Freitag, 2. Dezember 2005

notiz: das wort zum wochenende



“Wenn man von ‚Liebesobjekten‘ spricht, so ist das nichts anderes, als wenn ein Geschäftsmann von einer Kapitalanlage spricht. Im letzteren Fall wird das Kapital investiert, in ersterem Fall die Libido.”



(erich fromm, 1981 - an sich sollte hier auch die onlinequelle zu sehen sein, aber da momentan hier technisch mal wieder der wurm drin ist, wird das nachgeholt. edit: das problem besteht leider z. zt. immer noch).


so, vorläufig als vollen link jetzt die zitatquelle:

www.sgap.ch/pdf/NarzisstischerMachtmissbrauch.rtf

zwar ein sehr spezielles thema, trotzdem mit einigen interessanten infos zum narzissmus-komplex aus therapeutischer - in doppelter bedeutung - sicht. dazu wird auch dezent eine kritik an menschenbild und sprache der orthodoxen psychoanalyse sichtbar, die ich begrüßenswert finde. das obige fromm-zitat bezieht sich u.a. genau darauf.

Donnerstag, 1. Dezember 2005

notiz: ist "anständigkeit" eine tatsächlich relevante kategorie...

...bei der wahrnehmung der heutigen ökonomischen strukturen? als deutlich moralische forderung eher nicht, wie ich finde - moral wird in gesellschaften immer dann gefordert, wenn die selbstregulationsfunktionen individuell und kollektiv bereits so geschädigt sind, dass ein konstruiertes soziales korsett - und nichts anderes stellt eine aufgepfropfte moral dar - als handlungsleitend eingesetzt werden soll. im angesicht der hier thematisierten psychophysischen tatsachen halte ich derartiges jedoch für weitgehend wirkungslos - weder narzissten noch borderlinemenschen, und schon gar nicht psychopathen werden sich von derartigen korsetts tatsächlich beeindruckt zeigen können - auch, wenn sie vielleicht vorübergehend diese moralischen handlungsanweisungen in der ewigen eigenen identitätskonstruktion verwerten mögen. und warum schreibe ich dies alles? weil das folgende mich dazu angeregt hat:

Der neue Typus nämlich, den der amerikanische Soziologe Christopher Lasch in seinem Buch Die blinde Elite beschrieben hat, ist bedenkenlos fixiert aufs ökonomische Kalkül. Gestählt in den Ausbildungslagern der Business Schools, ist er ein Ministrant des Kapitals. Von Grund auf heimatlos, fühlt er sich in der weiten Welt zu Hause, in den klimatisierten Arealen der Abflughallen, Hotelzimmer und Vorstandsetagen, und wo immer er sich befindet, agiert er weltumspannend. Anständigkeit mag er im privaten Umgang für erstrebenswert halten, im Job ist sie ihm keine handlungsleitende Tugend mehr.

und dieses schlußfolgerung ist sicher richtig:

"Schon jetzt sind die Anzeichen psychischer und sozialer Verwahrlosung erschreckend sichtbar, und es wäre, wenn die Entwicklung anhält, auf Dauer sinnlos, sich in eingezäunten Bezirken zu verschanzen.

es wird nicht ausreichend sein, hier noch an "anstand" zu appellieren.

Mittwoch, 30. November 2005

kontext 16: narzisstische persönlichkeiten im job...

...ist das thema eines nps-foren-threads, den ich interessierten leserInnen empfehlen möchte.

*

edit am 1.12: ein ähnliches thema - narzißmus und macht - wurde in einer sendung des deutschlandfunks thematisiert, von der ein manuskript online verfügbar ist. auch, wenn das thema hier natürlich hörerfreundlich komprimiert worden ist, eignet sich der mitschnitt imo als einstieg ins thema, und macht auch gleich ein paar zusammenhänge deutlich - auszüge:

"Mir fallen da ganz viele Patienten ein, die in der Therapie erarbeiten konnten, dass sie Marionetten waren, dass sie funktionieren mussten wie kleine Roboter, wobei sie den Erwartungen der Eltern perfekt entsprechen mussten. Und für sich selbst wenig Spielraum hatten. So entwickelten sie ein so genanntes "Falsches Selbst": Und wer sie genau beobachtet, diese Menschen, der erkennt, dass sie merkwürdig unecht wirken. Und sich nach außen anders darstellen, als sie sich in Wirklichkeit innerlich fühlen."

ähnlichkeiten mit dem modell einer als-ob-persönlichkeit werden sichtbar, wobei die "echte" als-ob-persönlichkeit (in gestalt des klassischen psychopathen verkörpert) imo nicht mit dem obigen gleichzusetzen ist. bizarrerweise ließe sich vielleicht eher von einer als-ob-als-ob-persönlichkeit reden. wobei sich für mich die frage stellt, ob nicht auch zumindest teilweise psychopathen fachlicherseits und irrtümlicherweise mit dem modell einer nps klassifiziert werden können? wäre ein ähnlicher effekt wie er z.b. auch hinsichtlich der borderlinestörung bereits von mertz thematisiert wurde - ein effekt, der v.a. durch das menschenbild und die theorie der orthodoxen psychoanalyse erklärbar wäre.

aber stichwort borderline:

"Es ist die Brillanz, es ist die Grandiosität, es ist ein bisschen so der Charme auch, die Wortgewandtheit, die Faszination, die ausstrahlt und wo man sich wünscht, ja ich möchte auch so sein."

schauen Sie nochmal an das ende des ersten borderline-beitrags. dann wird zumindest auch ein grund dafür klarer, warum diese beiden ps sowohl öfter als verwandte zwillinge gedacht werden als auch schwierigkeiten bei der jeweiligen spezifischen diagnostik bestehen. und ebenso wird meiner meinung nach dadurch deutlich, warum der bereich dessen, was allgemein so als psychische störungen bezeichnet wird, zwar in der vielfalt möglicher symptome schon recht ausgedehnt, aber eben auch begrenzt ist - ich sehe diesen bereich inzwischen eher als ein spektrum an, in dem die möglichen reaktionen eines menschen auf ungünstige prä-, peri- und postnatale entwicklungsbedingungen aller möglichen arten von vielfältigsten bio-psychosozialen einflüssen abhängig sind. was für mich u.a. als konsequenz bedeuten würde, eher nach zusammenhängen zu suchen als mittels ständig ausdifferenzierender modelle die möglichen zusammenhänge zu verschleiern. einen echten qualitativen unterschied sehe ich bisher tatsächlich nur zwischen den phänomenen echte psychopathie und "klassischem" (kanner-)autismus (imo nocheinmal voneinander unterschieden) einerseits und den anderen bisher hier erwähnten (persönlichkeits-)störungen (incl. wahrscheinlich dem asperger-syndrom) andererseits. der gemeinsame nenner von allen besteht jedoch in den mehr oder weniger schweren schäden der sozialen fähigkeiten allgemein und der beziehungsfähigkeiten im besonderen. und da mich dabei vor allem die möglichen gesellschaftlichen konsequenzen der verbreitung dieser störungen interessieren,summiere ich sie unter diesem aspekt deswegen als beziehungskrankheiten. gleichzusetzen sind sie trotzdem nicht, wobei ich den eindruck habe, dass die tatsächlichen unterschiede erst in den bereichen der neurophysiologie bzw. neurobiologie deutlich werden können. und eher nicht durch die verbreiteten psychoanalytischen bzw. diversen psychologischen entwicklungsmodelle, die teils zu sehr den primären charakter von geistigen konstruktionen aufweisen, deshalb eher einem stochern im nebel gleichen und dazu noch meist unhinterfragt diverse verzerrende kulturell-zeitgeistige und auch für die gesamtgesellschaft entlastende komponenten transportieren. das eine einigermaßen realistische wahrnehmung dieses komplexen bereiches ein hartes stück arbeit ist, will ich dabei nicht leugnen. und wenn hier professionelle aus den entsprechenden disziplinen mitlesen, wäre ich dankbar für mögliche hinweise auf denk- oder andere fehler in meinen obigen gedanken.

Dienstag, 29. November 2005

assoziation: piercing, tattoos, body modification - ein nachtrag

da meine gedanken zu diesem thema doch so einige kommentare ausgelöst haben, möchte ich das, was ich dazu im sinn habe, kurz präzisieren (mal von der tatsache abgesehen, dass "tatoo" mit doppel-o geschrieben wird - ähem...)

ich stimme etlichen der kommentierenden leserInnen zu - natürlich ist es auch eine modebewegung, die auch den üblichen vermarktungsmechanismen unterworfen ist bzw. sich durch eben diese mechanismen vermutlich erst durchsetzen konnte. aber das betrachte ich nur als einen aspekt - modewellen sind zumindest zum teil immer auch ausdruck kollektiver strömungen in teilen der gesellschaft, und brauchen diese basis schlicht und einfach - sonst könnten sie nicht existieren.

und vor diesem hintergrund gingen meine gedanken eher in die richtung, was für kollektive strömungen - verstanden als inszenierter ausdruck / verarbeitungsversuch weit verbreiteter realer erfahrungen - imstande sein können, ein verlangen nach doch mehr oder weniger schmerzhaften eingriffen am eigenen körper auszulösen. eingriffe zudem, deren jüngere ursprünge in der westlichen kultur in den genannten milieus zu suchen sind. was für zeichen benutzen also der ohrgepiercte banker oder polizist, die dezent tätowierte businessfrau?

es sind schlicht als "rebellisch" codierte zeichen, die aus welten der organisierten schmerzzufügung bzw. hinnahme zwecks lustgewinn (s/m) und der parallelwelt der mehr oder weniger organisierten kriminalität stammen.

