das folgende möchte ich Ihnen wirklich ans herz (und an den kopf) legen - in der faz macht sich ein ehemaliger spex-redakteur gedanken zum thema der überschrift - die idee, dass es sich bei dem, was psychiatrische diagnosen dem autistischen spektrum zurechnen (und vielleicht noch darüber hinaus), um eine art sozialer und psychophysischer mutation handelt, ist ja hier im blog verschiedentlich schon angerissen worden:
"Wenn jeder für sich bleibt, vereinzelt, sprachlos und von der Furcht getrieben, die Gesellschaft könnte ihn verstoßen wie die Natur seinen haarigen Ahnen, dann ist der Mensch dabei, sich aus dem halbfertigen Paradies zu vertreiben, das er sich aus Not gebaut hat. Wenn Autisten Ironie verstehen lernen, werden sie darüber schmunzeln. Einstweilen ist der effektivere Chef womöglich wirklich einer, der mit echter Asperger-Teilnahmslosigkeit durch seine ohnehin austauschbaren Angestellten hindurch auf die Nah- und Fernziele des Unternehmens blicken kann, und umgekehrt wird auch ein Angestellter, der nicht aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes - also vor Gemeinschaftsentzug - gelähmt ist, der nicht schon vor der bloßen Möglichkeit erbleicht, einen Fehler zu machen, seine Aufgaben sachgemäßer und effizienter erledigen als einer, der sich noch quälend vorstellen muß, was im Chef und den Kollegen vorgeht."
(...)
Wenn Evolution Schicksal ist, führt sie unter den gegebenen Vorzeichen zum arbeitsfähigen Autisten. Wenn man sie aber steuern kann, führt sie vielleicht zur Solidarität, das heißt zu einer Welt, in der die Angst nicht deshalb verschwindet, weil ihre biologische Grundlage entfällt, sondern weil wir ihre soziale abgeschafft haben."
und ich glaube mehr und mehr, dass die in den letzten sätzen beschriebene perspektive möglicherweise tatsächlich die definitive herausforderung für unsere spezies in diesem jahrhundert darstellt.
"Der Mensch ist und bleibt immer, vom ersten Augenblick an und trotz aller bekannten Defizite und möglichen Defekte, menschliche Person und beseelt (...)"
(m. hertl, "die welt des ungeborenen kindes"; zitiert nach j. erik mertz, "borderline..." (siehe Literaturliste), s. 174)
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das folgende lässt sich sowohl als weitere folge in der kleinen psychopathie-reihe hier begreifen als auch als versuch, einige sehr wichtige und konsequenzenreiche gedanken zu den themen des blogs generell zu formulieren und möglichen mißverständnissen sowie fehlinterpretationen den boden zu entziehen. hinsichtlich des ersteren hatte ich zum ende dieses beitrags bereits die geschichte des psychopathie-begriffs im nationalsozialismus kurz angerissen und auf die sich darin manifestierende gesellschaftliche bedingtheit hingewiesen. und bei der weiteren arbeit an den fortsetzungen zur psychopathie ist bei mir das gefühl immer stärker geworden, dass sich gerade in diesem begriff etliches widersprüchliche, paradoxe und auch gefährliche bündelt, was mit den themen hier untrennbar zusammengehört. und das möchte ich ein wenig aufdröseln.
einiges von diesen widersprüchen sowie der spezifischen geschichte der orthodoxen psychiatrie ist auch hier schon erwähnt worden:
"wer sich die geschichte der westlichen institutionalisierten psychiatrie genauer anschaut, besonders ihre traurigen und negativen "höhepunkte" bspw. in gestalt der militärpsychiatrie , der nationalsozialistischen "euthanasie"-aktion "T4" sowie der willigen (selbst-)instrumentalisierung zur durchsetzung genormter begriffe von gesundheit und krankheit und der stigmatisierung alles davon abweichenden (von therapeutischen methoden wie schockbehandlungen und psychopharmaka gar nicht erst zu reden), wird nicht umhin kommen, gegenüber diesem ganzen bereich eine gesunde skepsis zu entwickeln. ließe sich nun klipp und klar sagen, dass die diagnostischen konstruktionen und modelle dieser institution gänzlich an den haaren herbeigezogen wären, so würde das etliches sicherlich einfacher machen. jedoch: trotz der kenntnis all der zweifelhaften bis völlig abzulehnenden seiten der orthodoxen psychiatrie ist es imo nachweislich so, dass es viele der in den diagnostischen katalogen erfassten phänomene tatsächlich gibt. und bis auf weiteres sehe ich kein anderes instrumentarium - auch keine andere sprache - zur verfügung stehen als eben das, welches der psychiatrie entstammt."
