...wie sie hier schon (zu) oft unter dem stichwort infantizid dokumentiert werden musste, ist selbstverständlich nicht auf d-land beschränkt:
"Sieben Tage lang hörte die Großmutter des an einem qualvollen Foltertod gestorbenen kleinen Nicolas im Straßburger Gerichtssaal ungerührt zu, während Gutachter die Leiden des Kindes beschrieben. Und auch als das Gericht gestern Abend die Höchststrafe "lebenslänglich" verkündete, zeigte die untersetzte Frau keine Regung. Auch die Eltern und ein Onkel des Kindes blieben bei der Urteilsverkündung regungslos. Die 34 Jahre alte Mutter, die dem bereits delirierenden Kind die vermutlich tödlichen Schläge auf den Kopf versetzt hatte (...)"
eine ganze gestörte familie also - alle haben sich beteiligt:
"Die Verurteilten hatten den neun Jahre alten Jungen im Sommer 2003 mehrere Wochen lang geradezu sadistisch zu Tode gequält. Nicolas wurde täglich geohrfeigt, mit Kochlöffeln blau geprügelt, gefesselt und bekam trotz der Sommerhitze kaum zu trinken. Nachts musste er oft geknebelt und an den Füßen gefesselt auf dem Boden knien. Wenn er vor Müdigkeit umkippte, bekam er Ohrfeigen.
Tagsüber musste das Kind stundenlang Strafarbeiten schreiben. In seine Hefte schrieb es beispielsweise 2772 Mal den Satz: "Nachts stehe ich nicht auf, um heimlich zu trinken." Gestorben ist der kleine Junge am 9. August 2003 an einer Hirnblutung, die von Schlägen auf den Kopf herrührte. Sein Körper war von rund 70 Wunden und Blutergüssen bedeckt und wegen des Wasserentzugs stark ausgetrocknet. "Das Kind hat eine lange, qualvolle Agonie durchlebt", sagte ein Gutachter."
und die beschreibung der täterInnen enthält wieder einmal die bekannten attribute: "ungerührt", "regungslos" und
"Die 55-Jährige, die von Gutachtern als herrschsüchtig und gefühlsarm beschrieben wurde, sei die treibende Kraft bei den Misshandlungen gewesen (...)"
nicht umsonst drängt sich der vergleich mit der kälte, die ebenfalls bei den beteiligten im letzten beitrag zum "happy slapping" konstatiert wurde, geradezu auf. und auch das folgende ist bekannt:
"Die Verteidiger machten geltend, dass die Peiniger des kleinen Nicolas alle selbst als Kinder von Angehörigen geprügelt worden waren."
ergänzend wäre zu sagen: gewalt muss nicht immer in form von prügel daherkommen. auch subtilere arten führen zu ähnlichen ergebnissen.
da hatte ich gerade im letzten beitrag das begriffspaar "fatale entwicklungen" benutzt - und muss nun wieder einmal etwas lesen , was haargenau darunter fällt - stichwort "happy slapping":
(...)"Teilnahmslos hatten die Angeklagten das Urteil aufgenommen. Mit derselben Gleichgültigkeit, mit der die Jugendlichen diejenigen attackierten, die an jenem Oktoberabend ihren Weg kreuzten.(...)
Die Neuauflage aus dem wahren Leben hat aber noch eine andere Qualität: "Happy Slapping" heißt das in Großbritannien grassierende Phänomen in der Sprache der Beteiligten beschönigend, "fröhliches Schlagen". In der Praxis bedeutet es, dass Schlägerbanden unschuldige Opfer verprügeln, diese Attacken filmen und die Filme später ihren Freunden zeigen oder sie im Internet verbreiten.
Auch Chelsea hat die Überfälle ihrer Clique mit dem Videohandy gefilmt. Sie habe die Gang angeführt, zitiert die Zeitung "The Independent" einen der beteiligten Jugendlichen: "Sie wollte filmen, wie Menschen zusammengeschlagen werden." Die 14-Jährige soll den Barkeeper aufgefordert haben, für die Kamera zu posieren – mit den zynischen Worten: "Wir planen einen Dokumentarfilm über 'Happy Slapping'".(...)
sehen Sie sich die zum artikel gehörende fotostrecke an, mit dem filmenden mädchen am rande - es verschlägt einem die sprache. und dann gibt es wieder einmal biographische informationen der art, wie sie hier schon öfter zu lesen waren:
"Auch der schwierige familiäre Hintergrund der Angeklagten könne die Tat nicht mildern, sagte der Richter. Nach Angaben des "Guardian" war Chelseas Mutter heroinabhängig, der Vater Alkoholiker. Sie lebte bei Pflegeeltern. Der 19-jährige Darren sei hyperaktiv und habe eine elende Kindheit gehabt. Er soll später mit der Tat angegeben und detailliert erzählt haben, wie er auf Morleys Kopf gesprungen sei, schreibt "The Independent".
es war oben von gleichgültigkeit die rede. ziehen Sie Ihre eigenen schlüsse. denken Sie an prä-, peri- und postnatale traumatisierungen, an derealisierungen und dissoziation, an soziale trancezustände. denken Sie an die infantizidalen realitäten, wie sie hier gleichfalls oft genug thematisiert worden sind. denken Sie an die brutalität und mafiöse rücksichtslosigkeit, mit der die sog. eliten auf allen kontinenten agieren. und sich dabei noch als "vorbilder" anpreisen.
entsprechend verhalten sich die kinder dieser milieus. wollen wir wirklich irgendwann in einer autistischen gesellschaft aufwachen?
wie es der titel schon sagt: bücher, über die ich beim stöbern virtuell und im buchladen gestolpert bin, die hinsichtlich der hier behandelten themenbereiche von interesse sein könnten und die ich entweder noch nicht selbst gelesen habe oder aber noch nicht erschienen sind.
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eine noch recht frische veröffentlichung ist vor allem im hinblick auf den sich abzeichnenden krieg gegen den iran zu empfehlen: "Zur Logik des modernen Krieges. Politische Strukturen und verborgene Motive" enthält diverse beiträge u.a. von autoren wie klaus theweleit, noam chomsky, lloyd deMause und hans-jürgen wirth.
"Warum werden Kriege geführt? Hinter den offiziellen Rechtfertigungen verbergen sich fast immer psychologische Mechanismen, die zum Verständnis der Dynamiken kriegerischer Auseinadersetzungen ebenso wichtig sind wie die politischen und geostrategischen Fakten. Gewalt ist dabei das Mittel, Erfahrung mit sich selbst im Spiegel des Anderen zu vereiteln, teils, indem die Anderen nach Maßgabe des eigenen Selbstbildes zugerichtet werden, teils, indem sie aus der Sphäre der eigenen kollektiven »Wahrnehmung« ferngehalten werden. Insofern authentische Erfahrung immer Erfahrung mit Fremdheit ist, kann man daher den Krieg als Erfahrungsverhinderung verstehen. Von diesen Gedanken gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes aus und untersuchen psychologische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte moderner Kriege vom Zweiten Weltkrieg bis zum aktuellen Konflikt im Irak.(...)"
daten: reihe "Psyche und Gesellschaft" im psychosozial-verlag /178 seiten / isbn: 3-89806-475-1 / Preis: 19,90 € / erschienen: januar 2006
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im gleichen verlag werden im laufe des jahres zwei titel erscheinen, auf die ich bereits jetzt sehr gespannt bin. einmal wäre da "Borderline-Mütter und ihre Kinder. Wege zur Bewältigung einer schwierigen Beziehung" von christine ann lawson:
"Christine Ann Lawson beschreibt einfühlsam und verständlich, wie Kinder von Borderline-Müttern unter den Stimmungsschwankungen und psychotischen Anfällen leiden und verzweifelt nach Strategien der Bewältigung dieser Erlebnisse suchen. Kinder von Borderline-Betroffenen laufen zudem Gefahr, selbst diese komplexe und destruktive Persönlichkeitsstörung herauszubilden."
reihe "edition psychosozial" / 250 seiten / isbn: 3-89806-256-2 / 24,90 € / erscheint im juni 2006
neben dem in der linkliste aufgeführten online-material zu borderline-kindern und den ausführlichen (und unerfreulichen) gedanken im buch zum mertz zur rolle der mütter bei der borderlineentwicklung könnte dieses buch endlich mehr klarheit in einen (gleichzeitig verständlicher- und unverständlicherweise) bisher völlig unterbelichteten bereich bringen - ich bin sehr gespannt.
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der andere titel beschäftigt sich, so könnte man sagen, mit dem gleichen thema, jedoch in einem viel breiteren zusammenhang. "Nabelschnur der Seele. Psychoanalytisch orientierte Förderung der vorgeburtlichen Bindung zwischen Mutter und Baby" von györgy hidas und jenö raffai scheint sowohl neuere erkenntnisse der pränatalforschung als auch gleich präventive maßnahmen zu präsentieren:
"György Hidas und Jenö Raffai zeigen neue Zusammenhänge zwischen Störungen der Mutter-Fötus-Bindung und Störungen der Persönlichkeitsentwicklung nach der Geburt auf. Ihre unvergleichliche Methode zur Analyse der Bindung zwischen Mutter und Fötus eröffnet neue Therapiemöglichkeiten für Fachleute der prä- und perinatalen Psychologie und weist werdenden Eltern Wege zur vorgeburtlichen fördernden Kontaktaufnahme mit ihrem Baby.(...)"
reihe "edition psychosozial" / 260 seiten / isbn: 3-89806-458-1 / 24,90 € / erscheint im februar 2006
lloyd deMause hat in "Das emotionale Leben der Nationen" bereits eine zusammenfassung der bisherigen und wichtigsten erkenntnisse der pränatalen forschung über die interaktionen und möglichen störungen zwischen mutter und embryo geliefert, die zum eindrucksvollsten gehört, was ich bisher zu diesem bereich kenne. ich möchte bei gelegenheit hier daraus einige auszüge vorstellen, da wesentliche und sehr konsequenzenreiche aspekte der pränatalforschung bis heute in der öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind, gerade, was den bereich der prä- und perinatalen traumata anbelangt. und das hat fatale folgen - für uns alle.es ist zu hoffen, das das obige buch weitere erkenntnisse bringen kann.
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von noch nicht erschienenen titeln zu einem buch, welches bereits in den 1990er jahren erschienen ist, mir bisher unbekannt war (und inhaltlich immer noch ist), und alleine schon vom titel her in den bereich dieses blogs fällt:

"Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren?" von einem autor namens reinhart g.e. lempp, der mir bisher ebenso unbekannt wie sein buch gewesen ist. interessant fand ich die information, dass es sich bei lempp um einen (emeritierten) professor für kinder- und jugendpsychiatrie handelt, mithin also ebenso um einen "professionellen" wie den bereits hier oft zitierten mertz. an rezensionen konnte ich bisher nichts wirklich brauchbares finden, allerdings bietet das deutsche ärtzteblatt in seinem online-archiv eine leseprobe , bei der ich allerdings hin- und hergerissen bin - die auführungen zur medien- und familienpolitik sind sehr allgemein gehalten, wobei mich zuerst interessieren würde, wie lempp zu seiner "diagnose" kommt - gerade seine arbeit im kinder- und jugendpsychiatrischen bereich könnte dabei eine rolle spielen. jedenfalls wird das für mich sozusagen ein "pflichtitel" sein, und sobald es möglich ist, werde ich es lesen und hier näher vorstellen. die augenscheinlich vorhandenen verbindungen zu den hier vorgestellten entwicklungen und thesen jedenfalls verstärken ein sehr schlechtes gefühl bei mir - einerseits. andererseits: es kann wirklich nur hilfreich sein, wenn mehr und mehr veröffentlichungen zu den fatalen entwicklungen auch wirklich öffentlich werden.