rein sachlich also aus banden-strukturen, ohne die moralischen oder sonstigen wertungen bei diesem begriff jetzt zu berücksichtigen... ich halte "subkultur" für eine modernisierte version des wortes bande. wenn Sie sich nun einmal diesen hier schon früher erwähnten tp-artikel und meinen kommentar dazu anschauen, wird vielleicht deutlicher, warum ich die erklärung "modewelle" als zu oberflächlich ansehe. ich tendiere eher dazu, das, was allgemein unter "strukturen der organisierten kriminalität" oder auch mafia läuft, als eine weltweit zu beobachtende und geradezu typische folge von massentraumatisierungen besonders nach politischer/kriegerischer gewalt anzusehen - wie in diesem blog schon mehrfach aufgezeigt, greifen traumatische prozesse vor allem die menschlichen fähigkeiten zum sozialen an -das gesellschaften, in denen massentraumatisierungen vorkommen oder kamen, danach für kriminalität in diversen formen (als ausdruck der durch das kollektive trauma geförderten antisozialität) und, damit einhergehend, bandenbildung (die auch verschiedene formen annehmen kann - vielleicht sogar die form eines sog. multinationalen konzerns...?) anfälliger werden, lässt sich imo sogar statistisch belegen - in meinem kommentar bei tp habe ich ein paar beispiele erwähnt. vielleicht wird es jetzt klarer, warum ich zu meinen gedanken gekommen bin? das heißt jetzt - wie schon gesagt - im umkehrschluß nicht, dass alle gepiercten und tätowierten menschen derart ihre persönlichen traumata zur schau stellen. aber womöglich bestimmte kollektive strömungen ausagieren, die mit den erwähnten prozessen sehr viel zu tun haben.

zweite frage in diesem zusammenhang: ist das "modische" piercing bzw. tattoo gleichzusetzen mit dem extrempiercing bzw. dem, was unter body modification läuft?

"In der jugendlichen Subkultur der USA hat das Interesse an Body Modification in den vergangenen fünf Jahren stark zugenommen. Über „Conventions" und „Netzwerke" breitet sich der Trend derzeit „bis ins letzte Kaff" aus, berichtet der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke, der den bislang vor allem in Amerika grassierenden Verstümmelungskult wissenschaftlich zu ergründen versucht.

Mit Tätowierungen und Piercings haben die planvollen Selbstverletzungen nicht mehr viel gemein. In vielen Bodmod-Studios hängt der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft, weil selbst ernannte Folterknechte die Körper ihrer Klienten mit rot glühenden Eisen traktieren („Branding").

Extreme Gewebedehnungen („Stretchings") und Genitalpiercings zeichnen Bodmod-Anhänger bis an ihr Lebensende. Gewebeschnitte („Cuttings"), bei denen die Wunden häufig mit Mineralpulver oder Meersalz eingerieben und wiederholt nachgeschnitten werden, um die Narbenbildung zu verstärken, zaubern bleibende Versehrungen auf die Haut. „Es scheint ein Bedürfnis nach bizarren Körperritualen zu geben", erklärt der Kriminalbiologe, „das in unserer Gesellschaft nicht gestillt wird."

Vieles wird auf Video festgehalten, weil die blutigen Akte nicht beliebig wiederholbar sind. Anders als an der amerikanischen Ostküste finden die Selbstverstümmelungen in den Metropolen im Westen oft als rituelle „Sessions" und „Performances" vor handverlesenem Publikum statt.

Die Kontrolle über den Schmerz ist den Folter-Fans wichtiger als ein möglicher sexueller Reiz. „Mit Sadomasochismus", erläutert Benecke, „haben die meisten in der Szene nichts am Hut." Europäische Betrachter reagieren auf die Verstümmelungspraktiken geschockt. Über ein Jahr lang hat Benecke am Rechtsmedizinischen Institut der Stadt New York gearbeitet. In seiner Freizeit interviewte er Anhänger des Bodmod-Kults. Als er das Ergebnis seiner Recherchen kürzlich auf einer Tagung deutscher Rechtsmediziner in Frankfurt am Main präsentierte, waren selbst abgebrühte Obduktionsexperten über die gezeigten Bilder bestürzt.

Beim Kongress anwesende forensische Psychiater murmelten angesichts der Verstümmelungen ratlos von „Borderline-Persönlichkeiten". Sind die Selbstverstümmler also nur psychisch Kranke? Dann müssten Persönlichkeitsstörungen bei Urvölkem die Regel sein. Denn die Gewohnheit, den menschlichen Körper als Mal-, Brand- und Schneidegrund zu betrachten, ist fast so alt wie der Mensch selbst. Auf ägyptischen Mumien etwa haben Archäologen Spuren von Tätowierungen, Schmucknarben und Nabelpiercings entdeckt. Die mittelamerikanischen Mayas durchbohrten bei rituellen Feiern Penis oder Zunge. Die noch weichen Schädelknochen ihrer Säuglinge und Kleinkinder wurden dem herrschenden Schönheitsideal entsprechend verformt. Nordamerikanische Indianer baumelten beim "Sonnentanz", der so genannten 0-Kee-Pa-Zeremonie, an Fleischerhaken, die sie sich durch Brusthaut und -muskeln trieben. Extreme Gewebedehnungen sind noch heute in vielen afrikanischen Kulturen weit verbreitet. Narbenmuster auf der Haut signalisieren Stammeszugehörigkeit, sozialen Rang, durchlaufene Lebensstadien oder die Intaktheit des Immunsystems. „Wir alle machen etwas mit unserem Körper", sagt Enid Schildkrout, Anthropologe am Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York, „um anderen zu zeigen, wer wir sind - selbst wenn wir uns nur die Haare kämmen."

Verstümmelungstraditionen sind aber beileibe nicht auf entlegene Regionen und vergangene Kulturen beschränkt. Auch Mitglieder schlagender Verbindungen sind stolz darauf, sich durch die Mensur prachtvolle Narben zuzufügen. Bis heute steht der Schmiss in bestimmten Kreisen für Maskulinität, Unerschrockenheit und gehobenen sozialen Status. Früher waren viele Frauen ganz wild auf die Narbenträger: „Ein Renommier-Schmiss zeigte", so der US-Historiker Kevin McAleer, „dass sein Träger Mut und Ausbildung besitzt - und damit ein guter Bräutigam ist." Einige der Männerbündler tauchen gelegentlich noch heute bei plastischen Chirurgen auf, um sich ihre Narben kunstvoll nachbessern zu lassen. Auch das Nipple-Piercing ist ein alter Brauch, den vermutlich schon die Offiziere der römischen Legionen praktizierten."


meine antwort auf die oben gestellte frage: nein. wobei ich das, was hier als body modification beschrieben wird, als quasikern dessen ansehe, was in piercing- und tatoostudios heute in den milderen varianten so abläuft. dabei ist der obige hinweis auf verstümmelungstraditionen älterer kulturen deswegen interessant, weil z.b. lloyd deMause gerade die benannten kulturen als außerwestliche beispiele für weit verbreiteten infantizid - absolut üblen bis mörderischen umgang mit kindern und babys - benennt, und die genannten rituale als re-inszenierung traumatischer erfahrungen begreift.

und die als "initiationsriten" zu verstehenden erwähnten rituale westlicher männerbünde bzw. -banden gerade militärischer bzw. militaristischer prägung lassen sich ebenfalls in den oben erwähnten kontexten begreifen - elemente von re-inszenierungen bzw. simulierten neugeburten - unter bewusster und rigider abgrenzung zum "alten" leben mit seinen vermutlich vielfach schmerzhaften erfahrungen - lassen sich imo ohne große probleme finden. ich sehe sogar zusammenhänge zur existenz virtueller welten - die bewegungen hin zur neukonstruktion des eigenen selbst sowie die vielfältigen manipulationen am eigenen körper ähneln sich imo sehr.

ich hoffe, es ist insgesamt etwas deutlicher geworden, warum ich das sage, was ich sage? ich bin noch etwas angeschlagen von einer schweren erkältung die tage, und möglicherweise durch eine gewisse matschigkeit im kopf nicht ganz in der lage, gedankengänge auf den für mich genauen punkt zu bringen. aber das wird sich hoffentlich bald wieder ändern.

Samstag, 26. November 2005

assoziation:pure wut

folgendes muss vorläufig fragmentarisch bleiben - aber es verstärkt meinen eindruck, dass an der geschichte von jessica exemplarisch diverse ver-rücktheiten im schlimmsten und wortwörtlichsten sinne sinne deutlich werden - verrückte eltern, verrückte großeltern, ein verrückt gewordener gutachter plus nach todesstrafe brüllende verrückte teile der öffentlichkeit. dazu gibt´s die verrückte welt der boulevardmedien und eine ebenso verrückte justiz. in einem insgesamt verrückten system ja auch eigentlich kein wunder. trotzdem, oder gerade deswegen, ist mir die ganze zeit extrem übel.

*

der forensische gutachter der mutter, hans-ludwig kröber , macht - kaum weiter kommentiert - eine ganze unheilvolle traditionslinie der psychiatrischen zunft in deutschland deutlich - eine institution, die sich sowohl in und nach den beiden weltkriegen als auch im nationalsozialismus nicht nur zu willigen bütteln der macht, sondern während der "t4"-"euthanasie"-aktion der nazis gleich insgesamt zu einem massenmörderischen instrument machte. und das sind nur die historisch auffälligsten ereignisse - das alltägliche elend der psychiatrie ist viel versteckter. und kommt aber im folgenden artikel zum vorschein:

"Essen habe es nicht gegeben, nur Kaffee, Alkohol und Zigaretten. Marlies’ Mutter war damals mit ihrem eigenen Onkel zusammen – er soll Marlies’ Kopf auf den Boden geschlagen haben, als sie einmal unter ihrer Decke hervorlugte. Während er mit ihrer Mutter Sex hatte, erinnert sich Marlies Sch., habe der Großonkel ihr zugerufen: „Du bist als Nächste dran!“

Zwischen den Beinen und an der Brust sei sie von ihm angefasst worden. Ihre ganze Kindheit sei „sicher herzhaft unangenehm“ verlaufen, sagt Psychiatrie-Professor Kröber und sorgt mit seinen unangemessenen Äußerungen nicht nur an dieser Stelle für Irritation. An die Theorie eines „großen Traumas“ glaube er nicht".


deutliche misshandlungen und gewalttätige sexualisierte übergriffe sind "HERZHAFT UNANGENEHM"?
und also dann auch eher nicht als "irgendein gräßliches Erlebnis" zu werten? hallo?!? geht´s noch?!?