in den letzten sätzen oben ist das grundsätzliche dilemma angesprochen, welches ich hier beim schreiben öfter verspüre - und es ist immer wieder ein balanceakt, das eine - die imo notwendige kritik und bearbeitung eskalierender sozialer pathologischer prozesse mithilfe bestimmter psychiatrischer und psychologischer modelle - mit dem anderen - die gerade erwähnten wissenschaften auch als teil der kritisierten prozesse zu begreifen - zu verbinden. das wird mir von beitrag zu beitrag mal besser, mal schlechter gelingen. und falls Sie bisher im blog diesbezgl. ein ungleichgewicht wahrnehmen sollten, so liegt das auch daran, dass ich immer noch zu einem großen teil damit beschäftigt, die verschiedenen diagnostischen modelle primär zu den bereichen autismus, persönlichkeitsstörungen und trauma hier kommentiert und komprimiert mitsamt bestimmten implikationen darzustellen. und auch aus gründen des schieren umfangs kommt sehr wahrscheinlich das, was allgemein als psychiatriekritik verstanden wird, hier bisher etwas zu kurz. das thema psychopathie bietet aber nun die gelegenheit, sowohl psychiatriekritik als auch kritik an dieser in einer - wie ich hoffe - nachvollziehbaren form darzustellen.
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wie oben schon erwähnt, ist dabei die nazi-"euthanasie"-aktion-"t4" sowohl für die geschichte des psychopathie-begriffes entscheidend, als auch als absolute bankrotterklärung der orthodoxen psychiatrie in deutschland anzusehen. wer sich damit genauer beschäftigen will - z.b. auch mit der wenig bekannten bzw. verdrängten tatsache, dass sich die ersten gaskammern allesamt im kerngebiet des damaligen "deutschen reiches" befunden haben - in hessen, württemberg, brandenburg, sachsen... - sei auf das vielfältige material im netz verwiesen, gerade auch von lokal arbeitenden und forschenden initiativen und historikerInnen an den damaligen und heutigen psychiatrischen standorten. für einen allgemeinen und zusammenfassenden eindruck möchte ich ohne einschränkungen die bedrückenden, detaillierten und materialreichen arbeiten von ernst klee empfehlen, dessen standardwerk zur "euthanasie" ich ab jetzt auch in der literaturliste führen werde.
während sowohl im verlauf von "t4" als auch in der nach beendigung dieser aktion startenden phase der sog "wilden euthanasie" die verantwortlichen bürokraten und psychiater mitsamt ihren institutionen dazu neigten, die kriterien für die "euthanasie" immer "großzügiger" zu gestalten (was recht schnell auch zur einbeziehung von bspw. körperlich schwerkranken [tuberkolose, krebs u.a.], einfach alten menschen und auch kriegstraumatisierten zivil- und militärpersonen führte), so blieb doch ein zentrales kriterium der mörder für ihre definition von "lebensunwert" formal und auch real immer an erster stelle: die arbeitsfähigkeit und produktivität der potentiellen opfer entschied in den weitaus meisten fällen tatsächlich über leben und tod.
"Erste Forschungsergebnisse zu den Berliner Krankenakten vermitteln einen Eindruck vom Spektrum der Patienten, die der Euthanasie zum Opfer fielen. In einer Pilotstudie wurden 185 Akten auf 50 verschiedene Charakteristika untersucht.
Die meisten Patienten waren mehr als zwei Jahre in Anstaltsbehandlung und trugen die Diagnosen Schizophrenie, "Schwachsinn" oder Epilepsie; etwa ein Drittel wurde in den Akten als pflegeaufwendig und nicht arbeitsfähig bewertet.
Knapp die Hälfte der Patienten verrichtete so genannte mechanische Arbeiten, z. B. Rosshaarzupfen. Sie galten im Sinne der Leistungsanforderungen der NS-Volksgemeinschaft nicht als produktiv und wurden so zur Vernichtung freigegeben."
ich habe selbst während meiner beruflichen tätigkeit gelegenheit zu einblicken in diverse originaldokumente aus dieser zeit gehabt - nicht nur in krankenakten, sondern auch in briefe von patientInnen, angehörigen und beteiligten institutionen. und die rücksichtslosigkeit und brutalität, mit der die mörder vorgegangen sind, ist in vieler hinsicht durchaus zu vergleichen mit dem terror, den teils das gleiche personal nur kurze zeit nach "t4" während der shoa praktizieren würde. weshalb auch "t4" in der historischen forschung heute oft und imo berechtigt als eine art "testlauf" für die shoa angesehen wird.