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zum schluß: ein vorsichtiger und kleiner optimismus keimt bei mir bei solchen aussagen:
"Kriege sind aus psychohistorischer Sicht in wesentlicher Hinsicht Inszenierungen pränataler, perinataler und frühkindlicher Traumatisierungen. Darum müssen hier insbesondere Pränatale Psychologie und Psychohistorie zusammenarbeiten, um der Komplexität der Problematik gerecht werden zu können. Deshalb wird diese Tagung von beiden Gesellschaften, der DGPF und der ISPPM, organisiert."
das scheint mir eine interdisziplinäre zusammenarbeit zu sein, die wirklich nötig, nützlich und vielversprechend erscheint. beide institutionen finden sich in der linkliste.
ein artikel im berliner tagesspiegel versucht, die möglichen zusammenhänge zur popkultur zu thematisieren, und produziert dabei einen seltsamen mix:
Andreas Heinz, Chefarzt der Psychiatrie der Berliner Charité, glaubt, dass sich jeder Kranke „Symptome sucht, die kulturell anerkannt sind“. So spiegelt sich in der Persönlichkeitsstörung auch der gesellschaftliche Wertewandel: „Die Borderline-Patienten folgen instabilen Beziehungsmustern, sie müssen kurzfristig auf was Neues gehen. Diese Impulsivität war früher negativ stigmatisiert. Dagegen fordert unsere heutige Kultur, impulsiv zu sein und zu tun, was einem Spaß macht.“
wie in diesem beitrag schon einmal früher skizziert, ist der begriff "instabile beziehungsmuster" mit vorsicht zu betrachten und spiegelt womöglich nur eine ideologie bzw. ein wunschdenken der orthodoxen psychiatrie wider. hingegen werden unfreiwillig die psychiatrischen diagnostischen grenzen aufgelöst:
"Obwohl Borderline nach Ansicht des Psychoanalytikers Otto F. Kernberg eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist, die auf Vernachlässigung oder Missbrauch durch die Eltern zurückgeht, werden Betroffene nicht als Außenseiter wahrgenommen."
na, das dürfte den herrn kernberg nicht besonders freuen - gerade der psychoanalytische mainstream legt wert auf abgrenzungen der konstruktionen (mal ganz davon abgesehen, dass sich viele betroffene, gerade mit traumatischen biographien, durchaus als außenseiter fühlen, aber bestenfalls ihre umwelt mittels simulationen von normalität vor dem unangenehmen thema gewalt "bewahren"):
"Ein Jahrzehnt nach ihrem Tod begannen amerikanische Psychiater eine neue Krankheit mehr zu konstruieren als zu entdecken: das Borderline-Syndrom, Sammelbegriff für so unterschiedliche Symptome wie Promiskuität, finanzieller Exzess, übermäßiger Drogenkonsum, Kleptomanie, rücksichtsloses Autofahren, Fressanfälle, Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche, Selbstmordversuche und Selbstverletzungen sowie Identitätsstörungen. Janis Joplin könnte der erste Prototyp dieses Krankheitsbildes gewesen sein."
also: mal davon abgesehen, das marilyn monroe eher als erstes "symbol" für borderline angesehen werden kann, ist der artikel imo zwar informativ, aber auf eine vertrackte art - die kernberg zugeschriebene sicht ist zwar "offiziell" nicht korrekt, hat jedoch bei betrachtung der möglichen tatsachen einiges für sich. wobei das label "narzissmus" auch nicht ganz zutreffen dürfte. es sieht zwar so aus, als ob - aber ob wirklich, ist die frage, die nicht nur hier im blog immer wieder auftauchen wird. passen die konventionellen psychiatrischen vorstellungen bzw. modelle (auch "konstruktionen" passt) wirklich auf bestimmte menschen, die als produkte geprägt von einer gewalttätigen gesellschaft angesehen werden müssen?
über die bereits zu vielen spekulationen anlaß gebenden verhaltensweisen der stars und sternchen der sog. popkultur im zusammenhang mit borderline und der narzisstischen ps ein anderes mal mehr. das ist ein eigenes thema, welches zeit erfordert, die ich momentan nicht so recht habe. wer sich dafür näher interessiert, sollte einfach mal das keyword "selbstverletzung" mit den namen berühmter schauspielerInnen und musikerInnen kombinieren.
aber wie gesagt, lohnt das lesen - auch wegen solcher sätze:
"So kristallisiert sich in dieser Form des pathologischen Narzissmus, Philosoph Slavoj Zizek zufolge, ein zentraler psychischer Defekt unserer Zeit. Hinter dem Typus des krankhaften Narzissten verberge sich „ein Konformist, der sich als Outlaw begreift“. Und erstrahlt sie nicht in der Tat allabendlich auf der Mattscheibe, die selbstberauschte Allmacht der Medienelite, vom brachialen Wirtschaftsführer, höheren Kulturträger bis zur Politprominenz? Sie jongliert mit Selbstbildern, die vom Augenblickserlebnis und der drohenden Entwertung immer wieder neu befeuert werden."
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ob der autor des artikels im tagesspiegel heute beim lesen in seinem blatt nachdenklich geworden ist?
"Zugleich bescheinigte der Gutachter der Mutter Angelika B. eine Persönlichkeitsstörung. Bei der 44-Jährigen könne man Symptome des so genannten Borderline-Syndroms diagnostizieren: Unfähigkeit zu sozialen Kontakten, Ängstlichkeit, Impulsivität, Aggressivität, zeitweilige Depressionen. Zu Dennis habe Angelika B. keine richtige Mutter-Kind-Bindung aufgebaut, sagte der Gutachter."
(...)
"In der Folge habe Angelika B. Dennis im Gegensatz zu ihren anderen Kindern als schwierig und quengelig beschrieben. Als der Junge nicht essen wollte, habe er eben nichts bekommen. Als er nachts nicht schlief, wurde er am Bett festgebunden. Der Gutachter bescheinigte Angelika B. weiterhin eine „begrenzte Fähigkeit, auf andere Menschen einzugehen“. Eine gewisse Ich-Bezogenheit, verbunden mit sehr viel Selbstmitleid, sei ihr nicht abzusprechen. So habe sie während des mehrstündigen Gesprächs über ihr Leben nur ein einziges Mal geweint – nicht etwa, als sie das Leiden und den Tod von Dennis beschrieb, sondern als sie schilderte, wie sie sich beim Fenstersturz die Beine brach."
die betreffende geschichte war hier bereits einmal thema. die leserInnen werden sich vielleicht auch daran erinnern, dass diese diagnose im falle einer kindstötenden mutter auch nicht das erste mal auftaucht. als "popkultur" lässt sich das allerdings nur bei einer sehr, sehr zynischen auslegung des begriffs "populär" bezeichnen.
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ohne weiteren kommentar: eine it-seite weist unter dem titel "Autismus ist unter IT-Profis weit verbreitet" auf einen online-test hin, den "beunruhigte IT-Profis nutzen können".
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das erinnert mich mal wieder an die fülle noch nicht fertiger beiträge, die hier ausstehen - die fortsetzungen zum autismus, der basisartikel zur psychopathie...ich kann nur versprechen, dass sie erscheinen werden, kann aber keinerlei zeitliche angaben machen. momentan hat die fortsetzung des themas "nlp" priorität, nicht nur wegen der bisherigen resonanz, die darauf schließen lässt, dass hier tatsächlich ein - übelriechender - hund begraben liegt.
und ansonsten bietet unser leben in einer verrückten kultur (stichwort isaac newton) leider täglich derart viel material, dass es einfach schwierig ist, hinterherzukommen - unkommentiert müssen zb. bis auf weiteres die pläne der britischen regierung bleiben, "antisoziales verhalten" bei kindern und ihren eltern zu "ächten" - imo wieder mal ein fall von "den bock zum gärtner machen". wenn real antisozial handelnde beginnen, bei anderen ihre eigenen destruktiven tendenzen zu verfolgen, ist höchste wachsamkeit angesagt. auch, wenn einige der als zielgruppe auserkorenen dieses label zu recht tragen werden.
im forum zum verlinkten artikel bei tp steht übrigens ein beitrag, der einen absatz enthält, der vieles von dem, was ich hier versuche zu beschreiben, kurz und knapp auf den punkt bringt:
"Alle Repressionssysteme folgen den gleichen Mustern: sie verstümmeln und verletzen die Menschen in ihren sozialen Bedürfnissen, provozieren damit verstümmeltes Sozialverhalten und nutzen diese entstellten Motive und Bedürfnisse für ihre eigenen Zwecke. Dort, wo es zur Überlebensmaxime wird, ein "braves Kind" zu geben (zumindest so zu tun, als ob), wo die Motivation der Menschen also danach ausgerichtet wird, von Autoritäten belohnt zu werden, werden die Menschen jeder nur denkbaren Gemeinheit und Niedertracht gegen ihresgleichen fähig werden, um dieser Konditionierung zu gehorchen.
Dass der "Lohn" von seiten der Autorität niemals in der erhofften Erlösung besteht und bestehen kann, verstärkt den Regelkreis nur: als ob der Esel durch das Fixieren der Karotte immer scharfsichtiger würde, muss man die Karotte immer weiter weg hängen."
als antisozial im schlimmsten sinne lassen sich bspw. berechtigt leute bezeichnen, die ernsthaft - und zwar egal, aus welchen "gründen" und mit welcher "rechtfertigung" - mit drohungen über atomwaffeneinsätze in der welt herumtönen. dieser wahnsinn der sog. "politik" wird in einem kommentar im wiener standard vom 21. januar angesprochen, allerdings nur die eine hälfte:
"Im Iran wird derzeit der "Irrsinn zur Staatsdoktrin" erhoben, wie der deutsche Historiker und Holocaustforscher Götz Aly in Spiegel online sagt. Eine große Holocaust-Leugnungskonferenz in Teheran ist in Vorbereitung. Das muss man ernst nehmen – und man muss immer mitdenken, dass die schlimmsten islamischen Radikalen nur einen Staatsstreich vom Zugriff auf die Atomwaffen in Pakistan entfernt sind.