"Muss krank sein, wer grausam handelt? Oder ist der Gedanke, Marlies S. sei verrückt, bloß die Hoffnung der Menschen im Saal 237 – um abzuschütteln, was ihre Vernunft übersteigt? Hätte Jessicas Mutter anders handeln können? Der Berliner Psychiater Hans-Ludwig Kröber hat daran keinen Zweifel. Er hat Marlies S. im Auftrag des Gerichts untersucht und keine klassische psychische Erkrankung festgestellt. An das große Trauma glaubt er auch nicht. »Ich wäre heilfroh gewesen, wenn ein seltener hirnorganischer Befund vorgelegen hätte oder irgendein grässliches Erlebnis«, sagt Kröber zu den Richtern, »dann hätten wir uns alle besser gefühlt – ich auch.« Aber die Jugend der Marlies S. unterscheide sich in nichts von der Tausender anderer ungeliebter Kinder. Wohl sei die Angeklagte mit enormen Defiziten behaftet, aber doch letztlich eine normale, intelligente Frau, deren infantile Bedürfnisse sich mit den Anforderungen eines kleinen Kindes nicht vertrugen und die deshalb angefangen habe, es zu piesacken und wegzusperren. »Über Wochen und Monate ist Zeit gewesen, das Kind zu retten«, sagt Kröber, »sie hat es nicht getan.« Jessicas tödliches Siechtum sei die Entscheidung ihrer Mutter gewesen."

spontane einschätzung: eine mischung aus betriebsblindheit ("keine klassische psychische erkrankung" vorhanden); unwissenheit (schon mal von tradierten traumata, wie sie seit der genaueren erforschung der holocaustfolgen in den folgenden generationen bekannt sind, oder auch kumulierten traumata - viele und dauernde "kleine", versteckte boshaftigkeiten und schmerzzufügungen - gehört, herr professor?!? von re-inszenierungen? wenn nicht, sind Sie - und das meine ich ernst - in Ihrem beruf komplett fehl am platz. andererseits in diesem system auch gerade richtig); und wahrnehmungsausschluss - ob gewollt oder nicht, ob bewusst oder nicht. wer in so einer position derlei äusserungen wie oben dokumentiert zur bezeichnung von gewalt verwendet, hat in einer gutachterposition nichts, aber auch gar nichts verloren.
da versteht ein psychiatrischer nichtfachmann, wenn auch aus seinen eigenen motivationen heraus, deutlich mehr:

"Manfred Getzmann, Verteidiger der Marlies S., sitzt in seinem Büro auf Sankt Pauli und zerbricht sich den Kopf. Er hat seine Mandantin gefragt, warum sie Jessicas kleine Leiche nicht einfach in einen Müllsack gepackt und entsorgt habe. Wer hätte sie schon vermisst? Da habe Frau S. das Gesicht in den Händen verborgen und geschluchzt: »So was kann ich doch mit meinem Kind nicht machen!« Unbegreiflich, findet Getzmann, »aber ich bin sicher, sie trauert um Jessica«. Auch deshalb hält er Marlies S. für »eine schwer gestörte Persönlichkeit«, die ihr Kindheitstrauma wie unter Zwang mit den eigenen Kindern immer wieder habe neu durchleben müssen und deshalb für Jessicas Tod nicht voll verantwortlich zu machen sei. Das ist Getzmanns Überzeugung, und für die kämpft er vor Gericht. Er will seiner Mandantin die lebenslange Freiheitsstrafe ersparen, die ihr unausweichlich droht, wenn das Gericht nicht finden sollte, dass ihre Schuldfähigkeit erheblich vermindert war.
(...)
Und Marlies S.? Hat sie sich für das Böse entschieden? Und ist bloß ein Beispiel dafür, dass menschliche Not für das Böse anfällig macht? Dass Böses auch ein Defizit am Guten ist und jeder nur geben kann, was er empfangen hat? Ihr Verteidiger spricht von der »transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen«. Man kann es auch Erbsünde nennen. Gemeint sind jene Gesetzmäßigkeiten der Familiengewalt, die von den Eltern auf die Kinder und Kindeskinder übergehen und die trotzdem den Einzelnen nicht aus seiner Schuld entlassen. Es fragt sich nur, ob solch ererbte Schuld nicht doch geringer wiegt."


hat der gutachter kröber mit seinen fragwürdigen einlassungen hier vielleicht bewusst geschützt und gerade deshalb unfreiwillig offenbart, was nicht öffentlich und breit bewusst werden darf und soll? das eine nüchterne rekonstruktion der ereignisse unter einschluss der transgenerationalen familiendynamiken nicht nur die kette der gewalt, sondern auch unser aller gesellschaftliches versagen, unsere quasiakzeptanz dieser kette deutlich machen würde? mussten die beiden eltern alleine schon zur aufrechterhaltung des eigentlich unhaltbaren juristischen schuldbegriffs und menschenbildes auf alle fälle voll "schuldfähig" gesprochen werden? werden damit nicht auch die deutlichen widersprüche der staatlichen und politischen propaganda, die sich familien- und besonders kinder"freundlich" gibt, zur realität von politischen entscheidungen deutlich, die durch ökonomische verelendung genau die milieubedingungen fördert, in denen offene gewalt oder stille verwahrlosung von ganzen familien bevorzugt gedeihen, unter den teppich gekehrt? genauso wie die offenkundige unfähigkeit der offiziellen psychiatrie, zustände von wahnsinn - ausgelöst durch menschliche gewalt - korrekt zu erkennen und eben nicht durch die alleinige orientierung an scheinbarer "realitätstüchtigkeit" und "objektiv" vorhandener kognitiver intelligenz komplett zu leugnen und auf eine "als-ob"-simulation hereinzufallen (genauso werden auch die vielen hitlers dieser welt aus dieser sphäre des wahnsinns ferngehalten herausdefiniert - es wäre ja auch zu gefährlich, das zu erkennen und gleichzeitig nach der inneren verfassung der den "führern" folgenden massen fragen zu müssen)? müssen deshalb auch auschwitz (bzw. das, wofür es steht) und ereignisse wie das hier thematisierte regelmäßig als "leider völlig unerklärbar" bezeichnet werden?

"Marlies Sch. und Burkhard M. haben beide gelogen und Ausflüchte gesucht, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung und bezeichnet die Eltern als gefühl- und mitleidlose Menschen.

Am Ende sagte Schaberg, das Leben sei unerklärlich, oft chaotisch und voll von Grausamkeiten, die Menschen einander antun. "Aber eine Tat wie diese macht auch ein Schwurgericht ratlos. Das Gericht weiß auch keine genaue Antwort auf das Warum."


das könnte so wie es da steht auch ein blitzlicht aus irgendeinem prozess gegen kz-wärter oder folterer sein. aber wer verstehen will, warum und durch was diese eltern so gefühl- und mitleidlos (eine korrekte wahrnehmung) geworden sind, könnte auch verstehen. meine fresse, macht mich diese regelrechte verdummung, diese unermeßliche ignoranz und diese erbärmliche feigheit wütend! "wir wissen leider auch nichts..." pah! ihr wollt es nicht wissen, weil ihr dann eure ganzen jämmerlichen lügengebäude in die tonne treten könntet und müsstet! auch die halluzination, dass mütter auf jeden fall und immer gut und edel sind - gehören nicht eigentlich die täterinmutter der täterinmutter und die dazugehörigen männer mit auf die anklagebank? und müssen nicht eigentlich auch die weiteren sozialen und ökonomischen verhältnisse gleich mit dazu gepackt werden?

"Das Gericht hat auch die Mutter der Marlies S. hören wollen, die aber hat von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Weniger Zurückhaltung zeigte sie gegenüber den Medien. Schon kurz nach dem Tod ihrer Enkelin Jessica überschüttete sie die Tochter im Fernsehen mit Hasstiraden, und zum Prozessbeginn forderte ausgerechnet sie in der Bild-Zeitung, man möge ihre Tochter mindestens lebenslang einsperren und am besten noch zwangssterilisieren. Angesichts dieses Vernichtungswillens kann man sich vorstellen, was dem Kind einst widerfuhr."

muss das noch kommentiert werden? aber für die offizielle justiz und psychiatrie hat das nicht zu existieren, diese zusammenhänge sollen und dürfen nicht wahrgenommen werden. vielleicht können sie auch nicht wahrgenommen werden, weil das einer enthüllung über die eigene geschichte gleichen würde?

*

entschuldigung für meine drastische sprache, aber mir ist jetzt wirklich der kragen geplatzt.

Freitag, 25. November 2005

notiz: verdammt. verdammt.

VERDAMMT.
...

...

...

wie lange noch? wie viele noch?

edit: es ist kaum zu ertragen. und doch ist der folgende artikel voll von bitter nötigen informationen - nach dem ersten lesen einer der besten zum thema, die ich in mainstreammedien jemals vor die augen bekommen habe:

»Alle Formen von Gewalt beginnen mit der Entgleisung von Beziehungen, lange bevor die Gewalt selbst auftritt«

nur das "naturgesetz des welpenschutzes" wage ich zu bezweifeln - vor dem hintergrund der realen situation eine wunschvorstellung. genauso wie die verdrängung der tatsache, dass in deutschland mit beginn des letzten jahrhunderts noch lange nicht schluß gewesen ist mit den geschilderten methoden. letztlich - wie diese entsetzlichen geschichten zeigen - bis heute nicht. aber vielleicht lernen wir gerade tatsächlich, langsam und mit allerlei aussetzern, wahrzunehmen, was wir uns seit unzähligen generationen selbst antun.

basis: borderline 2 - nachträge und ergänzungen

war ja klar, das zu diesem thema noch einiges zu sagen bleibt - was sich auch nach meinen nachträgen zum gestrigen beitrag nicht ändern wird.