wobei bei letzterer eben das kriterium "arbeitsfähigkeit" zwar auch eine, aber nicht die entscheidende rolle spielte - hier war der pure vernichtungswille ausschlaggebend. wobei ähnliches bei der sich abzeichnenden ausweitung der "euthanasie" auf alle, die aus damaliger medizinischer perspektive in irgendeiner hinsicht als schwer bis unheilbar krank galten, zu sehen ist. die funktionsfähigkeit> innerhalb der "volksgemeinschaft" wäre bei einer geplanten, aber bis kriegsende niemals zustande gekommenen gesetzlichen verankerung der "euthanasie" so ziemlich das entscheidende kriterium für die entscheidung über staatlichen mord oder staatliche "gnade" geworden - gegenüber den eigenen "volksgenossen".
wie die selektion dann auf papier und formal aussah, zeigt der folgende meldebogen aus der aktion "t4":

der hinweis "nutzlose existenz" unten rechts ist vom ausfüllenden psychiater (und direktor der anstalt in bremen), dr. w. kaldewey, handschriftlich angefügt worden - unter den damaligen bedingungen das sichere todesurteil (kaldewey saß auch für eine kurze zeit in den "t4"-gutachterkommissionen, die lediglich nach aktenlage "begutachteten".)
nun ist eine bestimmte art von "funktionsfähigkeit" ja auch immer wieder thema hier im blog - die "funktionsfähigkeit", die sich in mehr oder weniger reibungsloser anpassung und kompatibilität gerade mit anonymen, mechanischen, bürokratischen und auch mörderischen institutionellen apparaten ausdrückt. was hier wiederum früher bereits als ein schwerwiegendes indiz auf die dominanz des objektivistischen modus bei einem menschen skizziert worden ist. und auch bezgl der sehr wahrscheinlichen psychopathologie hitlers drängt sich zu dieser ganzen geschichte eine frage besonders auf:
waren (und sind) diejenigen, die ihre definitionen von "leistungs- und arbeitsfähigkeit", "lebensunwert" etc. als trennlinie benutzten, um die von ihnen so definierten "asozialen", "psychopathen", "gemeinschaftsunfähigen" etc. auszuselektieren, tatsächlich die weitaus gefährlicheren ver-rückten? lässt sich die these aufstellen, dass bei ihnen zumindest z.t. auch schlichte projektion bei der auswahl der opfer beteiligt war? neben einer hemmungslosen bereitschaft zur unterwerfung unter angemaßte autoritäten, die sich als impliziter selbstverrat bzw. als unfähigkeit, sich selbst als eigene persönlichkeit überhaupt wahrzunehmen, darstellt? empathielosigkeit und extrem verdinglichende wahrnehmung jedenfalls sind eigenschaften, die wir den tätern mit berechtigung attestieren dürfen - und wenn ein technokrat wie der oben erwähnte k. (ich kenne einiges, auch nicht öffentlich zugängliches, biographische material zu und von ihm, welches ich hier leider nicht vorstellen kann) die todeskandidatin als autistisch beschreibt, so scheint mir das eine bitterböse ironie zu sein - k. lässt sich durchaus selbst als eine, allerdings wesentlich bösartigere, zumindest funktionell autistische person begreifen - und das lässt sich nicht nur bei ihm als starker verdacht formulieren.