Unter dieser Voraussetzung ist ein "Appeasement", eine Beschwichtigungspolitik, gegenüber dem Iran fragwürdig. Sie fördert nur die Fehleinschätzung und Verachtung gegenüber dem "dekadenten Westen", die auch Hitler motivierte. Aber selbst wenn man der Meinung ist, dass Chirac eine zeitgerechte Warnung an die Verrückten ausgesprochen hat, bleibt doch die Notwendigkeit, die anderen mit einer Summe von Maßnahmen zu unterstützen." (DER STANDARD, Printausgabe 21./22.1.2006)
"der westen" - und damit sind hier all diejenigen honorigen leute gemeint, die ganz rational und leidenschaftslos den gleichen fundamentalismus (der imo berechtigt als wahn anzusehen ist) über jahrzehnte gepäppelt und gehätschelt haben - diese leute also gebärden sich jetzt, da ihnen - wieder einmal - ein bösartiger zögling ausser kontrolle geraten ist, als die "weltretter vor dem bösen". ein atomares desaster einkalkuliert. dabei sind sie sicher ganz objektiv . und gerade deshalb kein stück weniger verrückt als ihr - scheinbarer - gegenpart, der eine ganz eigene version des objektivistischen modus auslebt. es ist und bleibt vorläufig kalt und trostlos. solange, wie wir es uns gefallen lassen. und zu brauchen scheinen.
einmal weit zurück - ein paar jahrhunderte gleich - in der geschichte der westlichen kultur zu gehen und sich näher mit einem mann zu beschäftigen, dessen name wie kaum ein zweiter mit dem begriff der "wissenschaftlichen aufklärung" assoziiert wird, scheint auf den ersten blick langweilig zu sein.
aber vielleicht haben Sie trotzdem zeit übrig. ich hatte es ja hier schon mal angekündigt, dass mich insbesondere die spekulationen zu einem möglichen aspergersyndrom bei newton interessieren:
"Newton habe kaum gesprochen, Vorträge in leeren Sälen gehalten, wenn keine Studenten auftauchten, und seine wenigen Freunde äußerst ruppig behandelt. Beide hätten sich oft völlig in ihre Forschungsarbeit vertieft und dann nichts anderes mehr gekannt - ein typischer autistischer Zug, wie Baron-Cohen meint."
und dieses interesse hat einen besonderen hintergrund, auf den ich gleich zu sprechen komme.
vorher aber noch ein paar hinweise auf allgemeine informationen zu newton: ich nehme einfach mal an, dass die meisten leserInnen spätestens im physikunterricht der schulzeit mit diesem namen bekannt gemacht worden sind - newton, dem unter dem baum ein apfel auf den kopf fiel (ein mythos im übrigen) - und der daraufhin die schwerkraft ent-deckte. nun sind seine wissenschaftlichen arbeiten und seine wirkungen auf die gesamte westliche kultur - bis heute - allerdings wesentlich breit gestreuter, als es die geschichte mit dem apfel impliziert. einen überblick über diese arbeiten kann ich mir hier sparen, weil es im netz bereits genügend seiten gibt, die das besser zusammenfassen: hier und hier bspw.
sein vielleicht zentralstes arbeitsergebnis wird so beschrieben:
"Doch er war der erste, der eine umfassende physikalische Theorie ausarbeitete. Ein System aus grundlegenden Annahmen, aus denen er mit den Mitteln der Mathematik Naturgesetze formulierte, die immer und überall gültig sein sollten."
ein grundlegendes und umfassendes system also, welches bis heute einflüsse auf uns alle hat, die erstens kaum jemals benannt werden, weil sie zweitens nicht einfach zu verstehen sind - das newtonsche weltbild (oft auch ergänzt durch kartesianisch, nach dem philosophen rené descartes, von dem der ausspruch "ich denke, also bin ich" stammt, der bis heute zu den essentials der rationalistischen weltanschaung gehört - letztlich findet sich hier auch die wahrscheinliche grundlage für jene ideologie, die in einer der letzten beiträge als objektivismus vorgestellt wurde) - das newtonsche weltbild also ist etwas, was die weltwahrnehmung innerhalb der westlichen kultur seit ein paar jahrhunderten bis heute ganz grundlegend strukturiert, und damit nicht nur irgendwelche abstrakten wissenschaftlichen bereiche prägt, sondern auch unseren alltag und unsere sozialen beziehungen. wie das?
um diese unvermeidliche - und verständliche frage einigermaßen zu beantworten, möchte ich auf ein z.b. hier noch erhältliches buch des us-amerikanischen historikers morris berman hinweisen, "wiederverzauberung der welt", dessen untertitel ganz und gar nicht zufällig "am ende des newtonschen zeitalters" lautet. das buch erschien in d-land mitte der 1980er jahre und wurde - imo unberechtigt - ob seiner fundamentalen kulturkritik in die damals boomende "new age" - schiene gepackt. (berman schreibt im übrigen heute bevorzugt zum - aus seiner sicht zerfallenden - us-amerikanischen imperium. hier ein interview mit ihm.)
die "wiederverzauberung der welt" jedenfalls ist eine wahre fundgrube für alle, die an der entwicklung der westlichen kultur in den letzten jahrhunderten interessiert sind - berman "betreibt ungewöhnliche Geschichtsforschung. Er beschreibt, wie die Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert zwischen Mensch und Natur eine völlige Trennung praktiziert hat. Die Folgen waren katastrophal: die Entfremdung des Menschen von seiner Welt, eine technokratische Gesellschaft, die das Leben der Menschheit und des Planeten immer stärker bedroht." (aus dem klappentext).
im weitesten sinne geht es inhaltlich um das spannungsverhältnis zwischen magischen weltbildern bzw. wahrnehmungen (berman nennt das "partizipierendes bewußtsein"), der von newton entscheidend mitbegründeten wissenschaftlichen aufklärung (das objektiv-rationalistische denken) und dem, was als wahnsinn bezeichnet wird. wobei gerade beim letzteren eine kritik anzubringen ist: berman bezieht sich bei seiner definition primär auf das, was die westliche psychiatrie schizophrenie nennt, führt dabei etliche argumente für eine grundsätzlich als struktur vorhandene, real aber fehlschlagene befreiende funktion dieser art von psychotischer wahrnehmung an - und das ist leider imo ein zu verengter blick, wie wir heute annehmen können. wie hier schon öfter skizziert wurde, haben wir es aller wahrscheinlichkeit nach mit zwei elementaren und qualitativ unterschiedlich organisierten phänomenen zu tun, wenn von psychose die rede ist (von denen nur die eine, nämlich "schizophrene", form tatsächlich ein element von befreiung, oder vielleicht besser protest, enthält - die andere form jedoch ist eine völlige unterwerfung mit implizitem selbstverrat, wobei der meist erzwungen ist.) und berman gelangt sogar, wie noch zu sehen sein wird, unausgesprochen zum gleichen schluß. aber in den 1980er jahren fehlten mit sicherheit etliche informationen bzw. einfach ein entsprechender blick, um diesen unterschied in all seinen vermutlichen konsequenzen zu berücksichtigen. ebenfalls berücksichtigt er den bereich der massenhaft traumaerzeugenden kindererziehung in den untersuchten mittelalterlichen bis früh neuzeitlichen zeiträumen zu wenig - ich vermute, vor dem heutigen wissenstand wäre seine bewertung der magischen praktiken etwas anders ausgefallen und beziehe mich dabei u.a. auf deMause, dessen herleitung vieler sog. religiöser (im weitesten sinne) praktiken und der dahinter stehenden wahrnehmung als produktion von dissoziierenden menschen mir sehr plausibel erscheint. aber trotz allem finde ich das buch nach wie vor anregend, und die jetzt anstehenden gedanken zu newton darin sind sehr aufschlußreich.
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eigentlich wäre es hier notwenig, die implikationen des newtonschen weltbildes ausführlich darzulegen, gerade deshalb, weil den meisten von uns die bedeutung von weltbildern und die quasimaterielle eindringlichkeit, die sie bis in unsere anscheinend persönlichsten gedanken und gefühle hinein annehmen können, nicht unmittelbar einsehbar ist - in einem gewissen sinne stellen sie das wasser dar, in dem wir fische uns bewegen - und wie eine schöne metapher lautet, war es unter garantie kein fisch, der das wasser zuerst entdeckte. mit anderen worten: es ist ein enorm schwieriges unterfangen, die sozial produzierte bühne wahrzunehmen, auf der das eigene lebenstheater spielt.
und für ein physikalisch-abstraktes weltbild als teil dieser bühne gilt das erst recht.
in einem vergleich zwischen den weltbildern des mittelalters und des 17. jahrhunderts (welches bereits von gallilei und am ende auch von newton beeinflusst gewesen ist) kommt berman u.a. zu folgenden unterschieden:
"Wenden wir uns dem Weltbild des 17. Jahrhunderts zu, dann werden wir wahrscheinlich zuallererst ds Fehlen jeder immanenten Bedeutung bemerken. E.A. Burtt hat beschrieben, wie das 17. Jahrhundert, das mit der Suche nach Gott begann, damit endete, das er vollständig aus ihm verdrängt wurde. Die Dinge besitzen keinen Zweck, was eine anthropozentrische Auffassung ist, sondern lediglich Verhaltensweisen, die auf atomistische, mechanische und quantitative Weise beschrieben werden können (und müssen). Das Ergebnis davon ist, daß sich unsere Beziehung zur Natur vollständig geändert hat. Im Unterschied zum mittelalterlichen Menschen, dessen Beziehung zur Natur auf Gegenseitigkeit beruhte, sieht sich der moderne Mensch (der existenzialistische Mensch) im Besitz der Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen, sie für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Dem mittelalterlichen Mensch war eine sinnvolle Stellung im Universum gegeben, es bedurfte keines Willensaktes von seiner Seite. Dem modernen Menschen ist es andererseit auferlegt, seine Ziele selbst zu finden. Aber was diese Ziele sind oder sein sollten, kann zum erstenmal in der Geschichte nicht mehr logisch abgeleitet werden. Kurzum: die moderne Wissenschaft basiert auf der scharfen Trennung zwischen Ding und Wert, sie kann uns lediglich sagen, wie etwas zu tun ist, nicht, was zu tun ist und ob wir es tun sollten."
(berman, "wiederverzauberung der welt"; s. 50/51)
anmerkungen von mir: die oben durchschimmernde positive darstellung der mittelalterlichen welt mit ihren strikten hierarchien (gott - kirche - adel - volk) ist mir etws zu optimistisch gefärbt - sicher, "existenzialistische" ungewißheiten und sinnfragen der heutigen zeit sind in einer solchen ordnung nicht unbedingt zu erwarten, die kehrseite jedoch ist eine relative starrheit und die zementierung der damals aktuellen herrschaftsformen. großflächige verwüstungen okönomischer bzw. ökologischer art jedoch sind durch die implizite begrenzung einer solchen ordnung weitgehend ausgeschlossen. ebenso wie technologisch sinnvolle verbesserungen. der mittelalterliche mensch in seinem seiner zeit entsprechend geprägten dissoziierten dasein scheint sich eine primär sicherheit gebende ordnung gegeben zu haben.
beim "neuen" weltbild jedoch ist in den kernaussagen etliches enthalten, was uns aus ganz anderen ecken heraus bekannt vorkommt:
"Verhaltensweisen, die auf atomistische, mechanische und quantitative Weise beschrieben werden können"; "Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen"; "scharfe Trennung zwischen Ding und Wert" - stichworte: objektivismus, und auch autismus - gerade die trennung zwischen ding und wert weist deutlich auf eine spezifische wahrnehmung hin, in der der objektivistische modus zwar noch bzw. nur dinge wahrnehmen kann, aber eben keinerlei innere qualitäten mehr, für die bestimmte psychophysische wahrnehmungsfunktionen intakt sein müssen (im mittelalter scheinen diese qualitäten allerdings größtenteils halluziniert gewesen zu sein...eine assoziation von mir, die erstmal befremdlich klingt: haben wir hier etwa eine historischen wendepunkt vor uns, bei dem neben den "üblichen" dissoziierten menschen zum erstenmal wahrnehmbar auch eine autistische minderheit auf der bühne erscheint? erinnern Sie sich bitte an die beiträge zum thema infantizid und zu traumafolgen - ist das, was wir geschichte nennen, in ihrem tiefsten inneren am ende eine geschiche der psychopathologien? bei der die jeweils - hm, kränkesten vertreterInnen der jeweiligen pathologie deshalb zu ruhm und ehren kommen, weil sie die passenden tendenzen der jeweiligen zeit in ihren verschiedenen bereichen einfach am prägnantesten darstellen und bündeln können?
