte durchgesetzt werden können.
all diejenigen stimmen der "öffentlichen meinung", die sich jetzt als "zivilisierte europäerInnen" stilisieren - haben sie noch nie etwas davon gehört, dass z.b. die europäische union mit spanien ein land als mitglied hat, in dem seit jahrzehnten die folter zu den verbreiteten verfahrensweisen der sog. sicherheitskräfte gehört? (besonders im kontext der repressionen gegen die baskischen nationalistischen bewegungen)?
das mit der türkei ein land vor der aufnahme steht, in dem ebenso routinemässig gefoltert wird, und dem deutschland in den 1980er und 90er jahren massiv hilfe für den ausbau der repressionsapparate geleistet hat in form von militärischer ausrüstung und ausbildung? lässt sich als beihilfe zum genozid an den kurdischen teilen der bevölkerung ansehen.
und die zwangsweisen abschiebungen von flüchtlingen aus deutschland in staaten, in denen die folter nachweislich von den jeweiligen regimes eingesetzt wird...
"Auch von Deutschland aus werden Menschen in Folterstaaten in aller Welt abgeschoben, da sie nicht beweisen können dass sie in ihrer Heimat Verfolgt waren. In München musste in diesem Frühjahr der togoische Oppositionelle und KARAWANE-Aktivist Akakpo Dossou untertauchen, da ihm die Abschiebung in den Folterstaat Togo angedroht wurde."
(quelle)
...sind dem zeitredakteur ebensowenig anlaß zur empörung wie die bücklinge deutscher politikerInnen und angehöriger der wirtschaftseliten vor den repräsentanten des totalitären china.
weitere beispiele für diese praxis des zwiedenkens (eine wahrnehmungsart letztlich) in den öffentlichen medien können Sie selbst suchen. es ist völliger blödsinn, davon auszugehen, das "unsere" politikerInnen bei einer hypothetischen gleichen machtposition, wie sie die usa in der welt hat, auch nur ein stück weit anders handeln würden als die jeweiligen us-administrationen. ganz im gegenteil sind überall genügend zeichen dafür wahrzunehmen, dass sie (noch) nicht so können und dürfen, wie sie´s gerne möchten. aber fleißig dabei sind, dieses "manko" aufzulösen. und eine (ver-)öffentlichte meinung - zu der z.b. auch blogs gehören - macht sich selbst zum nützlichen idioten innerhalb des gerangels zwischen soziopathischen, imperialistischen und letztlich mafiaartigen machtgruppen, die um die vorherrschaft auf diesem planeten kämpfen, wenn sie nicht die strukturellen ähnlichkeiten der masken der niedertracht in berlin, washington, paris, london, peking, moskau, teheran... wahrnehmen und die konsequenzen daraus ziehen will.
...das war mein erster gedanke bei der lektüre der heutigen zeit-presseschau, in der u.a. ein kommentar in der printausgabe der "welt" zitiert und kommentiert wurde - der "welt"-kommentar bezieht sich auf die us-amerikanische folterpraxis und rechtfertigt das so:
„Rechtsordnungen müssen aus Selbstschutz ihre zivilisatorischen Standards unterschreiten, wenn es der Notfall erfordert. Die Forderung nach einem totalen A-priori-Verzicht auf harte Verhörmethoden mag Ausdruck des reinen Gewissens sein. Sie taugt nicht als Maßstab für eine Realpolitik, die am Ende die eigene Bevölkerung vor Übergriffen schützen muß“.
„Die Macht setzt das Recht“.
pure macht-logik. gnadenlos und alles objektivierend-niederwalzend, was ihr in die quere kommt. sie glauben an ihre lügen, die für sie keine lügen sind. aber für alle anderen ist spätestens hier die grenze der - hm, "loyalitätsverpflichtung" (die eh fragwürdig erscheint) erreicht. nicht mehr gegenüber solcher macht und solchem "recht".
der wahnsinn der normalität. es wird vermutlich schneller krachen, als wir uns alle vorstellen können (und wollen).
das thema der weit verbreiteten mafiösen (und ähnlicher banden-) strukturen in vielen gesellschaften rund um die welt scheint sprachlos zu machen? ich dachte eigentlich, dass hier mehr widerspruch kommen würde - etwa auch zum punkt meiner impliziten (und bewußt provozierenden) aussage, dass es eine strukturelle übereinstimmung zwischen der als normal angesehenen durchschnittlichen kapitalistischen ökonomie und dem gibt, was so allgemein mit "mafia" bezeichnet wird (ich benutze das wort hier als metapher für die organisierte kriminalität). die fließenden grenzen zwischen beiden sektoren jedenfalls, die - wie im artikel neulich gezeigt - belegbar sind, deuten imo auf eine deutliche innere verwandtschaft hin - und wie die zustande kommt, ist eine sehr wichtige frage.
wie die aktuellen ereignisse rund um die folterflüge der cia deutlich machen, beschränkt sich diese eigenart der fließenden grenze natürlich nicht nur auf die pure ökonomie. das etwas unpräzise wort mentalität kommt mir in den sinn - ich kann diesbezgl. keine wirklichen unterschiede zwischen dem verhalten von bestimmten politikerInnen, sog. geheimdiensten (und dem rest der repressionsapparate), unternehmensführungen und der mafia erkennen. und das ist etwas, was mir auch in der ökonomie- und gesellschaftskritik von links absolut zu kurz kommt.