*

im weitesten sinne zum komplex svv gehört folgende meldung:

"Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich unter Stressbedingungen typischerweise selbst Verletzungen zu und berichten dabei von reduzierten Schmerzen bis hin zu völliger Schmerzlosigkeit. Diesem Phänomen gingen Forscher um Dr. Wolfgang Greffrath (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Dr. Christian Schmahl (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim) auf den Grund: Sie fanden heraus, dass die Schmerzentstehung und -weiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und auch dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn zunächst normal reagieren. "Es muss sich also um einen völlig neuartigen neurobiologischen Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch eine aktive Leistung des Gehirns handeln", folgern die Forscher.
(...)
Somit bestätigt diese Studie frühere Befunde einer reduzierten Schmerzwahrnehmung bei Patientinnen mit BPS. Eine generelle Beeinträchtigung der sensorisch-diskriminativen Schmerzverarbeitung konnte jedoch erstmals vollständig ausgeschlossen werden. Die Wissenschaftler folgern, dass das periphere System der Schmerzwahrnehmung sowie die frühe Verarbeitung schmerzhafter Reize im Gehirn bei Patientinnen mit BPS vollständig intakt sein müssen und es sich um einen aktiven Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch das Gehirn handelt. "Der Schmerz wird als Ereignis zwar wahrgenommen, aber nicht als schmerzhaft empfunden, das heißt er wird subjektiv anders bewertet", sagte Greffrath."


auf die schlüsse, die daraus gezogen werden, bin ich sehr gespannt.

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thema piercing/tatto: mir ist schon früher dazu eingefallen, dass noch in den 1970er jahren tätowierungen - zumindest in dem mittelstandsbürgerlichen milieu, in dem ich aufgewachsen bin - eindeutig suspekt bis negativ kodiert waren. nämlich a) mit knast und unterwelt, b) mit seefahrer- und hafenmilieu, fließend übergehend zum bild des blutrünstigen tätowierten piraten. als ausnahme kamen noch musikerInnen hinzu. das waren auch unter "uns" jugendlichen damals die verbreiteten assoziationen, und ich kann mich an niemanden erinnern, der/die tätowiert gewesen ist - das hätte sofort einen subtilen, aber deutlichen sozialen druck für die person bedeutet. und piercing war natürlich völlig unbekannt und auch undenkbar.

nun lässt sich eine derartig unreflektierte spontane abwehr durchaus als spießig und reaktionär ansehen, wobei in den bildern zu den milieus, mit denen tattos verbunden wurden, auch ein realer kern drinsteckt. und in der rückschau finde ich es immer bemerkenswerter, wie sich innerhalb von ca. 25 - 30 jahren ein zuvor eindeutig stigmatisierten randgruppen zugeordneter style faktisch zu einem teil des heutigen normalen mainstreams entwickeln konnte. an etwas vergleichbares wie das sich erst in den 1990ern durchsetzende piercing (dessen quelle auch in der s/m-szene liegt), kann ich mich mit einer ausnahme nicht erinnern: und diese ausnahme bilden die durch backen und ohren gezogenen sicherheitsnadeln der frühen punks. ich war zu beginn der 80er jahre kurzzeitig einmal sympathisierend mit den punks, und habe dabei diverse leute kennengelernt, die ich von heute aus als eindeutig gestört ansehen muss - es waren damals bereits die ersten punkgenerationen dabei, richtung sucht - v.a. heroin - abzugleiten.

und wenn ich mir die oben beschriebenen wahrnehmungen so anschaue, beschleicht mich irgendwie ein mulmiges gefühl - ich frage mich, was die verbreitung von mehr oder wenigen rituellen elementen aus knast- und s/m-welten eigentlich tatsächlich bedeutet. womit ich nicht nicht sagen will, dass alle heutigen piercing/tatto-trägerInnen irgendwie als besonders gestört anzusehen seien. nicht gestörter als der rest der gesellschaft jedenfalls.

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ergänzung zum abschnitt über die pränatalen geschehnisse: es muss natürlich nicht unbedingt die erwähnte ablehnung der mutter als grund für pränatale schäden vorhanden sein. ebenso können belastende ereignisse jeglicher art und besonders gewalt gegen die schwangere für ähnliche entwicklungen sorgen.

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und wem die im letzten abschnitt erwähnten thesen von mertz zu den möglichen zusammenhängen zwischen politischer macht und borderline zu weit hergeholt erscheinen (auch vor dem hintergrund der tatsache, dass seine thesen in der "offiziellen" bl-debatte hartnäckig - und zum schaden aller, wie ich finde - ignoriert werden), sei auf folgende passage aus dem vorwort zum handbuch der borderline-störungen (siehe literaturliste) verwiesen - geschrieben von kernberg, dulz und sachsse, denen wohl kaum jemand einen outsider-status unterstellen kann:

"Borderlinestörungen sind Bestandteil gesellschaftlichen Verhaltens, sind ein Zeitthema. Das Thema Borderline geht alle an, schon alleine wegen der daraus resultierenden gesellschaftlichen und individuellen Schädigungen durch Drogendelinquenz, Körperverletzungen, Suizidhandlungen, innerfamiliäre Gewalt und Inzest, um nur einige Aspekte zu benennen, die über das persönliche Leid betroffener Patienten hinausgehen. Wir gehen davon aus, daß
  • Borderline-Störungen durch gesellschaftliche Entwicklungen akzentuiert oder auch gebessert werden.
  • gesellschaftliche Entwicklungen durch Borderline-Persönlichkeiten in leitenden politischen oder wirtschaftlichen Positionen akzentuiert werden (...)"
("handbuch der borderline-störungen"; vorwort s. VI)


nun, das dezent-elegante wörtchen "akzentuiert" kann dabei ruhig als "verschlechtert bzw. massiv zum schlechteren hin beeinflussend" gelesen werden. aber die eloquent formulierenden herren haben natürlich auch einiges an ruf und reputation zu verlieren. inhaltlich jedoch liegen sie vermutlich sehr nah an der realität (wenn dazu noch leute mit narzisstischer ps bzw. narzisstischen tendenzen sowie pure psychopathen berücksichtigt werden), und vor diesem hintergrund erscheinen äusserungen wie die hier zitierte des generalstaatsanwalts von berlin noch einmal eine ganze ecke dümmer und zerstörerischer als sowieso schon.

*

und zum vorläufigen schluss noch zwei sätze aus den beiden zeitungsartikeln, über die ich gestern noch lange nachgdacht habe:

"Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht." (zeit)

"Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht." (taz)


ich frage mich schlicht und einfach - gerade vor dem hintergrund der in der letzten zeit hier näher vorgestellten ansätze von lloyd deMause -, ob diese wahrnehmungen eigentlich zutreffend sind, oder ob sie nicht eher darauf hindeuten, dass bereits seit jahrhunderten bestehende verhältnisse jetzt einfach anders bzw. überhaupt erstmalig breiter wahrgenommen werden. und letzteres wäre - paradoxerweise - überhaupt erst die grundlage für eine sehr, sehr langsam eintretende verbesserung der allgemeinen situation für kinder. verständlich, was ich meine? klar - und das ist hier im blog auch teilweise dokumentiert - existiert heute gewalt gegen kinder in teils unglaublichen formen. aber da das historisch nach psychohistorischer forschung jahrhunderte völlig "normal" war und niemanden interessiert hat, könnte der effekt heute, wo wir das zumindest immerhin in vielen fällen schon realistisch als gewalt wahrnehmen, eben vor einer fiktionalen und so niemals existierenden "besseren" vergangenheit tatsächlich so ausfallen, dass eine verschärfung der situation wahrgenommen wird. obwohl sich die realität langsam diesbezgl. bessert, zumindest in gesellschaftlichen teilbereichen.

soweit erstmal.

*

edit am 29.11.: auch die frankfurter allgemeine hat vor zwei tagen einen artikel zum thema borderline gebracht, den ich zur information und unkommentiert hier verlinke.

Donnerstag, 24. November 2005

basis: borderline

da die zeit heute bereits mit dem zweiten artikel zum thema borderline diese woche herauskommt, nutze ich das dann gleich mal für einen schwerpunktbeitrag. dabei wird es mir weniger darum gehen, die an vielen anderen virtuellen stellen zu findenden "offiziellen" informationen hier nocheinmal wiederzugeben - interessierte seien z.b. auf den infoteil der borderline-community (siehe linkliste), die momentanen definitionen der diagnosenklassifikationen (dito) oder auch seiten wie die borderline-plattform oder das borderline-netzwerk verwiesen. zur entwicklung des begriffs und der diagnose gibt es hier eine zusammenfassung.

da ich selbst einige jahre "offiziell" mit dieser diagnose herumgelaufen bin (inzwischen ebenso "offiziell" nicht mehr), etliche gleich diagnostizierte menschen kennengelernt habe und dazu auch noch diverse ansichten und handlungsweisen von psychotherapeutInnen und psychiatrischen ärzten/fachkräften studieren konnte, schreibe ich hier also auch primär vor dem hintergrund eigener erfahrungen und den schlüssen, die ich heute daraus ziehe. der aktuelle artikel sowie ein älterer zweiter, auf den ich später zurückkomme, sind dabei ganz gute aufhänger, um die eben erwähnten schlüsse darzustellen.

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der artikel in der zeit ist dabei einer der wenigen mir bekannten, der sich zumindest bemüht, tiefer ins thema einzusteigen. und dabei aber aus gründen, die ich der autorin weder vorwerfen kann noch möchte, ebenso zwangsweise scheitert wie sogar diverse fachpublikationen.

etliche wichtige themen im bl-kontext werden ohne besondere reihenfolge angerissen - ich halte mich jetzt mal einfach an den artikel.