in früheren beiträgen wurde hier ja schon auf das modell von zwei qualitativ unterschiedlichen formen psychotischer weltwahrnehmung verwiesen, welches mit teils unterschiedlichen begründungen und auch unterschiedlicher terminologie bspw. bei theweleit, mertz und arno gruen als these zu finden ist. wobei nur eine dieser formen - diejenige, die offensichtlich gegen die "objektiven realitätskriterien" z.b. mittels halluzinationen verstößt - von der etablierten psychiatrie und psychologie als psychose benannt wird. während sich die andere eben u.a. durch funktionsfähigkeit und simulierte emotionalität, in krasser form als völlig simulierte lebendigkeit, auszeichnet. und mit diesem ansatz im hinterkopf spricht also einiges dafür, die nazi-"euthanasie" auch unter solchen aspekten zu begreifen. die tatsache, dass während "t4" auch z.b. offensichtlich gewalttätige und als psychopathisch bezeichnete vergewaltiger in die vernichtungsmaschinerie gerieten, spricht nicht gegen diese these - wenn die gesetze im nationalsozialismus zum großen teil selbst soziopathischen charakter hatten und auch von entsprechenden leuten entworfen und umgesetzt wurden, so gilt das, was ich früher bereits einmal zitiert hatte - wieder der herr mertz, auf s.225:
„Das geschriebene Gesetz ist ohnehin nur ein prothetisches Surrogat, als solches kann es das antisoziale Phänomen in (...) relevanter Weise nicht definieren. Das reale antisoziale Phänomen setzt beim authentischen Defekt oder Defizit an und muß keineswegs die Grenzen des geschriebenen Gesetzes übertreten. Reale Antisozialität kann sogar die geschriebenen bzw. praktizierten Gesetze dahingehend verändern, daß gewisse extrem antisoziale Aktionen zur Norm erklärt werden und eindeutig (authentisch) prosoziale Aktionen als Verbrechen erscheinen.“
anders: dass eben die nazis auch personen ermordeten, die nach den heute geltenden (und imo unzureichenden) psychiatrischen kriterien bspw. in den forensischen kliniken sitzen und ebenfalls teils als soziopathen betrachtet werden, lässt sich vor dem damaligen hintergrund als mehr oder weniger beliebiger zufall deswegen betrachten, weil gleichzeitig das staatlich organisierte und angeordnete morden und vergewaltigen seitens der ss, wehrmacht, gestapo u.a. nicht nur als gewünscht, sondern als "historische notwendigkeit" galt - und derart real extrem antisoziales verhalten in den rang einer quasi naturgesetzlichkeit erhoben wurde. konnte sich also ein vergewaltiger entsprechend beherrschen, so hatte er prinzipiell alle chancen, beim ausagieren seiner verdinglichenden gewalt nicht nur straffrei, sondern noch belobigt davonzukommen - sofern er auf einige situationsbedingte gegebenheiten achtete. einer derart beschaffenen staatlichen struktur ist es prinzipiell gleichgültig, ob sich jemand real antisozial verhält - es kommt mehr auf form und zeitpunkt an und darauf, dass der anschein gewahrt bleibt und die macht prinzipiell anerkannt wird - das scheint dann u.a. durch die gewährte freiheit zum individuellen soziopathischen ausagieren im staatlichen interesse honoriert zu werden.
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ich glaube, es sollte jetzt etwas klarer geworden sein, wie ich psychophysische störungen in ihren möglichen schweren ausprägungen grundsätzlich verstehe. und welche davon ich insgesamt als eindeutig bösartiger und destruktiver ansehe. beim anblich der heutigen realität allerdings fürchte ich, dass sich ganz grundsätzlich nichts geändert hat, was die prägenden strukturen unser gesellschaft anbelangt - so hätten bspw. die parasitenvergleiche aus dem letzten jahr ohne weiteres den beifall jedes um die "volksgesundheit" besorgten soziopathen im ns gefunden. ebenso möchte ich nicht unbedingt wirklich erfahren, in wievielen heutigen köpfen und körpern gefühle und gedanken von der "nutzlosen existenz" herumspuken - natürlich hinsichtlich fremden lebens, aber im kern auch bezgl. des eigenen.
was wir aber - als hoffentlich psychophysisch relativ gesunde menschen - im gegensatz bspw. zu den real antisozialen, wahrnehmungsgeschädigten und im schlechtesten sinne des wortes grenzenlosen nazis als eine ganz essentielle maxime für jedes handeln festschreiben können, steht ganz am anfang dieses beitrags. das schließt berechtigten und situationsangemessenen hass und auch notwendige aggressionen gegenüber tödlichen grenzverletzungen nicht aus - aber es fixiert eine grundsätzliche und elementare wahrnehmung, die zu verbreitern und zu verankern imo zu den essentials jeder emanzipatorischen bewegung gehören muss.
die taz kam heute zum internationalen frauentag mit einem special zum thema "mütter" heraus, welches mich bewogen hat, mir ausnahmsweise mal wieder die print-ausgabe zuzulegen - nunja, ich habe zwar noch längst nicht alles gelesen, aber es ist schon auffällig, wie sehr diese zeitung auf die von ihr (wahrscheinlich zu recht) vermutete klientel in form der gehobenen weißen deutschen mittelschicht mit "bewußtsein" zugeschnitten ist - in diesem speziellen fall heute auf 30 - 50jährige frauen aus eben dieser schicht mit einer art...hm, primär auf ökonomische und soziale teilhabe orientierten mittelklassefeminismus, der sich redlich bemüht, die skandalösen bis tödlichen strukturellen zustände der gesellschaft, von der diese teilhabe eingefordert wird, nicht allzusehr in den blick geraten zu lassen.
trotzdem kann ich einen artikel besonders empfehlen - countdown einer mutter
thematisiert sowohl das kulturelle konstrukt "mutterliebe" als auch die folgen, die gestörte mutter-kind-beziehungen nach sich ziehen - wenn das auch in imo unzureichender form geschieht, ist das immerhin medial mal ein anfang.