ohne ganz konkreten bezug zu obigen themen (aber durchaus mit indirektem), hat arno gruen vor vielen jahren folgendes geschrieben:
"Die Angepaßtheit an die etablierten Werte und Formen unter Mißachtung des eigenen Innenlebens ist eine unerschöpfliche Quelle alltäglicher Gewalt. Solange Erfolg definiert wird als Kontrolle und Beherrschung und Erfolg wiederum den Selbstwert definiert, sind alle Unterschiede der gesellschaftlichen Struktur ziemlich bedeutungslos: Das Selbst bleibt in jedem Fall verstümmelt. Ein Wechsel der politischen Ideologie ändert weder etwas an der Verstümmelung des Selbst noch an der daraus resultierenden Gewalt."
(arno gruen, "der wahnsinn der normalität", s.100 - siehe literaturliste)
hier hat gruen imo kurz und knapp den entscheidenden grund für die relative erfolglosigkeit aller bisherigen revolutionen (worunter auch auch das fällt, was in historischen rückblicken bspw. auf die russische revolution gerne als "pervertierung" bezeichnet wird) skizziert. linke ansätze, die die relevanz der strukturen des menschlichen gehirns und nervensystems sowie die daraus resultierenden wahrnehmungs(un)fähigkeiten und -möglichkeiten als eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste basis für das gesamte menschliche soziale leben nicht in betracht ziehen, nicht wahrnehmen oder ignorieren wollen, können keinerlei tatsächlich emanzipative entwicklung in gang bringen. sie können vielleicht, in besonderen historischen situationen und unter besonderen umständen, voraussetzungen dafür schaffen, dass eine gesellschaft weniger traumatische gewalt erlebt, dass die intellektuellen reflektionsmöglichkeiten durch bspw. breite alphabetisierung überhaupt erst in den bereich des möglichen kommen können u.ä. - aber sie können und konnten bisher nicht die grundsätzlichen tiefenstrukturen erreichen, in denen die prozesse ablaufen, die u.a. hier im blog ständig thema sind. und das liegt auch an einer falschen theorie bzw. an einer unhinterfragten akzeptanz des kulturellen kontextes, in dem theorien entstehen - genau dieser kulturelle kontext jedoch ist geprägt von den jeweiligen vorherrschenden psychophysischen strukturen innerhalb von relevanten mehrheiten der menschen einer gesellschaft:
"Karl Marx glaubte an eine Befreiung und Erneuerung des Menschen durch Umverteilung der Produktionsmittel. Er analysierte zusammen mit Friedrich Engels anhand brillianter Details die ökonomische Struktur des Kapitalismus, der Habgier und Besitz (-denken, mo) fördert. Doch er ging davon aus, daß Ohnmacht Schwäche sei, die der Mensch überwinden müsse, und erklärte die Eroberung der Dinge - auch die der Natur - zum obersten Ziel des Menschen. Damit verewigte er die Ideologie des machtorientierten Selbst sowie das soziale Übel, das er bekämpfen wolte. Er hat den Machtkämpfen eine neue Richtung gegeben, aber nicht die Ursachen verändert. Und noch schlimmer: indem er die menschlichen Möglichkeiten - auch die Moral (diesen punkt sehe ich bekanntlich anders, anmerk. mo) - nur unter ökonomischen Gesichtspunkten behandelte und nichts anderes zuließ, versperrte er den Weg zur Erkenntnis der tatsächlichen Wurzeln des Machtstrebens."
(gruen, "der wahnsinn...", s.100)
zu ergänzen wäre dazu noch, dass der wissenschaftliche anspruch, den marx selbst auch an sich stellte, deutlich unreflektiert alle fragwürdigkeiten des naturwissenschaftlichen weltbildes transportiert - u.a. eine verschärfte objektivistische wahrnehmung - , welches zu seiner zeit faktisch als konkurrenzlos betrachtet wurde. die reduktion auf die pure ökonomie jedoch als quasiwurzel allen (sozialen) übels stellt nach wie vor einen kapitalen und erkenntnisverhindernden fehler dar. viele jahre in der autonomen linken haben mich immer wieder dazu gebracht, mich mit der tatsächlichen definition von radikalität zu beschäftigen: radix, die wurzel - radikal = an die wurzel gehend (nebenbei gesagt, ist das übrigens auch der grund dafür, warum das wort rechtsradikalismus eigentlich einen widerspruch in sich darstellt...).