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"Die Theorie besagt, dass Selbstverletzungen den Betroffenen helfen, eine schier unerträgliche emotionale Spannung abzuleiten. Die Kranken sind gewissermaßen so außer sich, dass sie sich Schmerz zufügen müssen, um in die Gegenwart »zurückzukommen«.

hier hätte es heissen müssen: eine theorie unter mehreren. erstens ist "selbstverletzendes verhalten" (svv) nicht auf borderline beschränkt (auch autistische menschen sowie traumatisierte können dieses symptom entwickeln); zweitens taucht es nicht zwangsläufig bei borderline auf; drittens können die formen stark variieren (das "ritzen" ist dabei in gewisser weise eine der spektakulärsten und zugleich für die umgebung beunruhigendsten arten von svv); viertens sind die zusammenhänge zu - von der form her gleichartigen - initiationsriten anderer kulturkreise sowie die fließenden grenzen in die bereiche von extrempiercing und -tattoing imo noch nicht genügend untersucht; fünftens kann svv durch die eigenart der beteiligten psychophysischen prozesse - u.a. extreme endorphinausschüttung - im strengen sinne des wortes zur sucht werden; sechstens lässt sich das benannte "außer-sich-sein" als dissoziation begreifen; siebentens aber lässt sich auch die frage stellen, ob der begriff selbstverletzung überhaupt treffend ist:

"Im Grunde genommen dürften wir (...) gar nicht mehr von Selbstverletzung sprechen, erstens, weil die Verletzung nur bedingt ein Selbst trifft, sondern eher etwas nicht Ichhaftes (Fremdkörper als Außenweltsegment), zweitens deshalb, weil die vermeintliche Verletzung subjektiv-erfahrungsmäßig meist gar nicht als Verletzung im eigentlichen Sinne beabsichtigt ist und auch nicht so funktioniert, sondern eher wie die Einnahme eines Medikaments oder wie ein psychochirugischer Eingriff. Die angebliche Verletzung des "Selbst" ist ein rein objektiver Beobachterbegriff, der sofort (falsche) Assoziationen aus dem authentischen Erfahrungsspektrum aufruft und dem "auto"-destruktiven Akteur beharrlich übergestülpt wird, auch wenn der Akteur absolut nichts dergleichen im Sinn hat. Subjektiv-erfahrungsmäßig handelt es sich weder um Verletzungen noch um ein verletztes Selbst, sondern um gezielte Interventionen, d.h. regulierende Eingriffe in ein Fremdkörper-Geschehen, d.h. in ein nichtichhaftes Geschehen."

(j.e. mertz, "borderline...", s. 177; siehe literaturliste)


das, was mertz hier abstrakt ausdrückt, können Sie selbst an sich nachvollziehen: stellen Sie sich einfach vor, Sie hätten ein messer oder eine brennende zigarette in der hand und wären dazu aufgefordert, sich jetzt selbst schmerzen zuzufügen. nun? was nehmen Sie wahr? wie fühlt sich diese vorstellung an?

aus eigener erfahrung tippe ich darauf, dass Sie einen mehr oder weniger deutlichen, mehr oder weniger diffusen und primär körperlich fühlbaren widerwillen gegenüber dieser vorstellung wahrnehmen, vielleicht sogar eine art ekel, und das es unmöglich und völlig absurd erscheint, die geforderte aktion auszuführen. meiner meinung nach ist das ein (nicht das einzigste und entscheidende) indiz für psychophysische gesundheit.und macht gleichzeitig deutlich, wie verschoben gewisse verhältnisse und funktionen in der körperpsyche sein müssen, um zu so einem handeln zu kommen. Sie müssen sich tatsächlich in eine fiktive aussenposition jenseits des eigenen körpers begeben, die wahrnehmungsmässig als die "tatsächliche realität" empfunden wird, um den eigenen körper als objekt zu sehen - und derart die eben benannten und (hoffentlich) von Ihnen selbst gespürten widerstände zu umgehen. oder in mertz´scher terminologie: Sie müssen den eigenen körper als fremdkörper empfinden - und sich damit in eine strukturell autistische position der fiktiven körperlosigkeit bringen. ich kann mir keine andere allgemeingültige grundvoraussetzung für derlei aktionen vortellen.die für die betroffenen allerdings tatsächlich sinn machen und erleichternd wirken können. dabei scheint es übrigens weniger auf den reiz an sich anzukommen - einige spezielle borderlinetherapieformen arbeiten mit sog. skills, zu denen auch "ersatzangebote" für svv wie z.b. reizsetzung durch eisbeutel, scharfe gewürze im mund, kalte duschen u.ä. gehören - sondern tatsächlich primär um die tatsache, das eigene blut fließen zu sehen (was insbesondere psychoanalytische bl-professionelle schon zu einigen spekulationen zur symbolik veranlasst hat). das könnte auf eine ins symbolische verschobene re-inszenierung eigener erfahrener traumatischer verletzungen hindeuten, mit dem gleichzeitigen effekt eines entgegenwirkens gegen die damit verbundenen dissoziationen. wie gesagt: könnte.

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weiter im artikel:

"In der medizinischen Diskussion wird die Persönlichkeitsstörung Borderline mit einer ungünstigen Kombination biologischer und sozialer Faktoren erklärt: Wer genetisch vorbelastet ist, als Embryo im Mutterleib durch Alkohol geschädigt wurde und in der Kindheit oder Jugend ein tief verstörendes Erlebnis hatte – sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung –, ist besonders gefährdet. Ähnlich verheerend wie ein sexueller Übergriff können totale Missachtung, Abwertung oder Überforderung von Kindern durch ihre Eltern wirken."

soweit zustimmung, wenngleich ich das als zu einschränkend/ungenau empfinde: die genetische disposition dürfte überhaupt erst durch ungünstige soziale einflüsse aktiviert werden, vielleicht sogar schon pränatal; und ebenso ist pränatal ist nicht nur alkohol, sondern auch z.b. eine die meiste zeit der schwangerschaft dem kind gegenüber ablehnende mutter durch psychophysische beeinflussung z.b. mittels hormonen und neuropeptiden auf den embryo in der lage, psychophysiologische schäden bereits während des wachstums der allergrundsätzlichsten (wahrnehmungs-)fähigkeiten und anatomischen ausstattung zu erzeugen. vielleicht macht das geschehen in der pränatalen phase sogar den grundsätzlichen unterschied zwischen einer posttraumatischen belastungsstörung und borderline aus. beide diagnosen tauchen sehr häufig jeweils als komorbidität der anderen auf, und zwischen psychotraumatologie und bl-forschung ist immerhin seit ein paar jahren ein lebhafter austausch im gange. ich selbst war bis zum letzten jahr ebenfalls dem standpunkt zugeneigt, der da sagt, dass sich letztlich alle bl-diagnosen als besonders schwere und chronifizierte fälle von ptbs herausstellen würden. aber inzwischen denke ich, dass das zwar in etlichen fällen tatsächlich zutreffen dürfte, aber eben nicht in allen. die gewohnheitsmässige psychiatrische vertuschung und individualisierung von durch gesellschaftlich produzierter gewalt erzeugten traumatischen folgen spielt bei diesem ganzen themenbereich eine erschwerende rolle und erhöht die allgemeine konfusion.

"In gewisser Weise hat Borderline die klassische Hysterie als seelische Frauenkrankheit abgelöst; mindestens siebzig Prozent der Betroffenen sind weiblich. Überwiegend tritt die Krankheit oder eine ihrer Vorstufen zwischen dem 12. und 45. Lebensjahr auf; von allen Frauen in dieser Altersgruppe sind laut Schätzungen gut vier Prozent betroffen. Männliche Erkrankte richten ihre Ausbrüche eher gegen die Außenwelt als gegen sich selbst. Sie sind häufiger in Gefängnissen zu finden als in Krankenhäusern – auch wenn ihre Störung die gleichen Ursachen hat wie die der Frauen."

dieser frauen"überhang" ist einer der interessantesten aspekte beim nachdenken über borderline, wie ich finde. und er kann sehr verschieden interpretiert werden - eine eher psychotraumatologische interpretation wäre z.b. die, dass ebenso wie früher die "hysterie" heute borderline die funktion erfüllt, besonders sexualisierte gewalt gegen frauen und mädchen und die daraus entstehenden traumata durch eine diagnostische konstruktion quasi unter den teppich zu kehren. ich denke auch, dass da was dran ist. aber ist das alles? als professioneller outsider in der bl-diskussion schmeisst wieder der herr mertz einige verstörende gedanken in den ring - vor dem hintergrund eigener gedanken zum autonomiebegriff der westlichen gesellschaften allgemein und der westlichen psychiatrie/psychologie im besonderen, den er scharf kritisiert und einerseits als (reale) scheinautonomie (die reale und dauernde menschliche abhängigkeiten permanent leugnet) analysiert und andererseits als (quasiautistische) fiktion bezeichnet, schreibt er zur auffälligen frauenquote:

"Die allgemeine Erwartung geht dahin, daß Frauen im (inter)personalen Feld wesentlich mehr und anderes leisten sollen bzw. "von Natur aus" können (sollen) und wollen (sollen). Dieser immer wieder auch ziemlich konkrete Handlungsdruck, der auf die durchschnittliche Frau ausgeübt wird, trifft die borderlinekranke Frau doppelt.
Einerseits verfügt sie genau in diesem interpersonalen Bereich über keinerlei authentische Fähigkeiten, andererseits wird sie wegen der fehlenden (authentischen) Biographie stark außenorientiert sein und ihren eigenen Persönlichkeits- bzw. Lebensentwurf entlang irgendwelcher, u.U. häufig wechselnder Fremdvorgaben modellieren (externales Korsett). Die borderlinekranke Frau erlebt diese verschärften authentischen Anforderungen konkretistisch, d.h. die Anforderungen werden als eine objektive Aufgabenstellung von quasimaterieller Eindringlichkeit erlebt. Da sie über keine authentischen Optionen verfügt, gerät sie als interpersonal Simulierende unter verstärkten Druck, ihre simulative Kompetenz wird dabei wesentlich heftiger herausgefordert, genauer beobachtet und strenger beurteilt als (...) beim männlichen Borderlineautisten."