"Schließlich ist für das 17. Jahrhundert nur das `wirklich´ wirklich, was abstrakt ist. Atome sind real, aber unsichtbar; die Schwerkraft ist real, kann aber ebenso wie Impuls und träge Masse lediglich gemessen werden. Allgemein gesprochen dient die abstrakte Quantifizierung als Erklärung. Es war dieser Verlust des Greifbaren und Sinnhaften, der die sensibleren Geister der Epoche - Blaise Pascal und John Donne zum Beispiel - an den Rand der Verzweiflung trieben. Die `neue Philosophie stellt alles in Zweifel´, schrieb letzterer im Jahre 1611, `alles ist in Stücken, jeglicher Zusammenhang verschwunden´. Oder in Pascals Worten: `die Stille des unendlichen Raumes flößt mir Entsetzen ein.´"
(berman, "wiederverzauberung..."; s. 51)
wahrnehmungsweisen...abstraktes statt sinnliches - und eine qualitativ neue art der fragmentierung. natürlich auch eine notwendige basis für die ökonomischen verhältnisse, die wir heute kapitalismus nennen. aber lag darin wirklich der zweck dieser neuen wahrnehmungsweisen, wie es marxistische theorie nahelegt? (ich weiß schon, dass das wort "zweck" hier einigen unpassend erscheinen wird, aber ich hoffe, dass trotzdem klar ist, was ich meine.) oder hat sich auf der psychophysischen basis nicht doch vielleicht einfach die dieser basis angemessene ökonomische form entwickelt, vergleichbar den jeweiligen entwicklungen in anderen lebensbereichen? henne oder ei...
"Die Natur (einschließlich menschlicher Wesen) wird somit zum Material, das man sich aneignen und formen kann. Nichts kann in sich zweckhaft sein, und Werte - wie Machiavelli als einer der ersten ausführte - sind ja lediglich Gefühlsregungen (sic! mo). Die Vernunft ist nun völlig (zumindest theoretisch) instrumental, zweckrational. Man kann nicht länger fragen: `Ist das gut?´, sonder lediglich: `Funktioniert es?´ Eine Frage, die die Einstellung der Handelsrevolution und die wachsende Betonung der Produktion, Vorhersagbarkeit und Kontrolle wiedergibt."
(berman, "wiederverzauberung...."; s. 53)
letzteres begründet bis heute die dominanz der westlichen kultur auf diesem planeten. wie aber sah nun die biographie eines mannes aus, der diese dominanz theoretisch zu einem großen teil mitvorzubereiten half?
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"Isaac Newton steht als Symbol für die westliche Wissenschaft und seine *Principia* kann wohl zu Recht als Dreh- und Angelpunkt des wissenschaftlichen Denkens der Neuzeit bezeichnet werden. (Er)...definierte die Wissenschaftsmethode an sich, die Begriffe von Hypothese und Experiment sowie die Vorgehensweisen, an Hand deren die rationale Beherrschung der Welt zu einem lebensfähigen intellektuellen Programm erhoben werden konnten. (,,,) Und obwohl die Physik des 20. Jahrhunderts Details der Newtonschen Synthese beträchtlich modifizierte, bleibt das gesamte wissenschaftliche Denken, wenn nicht sogar der Charakter des zeitgenössischen empirisch-rationalen Denkens im allgemeinen, seinem Wesen nach durch und durch newtonisch.
Mit einigem Erstaunen reagierte deshalb der britische Ökonom John Maynard Keynes, als er beim Durcharbeiten der unzähligen Manuskripte Newtons, die von seinen Nachfahren 1936 (...) zur Versteigerung freigegeben worden waren, entdeckte, daß Newton sich intensivst mit okkulten Wissenschaften und hier speziell mit der Alchemie befaßt hatte, ja beinahe besessen davon gewesen ist. (...)
Keynes erkannte, daß das 18. Jahrhundert Newton eigentlich für die Öffentlichkeit `zurechtgemacht´ hatte. (...) Aber die in jüngster Zeit von Frank Manuel erstellte Biographie Newtons hat, ebenso wie die von David Kubrin erstellte brilliante Studie über Newton und seinen kulturellen Hintergrund, gezeigt, daß Newton selbst in großem Umfang `gesäubert´hat.
(...)...sowohl aus psychologischen als auch aus politischen Gründen sah es Newton als notwendig an, diesen Teil seiner Persönlichkeit (den "mystischen") und seiner Philosophie zu unterdrücken und die nüchterne Fassade eines Positivisten zur Schau zu tragen. Die Evolution von Newtons eigenenem Bewußtsein spiegelt nicht nur auf signifikante Art und Weise das Schicksal der alchemistischen Tradition zur Zeit der Restauration Englands wider, sondern auch die Evolution des westlichen Bewußtseins im allgemeinen. Und so behauptet Manuel,daß Newtons Persönlichkeit ebenso wie seine Sichtweise nichts weiter als ein extremer Ausdruck seiner Zeit waren."
(berman, "wiederverzauberung..."; s. 124/125)
eine zeit, in der die methoden der kindererziehung sowie der umgang mit kindern allgemein, wie es bei deMause zu lesen ist, mehr oder weniger katastrophal waren - von heute aus betrachtet. das ist bei folgendem zu beachten:
"Newtons Kindheit war geprägt von einem sehr hohen Maß an Verlustangst. (...) Newtons Vater starb drei Monate vor Geburt seines Sohnes, und seine Mutter heiratete wieder, als er ungefähr drei Jahre alt war. Sie verließ daraufhin ihren Sohn, um ungefähr eineinhalb Meilen von ihm entfernt mit ihrem neuen Ehemann (namens smith, anmerk. mo) zusammenzuleben; Isaac blieb in dieser Zeit bei seiner Großmutter in seinem Geburtsort (...) Seine Mutter kehrte erst nach dem Tod ihres zweiten Mannes (...) zurück, als Newton bereits elf Jahre alt war. Somit war Newton während entscheidender Phasen seiner Entwicklung verlassen und im Stich gelassen worden, und dies, nachdem seine Mutter sowieso schon als alleiniger Elternteil seine einzige Bezugsperson gewesen war. Als Ergebnis, schreibt Manuel,
war seine Fixierung auf sie absolut und vollkommen. Das Trauma, ursprünglich von ihr verlassen worden zu sein, erzeugten großen Schmerz, Aggressivität und Angst in ihm. (...)
der biograph manuel wertet das als ein "traumatisches Ereignis in Newtons Leben, von dem er sich nie erholte." wobei: vielleicht haben wir hier auch eine jener typischen fehlurteile, die sich, von unseren heutigen normen geprägt, mutter-kind-verhältnisse immer nur als grundsätzlich liebevoll vorstellen können - die realität des infantizids sagt etwas anderes, ebenso wie newtons reaktionen nicht unbedingt etwas liebevolles deutlich machen:
"Newton schrieb als Jugendlicher in einem seiner Notizbücher unter das Wort `Sünde´: `gegen meinen Vater und meine Mutter Smith die Drohung ausstoßen, sie möchten samt ihrem Haus verbrennen´, und `ganz bestimmten Personen den Tod wünschen´.
dazu kam ein sonderbares bewußtsein der eigenen "auserwähltheit":
"Er war am Weihnachtstag des Jahres 1642 früh zur Welt gekommen, und man nahm nicht an, daß er überleben würde. Tatsächlich war in der Gemeinde, in der er zur Welt kam, die Kindersterblichkeitsrate auffallend hoch, und Newton war später davon überzeugt, daß die Tatsache, daß er am Leben geblieben war (ebenso wie der Umstand, daß er als junger Mann nicht der Pest zum Opfer gefallen war), ein Zeichen göttlicher Einmischung war. Wie Manuel weiterhin aufzeigt, kursierte in derselben Gemeinde außerdem die weitverbreitete Ansicht, daß ein Junge, der nach dem Tode seines Vaters geborn wird, mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet sei. (...) Er war überzeugt, `daß Gott sich in jeder Generation nur einem einzigen Propheten enthüllt, was parallele Entdeckungen unmöglich macht.´ In den unteren Rand seines Alchemie-Notizbuches ritzte Newton als Anagramm seines lateinischen Namens Isaacus Neuutonus: Jeova sanctus unus - Jehova, der Heilige.
Zusätzlich zu diesen geschilderten Eigenschaften wies Newton typisch puritanische Züge auf: Strenge, Disziplin und vor allem Schuld und Scham. `Er hatte einen eingebauten Zensor in sich´, meint Manuel, `und lebte beständig unter dem strengen Blick eines Aufsehers...´ Zu solchen Schlüssen gelangt Manuel nach der Durchsicht von Übungsheften des jugendlichen Newton, die unter anderem Sätze enthalten, die Newton in freier Assoziation gewählt hatte, um sie ins Lateinische zu übersetzen. Diese Sätze enthalten im Überfluß Themen wie Angst, Selbstherabsetzung und Einsamkeit:
Ein junger Bursche,
er ist blaß.
Für mich gibt es keinen Platz, wo ich
sitzen kann.
Zu welcher Beschäftigung taugt er?
Er ist gebrochen.
Das Schiff sinkt.
Es gibt da etwas, was mir Kummer bereitet.
Er hätte bestraft werden sollen.
Niemand versteht mich.
Was wird aus mir werden.
Ich werde Schluß machen.
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.
(berman, "wiederverzauberung...", alle obigen zitate s. 125 - 127)
klingen newtons sätze nicht ganz verblüffend aktuell? ähnliches lässt sich heute auch in diversen netzforen lesen, zu depressionen, borderline... ich war ähnlich erstaunt wie berman:
"Für einen Jugendlichen sind dies zweifelsohne sehr ungewöhnliche Sätze, um ins Lateinische übersetzt zu werden; die Auswahl ist beinah nicht zu glauben. `Bei all diesen Notizen des Jungen´, schreibt Manuel,
`erstaunt vor allem, daß kein einziges Mal die Äußerung eines positiven Gefühls auftaucht. Das Wort Liebe fehlt völlig, und Äußerungen von Freude, Wusch und Verlangen sind selten...Fast alle Aussagen enthalten Negationen, Ermahnungen, Verbote. Das Leben erweist sich als feindlich und auf Strafe bedacht.´"
ich weiß nicht, wie oft ich den letzten satz schon gelesen habe - und immer wieder ist es ein gefühl, welches mir mit wucht kommt: das ist so verdammt bekannt, große und entscheidende teile des heutigen sozialen lebens sind auf diesem prinzip, besser dieser wahrnehmung, aufgebaut.