keineswegs radikal ist es imo, zwar den offensichtlichen wahnsinn der aktuellen und historischen gesellschaftlichen machtverhältnisse anzuprangern und zu analysieren, bei der analyse jedoch immer genau an den punkten aufzuhören, an denen es meiner meinung nach tatsächlich interessant wird: bei dem, was diejenigen motiviert und antreibt, die diese machtverhältnisse ständig neu erschaffen, reproduzieren, brauchen, verteidigen, tolerieren und auch ignorieren. wie mit stillem gehorsam gegenüber einem unausgesprochenem kollektiven verbot bleiben viele angeblich linke kritiken an dieser stelle stehen und begnügen sich mit nichterkärungen und mythen aus dem kollektiven bestand der bürgerlichen gesellschaft: das "der mensch an sich" schlecht sei, "böse", egoistisch, zu machtmißbrauch neige und deswegen streng kontrolliert gehöre und dergleichen mehr - alles "erklärungen", die in diskussionen zum standard rechtskonservativer bis (neo-)faschistischer "argumentation" gehören. das das tatsächlich existierende "böse" hingegen jedoch eine wahrnehmung des/der wahrnehmenden darstellt, bzw. besser eine durch wahrnehmung übermittelte information, einen wahrnehmungsinhalt (der in diesem speziellen fall quasi sofort mit einer moralischen wertung gekoppelt daherkommt) - diese tatsache scheint nicht allzusehr im bewußtsein verbreitet zu sein. auch nicht im linken. denn dann müssten eigentlich sofort weitergehende fragen gestellt werden: fragen z.b. nach den tatsächlichen ursachen für das spezielle verhalten derjenigen, die in meiner wahrnehmung als bösartig erscheinen. ebenfalls ist es nötig, nach den grundlagen dafür zu fragen, warum mir eigentlich etwas als bösartig vorkommt. das aber würde bereits eine qualität von selbst(körper)gefühl und -bewußtsein voraussetzen, die gerade durch die herrschenden verhältnisse nicht nur nicht gefördert, sondern geradezu verhindert wird. und in der logik der macht geradezu verhindert werden muss. denn genau hier sitzt ihre wichtigste und vermutlich eigentliche basis - als bedürfnis von entsprechend deformierten, verletzten und eingeschränkten körpern bzw. hirnen und nervensystemen (als basis unserer individualität/unseres selbstgefühls). genau hier liegt die tatsächliche - und materielle - wurzel aller hierarchischen verhältnisse, in denen macht als selbstzweck(!) den allerhöchsten wert besitzt. anders: machtbedürfnisse lassen sich als ausdruck eines fehlschlagenden versuchs psychophysischer selbstregulation innerhalb eines menschen verstehen. und der fehlschlag ist auf dauer unausweichlich. (es sei denn, die menschliche struktur an sich formt sich durch psychophysische bzw. genetische mutation selbst zu einer der macht ideal kompatiblen struktur um - diesen schwer beunruhigenden gedanken hatten wir schon einmal hier - punkt 5 .)
dadurch lässt sich auch zb. verstehen, warum ökonomische armut alleine zwar begünstigend, nicht jedoch primär auslösend für bösartiges antisoziales verhalten ist - rechtsextreme, faschistische, rassistische, sexistische und allgemein autoritäre einstellungen (als ausdruck von objektivierungsprozessen innerhalb der individuellen und kollektiven wahrnehmung) sind quer durch alle ökonomischen klassen hindurch anzutreffen und tatsächlich eher mit konzepten wie den psychoklassen von deMause zu begreifen, als mit der rückführung auf ökonomische klassenzugehörigkeiten. ebenfalls wird dadurch begreiflich, warum sich zb. in der endphase der weimarer republik ein recht umfangreiches und wiederholtes wechseln der mitgliedschaften von autoritären kommunisten und nazis ergeben hat - beide organisationen zogen durch ihre strikt hierarchische und autoritäre formierung natürlich die jeweils dafür disponierten persönlichkeiten an, die sich dann jeweils ebenso natürlich nur nach dem oppurtunitätsprinzip an die jeweils "erfolgreicher" scheinende seite hielten - ideologien sind in derlei strukturen tatsächlich beliebig austauschbar. (das eher intuitive begreifen dieser zusammenhänge dürfte damals auch wilhelm reich in seine eskalierenden konflikte mit der kommunistischen parteiführung getrieben haben).
"Hilflosigkeit kann aber nicht durch Machterwerb und Herrschaftsausübung bewältigt werden. Jede Theorie, die dies anstrebt, tut dem einzelnen Menschen und seiner Entwicklung Gewalt an. Die linke Gesellschaftstheorie nimmt zwar für sich in Anspruch, den Menschen aus dem Gang seiner Geschichte erklären zu können. Sie tut dies aber auf Kosten des Individuums, weil sie Macht nur unter dem Blickwinkel der Macht analysiert. Das mag sich tautologisch anhören, ist aber der entscheidende Punkt, da sie den Menschen alleine durch die Macht wirtschaftlicher Kräfte determiniert sieht. Georg Plechanow, der frühe Theoretiker und Propagandist des russischen Sozialismus, glaubte, daß er in seiner Untersuchung der historischen Prozesse die Rolle des Individuums beschreiben würde, tatsächlich aber leugnete er die Rolle, die das Individuum für den Fortgang der Geschichte spielt: `Die menschliche Natur kann heute nicht länger als die letzte und allgemeinste Ursache des historischen Fortschritts angesehen werden: Wenn sie unveränderlich ist, kann sie nicht den wechselvollen Gang der Geschichte erklären; kann sie sich aber wandeln, dann geschieht das ganz offensichtlich durch den historischen Fortschritt selbst."