(mertz, "borderline..."; s.150/151)


mit anderen worten: die gesellschaftlichen anforderungen an frauen, bei denen die liebes- und beziehungsfähigkeit, empathie und der sinn für´s soziale quasi "naturgegeben" sein sollen, können gerade von bl-kranken frauen (borderline ist ebenso wie andere diagnosen primär als beziehungskrankheit am besten auf den punkt gebracht) aufgrund ihrer defekte nicht erfüllt werden, werden aber bei der eigenen identitätskonstruktion primär verwendet. was sich dann z.b. katastrophal auswirken könnte, wenn eine solche frau ohne reale (emotionale) basis sich die rolle einer mutter anhand rein äusserer vorgaben (muttersein z.b. als unbedingte erfüllung für jede frau) konstruiert - zu lesen ist das in der mitte dieses beitrags. nicht umsonst wird bei misshandelnden müttern öfter die bl-diagnose gestellt.

und die männer? zu denen später.

"In Kiel wie anderswo wird die Diagnose Borderline anhand eines Neun-Punkte-Katalogs gestellt: Panische Angst vor dem Alleinsein gehört dazu, ein düsteres Selbstbild, Selbstmordgedanken und -versuche; schwer kontrollierbare Wutausbrüche, eine Neigung zum verschwenderischen Geldausgeben, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, ein Gefühl der Leere – und die gefürchteten »dissoziativen Zustände«, in die Traumatisierte geraten, wenn sie durch einen beliebigen Auslöser an ihr schlimmes Erlebnis erinnert werden. Wer fünf der neun Kriterien erfüllt, gilt als Borderline-positiv.

das starren auf positivistische und objektivierbare symptome also. nicht nur von mertz, auch von anderen autorInnen in der borderlineliteratur wird hingegen auf die wahrscheinliche existenz eines blanden (= frei von massiven symptomen) borderlinetyps hingewiesen, der den psychiatrischen institutionen kaum bekannt wird und sich hingegen aufgrund der massiven unfähigkeit zu authentischen (nichthierarchischen) beziehungen in den heutigen gesellschaftlichen eliten und institutionen mit ihren simulationen von zwischenmenschlichen beziehungen (als-ob) bevorzugt wohl fühlen dürfte. (worin er oberflächlich den echten psychopathen gleicht. aber hier denke ich, dass beides nicht gleichzusetzen ist, auch wenn sich die durch beide gruppen hervorgerufene destruktivität sehr ähnelt. mehr dazu in einem zukünftigen schwerpunkt psychopathie).

der folgende abschnitt macht schlaglichtartig ein paar wichtige strukturen deutlich:

"Dann habe sie Rasierklingen gekauft. »Das war ja auch ein schweres Wochenende für Sie«, sagt die Psychologin. »Was war da passiert?« Melanie K., körperbehindert, vom Onkel sexuell missbraucht, geplagt von inneren Stimmen, die auf sie einbrüllen, erzählt von ihrer Mutter, die sich mit der Krankheit der Tochter nicht abfinde. Von einem nervenaufreibenden Drei-Stunden-Termin mit dem Sozialpädagogen in der betreuten Wohneinrichtung, in die sie nach Ende des DBT-Programms ziehen wird. Von der Beziehung zu ihrem Freund, der Alkoholiker ist.
Der Freund mache ihr Vorhaltungen: Er trinke, weil er durch ihre Krankheit viel allein sei. Bei dem Versuch, mit ihm zu schlafen, fühlte sie sich schlagartig in die Missbrauchssituation zurückversetzt, sagt Melanie K. »Ein Flashback. Es war, als ob ich das alles gerade eben erst durchgemacht hätte.«


erstens wird ein nach meiner persönlichen erfahrung häufig vorhandenes problematisches bis offen schlechtes verhältnis zur mutter sichtbar. zweitens aber wird hier umstandslos von einer "beziehung" geredet - und das könnte hinsichtlich borderline einer der zentralsten irrtümer überhaupt sein, weil "beziehung" erstmal korrekt definiert werden muss, und nicht alleine schon deshalb automatisch vorhanden ist, weil zwei menschen "objektiv" zusammen sind:

"Das DSM-IV betont zurecht die borderlinespezifischen Probleme, die sich im Kontext personaler Beziehungssituationen ergeben. Der diagnostische Kriterienkatalog wird folgerichtig von zwei Beziehungssymptomen angeführt. Kriterium Nr. 2 nennt `ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist´. Auch diese Definition enthält einen schweren und verhängnisvollen Fehler: Nicht alles, was zwischen zwei Menschen passiert, verdient den Namen Beziehung. Extreme Idealisierung und extreme Entwertung haben mit Beziehungen eigentlich auch nichts zu tun, das sind zumindest massive Beziehungshindernisse, wenn nicht gar deutliche Zeichen dafür, daß eine Beziehung im engeren Sinne eben nicht vorhanden ist. Wenn eine Interaktion zwischen zwei Menschen stattfindet, so heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine interpersonale Beziehung im üblichen Sinne handelt: Wir wissen mit Sicherheit aus unserer Alltagserfahrung, aber auch aus wissenschaftlichen und anderen Fremdquellen, daß Menschen keinesfalls zwangsläufig wie Menschen behandelt und Personen nicht unbedingt immer als Personen wahrgenommen werden müssen, daß also zwei Menschen interagieren können und sich dabei womöglich interpersonaler Formen bedienen, in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes abwickeln, etwa ein anonymes Geschäft, einen ebenso anonymen bürokratischen oder juristischen Akt oder eine anonyme medizinische Intervention. (...) Das DSM (...) ist stumpf gegen diese fundamentale Differenz (zwischen personaler Beziehung und personaler Nicht- oder Pseudobeziehung), die am Anfang und im Zentrum jeder ernstzunehmenden Psychologie und Psychopathologie steht."

(mertz, "borderline...", s.39/40)


u.a. wegen solcher seitenhiebe wie im letzen satz dürfte dieses buch bis heute von den kollegInnen von mertz in der professionellen zunft totgeschwiegen werden...aber ändert das etwas daran, dass er hier sehr einleuchtend tatsächlich argumente für eine absolut notwendige unterscheidung zwischen simulation und authentizität, zwischen pseudo und echt, zwischen als-ob und lebendig liefert? ist das "objektive zusammensein" zwischen einem mörder/vergewaltiger und seinem opfer, zwischen gewalttätigen eltern und ihrem geprügelten kind, zwischen folterer und gefangenen, zwischen versuchsleiter und versuchsobjekt(!) tatsächlich das gleiche wie ein liebevoller und zärtlicher, solidarischer umgang zwischen menschen, die sich gegenseitig als subjekte wahrnehmen und deshalb ihre gegenseitigen grenzen respektieren können?

natürlich nicht. genausowenig wie die oft zu beobachtenden "beziehungen", die anscheinend durch ein "gleichgewicht des schreckens" funktionieren. ist der oben im zeitartikel skizzierte freund, der der frau die verantwortung für seinen alkoholismus zuschiebt und sich entweder nicht für ihre geschichte interessiert und/oder sie schlicht nicht als person wahrnehmen kann, tatsächlich ein liebevoller freund in einer authentischen beziehung? oder zeigt nicht alleine schon dieser kleine ausschnitt, dass er - wie viele andere männer, aber auch frauen - eher eine selbst konstruierte fiktion in seinem kopf "liebt", die mit der realen frau - die dann nur noch als projektionsfläche bzw. als objekt zur umsetzung der fiktionen herhalten muss - mehr oder weniger nichts zu tun hat? call this objektwahrnehmung. aber die offizielle psychiatrie von heute kennt diese unterscheidung tatsächlich nicht. oder will sie nicht kennen.

weiter im artikel:

"Eine wahre Königin der Finsternis richtet sich selbstverständlich auch ihr WG-Zimmer angemessen ein: mit Fotos von nebligen Friedhöfen und Grabsteinen zum Beispiel, mit schwarzen Kerzen und Kreuzen und anderen düsteren Accessoires. An diesem Punkt wird augenfällig, dass es – nicht im seelischen Kern, aber gleichsam an der Oberfläche der Erkrankung – durchaus einen inszenatorischen Teil gibt, der fließend in »normale« Ausdrucksformen der Jugendkultur übergeht. »Letztlich sind Tätowierungen und Piercings an allen nur denkbaren Körperstellen ja auch nur eine Form der (gesellschaftlich akzeptierten) Selbstverletzung«, sagt Franz Resch, der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Heidelberg.
Auf manchem Arm einer Borderline-Patientin sind Schnitte, die durchaus nicht immer schamhaft verborgen werden, säuberlich nebeneinander angeordnet wie ein makaberer Schmuck – kein Zeichen unkontrollierter Raserei, sondern planvolle Zeichnung des Körpers.


yo. und gerade dieser fließende übergang zu den formen "gesellschaftlich akzeptierter" svv muss wachsamkeit erregen - hier scheinen tiefe kollektive strömungen unguter art wirksam zu sein. viele borderlinemenschen werden sich nach meiner eigenen erfahrung vor allem in der sog. gothic-szene, aber auch im punkbereich, antreffen lassen. aber das sind in der mehrheit die auffälligen, an deren symptomen sich eben auch die psychiatrischen institutionen und kataloge orientieren.

der letzte abschnitt des artikel ist imo der beste (mit der einschränkung, dass das unterstellte "verzweifelte bemühen um zuwendung" möglicherweise einen wahrnehmungsfehler enthält):

"Was uns an der Krankheit bewegen muss, ist die Tatsache, dass der Wahnsinn, der unter dieser gestalteten Oberfläche wütet, gesellschaftlich mitverursacht ist. Es gibt Menschen – einen Täter oder ein ganzes Umfeld –, die schuld daran sind, dass andere Menschen so leben müssen: mit zerstörten Gefühlen, mit Selbstverachtung und dem verzweifelten Bemühen um Zuwendung.
Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht. Die Zahl der Borderline-Kranken wird nicht kleiner werden."