"Wäre darüber hinaus nichts weiter von Isaac Newton an die Geschichte überliefert worden, dann hätten diese Notizbucheintragungen den Status eines psychiatrischen Kuriosums erhalten. Anstattdessen haben wir es bei Isaac Newon mit dem Erschaffer der Wissenschaftsauffassung der Neuzeit zu tun, und diese Auffassung, die besagt, daß alles hundertprozentig vorhersagbar ist ("Töte alles, was in Bewegung ist" wie Philip Slater es ausdrückt), kann keinesfalls getrennt von ihrer pathologischen Grundlage gesehen werden. `Eine der wichigsten Quellen für Newtons Drang nach Wissen´, schreibt Manuel, `war seine Furcht und Angst vor dem Unbekannten. Wissen, das in mathematische Formeln gebracht werden konnte, vermochte seiner quälenden Unsicherheit und Ungewißheit ein Ende zu bereiten...(Die Tatsache), daß die Welt mathematischen Gesetzen gehorcht, bedeutete seine eigene Sicherheit.
Alles auf Himmel und Erden in einen einzigen starren, engen Rahmen zu zwingen, dem nicht einmal per Zufall das kleinste Detail entkommen konnte, um frei umherzuscheifen, war für diesen von Angst und Furcht verfolgten Mann eine innere Notwendigkeit. (...) Das System war sowohl in seinen physikalischen als auch historischen Dimensionen vollständig. (...) Es war Newtons Glück, daß die Gesellschaft Europas einen großen Teil seines gesamten Systems als ein perfektes Abbild der Wirklichkeit akzeptierte, so daß sich sein Name aufs engste mit seinem Zeitalter verband.´
Trotz seines gelegentlichen Nervenzusammenbruchs war Newton kein Psychotiker, es steht jedoch außer Zweifel, daß er sich an der Grenze zu irgendeiner Form des Wahnsinns bewegte, den er durch eine völig auf den Tod ausgerichtete Natursicht zu beschwichtigen suchte. Bemerkenswert daran ist jedoch weniger diese Natursicht selbst als vielmehr die Zustimmung und der Beifall, den sie auf breiter Ebene fand. (...) Anstatt irgendein einsamer, eigenartiger Kauz zu bleiben, gelang es ihm, ganz Europa dazu zu bringen, `sich diesem großen, zwanghaften Modell anzuschließen´, Präsident der Royal Society zu werden und 1727 mit Glanz und Glorie in der Westminster Abtei in einem Akt internationaler Bedeutung begraben zu werden.
Man könnte sagen, daß Europa, nachdem es die Newtonsche Sicht der Welt übernommen hatte, geschlossen den Verstand verlor."
(berman, "wiederverzauberung...", s. 128/129)
über den letzten satz empfiehlt sich eine besinnliche meditation...und ob newton als psychotiker bezeichnet werden soll, ist eine definitionsfrage - wie gesagt, bezieht sich berman nur auf die eine form - newton hat dagegen seinen wahnsinn erfolgreich in die gesellschaft transferiert, und befindet sich damit in berühmter gesellschaft. erfolg kann eben auch ein kriterium für wahnsinn sein, zumal sie er auch eine stützende funktion besitzt, die dem erfolgreichen sowohl das blanke ausagieren als auch die nichtauseinandersetzung mit sich selbst ermöglicht.
*
zum schluß noch ein recht berühmtes bild newtons (der mit hilfe eines zirkels die welt zerlegt) von william blake, und ein passendes gedicht von eben diesem blake. das soll kommentar genug sein.

Now I a fourfold vision see,
And a fourfold vision is given to me;
´t is fourfold in my supreme delight,
And threefold in soft Beulah´s night
And twofold always. May God us keep
From single vision and Newton´s sleep!
Jetzt sehe ich eine vierfältige Erscheinung
und eine vierfältige Sicht ist mir geschenkt.
Vierfältig ist sie in meinem äußersten Entzücken,
Dreifältig in Beulah´s sanfter Nacht
und zweifältig zu allen Zeiten.
Möge Gott uns vor einfältiger Sicht
und Newtons Schlaf bewahren.
(1802)
da dieses blog in aller regel bedrückende bis schwer bedrohliche themen behandelt, möchte ich Ihnen einen beitrag nicht vorenthalten, der mir ein breites grinsen auf´s gesicht gezaubert hat. und trotzdem bleibt mir der wunsch "viel vergnügen!" irgendwie halb im halse stecken...
Und es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, auf welche Weise aus diesem Teufelskreis des konditionierten Handelns und verlogenen Alibituns einmal ein wahrhaftiges Sein entstehen kann.”, rief er.
wieder einmal hat sich ein thema quasi aufgedrängt, welches ich für interessant genug halte, es näher zu beleuchten - hinter der beschäftigung mit dem neurolinguistischen programmieren (wer zur theorie und technik weiteres wissen will, findet im netz genügend material) versteckt sich unter anderem die grundsätzliche frage, ob jegliche zwischenmenschliche kommunikation als manipulativer akt anzusehen ist - und diese frage nun birgt allerdings reichlich sprengkraft, und ist für unser selbstbild als menschen ganz und gar nicht unerheblich.
wie ich dazu komme, mich näher mit dem nlp zu beschäftigen, steht an einem anderen, nichtöffentlichen virtuellen ort, wo ich vor kurzem folgendes geschrieben habe - auszüge:
"bin mehr zufällig über interessante infos - von einer nlp-seite selbst, die gerne mit "ethisch" vs. "unethisch" hantiert und darin scientology nicht unähnlich ist - gestolpert: über die haider-fpö und nlp
mittels des "back"-buttons im browser könnt ihr zu einem zweiten, ähnlichen artikel gelangen.
(...) doch, sehr interessant
wer besucht sowas? was wird da genau vermittelt? wenn ich mir den da verlinkten .pdf-flyer anschaue, wird mir etwas anders...
"Top-Manager wie Lee Iacocca, Politiker wie der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sowie die internationalen Konzerne IBM, Mercedes, Coca-Cola, Sandoz, Master Foods, American Express und BP wissen schon längst um das enorme Potential der neuen Coaching-Methode. Auch hierzulande hielt NLP bereits Einzug in firmeninterne Trainingsprogramme: Bei Philips, Agip, Voest Linz, Bank Austria, Palmers, Interunfall, Siemens, Boehringer-Mannheim oder Wüstenrot verbessern Manager ihre Fähigkeiten Mittels NLP."
(quelle)
gleiche quelle:
"Indem man Atem, Mimik, Gestik, Sprechgeschwindigkeit, Körperhaltung usw. an sein Gegenüber anpaßt, schafft man eine Verbindung, den sogenannten Rapport, wie es im Fachausdruck heißt, der für den Gesprächspartner angenehm ist. Durch dieses Pacing, auch Spiegeln genannt, wird eine Art Gleichklang hergestellt, der leicht alsbald in ein Leading, also in ein Führen, übergeleitet werden kann."
na prima...sie sprechen es auch gleich offen aus:
"Natürlich birgt dieser direkte Draht zum Unterbewußten die Gefahr der Manipulation. Roman Braun: "Manipuliert werden wir ständig, man kann nicht nicht manipulieren. Manipulation heißt Veränderung. Durch NLP macht man sich die Prozesse bewußt, die ansonsten im Unterbewußtsein ablaufen."
das ist nicht nur ein starkes stück, sondern eine regelrechte frechheit - kommunikation jeglicher art als ausnahmslose manipulation darzustellen bzw. so ernsthaft zu empfinden, verlangt imo tatsächlich eine persönlichkeitsstruktur, in der sich grundsätzliche defekte vermuten lassen.
(...)
zum schluß noch zwei längere kritiken an menschenbild und methoden des nlp (auch wenn die zweite aus kirchlichen kreisen stammt, enthält sie viele erwähnenswerte überlegungen):
kritik 1
kritik 2
und als nachtrag noch diesen kurzen ausschnitt aus einem längeren bericht zur praxis des nlp:
"NLP-versierte Manager wie der Beiersdorf-Direktor Patzelt glauben denn auch, ihre Arbeitskollegen regelrecht konditionieren zu können - wobei die Tierversuche des russischen Physiologen Iwan Pawlow durchaus als Modell dienen. So wie Pawlow einst den Speichelfluss seiner Hunde allein durch einen Klingelton in Gang setzte (zuvor hatte er einige Male bei der Verabreichung des Futters die Klingel ertönen lassen), versuchen sie ihre Mitmenschen durch geschickt gesetzte Signalreize zu ähnlichen unwillkürlichen Handlungen zu verleiten. Patzelt erläutert: "Beim neurolinguistischen Programmieren geht man davon aus, dass eine Vorstellung, ein innerer Dialog, oder ein Gefühl genau solche Reaktionen sind wie die Speichelabsonderung des Pawlowschen Hundes." Den zugrundeliegenden Vorgang nennen die NLP-Experten "ankern".
(quelle)
die hier dargestellte vorstellung des charakters menschlicher gefühle ähnelt dabei auf verblüffende und wahrscheinlich keinesfalls zufällige weise den entsprechenden aussagen, wie sie auch die ideologie des objektivismus macht - eine quasi mechanische, durch äußere reize ausgelöste und irgendwie sekundäre menschliche reaktion.
darauf hat sich dann eine z.zt nicht abgeschlossene diskussion um die relevanz von nlp in den gesellschaftlichen "eliten", den potenziellen wirkungsradius solcher techniken und eben zum begriff der manipulation entwickelt, wobei gerade zum letzteren thema eine mehr oder weniger große zahl von menschen das nlp-postulat des grundsätzlich manipulativen charakters jeglicher kommunikation zu teilen scheint - nicht nur am erwähnten virtuellen ort. ich halte das für gelinde gesagt bedenklich, und möchte dazu wieder einmal den herrn mertz zitieren, der sich der theorie und praxis des nlp mit scharfer polemik nährt, vorher aber noch ein paar grundsätzliche ausführungen zur subjektiven erfahrung generell und an sich macht (dazu verweise ich auch auf die längeren zitate von ihm hier ):
"Die zwei Fundamentalkategorien der subjektiven Erfahrung
Die primärkompetente Beziehungserfahrung beruht offensichtlich auf einem primärsinnlichen Erfahrungsmodus, der von primärfiktiven Elementen, die nicht aus der primärsinnlichen Eigenerfahrung (...) stammen, etwa wissenschaftlich-professionellen Theorieprothesen (auf Fremderfahrung basierende Fiktionen), begleitet, gesteuert, überlagert, durchdrungen, deformiert oder weitgehend blockiert werden kann. Immer wieder stoßen wir, in Psychologie und Psychopathologie, in der Theorie und in der Praxis, (...) auf dieses Spannungsverhältnis zwischen primärsinnlicher Erfahrung und Fiktion.