(gruen, "der wahnsinn...", s.101)
der letzte satz von plechanow muss heute ergänzt werden: natürlich fällt der "historische fortschritt" nicht vom himmel, sondern kann seine basis nur innerhalb der menschen haben - das ist ein wechselseitiges verhältnis, bei dem aber die möglichkeiten für verändertes individuelles verhalten primär und ausschlaggebend sind - ändere ich nur die gesellschaftlich äusseren strukturen, so habe ich es dennoch mit im schlimmsten fall mit einer mehrheit von menschen zu tun, für die die gerade abgeschafften strukturen einen gewissermaßen authentischen ausdruck ihrer deformierten individuellen bedürfnisse dargestellt haben - die basis für alle konterrevolutionären und reaktionären bewegungen. das, was in einer mechanistischen marxistischen interpretation gerne als gesellschaftlicher "überbau" bezeichnet wird, dürfte real tatsächlich die basis aller emanzipatorischen veränderungen darstellen.
ich finde es immer sehr bedauerlich, das viele von sich selbst als links verstehenden bis heute auf die lektüre von solschenizyns "archipel gulag" verzichtet haben - mag er auch heute mit seinen monarchistischen und reaktionären ansichten ein ideales angriffsziel darstellen, so ist dieses buch von ihm - der sich bis zu seiner verhaftung und auch noch danach selbst als begeisterter marxist ansah, bei seiner verhaftung offizier der roten armee im kampf gegen die nazis - doch die nachdrücklichste und eindrucksvollste widerlegung etlicher autoritär-kommunistischer mythen, von denen der stalinismus nur einen teil bildet. unter anderem macht er auch mit einer sehr detaillierten analyse der struktur der stalinistischen polizei- und justizapparate einerseits sowie mit der beschreibung der rolle und funktionen der in den arbeitslagern regelrecht privilegierten offen kriminellen bevölkerungsteile andererseits sowie der fast schon als "ideal" zu bezeichnenden gegenseitigen ergänzung und inneren anziehung beider gruppen etwas deutlich, was für die heutige linke nur lehrreich sein kann: nämlich die erkenntnis, dass ein als "eigentlich" als befreiend-emanzipatorisch gedachtes modell unter vernachlässigung der tatsächlichen basis der sozialen katastrophe und falscher und mechanistischer prämissensetzung (hier: die ökonomie) zwangsläufig in die simulation von befreiung führen muss - ein als-ob-sozialismus. tatsächlich hat das bolschewistische system faktisch von beginn an, verschärft im offenen stalinismus, genau die art von selektion gezeigt, die auch offen im faschismus, und versteckter in den heutigen kapitalistischen "demokratien", abläuft: machtmenschen bevorzugt! genauer: leute mit autoritären bis offen psychopathischen zügen und zwanghaft-bürokratischen neigungen, gerne auch offen kriminelle antisoziale (der unterschied zwischen offenen diktaturen und den repräsentativen demokratien scheint mir u.a. hier zu liegen - in letzteren wird heute zumindest teilweise die simulation von sozialeren verhaltensweisen verlangt. aber da das ohne tatsächliche erfahrungsbasis stattfindet, können jederzeit entwicklungen hin zu autoritären systemen auftreten - die ansätze dazu sind jeden tag in den nachrichten zu betrachten.)
"Wo die Ideologie der Macht gilt, wird das Selbst von seinem inneren Kern und damit auch von den Wurzeln seiner historischen Erfahrung abgeschnitten - unabhängig von der speziellen Färbung dieser Ideologie und der jeweiligen Organisation der Produktionsmittel."
(gruen, "der wahnsinn...", s.101)
die in allen bisher bekannten historischen gesellschaftsystemen mehr oder weniger offene mißachtung des tatsächlich individuellen menschen; die anbetung von halluzinierten und konstruierten bildern von göttern, völkern, nationen und führern; die offene geringschätzung und herabsetzung von subjektivität und subjektiven erfahrungen (die nur dann tatsächlich verzerrt sein können, wenn sie von anfang an angegriffen werden und derart ein elementares misstrauen gegenüber den eigenen wahrnehmungen erzeugt wird); die verherrlichung einer konstruktion von objektivität, das unwissen über das menschliche psychophysische funktionieren und die adäquaten und notwendigen entwicklungsbedingungen unserer spezies; die willkürliche und unhaltbare spaltung und hierarchisierung von körper, psyche und "geist"; ein fehlender begriff und überhaupt eine fehlende vorstellung von psychophysischer gesundheit - dieses und einiges mehr unterstreicht die tiefe wahrheit des obigen satzes von arno gruen.