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wir machen einen kleinen zeitsprung zurück zum 30.09.2000. an diesem tag erschien in der taz-hamburg ein artikel zum gleichen thema, den ich aus meinem eigenen kleinen archiv entnommen habe. interessant ist hierbei v.a. die etwas andere inhaltliche gewichtung - auszüge:

"Leben im Grenzland
Immer mehr Menschen sind "Borderliner". Nicht allen von ihnen ist klar, dass sie psychisch krank sind, denn manche scheinen gnadenlos erfolgreich zu sein

Adolf Hitler war wohl einer und Slobodan Milosevic dürfte einer sein: Borderliner sind aber auch ein Drittel aller männlichen Häftlinge, ein Drittel aller Essgestörten und ein Drittel aller Drogenabhängigen, weiß Birger Dulz.
Er ist Oberarzt der vierten Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nord/Ochsenzoll, und er ist einer der wenigen Spezialisten, die sich seit vielen Jahren in Klinik und Forschung mit Borderlinern beschäftigen."


zu hitler und der bl-diagnose mehr hier. interessant auch der bezug auf den "gnadenlosen erfolg" in der überschrift.

"Die sind meistens seht gut informiert", sagt Dulz. Die "Grenzgänger" sind schwer zu diagnostizieren, denn ihre Symptome wechseln. Manche von ihnen sind massiv suizidgefährdet, andere drogenabhängig oder essgestört, wieder andere verletzen sich selbst, und manche vereinigen all diese Merkmale auf sich. Es gibt aber auch Borderliner, die erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten oder Sportler sind. Häufig sind es exzentrische und extrem leicht kränkbare Persönlichkeiten, die mit Idealisierung und Entwertung arbeiten, die polarisieren, ein extremes Leben führen oder sich aber, sich selbst aufopfernd, um leidende Menschen und Tiere kümmern. Sie scheinen also Menschen zu sein, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben.

ein mögliches beispiel?

Der zentrale Faktor bei Borderlinern sei das Schwanken zwischen den Extremen: Sie fänden sich etwa nur richtig klasse oder nur richtig schlecht. Und das kann rasch, sogar innerhalb von Minuten wechseln. "Borderliner führen intensive, aber instabile Beziehungen. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein." Die Welt ohne Grautöne schafft Ordnung, und Ordnung nimmt Angst. Denn das ist das eigentlich bestimmende Gefühl der Borderliner: Eine allgemeine, aber ständig
anwesende Furcht. "Einige kanalisieren sie durch S-Bahnsurfen, andere werden Neonazis", sagt Dulz.


wieder der unbefriedigende beziehungsbegriff. dazu der hinweis auf ein weiteres merkmal: das teils blitzschnelle "umschalten" von gefühlen, dass nur real erlebt in seiner vollen wucht begriffen werden kann. und bei mir zur frage geführt hat, ob das überhaupt tatsächlich gefühle sind, was da umgeschaltet wird. ich kann das jedenfalls nicht, weil ich gefühle und den gesamten emotionalen prozeß bei mir grundsätzlich anders wahrnehme. ich brauche zeit, um rauf- und runterzukommen, sozusagen.

die thematisierte ständige furcht ist sowohl im trauma- als auch im autismuskontext ebenfalls bekannt - das gesamte nervensystem ständig in alarmstimmung.

"Angst aber gibt ein Borderliner nicht unbedingt zu, ist sich ihrer oft nicht einmal bewusst. Er behauptet dann, im besten Glauben, sich vor Nichts und Niemandem zu fürchten. Diese verleugnete und dennoch lebensbestimmende Furcht stammt meistens aus einer Traumatisierung. Viele Borderliner wurden als Kinder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt. "Es kann auch an häufigen Krankenhausaufenthalten liegen, wobei als Störungsursache letztlich das subjektive Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, eine Rolle spielt."

Dulz bringt den Teufelskreis auf eine Formel: "Wer missbraucht wird, reagiert eher autoaggressiv, wer misshandelt wird, eher fremdaggressiv." Das sei bei beiden Geschlechtern gleich. Weil aber Mädchen eher missbraucht werden, entwickeln sie häufiger Esstörungen oder verletzen sich selbst und landen eher in der Psychiatrie. Jungs werden häufiger misshandelt, werden als Erwachsene gewalttätig und kommen in den Knast. Dort wird ihre Krankheit oft weder diagnostiziert noch behandelt, obwohl bereits nachgewiesen ist, dass ein Drittel aller deutschen Häftlinge Grenzgänger sind. Rückfälle sind somit wenig überraschend."


bei diesen tatsachen wird das repressionsinstrument "knast" noch fragwürdiger als sowieso schon. aber das stichwort "männer" erlaubt mir jetzt auch den oben angekündigten nachtrag der gedanken von mertz zum thema bl-männer (von denen nur ein teil im sinne des aktuellen strafgesetzbuchs auffällig werden dürfte - die anderen werden jetzt thema):

"Der durchschnittliche borderlinekranke Mann dagegen dürfte keine Mühe damit haben, den absolut identischen und gleichermassen massiven Borderlinedefekt in ein anderes externales Korsett (...) derart einzupassen, daß er beinah vollständig zum Verschwinden gebracht wird. Dieses nach wie vor ungemein mächtige, objektiv normative Schema des Männlichen schreibt den Männern ein ganz "natürliches" Defizit im Bereich authentischer Interpersonalität (Beziehung, Empathie usw.) zu und stellt ihnen großzügig dimensionierte (...) Freiräume zur Verfügung, in denen sich v.a. zahllose Borderlinekranke männlichen Geschlechts vollständig unangefochten bewegen und verstecken können. (...)

Diese privilegierten Nischen werden traditionell überall und auf allen Ebenen eingerichtet, in der privaten Sphäre, in den anonymen Mechanismen der Arbeitswelt und auch in den politischen Apparaten. Diese Nischen haben etwas mit Macht; Gewalt und Destruktion zu tun. Gesellschaftliche Macht, egal in welcher Form (Geld, Prominenz, `Erfolg´ usw.) scheint als anonyme "Ersatzwährung" für interpersonale Authentizität (Beziehung) zu fungieren: Je mehr Macht, desto geringer die authentischen Anforderungen der Mitwelt."


(die letzte aussage lässt sich bei betrachtung des verhaltens unserer "eliten" fast schon als faustformel gebrauchen. inzwischen werden aber auch manchmal als-ob-simulationen vom publikum verlangt.)

"In diesen geschlechtspolitischen Nischen, befreit vom Druck gewöhnlicher authentischer Anforderungen, Anstrengungen und Abhängigkeiten, wurden unter anderem auch die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden und geplant. Außerhalb dieser Nischen würden die Protagonisten viel eher mit ihren massiven authentischen Defiziten oder Defekten (hitler, stalin, pol pot usw., anmerk. mo) konfrontiert und marginalisiert werden" (...)

(beide zitate oben: mertz, "borderline..."; s.151/152)


klaus theweleit hat in den männerphantasien die untersuchten soldatischen männer der präfaschistischen freikorps sinngemäß als für das zivile (authentische) menschliche leben faktisch ungeeignete a-soziale beschrieben, die eigentlich nur innerhalb des starren korsetts der militärischen hierarchien einigermaßen funktionsfähig waren. daraus lässt sich der schluss ziehen, dass der kern von sa und ss von einem ganz speziellen typ borderlinemänner gebildet wurde. eine unschöne vorstellung.
wie sieht das wohl heute mit denjenigen bl-männern aus, die nicht in den knästen landen? und eher als blande bl zu begreifen sind?

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weiter im artikel:

"Dulz begreift die Arbeit seines Teams als Prophylaxe. "Bis zu 50 Prozent der Opfer werden später zu Tätern." Je schlimmer die Patienten - also die Opfer - gestört sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre eigenen Kinder quälen. Je früher die gestörten Opfer therapiert würden, desto wahrscheinlicher ließe sich diese Zwangsläufigkeit durchbrechen. "Insofern helfen wir Staat und Krankenkassen langfristig, Geld zu sparen. Aber es wird ja immer nur in Jahresbudgets bilanziert", klagt Dulz.

ein mögliches beispiel für das geschilderte ist hier nachzulesen.

"Er ist davon überzeugt, dass Borderline-Störungen sich zu einem Massenphänomen entwickeln, weitgehend unbeachtet von den meisten psychiatrischen Kliniken. "Die Krankenhäuser haben auf Psychotiker gesetzt." Die aber könne man immer besser ambulant therapieren. Doch mehr als ein Viertel aller Patienten in den psychiatrischen Kliniken leiden unter Persönlichkeitsstörungen, die dann häufig falsch behandelt werden. "Weil der Druck in unserer Gesellschaft immer weiter wächst, benutzen immer mehr Menschen Gewalt als Ventil." Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht"

das sind verdammt beschissene aussichten, wenn ich ehrlich sein soll. auch aus folgendem grund:

"Denn sie vernichten, was sie vernichtet - oder von dem sie glauben, dass es sie vernichtet. "Borderliner haben vor nichts so viel Angst, wie davor, verrückt zu sein."
Aus dieser Angst heraus bedrohen sie beispielsweise ihre Mitpatienten, die schizophren sind oder andere Psychosen haben. Sind sie hingegen unter ihresgleichen, helfen und unterstützen sie sich gegenseitig. "Ihre Umgebung sieht in Borderlinern häufig nur das Aggressive und Destruktive", sagt Dulz.
Dabei seien sie oft charmant, humorvoll und intelligent. "Und wer das nicht sieht, kann Borderliner nicht behandeln."


beim letzten satz sei noch einmal auf den unterschied zwischen simulation und authentizität hingewiesen.

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so, das ist jetzt sehr lang und sehr viel geworden, und trotzdem nur ein komprimierter ausschnitt. wer mehr wissen will, sei auf die angegebene literatur verwiesen. und zur frage der epidemiologie von borderline und auch anderen hier im blog thematisierten störungen möchte ich mich in einem eigenen beitrag äussern.