"Mutterliebe wird hoch gehängt. Hormone, die bei der Geburt ausgeschüttet werden, machen es den Müttern leicht, sich jahrelang Aufgaben zuzumuten, auf die man sonst lieber verzichtete. "Monatelang keinen erholsamen Schlaf, mindestens 3.000 Mal Windeln wechseln, seinen Körper zur Tränke machen, am Geschrei die Bedürfnisse des Kindes erkennen: Hunger, Langeweile, Angst, Müdigkeit, Schmerz", sagt eine andere Mutter, sie hat eine Dreijährige. Sie liebe ihr Kind trotzdem.
Mutterliebe ist ein idealisiertes Phänomen. "Mutterliebe, man nennt dich des Lebens Höchste! So wird denn jedem, wie schnell er auch stirbt, dennoch sein Höchstes zuteil." Dieses poetische Zitat stammt von Hebbel, 19. Jahrhundert.
Was aber, wenn "Mutterliebe" ihre Doppelbödigkeit offenbart? Was, wenn die Bedürfnisse des Kindes zu einer Zumutung werden? "Jede Mutter hasst ihr Kind irgendwann", sagt eine junge Frau, deren Vierjähriger alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie kommt gerade aus einer Erziehungsberatungsstelle. Ob sie Genaueres erzählen wolle? "Nein."
das scheint mir eine selbstverständlichkeit zu sein, dass sowohl die schwangerschaft an sich als auch die folgenden jahre immer wieder von negativen gefühlen gegenüber dem kind begleitet sein dürften - anderes zu erwarten, wäre schlicht unmenschlich. es kommt aber dabei auf das maß an - situationsbedingte ablehnung vor dem hintergrund einer grundsätzlich liebevollen einstellung ist etwas, mit dem sowohl ein embryo als auch ein kind nicht nur fertigwerden dürfte, sondern vielleicht sogar als "entwicklungshilfe" beim eigenen wachstum benötigt. ganz anders sieht es hingegen bei einer überwiegenden und dauernden ablehnung bis hin zum offenen hass aus - da können solche szenarien entstehen, wie sie hier bis zum überdruß unter dem stichwort infantizid dokumentiert worden sind.
"Warum gibt es heute viele Menschen, die sagen, meine Mutter hat mich nicht geliebt, und kaum Mütter, die sagen, dass es tatsächlich so war? Verständlich wird diese Unsicherheit, wenn das gesellschaftliche Bild der Frau berücksichtigt wird: Mit der Entwicklung hin zur Kleinfamilie ist die Mutter in Deutschland kinderliebend in der Verantwortung, trotz aller Versuche, dies auch auf den Vater zu verteilen. Religiöse, kulturelle und historische Bilder lasten schwer auf ihr.
In der Fachliteratur wird selten von "Mutterliebe" gesprochen, sagt Herma Michelsen. Es sei ein poetischer und mystisch aufgeladener Begriff. Im Vordergrund der Forschung steht die Mutter-Kind-Bindung oder auch Mutter-Kind-Interaktion. Die Ausrichtung der Forschung argumentiert aus der Sicht des Kindes. Ist die Beziehung zur Mutter nicht intakt, ist die Entwicklung des Kindes gefährdet. Seine Schwierigkeiten als Erwachsener führt die Psychologie gern auf emotionale Brüche zwischen ihm und der Mutter zurück."
wobei es eben für letzteres auch einen haufen indizien gibt.
"Wer den Selbstläufer "Mutterliebe" jedoch in Zweifel zieht, lenkt den Blick weg vom Wohl des Kindes hin auf das der Mutter. Auch sie hat eine Geschichte. Mütter, die sich als Kinder selbst ungeliebt fühlten, hätten größere Probleme, ihre Kinder anzunehmen. "Mühelos kann man den Kindern nur das geben, was man selbst bekommen hat. Alles andere muss man sich erarbeiten", bestätigt Herma Michelsen. Frauen, die in Situationen seien wie Bianca Pohl, übernehmen zweifellos die Verantwortung für das Kind. "Die Freude stellt sich aber nur langsam ein."