...sind und bleiben die neurowissenschaften eine zwiespältige sache - auch trotz der tatsache, dass sie durchaus wichtige erkenntnisse produzieren. aber sie sind eben auch durch und durch produkte des westlichen weltbildes und seiner aktuellen ausprägungen:
"Mein Ziel ist es, den Glückszustand unabhängig von der Traurigkeitskomponente zu modulieren"
ohoh. da mutet dann die folgende aussage nur noch gnadenlos naiv an (mal ganz abgesehen von der tatsache, dass zustände von angst innerhalb eines gewissen rahmens durchaus ihren sinn und ihre notwendigkeit haben - völlig angstfrei sind nur psychopathen) :
"Sobald man mit der Biologie fertig ist, muss sich die Gesellschaft entscheiden, ob sie sie manipuliert haben will oder nicht."
was das für eine gesellschaft ist bzw. wie einige ihrer grundsätzlichen prägungen entstehen und sich ausdrücken, ist hier zur genüge thema. mr. kandel offenbart die typische haltung des eigentlich unbeteiligten wissenschaftlers: "wir forschen ja nur, auf die verwendung der ergebnisse haben wir doch keinen einfluss." aber nicht nur in der atom-, nano- und genforschung, sondern auch und gerade in den neurowissenschaften kann eine solche haltung verheerende folgen nach sich ziehen.
...droht durch ein urteil eines hamburger gerichts massiv beeinträchtigt zu werden:
"Das Hamburger Landgericht hat eine einstweilige Verfügung bestätigt, nach der es heise online verboten ist, Forenbeiträge zu verbreiten, in denen dazu aufgerufen wird, durch den massenhaften Download eines Programms den Server-Betrieb eines Unternehmens zu stören. Der Heise Zeitschriften Verlag wird damit faktisch gezwungen, sämtliche Beiträge zu den Diskussionsforen im Vorhinein auf diesen Rechtsverstoß hin zu überprüfen. Das Urteil (Az. 324 O 721/05) dürfte gravierende Auswirkungen auf den Betrieb von Webforen und vergleichbaren Diensten haben."
der inhaltliche tenor dieses urteils läuft darauf hinaus, dass alle anbieter von diskussionsplattformen im netz - wozu neben foren auch blogs, chats, öffentliche mailinglisten u.a. zu rechnen sind, künftig generell in allen fällen haftbar sind, in denen sich privatpersonen oder unternehmen von auf der jeweiligen plattform veröffentlichten beiträgen in ihren tatsächlichen oder vermeintlichen rechten angegriffen sehen -auch ohne kenntnis der jeweiligen beiträge:
"Die Kammer erklärte, sie sei überzeugt, dass der Verlag allein durch die Verbreitung auch ohne Kenntnis für die im Forum geäußerten Inhalte haftbar zu machen sei. Er könne schließlich die Texte vorher automatisch oder manuell prüfen."
heise kommentiert das so:
"Sollte sich diese Rechtsprechung durchsetzen, führt das dazu, dass jeder Anbieter, der ungefiltert die Möglichkeit zu Kommentaren bietet, unmittelbar für Rechtsverstöße in den Beiträgen haftet und abgemahnt werden kann", kommentierte der Justiziar des Heise Zeitschriften Verlags, Joerg Heidrich. Davon seien nicht nur Foren, sondern auch alle anderen Web-Kommunikationsformen wie Blogs, Gästebücher oder sogar Chats betroffen. Nach Ansicht von Heidrich steht diese Rechtsprechung im klaren Widerspruch zu dem erklärten Willen des Gesetzgebers und einer EU-Richtlinie, wonach Diensteanbieter gerade nicht dazu verpflichtet seien, die von ihnen nur übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen. Auch der BGH gehe in einem Urteil zu dieser Problematik davon aus, dass ein Anbieter nur dann als Störer hafte, wenn zumutbare Kontrollmöglichkeit über die verbreiteten Inhalte bestünden."
und die logische konsequenz daraus:
"Die Auswirkungen des Urteils auf den weiteren Betrieb der Webforen von heise online sind kaum absehbar. "Wir werden Foren schließen müssen, wenn einzelne Teilnehmer über die Stränge zu schlagen drohen, und können wohl zu brisanten Themen generell keine Diskussionsplattform mehr anbieten", sagte Chefredakteur Christian Persson. Der Heise Zeitschriften Verlag hat bereits angekündigt, nach der Zustellung der schriftlichen Urteilsbegründung Rechtsmittel gegen die Entscheidung einzulegen."
klartext: anbieter von foren oder auch blogs, in denen zb. kritisch über ein unternehmen oder bestimmte produkte diskutiert wird, müssen bei bestand dieses urteils künftig eine "zumutbare kontrolle" (generelle (vor-)zensur) ausüben, wenn sie nicht das risiko einer klage eingehen wollen. was das bedeuten könnte, muss ich wohl nicht weiter ausführen. es bleibt nur zu hoffen, dass dieses urteil keinen bestand haben wird. bei heise sind jedenfalls schon einige foren zu potentiell brisanten (it-)themen abgeschaltet worden.