Mittwoch, 23. November 2005

kontext 15: wieder ein infomix [update 21.12.09]

der heute startet mit einer meldung zum zusammenhang zwischen gestörten spiegelneuronen und autismus:

"Bei Autisten funktionieren die Gehirnschaltungen, die Menschen ermöglichen die Aktionen anderer wahrzunehmen und zu verstehen, nicht auf die herkömmliche Art und Weise. Zu diesem Ergebnis ist eine Studie der University of California gekommen. Die EEGs von zehn Patienten mit Autismus wiesen eine Dysfunktion des Spiegelneuronensystems auf. Ihre Spiegelneuronen reagieren nur auf ihre eigenen Aktionen und nicht auf die anderer. Bei Spiegelneuronen handelt es sich um Gehirnzellen im prämotorischen Kortex."
(...)
Heute wird davon ausgegangen, dass das menschliche Spiegelneuronensystem nicht nur bei der Ausführung und Beobachtung von Bewegungen eine Rolle spielt, sondern auch bei höheren kognitiven Prozessen. Dazu gehören zum Beispiel die Sprache, die Fähigkeit andere zu imitieren oder von ihnen zu lernen, ihre Intentionen zu erkennen oder mit ihrem Schmerz zu fühlen. Autismus wird teilweise genau durch Defizite in diesen Bereichen charakterisiert. Frühere Studien legten daher nahe, dass ein dysfunktionales Spiegelneuronensystem die beobachteten Pathologien erklären könnte. Die aktuellen Forschungsergebnisse unterstützen diese Hypothesen in einem entscheidenden Ausmaß."


wie früher schon
hier geschrieben, spielen die erst seit recht kurzer zeit zum thema gewordenen spiegelneurone offensichtlich für unsere sozialen beziehungen eine wichtige rolle. wenn nun (soziale) prozesse bekannt werden sollten, die diese spiegelneuronsysteme verändern, beeinträchtigen oder gar zerstören können - wäre das nicht sogar ein relevanter grund, z.b. justizielle konsequenzen aus allgemein antisozialen aktionen zu überdenken bzw. neu zu definieren? nur mal so als gedanke eingeworfen.

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in einem weiteren beitrag zum autismus taucht der satz
"Demnach müssen wohl auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle spielen" auf. ach? tatsächlich? gene hin oder her (zu den immer noch nicht breit wahrgenommenen jüngsten erkenntnissen der genforschung gehört übrigens das zusammenspiel von genen und sozialen bedingungen, aber ich habe gerade nicht die kapazitäten dafür, hier auch noch einen crashkurs zu veranstalten), dieses zauberwort dient anscheinend - genauso wie "neurologisch bedingt" - immer noch primär dazu, auch den kleinsten verdacht auf die beteiligung psychosozialer einflüsse zu zersteuen. sachlich hingegen erlauben weder "genetisch" noch "neurologisch" die konstruktion eines menschen, der quasi "ganz aus sich selbst heraus" krankhafte veränderungen produziert. der verdacht bleibt weiter bestehen, dass es sich bei dieser fragmentierten und objektivierenden wissenschaftlichen wahrnehmungsart selbst um eine quasiautistische wahrnehmung handelt. was natürlich nicht thematisiert wird.

stattdessen haben Wissenschaftler (...) mehrfach auch toxische Stoffe, Mangelernährung, Viren oder andere Pathogene dafür verantwortlich gemacht. dazu wird auch bei möglichen umweltgiften geschaut, während die theorie, dass verschiedene impfungen möglicherweise ursächlich-auslösend beteiligt sind, inzwischen breit als unwahrscheinlich bewertet wird. und so bleibt entscheidendes ungeklärt:

"Unklar ist an der Theorie der genetischen Faktoren aber die rasante Zunahme an Autismus-Fällen. (...) Erschreckend waren jedenfalls die beim Treffen in Boston präsentierten Zahlen: seit den 90-er Jahren hat die Krankheit um 172 Prozent zugenommen, obwohl die Bevölkerung in den USA um nur 13 Prozent jährlich wächst."

eine entwicklung, die nicht nur in den usa zu verzeichnen ist - folgende
meldung bezieht sich auf großbritannien und datiert von 2001:

"London (rpo). Die Anzahl der Autismusfälle bei Kindern dürfte viermal höher sein als bisher angenommen. Eine Studie von Forschern der Central Clinic und des Institute of Psychiatry des King’s College hat zwischen Juli 1998 und Juni 1999 im englischen Staffordshire 15.000 Kinder zwischen 2,5 und 6,5 Jahren auf Entwicklungsstörungen hin untersucht.
Frühere Studien gingen von vier bis sechs Erkrankungen auf 10.000 Kinder aus. Jetzt zeigte sich, dass der Anteil viel eher bei 17 Fällen liegt."


ist tatsächlich eine veränderte definition und wahrnehmung die erklärung?

"Der scheinbare Anstieg von Autismus-Fällen ist zum Stillstand gekommen. Eine UK Kohorten-Studie (Archive of Diseases of Childhood 2003;88:666-70) fand einen Anstieg bis zum Gipfel 1992, der v.a. auf ein grösseres Bewusstsein der Bevölkerung und der Kinderärzte für das Krankheitsbild zurückzuführen sei. Seitdem ist es zu keiner signifikanten Zunahme der Neuerkrankungen mehr gekommen."


(quelle)

ist es eine fehlinterpretation meinerseits, wenn ich die erste meldung als direkten widerspruch zur zweiten ansehe?

keine erklärung jedenfalls ist das obige für die in den usa involvierten forscher:

"Ein explosionsartiger Anstieg der Autismus-Fälle im US-Bundesstaat Kalifornien in den vergangenen 15 Jahren ist nicht das Ergebnis sich ändernder Diagnose-Kriterien. Auch die Verbesserung der Diagnose ist nicht der Grund des enormen Anstiegs um 273 Prozent zwischen den Jahren 1987 und 1998. "Autismus steigt in den USA und wir wissen nicht warum", erklärte der Erstautor der Studie, Robert S. Byrd vom M.I.N.D. Institute der University of Califonia/Davis.

Für die Zunahme der Autismus-Fälle finden die Forscher keine Erklärung. Der Anstieg ist laut Byrd nicht durch eine Lockerung der Kriterien, die für eine Diagnose benötigt werden, begründbar. Autismus-Kriterien erfüllten zwar auch einige Kinder, die nicht autistisch aber geistig unterentwickelt waren, diese falsche Einstufung habe sich aber mit der Zeit nicht verändert. Weiters wurden 90 Prozent der Kinder in den Staaten geboren. Dadurch wird die Möglichkeit ausgeschaltet, dass die Zunahme das Ergebnis einer Einwanderung von Familien nach Kalifornien, um bessere Services in Anspruch zu nehmen, ist. Die Genetik spiele zwar eine Rolle. Wurden bislang auch schon mindestens sechs Gene entdeckt, die Menschen für den Autismus prädisponieren können - eine Epidemie auslösen können diese aber nicht, betonte Byrd".


nur kalifornien?

"Die Autismus-Zunahme kann ebenso gut in anderen Bundesstaaten festgestellt werden. Nur sieht diese niemand", betonte Allenby.

eine öffentliche
erklärung der europäischen union hingegen bleibt so derart im vagen und unklaren - sinngemäß "zwar kann eine zunahme festgestellt werden, aber..." -, dass der klartext aus kalifornien dagegen regelrecht krass wirkt. mehr zu diesem ganzen komplex in der zukünftigen fortsetzung dieses beitrags.

*

ein kleines quiz gefällig?

"Es wird verglichen, bewertet, gemessen und alles mit jedem in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt."

(quelle)

handelt es sich um a) eine beschreibung des objektivistischen bewusstseins, b) eine autismus-variante, c) ökonomisch-effektives denken, d) empathielosigkeit, e) den ausdruck einer zwangsneurose, f) den ausdruck einer zwanghaften persönlichkeitsstörung, g) die typische form der westlichen rationalität, h) die typische form des westlich-wissenschaftlichen denkens, i) puren kapitalismus, j) eine folge von sozialer dissoziation, k) etwas von allem, l) nichts davon?

ausgespielt werden erkenntnisgewinne.

*

edit am 21.12.09: wenn ich mich recht erinnere, habe ich diesen beitrag vor gut vier jahren geschrieben - und nun gibt es aktuell
neue zahlen aus den usa:

"Nach neuen Erhebungen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) verbreitet sich Autismus, eingeschlossen das Asperger-Syndrom und andere Autismus-Spektrum-Störungen, in den USA immer schneller unter den Kindern. Jetzt sollen bereits 1 Prozent der 8-Jährigen bzw. 9 von 1000 autistisch oder 1 von 110 sein (in der EU geht man von 3-6 auf 1000 Kinder aus, es liegen aber keine genauen Zahlen vor). (...)

2007 galt noch ein achtjähriges Kind von 150 als autistisch, 2000 eines von 300. In 10 der beobachten Regionen haben autistische Störungen durchschnittlich um 57 Prozent gegenüber den letzten Erhebungen in 2002 du 2006 zugenommen, allerdings schwankt die Zunahme regional erheblich zwischen 27 und 95 Prozent. Derzeit könnten, so wird von den CDC geschätzt, 730.000 Menschen im Altre bis 21 Jahren Autismus-Spektrum-Störungen zeigen.

Die sprunghafte Zunahme autistischer Erkrankungen bei den 1998 Geborenen könnte ganz einfach darin liegen, dass Ärzte Kinder häufiger so diagnostizieren. Beim CDC will man aber nicht ausschließen, dass eine wirkliche Zunahme stattgefunden hat, auch wenn man keinen Grund dafür angeben kann." (...)


seit jahren also keinerlei wirkliche erkenntnisse, selbst bei der entscheidenden frage nach dem grund des ansteigens der diagnosen im autistischen spektrum nicht - hm...

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