Die Konsequenzen gestörter Mutter-Kind-Beziehungen sind, so geht aus der psychologischen Forschung hervor, vielschichtig. Sie reichen klassenübergreifend von Depression bis zu Gewalt. Auf beiden Seiten, der des Kindes und der Mutter. Geht es ums Kind, wird bei der Mutter gern die Schuld gesucht, geht es um sie, ist sie selbst schuld."
genau das beschriebene ist ja eben der zentrale und fatale prozeß der ständigen wiederholung/re-inszenierung traumatischer erlebnisse von müttern, die ihre kinder/töchter traumatisieren, die wiederum... ich habe hier schon früher geschrieben, dass die moralische kategorie "schuld" hier unbrauchbar und schädlich ist - verantwortlichkeit passt schon besser, wobei diese gelernt werden muss - und genau die bedingungen nicht nur dafür zu schaffen, sondern auch die notwendigen materiellen sicherungen für mütter und kinder und familien bzw. kinderbetreuende kollektive ist eine gesamtgesellschaftliche aufgabe - und zwar nicht im interesse irgendwelcher "nationaler" oder ökonomischer belange, sondern aus ganz elementaren menschlichen gründen - wozu u.a. gehört, die generationenalte spirale der gewalt endlich an einem ganz entscheidenden punkt stoppen zu können.
"Über die Konsequenz nicht erbrachter gesellschaftlicher Kinder- und Mutterliebe aber spricht niemand. Dies mag erklären, warum der einfache Weg, der Ehrlichkeit in die Mutter-Kind-Problematik brächte, ein Tabu ist. Denn wären die erlebten Defizite der Mütter öffentlich thematisierbar, würde deutlich, wie allein gelassen sie bleiben."
allerdings. neue leserInnen hier seien auf das themenvertiefende buch von lloyd deMause verwiesen.
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zum thema im weitesten sinne gehört auch dieses: fragen zu und folgen von leihmutterschaft und reproduktionsmedizin, in einem kurzen, imo recht informativen text zusammengefasst:
"Die Beziehungsaufnahme zwischen Mutter und Kind, das Bonding, das intrauterin beginnt, kann zur extremen Problemerfahrung werden, wenn das Kind nach der Geburt hergegeben werden soll."
in absehbarer zeit möchte ich hier einmal einen basisartikel zum thema "pränatale phase" veröffentlichen - dann werden möglicherweise einige thesen des obigen textes auch besser verständlich sein.
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ansonsten: erinnern Sie sich noch...? ist nur ein paar monate her - und heute findet sich diese meldung irgendwo klein am rand - ob sie es überhaupt in anderen medien über die wahrnehmungsschwelle geschafft hat, ist mir nicht bekannt.
"Auf dem Weg von Mauretanien zu den Kanaren sind am Wochenende 45 Flüchtlinge ertrunken. Zwei mit insgesamt 84 Afrikanern besetzte Fischerboote seien im Atlantik gekentert, berichtete die El País gestern. Gestern drohte erneut ein Flüchtlingsboot mit 40 Passagieren zu kentern."
schlimm? eigentlich eher ein völlig unerträglicher tatbestand - aber schauen Sie sich das folgende an:
"Nach Angaben des Roten Halbmonds kamen in den vergangenen vier Monaten 1.200 bis 1.300 Menschen beim Fluchtversuch auf spanisches Territorium ums Leben."
die älteren leserInnen hier können sich vielleicht folgendes ausmalen: was wäre in diesem land losgewesen, wenn es ähnliche zahlen in einem ähnlichen zeitraum auch nur einmal an der ehemaligen grenze zur ddr gegeben hätte? eben. die von unseren westlichen gesellschaften immer wie ein popanz vor sich hergetragenen bekenntnisse zu "menschenrechten" sind nicht das papier wert, auf denen sie geschrieben werden. unter menschen werden ganz offensichtlich nur bestimmte menschen verstanden - und die sind immer noch reich und weißhäutig.
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zum schluß noch ein lesetipp bei telepolis: soziale angst heißt das thema, und auch das zugehörige forum ist zu empfehlen - bei tp bekanntlich nicht immer die regel.
in einem vergangenen beitrag hatte ich per überschrift diese frage gestellt: ist borderline mörderischer *pop*? nun taucht aktuell online diese meldung auf:
"Einer der weltweit führenden Angstforscher, Borwin Bandelow, hat in einem Interview vielen Mega-Promis gefährliche Persönlichkeitsstörungen attestiert. Verbreitete Symptome seien Narzissmus und Borderline."