Wir erfahren die Welt, uns selbst mit eingeschlossen, entweder auf sinnlichem oder nichtsinnlichem Wege...oder überhaupt nicht. Sinnliche Erfahrung und nichtsinnliche Erfahrung, das sind die Fundamentalkategorien der subjektiven Erfahrung. (...) Auch das wieder eine scheinbare Banalität. (...) Mit diesem unscheinbaren Instrument läßt sich nunmehr der ganze Komplex um Beziehung und Nichtbeziehung, Authentizität und Simulation in der Weise neu ordnen, daß ein totalsimulatives Phänomen erstmals denkbar wird und systematisch bearbeitet werden kann. Bei dieser Basisordnung handelt es sich zugleich (...) um eine Banalität der alltäglichen Erfahrungspraxis, wie sie uns etwa in folgenden Behauptungen begegnet: Das bildest du dir nur ein, das ist nur Einbildung. Oder: Ich habe etwas mit meinen eigenen Augen gesehen, ich habe es deutlich gespürt. Natürlich ist dieser kleine Unterschied zwischen Einbildung und sinnlicher Erfahrung auch in wissenschaftlich-professionellen Kreisen nicht ganz unbekannt."
(j. e. mertz, "borderline..."; siehe literaturliste; s. 94/95)
der erwähnte "kleine unterschied" zwischen "primärsinnlich und primärfiktiv", zwischen sinnlicher erfahrung und einbildung ist imo das, was in den beiträgen zur subjektivität und objektivität weiter unten genauer skizziert worden ist - gemeint ist der objektivistische modus, das "konstruktivistische ich" als werkzeug - und nicht etwa als qualitativ eigener gegenpol! - der subjektivität. dieses verhältnis spielt auch bei der hier dargestellten kritik am menschenbild des nlp eine zentrale rolle. mit bezug auf diesen "kleinen unterschied" geht es weiter:
"Manche Schulrichtungen, vor allem das sogenannte Neurolinguistische Programmieren (NLP), kennen den Unterschied wohl, lösen ihn aber im Ernstfall vollkommen auf. Ob ein Erinnerungsbild tatsächlich eine sinnliche Eigenerfahrung repräsentiert oder nur eine bloß fiktive Produktion, die vom Betreffenden so erlebt wird, als ob es sich um eine frühere sinnliche Eigenerfahrung handeln würde, spielt hier keine Rolle mehr, weil der Betreffende selbst diese Als-Ob-Erinnerung als Repräsentation einer tatsächlich gemachten, d.h. sinnlichen Eigenerfahrung erlebt...die Differenz ist dann "egal" [R. B. Dilts 1991].
Gelegentlich ist aus dieser Ecke zu hören, das Gehirn könne nicht zwischen sinnlicher Erfahrung und bloß halluzinierter Erfahrung unterscheiden, beides werde gleichermaßen als real erlebt. Oder anders ausgedrückt: "Menschen reagieren auf ihre Abbildung der Realität, nicht auf die Realität selbst" [erster "Glaubenssatz" des NLP, T. Stahl 1992]."
(mertz, "borderline..."; s. 95)
an dieser stelle möchte ich ein paar bemerkungen wagen - wagen deshalb, weil es dabei um einen themenbereich geht, der tatsächlich komplex und kompliziert ist (und nicht nur so erscheint, wie einiges andere) - letztlich geht es darum, was eigentlich das wesen unserer realität in all ihren varianten ist - eine frage, auf die es nur versuche von antworten zu geben scheint und vielleicht nur geben kann - beim nachdenken. sinnlich ist das eindeutiger, und genau dieser unterschied ist es, um den es u.a. geht.
Sie werden sowohl in kritiken als auch selbstdarstellungen des nlp an einigen stellen finden, dass nicht wenige diese technik zum gebäude des psychologischen - und im weiteren sinne auch philosophischen - konstruktivismus zählen (auch mertz wird später darauf zurückkommen). nun habe ich weder vor, noch sehe ich mich in der lage, hier eine ausführliche auseinandersetzung mit dieser denkrichtung zu führen. ein paar persönliche assoziationen, die mir sowohl speziell bei der beschäftigung mit nlp als ausdruck des konstruktivismus als auch allgemein zum letzteren kommen, möchte ich aber trotzdem anmerken, weil sie für mich bei meiner eher ablehnenden haltung konstruktivistischen ansätzen gegenüber eine rolle spielen.
erstens: ich habe keinerlei grundsätzliche schwierigkeiten mit bestimmten vorstellungen, die sich bspw. durch bereiche wie die neurowissenschaften oder auch die moderne physik ergeben - ganz grob und verkürzt meine ich damit, dass wir durch unser gehirn und mittels unserer wahrnehmung in einem gewissen sinne erst das quasi erschaffen (das wort "konstruieren" greift an dieser stelle zu kurz und inpliziert imo auch etwas falsches), was wir als materielle realität um uns herum wahrnehmen - in dem sinne, das bspw. farben, gerüche, geschmack und all die unzähligen wahrnehmungen durch das zusammenspiel von im "außen" vorhandenen atomen und molekülen mit den atomen und molekülen unseres körpers zustandekommen. und das andere sinne bspw. bei tieren wie fledermäusen (ultraschall) für diese auch dafür sorgen, dass sie eine qualitativ andere welt als die menschliche erleben - wobei wir über dieses erleben nur spekulieren können. ich hoffe, das für Sie einigermaßen deutlich ist, was ich hier meine. aber wie gesagt: eine konstruktion im sinne einer rein aktiven bzw. bewußten handlung ist das für mich nicht, weil wir für die gesamte dauer unserer existenz untrennbar in diesen prozeß eingebunden sind und das sozusagen einen grundlegenden und integralen teil unseres seins ausmacht. ebenfalls ist unsere grundlegende und spezifisch menschliche realitätswahrnehmung an unsere körperlichkeit gebunden. und das ist imo zu unterscheiden von der art konstruktivismus, für die primär der objektivistische modus zuständig ist. und meine kritik bezieht sich eben auf diese letztere art.
zweitens: eine folgerung daraus kann ich hoffentlich ziemlich kurz abhandeln - es geht um den konsens der realität, den wir alle permanent und ununterbrochen produzieren. wobei es hier um die äußere realität geht - in der bspw. ein tisch durch seine funktion und handfeste beschaffenheit definiert wird, und in der wir durch die nutzung der sprache - hier eben des wortes "tisch" - dieses wissen bei uns allen aufrufen und uns derart verständigen können - und zwar relativ unabhängig von unseren ganz persönlichen assoziationen und empfindungen, die wir mit einem tisch ansonsten noch verbinden - die können sehr unterschiedlich sein, und vervollständigen sozusagen den grundkonsens "tisch" um eine einzigartige, individuelle note. nur in diesem sinne ließe sich behaupten, dass jede person einen tisch "für sich" wahrnimmt (wie es der radikale konstruktivismus nahelegen würde) - aber das ist eben nur die eine hälfte der realität, wobei sie untrennbar zur - und hier ist dieses wort angemessen - objektiven realität dazugehört. es lässt sich unmöglich sagen, dass die eine hälfte "besser" oder "realer" als die andere wäre - nur das die funktion, welche die objektive realität schafft, eine elementar subjektive ist (genauer nachzulesen in den weiter unten stehenden beiträgen zum thema objektivismus und subjektivität.)
und so wird hoffentlich deutlich, dass die trennung zwischen subjektiven und objektivitäten realitäten ein grundlegender irrtum ist - wenn es den anschein dieser trennung trotzdem gibt, so hat das gründe, die eher in unseren verrückten sozialen verhältnissen zu suchen (und zu finden) sind.
drittens: wenn schon der allgemeine, eher philosophische konstruktivismus derartige verwirrungen anzettelt, so wird das im falle der konstruktivistischen psychologischen ansichten geradezu kriminell: dieses denken konsequent auf das soziale leben angewandt, landet man(n) schurstracks beim solipsismus - in dieser sicht ist und bleibt jede/r von uns auf ewig eingekerkert in einer inneren zelle ohne ausgang, deren wände aus schichten von abbildungen, illusionen und fiktionen bestehen - ohne jede chance, jemals die tatsächliche realität wahrzunehmen. das erinnert nicht ganz zufällig auch an den autismus , wobei hier defektbedingt das meiste bzw. all das von dem verschwunden ist, was wir allgemein als subjektive realität zu bezeichnen pflegen - es bleibt einzig der objektivistische modus mit seinen konstruktionen übrig, die ohne den elementaren subjektiven teil zwar weiterhin funktional(!) subjektiv sind und bleiben, aber eben die typischen mechanistisch-toten eigenschaften der objektivistischen produktionen als totale und einzige realitätswahrnehmung zulassen - einfach, weil die wahrnehmungsfähigkeiten, die die lebendigen qualitäten wahrnehmen könnten, geschädigt oder nicht (mehr) vorhanden sind.
klingt verwirrend? ist es auch. aber bereits diese verwirrung ist imo ein indiz für die schädigungen unseres lebens, um die es hier geht. wie gesagt: lesen Sie vielleicht noch einmal die beiträge unten, in denen der objektivistische modus genauer beschrieben wird. und behalten Sie im kopf, dass er eine funktion der subjektivität darstellt. das, was wir als objektive realität bezeichen, wird zwar auch von diesem modus wahrgenommen, aber eben nur zu einem kleinen teil, der dann auch noch - aufgrund des werkzeugcharakters dieses modus - völlig verzerrt, nämlich tot und dinghaft, ist. unsere wahrnehmung dieser realität ist immer und grundsätzlich subjektiv, kann aber eben durch wahrnehmungsschädigungen einen "objektivistischen" anschein bekommen. und ein ganz grundsätzlicher irrtum scheint mir darin zu liegen, diesen dann übrig bleibenden verzerrten rest als "objektive realität" zu betrachten. wobei sich dieser irrtum von den davon betroffenen kaum vermeiden lässt, weil sie schlicht keinen vergleichsmaßstab haben. im übrigen entsteht die verwirrung nicht zum geringen teil durch die unterschiedlichen assoziationen, die wir den worten "subjektiv" und "objektiv" zuordnen.
der psychologische konstruktivismus scheint nach diesen assoziationen bspw. von einer völlig und ausschließlich "subjektiven" wahrnehmung auszugehen - aber wie ich oben versucht habe deutlich zu machen, ist das unsinn - er setzt eine defekte wahrnehmung, in der der objektivistische modus dominiert, als ganzes. und das ist entscheidend. gerade, weil diese angeblich "subjektive" (im sinne unserer assoziationen) wahrnehmung bestenfalls als egozentrisch, schlimmstenfalls als autistisch zu bezeichen ist und die vollständige subjektive wahrnehmung, die eben auch die grundlage für ein tatsächlich menschliches soziales leben darstellt, als nicht existent ignoriert. und das hat fatale folgen.