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edit am 6.12.: artikel zum thema heute in der zeit und bei telepolis. ansonsten scheinen vielen userInnen in foren und auch in blogs die möglichen konsequenzen dieses urteils entweder nicht bewußt oder aber egal zu sein - beides keinesfalls positive eigenschaften.
in verschiedenen beiträgen ( hier und hier ) ging es ja bereits um dieses thema, und ich muss sagen, dass mein interesse an diesen strukturen gerade nach einem hinweis bei lloyd deMause auf eine psychoanalytische untersuchung hinsichtlich möglicher zusammenhänge zwischen den traditionellen familienstrukturen / der kindererziehung und der existenz der klassischen mafia noch einmal gewachsen ist. das gesellschaften nach phasen von repressiven bzw. diktatorischen regimes und/oder durch innere und äussere kriegerische gewalt sowie weit verbreiteter rückschrittlicher behandlung von babys und kindern erzeugten epidemisch verbreiteten individuellen und kollektiven traumata dazu neigen, soziale strukturen auszubilden, die deutliche spuren von typischen traumafolgen zeigen oder sogar von ihnen geprägt sind, hatte ich in einem meiner oben verlinkten beiträge schon einmal näher skizziert. ein paar fragen, die mir zunehmend im kopf herumgehen, lauten vor diesem hintergrund ungefähr so:
kann es sein, dass a) die als "normal" und "legal" (was innerhalb dieser "legalität" alles so als "normal" angesehen wird, lässt sich u.a. hier nachlesen) wahrgenommenen ökonomischen strukturen zu einem großen teil diese anscheinende normalität durch simulative effekte einerseits und massenhaft verbreitete defekte bzw. defizitäre (z.b. durch dissoziationszustände) wahrnehmungsmodi innerhalb großer bevölkerungsteile andererseits produzieren?; b) das diese ökonomischen strukturen einerseits sowohl ausdruck bestimmter bedürfnisse von als auch anziehungspunkt für menschen sind, die bevorzugt von einigen hier im blog thematisierten psychophysischen störungen betroffen sind?; und das c) als eine zwangsläufige folge bei weitgehender bejahung der beiden obigen fragen nicht davon ausgegangen werden muss, dass eine im herkömmlichen sinne verstandene wirkungsvolle politische opposition gegen derartige strukturen nicht von den trägerInnen eben dieser strukturen als existenzielle bedrohung angesehen werden muss und dementsprechend bekämpft werden wird? (wobei der verlust von eigenen machtpositionen und materiellen privilegien imo eher als oberflächlicher grund angesehen werden muss, da das streben nach dem gerade erwähnten eigentlich nur verständlich wird bei kenntnis der möglichen psychophysischen schäden und deren möglichen kompensationsformen, die bei menschen so auftereten können).
ich wäre sehr interessiert an meinungen zu diesem thema. und falls Sie glauben, es handele sich hier "nur" um randphänomene, möchte ich noch auf ein paar links und textauszüge hinweisen.
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die seiten von business crime control und organized-crime bieten grundsätzliches zur definition, geschichte, möglichem umfang sowie aktuelle informationen zum thema ok an und sind als einstieg imo ganz empfehlenswert. eine veröffentlichung der bundeszentrale für politische bildung hingegen macht die mögliche macht dieser strukturen eindrucksvoll deutlich, wobei hier teilweise nur publik gewordene und spektakuläre einzelfälle erwähnt sind - auszüge:
frankreich:
"Einer der Angeklagten war Außenminister der Republik. Daneben hatte Roland Dumas in seinem langen Leben so viele hohe und höchste Staatsämter in Frankreich bekleidet, dass sie hier nicht aufzuzählen sind. Seine Position als einer von sieben Beschuldigten im ersten Prozess gegen das frühere "Staatsunternehmen" Elf Aquitaine (darunter der ehemalige Präsident des Unternehmens, Le Floch-Prigent) ist wohl nicht der Gipfelpunkt einer beeindruckenden Karriere. Immerhin ging es seit dem 22. Januar 2001 um die Klärung des Verdachts der Unterschlagung, Vorteilsannahme sowie der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Umgerechnet etwa 20 Millionen DM sollen zwischen 1989 und 1993 aus den Kassen von Elf in Form gesetzwidriger "Kommissionen" abgeführt worden sein. Das Geld soll zum Großteil bei der damaligen Geliebten des Außenministers, Christine Deviers-Joncour, gelandet sein. Der französische Staatsanwalt, Jean-Pierre Champrenault, verglich in seinem Plädoyer die Methoden der Elf-Führungsspitze mit dem Vorgehen krimineller Kartelle. Der Präsident des Unternehmens und seine rechte Hand, Alfred Sirven, sollen Techniken der Mafia eingesetzt haben. Mächtige, wie Außenminister Dumas, seien mit Geld gefügig gemacht worden."
russland:
"Der ehemalige Verwaltungschef des Kreml, Borodin - enger Vertrauter von Boris Jelzin und des russischen Präsidenten Putin -, war zur Teilnahme an den Inaugurationsfeierlichkeiten des amerikanischen Präsidenten Bush eingeladen, als er bei der Einreise in die Vereinigten Staaten aufgrund eines schweizerischen internationalen Haftbefehls festgenommen wurde. Es geht u. a. im Zusammenhang mit Aufträgen zur Renovierung von Regierungsgebäuden in dreistelliger Millionenhöhe um Vorwürfe der Bestechung und Bestechlichkeit. Die tatsächlich involvierten Summen sind bis heute unübersehbar groß."
deutschland:
"Helmut Kohl hat eingeräumt, jahrelang Geld in Millionenhöhe angenommen und dessen Überweisung auf Konten veranlasst zu haben, die von den üblichen Konten der Bundesschatzmeisterei der Christlich Demokratischen Union getrennt waren. Über diese Gelder hat er nach eigenem Gutdünken verfügt.(...)"