nun, das finde ich persönlich nicht allzu überraschend (auch nicht die fehlinformation, dass es sich bei borderline um ein "symptom" handeln würde - das allgemeine wissen in diesem bereich ist bekanntlich stark erweiterungsfähig) - wenn Sie sich die bisherigen beiträge hier im blog rund um die themen borderline und narzisstische ps noch einmal in erinnerung rufen, werden Sie sich vielleicht viele argumente für die these ins gedächtnis rufen können, dass gerade die simulativen und fiktiven welten von show und schauspiel eine bevorzugte anziehungskraft für menschen mit bestimmten psychophysischen strukturen besitzen - das lässt sich durchaus auch aus den eigenen wahrnehmungen dieser bereiche und der dort auftretenden protagonistInnen schließen (zumindest, wenn die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten noch irritierbar hinsichtlich durch und durch simulierter realitäten sind). und von daher halte ich die folgende, auf den ersten blick seltsame aussage des psychiaters auch nicht für so bizarr, wie´s den anschein haben könnte:
Den Vorwurf, dass die Promis, über die er urteilt, doch gar nicht auf seiner Couch gelegen hätten, lässt Bandelow nicht gelten: "Die Diagnose erfordert keinen psychiatrischen Feinsinn."
am argument, dass ein eigener, unmittelbarer wahrnehmungseindruck am sichersten relevante informationen über den (inneren) zustand eines anderen menschen geben kann, ist sicher einiges dran. bloß: wenn es mit den eigenen wahrnehmungsfähigkeiten nicht mehr weit her ist, dann können auch noch so viele objektiv stattfindende nahkontakte keinerlei wichtige informationen vermitteln. umgekehrt aber lassen sich meiner meinung nach auch aus der distanz und aus medialen und biographischen fragmenten aller art durchaus korrekte schlüsse über psychophysische zustände bei ansonsten eigentlich fremden personen treffen, wenn dabei einige voraussetzungen beachtet werden - so müssen zb. die quellen, aus denen heraus die eigenen wahrnehmungen sozusagen extrapoliert werden, sorgfältig geprüft sein - und auch die funktionsbedingt bei distanzkontakten eher abstrakteren wahrnehmungsinhalte (die dann fast immer auch vom eigenen objektivistischen modus zu mehr oder weniger sinnvollen gestalten/skulpturen konstruiert und ergänzt werden) müssen anders "gelesen" werden als bei konkreter nähe. wenn allerdings die gerade genannten veränderten voraussetzungen berücksichtigt werden, sehe ich persönlich generell bestimmte arten von "ferndiagnosen" nicht als gänzlich unmöglich an.
"Wenn Drogenabhängigkeit mit Magersucht, Aggressivität, Suizidversuchen und Depressionen kombiniert ist, ist das ein relativ klarer Fall von Borderline. Die Betroffenen haben ihre Emotionen nicht im Griff. Sie erzählen Lügengeschichten. Und obwohl sie sehr selbstbewusst auftreten, halten sie sich für den letzten Dreck."
Auch die Hinwendung vieler Promis zu den unterschiedlichsten religiösen Bewegungen rechnet Bandelow dem Borderline-Syndrom zu: "Wer unter Angst leidet, sucht sein Heil gern in der Religion. Typisch für Borderliner ist, dass sie sich Ausgefallenes suchen. Madonna hat sich der Kabbala zugewandt, Tom Cruise missioniert für Scientology."
und hinsichtlich michael jackson und klaus kinski, die ich persönlich ebenfalls beide für borderlinebetroffen halte, wäre noch das element der öffentlichen identitätskonstruktionen und -wechsel zu nennen, welches bei genauerer beobachtung bei vielen sog. stars zu bemerken ist. essstörungen und selbstverletzendes verhalten als symptome verstärken ebenso wie vielfältiger drogenabusus dann nur noch die indizienreihe.
edit: und es bleibt natürlich notwendig, immer im hinterkopf zu behalten, dass die meisten der oben von dem zitierten psychiater genannten symptome eben auch hinweise auf (post-)traumatische störungen sein können.
eine aufschlußreiche performance von 1974 (via nettblog).
ein weiterer, eher spontaner beitrag zum tagesthema hier (welches auch in der nächsten zeit noch raumfordernd sein wird - ich schätze, es werden mindestens noch zwei fortsetzungen in der psychopathie-reihe folgen) - beim eher aus langeweile zustandegekommenen blättern in alten konkret-ausgaben kam mir etwas unter die augen, was bei mir allerhand finstere gedanken ausgelöst hat - und ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mich alleine damit herumplagen sollte.