viertens: folgen z.b. der art, wie sie in der mehr oder weniger bewußten nutzung konstruktivistischer ansätze bei historisch-politischen oder auch justiziellen themen deutlich werden. ob es sich um die leugnung des holocaust, das immer noch vorkommende anzweifeln der erlebnisse vergewaltigter frauen vor gericht oder auch das sog. false-memory-syndrom geht - die konstruktivistischen einschläge sind unverkennbar:
- holocaustleugner führen gerne das wort "objektiv" im mund - "objektiv" habe es gar keine gaskammern gegeben, wäre zyklon b lediglich zur entlausung eingesetzt worden, und was dergleichen mehr verbraten wird. den überlebenden zeugInnen des terrors wurde und wird regelmässig eine rein "subjektive" (lies: verzerrte) erinnerung unterstellt. die wahnhafte konstruktivistische vorstellungswelt wird hier gleich mehrfach deutlich: a) die sog. "objektivität" ist eine radikal reduzierte; einmal werden tatsächlich objektive beweise für den massenmord als "fälschungen" deklariert oder ignoriert, zum anderen aber wird die subjektive erfahrung der überlebenden als belanglos vom tisch gewischt - die "objektivität" als dominierend gegen die subjektivität ausgespielt (und wieder nicht zufällig ähnelt das dem, was ich auch schon zur medialen diskussion der folter geschrieben habe). die vollständige wahrnehmung der objektiven realität des holocaust verlangt natürlich sowohl die vollständige subjektive wahrnehmung der objektiven beweise und die vollständige subjektive wahrnehmung der subjektiven erinnerungen der überlebenden, wobei gerade deren schmerzen und entsetzen integraler bestandteil dieser wahrnehmung sind und sogar in einem gewissen sinne die tatsächliche realität der vernichtung erst subjektiv zugänglich machen. die leugner kennen hier weder empathie noch erbarmen, und belegen genau dadurch, dass sie vorwiegend im objektivistischen modus agieren - der aber mit der objektiven realität der shoah nichts zu schaffen haben will. ich kann mir im übrigen nicht helfen, aber mich erinnert das frappierend an die praxis des doppel- oder zwiedenkens, wie sie von orwell beschrieben worden ist - die leugner wissen im allgemeinen sehr gut um die realität der shoah, leugnen dieses wissen aber offensichtlich auch vor sich - müssen es leugnen -, wenn sie denn "überzeugend" auftreten wollen. doppeldenk!
zum problem, dass die subjektiven erinnerungen der überlebenden durch die schiere wucht des traumas ebenfalls vom objektivistischen modus geprägt sein könnten, komme ich beim false-memory-syndrom.
- vergewaltigte frauen vor gericht: auch hier wird gerne nach "objektiven" beweisen dafür gesucht, dass es sich eindeutig um eine vergewaltigung (im strafrechtlichen sinne) gehandelt hat. auch hier ist der objektivitätsbegriff ein extrem reduzierter, der v.a. nicht berücksichtigt, dass gerade in situationen ohne massive - physische - gewaltanwendung die jeweiligen individuellen und subjektiven grenzen von frauen sehr verschieden sein können, und dazu noch diverse überlebenstrategien beachtet werden müssen, die weitere gewalttätigkeiten eventuell verhindert haben, später aber dann zuungunsten der frauen interpretiert werden. das prinzip ist uns bekannt: definiere die "objektive" realität, und du hast die macht. auch das ausspielen der "objektivität" gegen die subjektivität wird hier gerne betrieben, wobei hier ebenfalls in den weitaus meisten fällen der objektivistische modus am gange ist - das herrschende modell der "objektivität" verlangt die ignoranz gegenüber den schmerzen der opfer. und auch hier stellt sich am schluß eine ähnliche frage wie eben, in einem gewissen sinne auch mit mehr berechtigung: was ist, wenn der objektivistische modus die subjektivität der überlebenden prägt?
- false-memory-syndrom : bekannt geworden vor allem im kontext der sexualisierten gewalt gegen kinder, wird die tatsächliche möglichkeit der manipulation von erinnerungen (die imo in einzelnen fällen belegbar ist und sowohl bewußt als auch unbewußt von therapeutInnen praktiziert werden kann) meistens instrumentalisiert, was zwar vielleicht verständlich, aber völlig unakzeptabel ist. zu diesem syndrom gäbe es etliches zu sagen, aber das spare ich mir an dieser stelle - ich möchte nur auf die bedeutung hinweisen, den dieses phänomen im zusammenhang mit dem hier beschriebenen hat: wenn offensichtliche fiktionen produziert werden, egal, wie subjektiv bzw. persönlich sie auch erscheinen mögen, dann ist dafür der objektivistische modus verantwortlich. der aber kann als dauerzustand dominant sein, oder aber im falle von akuten, belastenden und (quasi-)traumatischen einflüssen zeitweise dominant werden. wobei für letztere eben nicht unbedingt die fiktiven ereignisse verantwortlich sind, sondern oft genug reale ereignisse, die jedoch nicht erkannt werden und/oder nicht bearbeitet werden können oder sollen, wofür es etliche gründe gibt. das ist eine variante. die andere ist auch der machtmißbrauch von therapeutischer seite, was therapeutInnen voraussetzt, deren persönlichkeitsstruktur und/oder die theoretischen modelle, mit denen sie arbeiten, sie für derartige manipulationen konstruktivistischer art anfällig machen.
letzteres bringt uns allmählich wieder zurück zum thema nlp, aber ein letztes noch vorher.
fünftens: es lohnt sich, in diesem ganzen kontext einmal genauer george orwells "1984" wieder zu lesen. zur metapher für die primär technologische überwachung geworden (die bei orwell übrigens letztlich wesentlich begrenzter ist als das totalitäre szenario, welches die heutigen techniken erlauben - das nur am rande), geht imo etwas unter, dass er sich auch mit den "geistigen" (in seinem sinne) bzw. psychophysischen aspekten der macht beschäftigt hat. ich war sehr erstaunt, als ich folgendes las:
"Sie sind hier, weil es Ihnen an Demut, an Selbstdisziplin mangelt. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis für geistige Gesundheit ist. Sie zogen es vor, ein Wahnsinniger, eine Einpersonenminderheit zu sein. Nur der disziplinierte Geist erkennt die Realität, Winston. Sie halten die Realität für etwas Objektives, Äußeres, das seinen eigenen Bestand hat. Sie glauben auch, das Wesen der Realität sei an sich selbstverständlich. Wenn Sie sich der Illusion hingeben, etwas zu sehen, nehmen Sie an, daß alle anderen das gleiche sehen wie Sie. Aber ich sage Ihnen, Winston, daß Realität nichts Äußeres ist. Die Realität existiert im menschlichen Geist und sonst nirgends. Nicht im Geist des Einzelnen, der irren kann und ohnehin bald untergeht; nur im Geist der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit erachtet, i s t Wahrheit. Die Realität lässt sich auschließlich durch die Augen der Partei erkennnen. Diese Tatsache müssen Sie wieder neu lernen, Winston. Es erfordert einen Akt der Selbstvernichtung (sic! mo), eine Willensanstrengung. Sie müssen sich erst demütigen, ehe Sie geistig gesund werden können." (...)
"Aber wie könnt ihr denn die Materie kontrollieren" stieß er hervor. "Ihr kontrolliert ja nicht einmal das Wetter oder die Schwerkraft. Und es gibt Krankheit, Schmerz und Tod --"
O´Brien brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Wir kontrollieren die Materie, weil wir den Geist kontrollieren. Realität findet im Schädel statt. Sie werden es schrittweise lernen. Es gibt nichts, was wir nicht könnten. Unsichtbarkeit, Levitation - alles. Wenn ich wollte, könnte ich wie eine Seifenblase über dem Boden schweben. Ich will es nicht, weil die Partei es nicht will. (...) Die Naturgesetze machen wir."
(aus den lektionen während der folterung von winston smith, zitiert nach: george orwell, "1984"; ausgabe der "ozeanischen bibliothek 84"; ullstein; frankfurt/main 1984)
uff. klingt das nicht ganz erstaunlich modern, einmal die passagen über die partei, die orwell 1948 speziell hinsichtlich der nazis und des stalinismus hereinarbeitete, aussen vor gelassen? das mitglied der inneren partei, o`brien, erweist sich tatsächlich als radikaler konstruktivist, der seinem opfer mittels konditionierung durch folter eine lektion positiven denkens erteilt - "es gibt nichts, was wir nicht könnten" - klingt´s nicht wahrscheinlich genauso ähnlich in den hunderten von coaching-, selfmanagement- und auch nlp-seminaren? grenzenlos...(e) fiktionen - die natürlich gegen krankheit, schmerz und tod höchstens einen placeboeffekt haben - aber zu welchem preis?
auch die umdefinierung von "geistiger gesundheit" klingt verblüffend - deutlich wird darunter die akzeptanz und anpassung an die gesellschaftsstragenden fiktionen verstanden. das hat eine gewisse ähnlichkeit mit der wiederherstellung der "arbeitsfähigkeit", die mehr oder weniger unausgesprochen von großen teilen der offiziellen psychiatrischen und psychotherapeutischen institutionen als primäres merkmal "psychischer gesundheit" verstanden wird (und auch als konkreter maßstab benutzt wird.)
im weiteren verlauf der gehirnwäsche oder auch umprogrammierung merkt o`brien an:
"Ich sage Ihnen doch, Winston" meinte er, "daß Metaphysik nicht Ihre starke Seite ist. Das Wort, das Sie suchen, heißt Solipsismus. Aber Sie irren sich. Das ist kein Solipsismus. Kollektiver Solipsismus, wenn Sie so wollen. Doch das ist etwas anderes: eigentlich das Gegenteil davon. Aber wir schweifen nur vom Thema ab", sagte er in verändertem Tonfall.
(orwell, "1984")
o`brien hat allen grund, das thema zu beenden - "kollektiver solipsismus" ist als reine tatsachenbeschreibung eines zustands zulässig, inhaltlich jedoch ein widerspruch in sich selbst - mit kollektivität hat das absolut nichts zu tun, ganz im gegenteil - die partei ist streng darauf bedacht, dass alle voraussetzungen für echte kollektivität - d.h. echtes soziales leben - grundsätzlich ausgerottet werden. als alleine an der macht an sich interessierte (auch darüber monologisiert o´brien) kann die fiktive elite ozeaniens keinerlei interesse an irgendwelchen authentischen sozialen impulsen haben. stattdessen gibt es die auch aus der realen historie bekannte karikatur von kollektivität - eine zwangsgemeinschaft, in der sich alle unablässig untereinander kontrollieren und terrorisieren, und die keinerlei freiräume für rückzüge und individuelle entfaltung lässt, die an sich zur authentischen kollektivität dazugehören. völlig vereinsamt und isoliert innerhalb einer ständig präsenten masse, die eine permanente simulation von gemeinschaft fordert und erzwingt - das ist tatsächlich das prinzip der "volksgemeinschaft", die um so besser funktioniert, wenn möglichst viele ihrer mitglieder sich selbst umprogrammiert haben - wie es o´brien berechtigt nennt, ein "akt der selbstvernichtung" - wobei das im wortwörtlichsten sinne zu verstehen ist. das lässt sich imo berechtigt als eine autistische gesellschaft bezeichnen, in der der autismus allerdings durch ständige simulationen verborgen ist.