Das gegen ihn wegen des Verdachts der Untreue eingeleitete staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wurde nach Zahlung einer Auflage in Höhe von 300 000 DM gemäß § 153 a StPO eingestellt. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die strafrechtlichen Vorwürfe unbegründet waren. Es steht mittlerweile vielmehr fest, dass der ehemalige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen seiner politischen Funktionen den Straftatbestand des § 266 StGB schuldhaft verwirklicht hat. Aus schwer einsehbaren und vermittelbaren Gründen hat die Justiz von der Eröffnung des Hauptverfahrens abgesehen.(...)"
"Im Hinblick auf die Frage, ob wichtige Daten und Akten zum Bau der Raffinerie Leuna, zum Export von ABC-Spürpanzern, Airbus-Flugzeugen und zu dem Verkauf von Eisenbahnerwohnungen absichtlich vernichtet oder beiseite geschafft wurden, wird zudem öffentlich beklagt, dass die deutschen Staatsanwälte all ihren juristischen Einfallsreichtum nutzten, um sich diese heiklen Fälle vom Hals zu schaffen, statt mit der gebotenen Professionalität Licht in die dunklen Geschichten zu bringen. Es handele sich um eine "traurige Posse", die gleichsam strukturelle Ursachen habe."
italien:
"Dagegen hatte man in Italien anscheinend genügend Beweise gesammelt, um den langjährigen Ministerpräsidenten Andreotti wegen des Verdachts einer strafbaren Verbindung zur Mafia vor Gericht zu stellen."
serbien:
"So nahm beispielsweise auch das Regime des ehemaligen Präsidenten Serbiens und der Bundesrepublik Jugoslawien, Milosevic, am Ende Züge einer scheindemokratischen Diktatur an, in der Politik, Unterwelt und Polizei nicht mehr auseinander zu halten waren."
peru:
"In Peru hat man Beweismaterial beschlagnahmt, welches belege, dass eine "Mafia" den Staat gekapert habe. Der ehemalige Chef des peruanischen Geheimdienstes, Montesinos, soll systematisch Institutionen, Privatwirtschaft und Medien seines Landes korrumpiert haben."
japan:
"In Japan, so schätzt man, haben ca. 80 000 Personen, die der Organisierten Kriminalität ("Yakuza") zugerechnet werden, in den (bisherigen) Hauptzweigen der Unterwelt (Drogen und Sex) eine Billion Yen (9,3 Milliarden Dollar) im Jahr 2000 verdient (die Hälfte mit Drogen und ungefähr ein Viertel aus dem Sexgeschäft). Dort ist es aber mittlerweile zum größeren Problem geworden, dass sich zumindest eine kriminelle große Organisation (Yamaguchi Gumi) in die "New Economy" des Landes eingeschlichen hat und politische Verbindungen zu den höchsten Rängen der Regierung unterhält. Sie half bei den Unterhauswahlen im Juli 2000 diskret bei der Geldbeschaffung und beim Stimmenfang einer Vielzahl von Politikern aus der Liberal-Demokratischen Partei des (etwa ein Jahr im Amt befindlichen) Premierministers Yoshiro Mori und aus anderen konservativen Parteien. Es soll keinen einzigen Politiker in Japan geben, der seinen lokalen Yakuza-Boss nicht kennt. Ein in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens ehemaliger führender japanischer Polizist (Raisuke Miyawaki) glaubt, dass es zudem unmöglich sei, die Verknüpfungen zwischen der Geschäftswelt Japans und der dortigen Unterwelt in den Griff zu bekommen, weil sie zu ausgedehnt seien."
nun, war Ihnen dieses ausmaß wirklich bewusst? ein ausmaß, zu dem auch z.b. die in folge des falls dutroux thematisierten zustände in belgien gehören:
"Der windige Geschäftsmann Michel Nihoul, der seit 1996 inhaftiert ist, rühmte sich stets seiner Kontakte zu Parteibonzen. Er gilt als Partner von Marc Dutroux. Die Zeugin X1 behauptet, Nihoul habe auf "Sexparties", die er organisiert habe, Geschäftsfreunde mit jungen Mädchen "belohnt". Regina Louf spricht von einem "harten Kern" prominenter Gäste, die häufig auf Nihouls "Feiern" aufgetaucht seien. Sie nennt die Namen Brüsseler Juristen, eines flämischen Bürgermeisters, sogar eines früheren Premierministers.
Belgiens Affären füllen ein 380seitiges Nachschlagewerk. Die Muster der größten Skandale wiederholen sich auffallend. Immer wieder spielen Polizei- oder Justizbeamte eine Rolle. Immer wieder geraten einflußreiche Politiker in den Verdacht, die Fäden zu ziehen. Fast nie werden Täter und Hintermänner gefaßt.
In den achtziger Jahren überfiel eine Bande Supermärkte und Waffenläden, tötete 28 Menschen, nahm aber nie wertvolle Beute mit. Sie kannte offenbar Einsatzpläne der Polizei. Rechtsradikale hätten hinter den Morden gestanden, um eine Staatskrise auszulösen, vermuten viele Belgier. Geklärt ist bis heute nichts. Warum der frühere Chef der Sozialistischen Partei Walloniens, André Cools, 1991 vor dem Haus seiner Freundin erschossen wurde, bleibt weiterhin rätselhaft. Es gab Hinweise auf eine umfangreiche Clique politischer Hintermänner, die jedoch nie aufgedeckt wurde.
Dem Herrscher der Brüsseler Schlachthöfe, dem früheren Verteidigungsminister Paul Vanden Boeynants, stand 1989 eine Anklage wegen Bestechung bevor. Doch plötzlich wurde er entführt. Ein Ablenkungsmanöver, mutmaßten einige Zeitungen. Man weiß nur, daß Vanden Boeynants nach seiner Freilassung in einem Taxi befördert wurde und sich erst Stunden später bei der Polizei meldete. Kurz zuvor hatte das Gericht die Anklage gegen ihn fallengelassen."
bemerkenswert wenig bekannt sind auch folgende, direkt zum dutroux-komplex gehörende details:
"Während der Ermittlungszeit bis zum Prozessbeginn verstarben 27 Zeugen teilweise durch Selbstmord, Unfall oder auf unerklärliche Art und Weise. Zum Beispiel wurde der ermittelnde Polizist Simon Poncelet nachts auf der Wache erschossen. Die Bekannte seines Komplizen fand man erhängt. Ein Verdächtiger starb, als er gegen ein Haus fuhr. Eine Sozialarbeiterin starb bei einem Autounfall, nachdem sie Todesdrohungen bekommen hatte. Der Schrotthändler Bruno Tagliaferro wollte gegen Dutroux aussagen, wurde aber vergiftet. Seine Frau verbrannte im Bett. Sex-Club-Besitzer Poiro, ein Bekannter Nihouls, wurde erschossen. Eine Frau, die über Dutroux aussagen wollte, wurde erwürgt aufgefunden. Der Staatsanwalt Hubert Massa beging Selbstmord."
es hat ganz den anschein, als würde derlei die tatsächliche realität ausmachen:
"Mediziner wurden finanziert, kritische Untersuchungen unterdrückt: In ungeahntem Ausmaß habe die Zigarettenbranche, so eine Studie, führende Institutionen des Gesundheitswesens manipuliert.(...)"
"Die Kooperation von Medizinern mit "Big Tobacco" war lange effektiv. Mit "ungeheurem Erfolg" habe es die Tabakindustrie über Jahrzehnte geschafft, renommierte deutsche Wissenschaftler in großer Zahl zu finden, die in ihren Veröffentlichungen die Beweise für die tödlichen Auswirkungen des Qualmens "manipulieren und verdrehen", lautet das Resümee der Grüning-Studie.
Mindestens 80 zumeist hochrangige Klinikprofessoren hätten sich "im Würgegriff der Tabakindustrie" befunden, weil sie Forschungsgelder annahmen. Denn fast immer waren die Zuschüsse an Vorgaben geknüpft, die die Auftraggeber bestimmten - ein Lehrstück für gekaufte Wissenschaft."
sollen wir das wirklich alles nur als "ausnahmen" innerhalb eines ansonsten ganz vernünftigen ( - das wort bleibt mir fast im halse stecken) systems betrachten, oder nicht doch eher als einblicke in die realen machtstrukturen nicht nur, aber besonders innerhalb gesellschaften mit kapitalistischer ökonomie? hat sich am ende die form von ökonomischen verhältnissen, die allgemein als kapitalismus gefeiert, beschrieben, kritisiert und verdammt wird, auch aus dem grund zeitweise anscheinend alternativlos durchgesetzt, weil sie in ihrer gesamtheit oder entscheidenden teilen davon den psychophysischen bedürfnissen mehr oder weniger großer bevölkerungsteile am "besten" entgegenkommt? leistungs- und konkurrenzprinzip, arbeitswahn, verdinglichende und objektivierende wahrnehmung sowie andere unabdinbare grundlagen des kapitalismus sind jedenfalls auffällige kennzeichen, die, wie hier schon mehrfach gezeigt, strukturelle eigenschaften / kennzeichen von bestimmten psychophysischen störungen darstellen.
und ich glaube nicht, dass diese übereinstimmung einen zufall darstellt.
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der von mir sehr geschätzte science fiction-autor john brunner hat einem seiner romane den bezeichnenden titel schafe blicken auf gegeben. möchten wir wirklich unser leben als potenzielles schlachtvieh verbringen? gehorsam und pflegeleicht bis zum mehr oder weniger bitteren ende?
...auf die virtuelle nachbarschaft: bei morgaine ist ein längerer auszug aus dem hier bereits vorgestellten buch Das emotionale Leben der Nationen von lloyd deMause zu lesen, den ich am thema interessierten leserInnen empfehlen möchte.