Das Verbrechen der Partei lag darin, daß sie einem eingeredet hatte, bloße Regungen, bloße Gefühle seien bedeutungslos, während sie einen gleichzeitig aller Macht über die materielle Welt beraubte.
na, fällt Ihnen was auf? ersetzen Sie "partei" einmal durch "regierung", oder auch "konzernleitung"...orwell hat eindrucksvoll das wesen jeder guten fiktion bzw. simulation gesellschaftlicher verhältnisse klargemacht: er hat seinen objektivistischen modus als werkzeug genutzt, um seine sehr korrekten (und bedrohlichen) subjektiven wahrnehmungen zu bündeln und zu vermitteln. er wußte, was allen machtmenschen ein greuel ist:
Was zählte, waren die zwischenmenschlichen Beziehungen, und eine hilflose Geste, eine Umarmung, eine Träne, ein Wort zu einem Sterbenden konnten ihren eigenen Wert besitzen.
werte, die in ihrer authentischen form der vollen subjektiven - und folglich auch objektiven - menschlichen realität entsprechen, wie sie möglich sein könnte. werte, die der objektivistische modus zwar simulieren, aber nicht wirklich begreifen kann. und werte, die sich jedem machtkalkül entziehen - vielleicht ließe sich sagen, sie besitzen ihre ganz eigene macht, die von jener weltenweit entfernt ist.
selbst der "als-ob-modus" lässt sich finden:
Als Winston das augenlose Gesicht mit dem rasch auf- und zuklappenden Unterkiefer betrachtete, beschlich ihn das sonderbare Gefühl, keinen richtigen Menschen, sondern eine Art Puppe vor sich zu haben. Hier sprach nicht das Gehirn des Mannes, sondern sein Kehlkopf. Was dabei herauskam, waren zwar Worte, aber keine Sprache im eigentlichen Sinne: es waren unbewußt geäußerte Laute, wie das Quaken einer Ente.
wenn ich es irgendwann mal schaffe, den beitrag zum thema "psychopathie" zum ende zu bringen, werden darin aus dem psychiatrisch-klinischen kontext ganz ähnliche beschreibungen auftauchen...und orwell wird hier bestimmt auch noch in anderen zusammenhängen wiederauftauchen. damit beende ich die längere abschweifung.
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wobei ich mich frage, wie orwell wohl das nlp gefunden hätte - auf neusprech lässt sich ein neulingpro draus machen - klingt doch positiv, "neu" und "pro" - und das linguistische umprogrammieren ist ja eh bereits sein thema gewesen, na, und die vorsilbe neuro lässt sich als zugeständnis an die modernen zeiten begreifen. weiter zum thema nlp mit herrn mertz, wobei seine folgenden worte die fortsetzung vom anfang sind - und vor der gerade umrissenen gestalt des konstruktivismus werden diese worte womöglich besser zu verstehen sein - schauen Sie sich nochmal den ersten nlp-"glaubenssatz" im zitat oben an.
"Es handelt sich hier um ein ganz eindeutig psychotisches Erfahrungsmodell, das uns ganz offen und vollkommen ungeniert als angebliche Universalie angedient wird. Der Mensch an sich bleibt hier eingekapselt in selbst produzierten Abbildungen (fiktiven `Landkarten´ usw.) und ohne unmittelbaren Zugang zur Realität jenseits seiner eigenen Konstruktionen und Halluzinationen. Der NLP-Mensch leidet also, streng genommen, an einer Psychose, und zwar an einer außerordentlich schwerwiegenden und chronischen Form der Schizophrenie, denn selbst gewöhnliche Schizophrene `wissen zu unterscheiden zwischen *ihren* Stimmen und derjenigen des Untersuchers (...)´
Dieser extrem pathomorphe Alptraum in Gestalt des NLP ist wohl kaum ganz zufällig, quasi aus Versehen zustande gekommen: Wir dürfen durchaus davon ausgehen, daß die Erfinder und Protagonisten des NLP hier nicht unbedingt immer einfach irgend etwas hastig dahinplappern, sondern zum Teil tatsächlich auch aus ihrer ureigenen (psychotischen) Erfahrung schöpfen, die sie jedoch irrigerweise generalisieren und theoretisch sogar noch amplifizieren (der NLP-Mensch fällt z.B., was seine Unterscheidungsfähigkeit betrifft, noch hinter den gewöhnlichen Schizophrenen zurück). (...) Das sog. NLP, wir kommen später darauf zurück, präsentiert sich als hochkarätiges tiefensimulatives Inventar.
Wir können diesen eindeutig psychotischen "ersten Glaubenssatz" des NLP jederzeit durch ein einfaches Experiment widerlegen: Während dieser seltsame, in seinen psychotischen Denkwelten ("Landkarten") gefangene NLP-Experte beispielsweise hurtig an uns vorbeiläuft, stellen wir ihm, ohne Vorwarnung und mit großem Geschick, ein ganz und gar empirisches Bein. Und was passiert dann? Unser NLP-Experte fällt, er fällt plötzlich hin. Auf unser ziemlich reales empirisches Forscherbein, auf diese nackte Realität hat unser NLP-Experte angeblich nicht reagiert, denn auf Realitäten reagiert er grundsätzlich nicht, sagt er. Unsere Fragen an den gestrauchelten NLP-Menschen lauten nun: Auf welche "Abbildung der Realität" hat er nun als wirklich glaubensfester NLP-Mensch in diesem Fall reagiert, welche Landkarte in seinem Kopf hat ihn da zu Fall gebracht? Und: Ist diese, seine Abbildung der Realität nicht ziemlich irrelevant, wär er nicht in jedem Fall hingefallen, ganz unabhängig von seinen lächerlichen Abbildungen, Landkarten usw.? Ist es nicht doch einzig und alleine die körperliche Realität unseres empirischen Forscherbeins, die den NLP-Experten zu Fall bringt? Der Realitätsbegriff jedenfalls, den das sog. NLP propagiert, hat ganz gewiß nichts mit unserer gemeinsamen Realität zu tun, die NLP-Realität ist die Realität des psychologischen Konstruktivismus, und die beschreibt eine psychotische Erfahrungswelt."
(mertz, "borderline...", s. 95/96)
ich musste beim niederschreiben dieser recht boshaften experimentellen simulation wieder mal vor mich hinkichern, trotz oder gerade deswegen, weil das thema ernst ist - aber tatsächlich: wer den konstruktivismus ernst nimmt, landet unweigerlich in einem zustand wie dem, in dem sich der orwellsche folterer o´brien befindet, wenn er herumtönt, dass er, "wenn er nur wolle", schweben wie eine seifenblase würde. ich finde ja, dass gegen derlei solipsistische anwandlungen mindestens zwei probate mittel existieren: einmal frische und halbflüssige hundescheiße, die einem am schuh hängt, und zum anderen bohrende zahnschmerzen - es ist recht schwierig, sich beidem gegenüber ignorant zu verhalten. und noch schwieriger ist es, sich selbst zu begründen, warum zum teufel einem das eigene hirn gerade derartige realitäten konstruiert...wobei: ignoranz lässt sich dann durchhalten, wenn die eigenen wahrnehmungsfunktionen schon derart durch sind, dass derlei ereignisse einfach nicht oder nur gefiltert und fragmentarisch wahrgenommen werden können. und darin scheint auch das eigentliche geheimnis eigentlich aller konstruktivistischen ansätze zu liegen: von und für menschen entwickelt, bei denen genau diese voraussetzung zutrifft. wenn wir uns deutlich machen, dass wir seit tausenden von jahren und seit unzähligen generationen hindurch mit sozialer gewalt in teils extremen formen mitsamt ihren traumatischen folgen zu tun haben, und die wirkungen daraus auf unsere psychophysischen funktionen bedenken - dann fällt es eigentlich nicht so schwer, die wahrscheinliche quelle solcher konstrukte zu orten.
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und damit beende ich den ersten teil zum thema "nlp". im zweiten wird es speziell um den begriff der manipulation gehen.
soweit den (ritualisierten, inszenierten) trubel überstanden? wieder bereit für den allgegenwärtigen großen wahnsinnstrubel? nein? es sei eine einzige obszöne zumutung? völlig unakzeptabel? ganz recht - niemand hat es verdient, sein/ihr einziges leben als objekt, und sei´s nur zeitweise, verbringen zu müssen. um die erbärmlichen verhältnisse zu ändern, müssen wir sie be-greifen - und nicht nur dieses blog möchte zum verständnis beitragen.
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in der virtuellen nachbarschaft findet sich da z.b. das blog von yvonne paul, die sich von einer ganz anderen seite her den gleichen entwicklungen - zumindest empfinde ich das so - widmet wie dieses blog. der objektivistische modus lässt sich ebenso als logos benennen, und dieser buchtipp weist interessanterweise auf die psychohistorischen thesen von deMause, bei denen begriff und funktion von opfern eine wichtige rolle spielen - die inhaltangabe des buches enthält hinweise auf einen möglichen zusammenhang zwischen dem ritual und der funktion des opfers mit dem siegeszug der kapitalistischen ökonomie (zugegebenermaßen lehne ich mich hier etwas weit aus dem fenster, zumal ich´s noch nicht gelesen habe - nehmen Sie´s als spontane assoziation).
auch, wenn ich die positionen von frau paul zu den von ihr künstlerisch bearbeiteten entwicklungen freundlich gesagt als ambivalent empfinde, so möchte ich ihr blog doch gerade auch wegen der anderen art der auseinandersetzung empfehlen.
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auf subfrequenz.net findet sich unter dem menuepunkt linklist der unterpunkt gehirn eskapaden, den ich hier ebenfalls allen interessierten leserInnen ans herz (und hirn) legen möchte - es findet sich eine sehr spannende sammlung von texten bzw. fragmenten, welche thematisch zu etlichen beiträgen hier weiterführendes und erweiterndes enthalten - ich habe längst noch nicht alles selbst gelesen, und kann darum hier nur eine kleine auswahl angeben: bspw. eine arbeit zum thema neoliberalisierung - cyborgisierung, berichte aus den neurowissenschaften, oder auch ein systemischer erklärungsansatz zur parallelität der `entwurzelung´ von gesellschaft, subjektivität und denken - inspirierend ist das stöbern auf der subfrequenz allemal.
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ohne viele weitere worte möchte ich als letztes dann noch auf ein recht interessantes porträt des psychoanalytikers arno gruen hinweisen, der hier ja bereits öfter zitiert worden ist - aufschlußreich fand ich besonders die haltung der orthodoxen kollegInnenschaft gegenüber gruen - erinnert an die unrühmlichen sonstigen dissereien der etablierten psychoanalyse gegen die vielen versuche - u.a. von alice miller -, ihr die gesellschaftskritische relevanz wiederzugeben, die sie selbst unter der berücksichtigung etlicher überholter und falscher annahmen in freudschen konzept besitzen könnte.
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soweit für den moment. da noch einige beiträge fertig zu schreiben sind und ich gerade auch nicht geringen alltagsstress verspüre, kann es etwas dauern, bis ich mich hier wieder melde. bis dahin - machen Sie´s gut.
(ps: ich werde in der nächsten zeit auch versuchen, den darstellungsfehler, den v.a. benutzerInnen des internet explorers hier sehen werden - die menueliste rechts ist zu weit nach unten verschoben - zu beheben).
...die so tun, als ob sie erwachsene (= gereifte und liebesfähige) menschen wären, dabei aber mit ihren handlungen (und auch unterlassungen) jederzeit das gegenteil unter beweis stellen - dann fällt es schwer, sich vorzustellen, das das leben auch grundsätzlich anders sein könnte. gerade aber diese vorstellungskraft werden wir zukünftig mehr denn je brauchen - eine erkenntnis, die sich auch in diesem blog verstärkt manifestieren soll.
in diesem sinne und trotz allem wünsche ich den leserInnen ein gutes neues jahr.