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haben Sie schon mal den namen paul c. martin vernommen? nein? macht auch nichts weiter - das wissenswerte steht im wiki-link, und mir war der name vor heute abend auch nur vage durch den "bild"-"zeitungs"-kontext im gedächtnis. was bei wikipedia allerdings so unter dem wort "kolumnist" verbucht wird, lässt sich konkreter fassen: herr martin hat zumindest zeitweise auch im "penthouse" kolumnen verfasst. und eine davon ist in der ausgabe 1/1993 von konkret auf s. 61 dokumentiert - die kolumne dürfte ende 1992 im original erschienen sein, ist aber trotz ihres fortgeschrittenen alters von zeitloser und wünschenswerter klarheit, wobei der text auch von jedem anderen tatsächlich überzeugten anhänger von freedomanddemocracy verfasst sein könnte, der über den nötigen zynismus verfügt - bitte sehr:
"Nicht daß Sie glauben, ich scherze: Die größten Profite, die nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt mit Aktien zu erzielen waren, von denen haben Sie noch nie etwas gehört. Es war das `Doppel-Plus mit dem Doppel-P´: Das sensationelle Geld, das die Herren Papadopoulos und Pinochet den Anlegern bescherten. Papadopoulos war jener griechische Putschist, der 1967 Panzer auffuhr und für Ruhe, Ordnung und ein Rechtsregime sorgte. Pinochet ist jener chilenische Putschist, der im September 1973 den Sozialisten Allende zum Abgang per Suizid zwang.
Die Börsen von Athen und Santiago erlebten daraufhin Orgasmen. Die Kurse selbst der obskursten Nebenwerte explodierten. Vierfaches, achtfaches, selbst zwanzigfaches Geld war an der Tagesordnung. Und jeder durfte ganz dabeisein. Denn selbst der Kleinsparer Obermoser aus Hinterpfaffenhofen hätte aus zehn Mille hart Erspartem 100.000 Mark oder auch das Doppelte machen können - und das vollständig ohne Risiko. Es gibt auf der Welt keinen sichereren Aktientip als ein Militärregime, ein `rechtes´ notabene. Wenn die Linksoppositionellen im KZ verschwinden, wenn Schweden die diplomatischen Beziehungen abbricht und wenn der Heimatdichter aus den Slums der Hauptstadt den Nobelpreis für Literatur erhält, Anleger, dann ist das Eure Stunde.
Bitte jetzt nicht komisch werden. Gefühle haben an der Börse nichts zu suchen und mit Geldverdienen nichts zu tun.
Legen Sie sich auf Wiedervorlage, wann immer die Zeitungen über einen Rechtsruck jammern, über einen Militärputsch gar. Es genügen auch schon Überschriften wie `Demontage des Sozialstaats´ oder `Streik abgebrochen´ oder auch nur `Umverteilung von unten nach oben´ und `Ellenbogengesellschaft´. Wo immer man wieder starke Schultern aufrecht tragen kann, wo es wieder zackig wird, wo die Worte `Arbeit´, `Leistung´ und `Gewinne´ wieder Klang erhalten, da liegt die Börse richtig.
Wo immer sich die Weltgeschichte hinbewegt, das oberste Prinzip für alles Investieren kann nur lauten: dorthin gehen, wo das Kapital noch sicher ist, dorthin, wo es Geld verdienen kann, verdienen darf."
...
die kriterien der aktuellen icd-10 für die antisoziale bzw. dissoziale persönlichkeitsstörung lauten wie folgt:
F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. (was, wie schon heute nachmittag erwähnt, dann ein problematisches kriterium wird, wenn die herrschenden sozialen normen selbst bereits soziopathische züge aufweisen, anmerk. mo) Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
und zum begriff der soziopathie, der den gleichen defekt (das wort benutze ich hier ganz bewusst) bezeichnet, lässt sich folgende - und imo treffende - zusammenfassung bei wikipedia finden:
"Seitdem gilt der Begriff für die neuropathologisch bedingte Unfähigkeit, soziale Kompetenzen wie Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Unrechtsbewusstsein zu entwickeln."
frage: schafft der kapitalismus den soziopathen, oder schafft sich der soziopath im kapitalismus das ihm adäquate (und am besten angepasste) sozioökonomische system? oder ist es eine art dialektisches wechselspiel?
haben Sie übrigens schon den hier früher empfohlenen film the corporation gesehen?
*edit am 04.03: tja, da ist mir das gestern erwähnte begriffswirrwarr selbst auf die füße gefallen (nicht das erste mal) - so wird zwar im psychiatrischen mainstream eben das wort soziopathie als synonym für die antisoziale ps genutzt (während die psychopathie noch darüber hinaus teils als synonym für so ziemlich alle persönlichkeitsstörungen fungiert) - während ich aus gründen, die teils bereits in den gestrigen beiträgen schon enthalten sind, den ansatz plausibel finde, der die psychopathie als abgrenzbare und eigenständige untergruppe der antisozialen ps ansieht. wobei es vielleicht zu überlegen ist, ob dem begriff soziopathie nicht eher der vorzug zu geben ist: einmal ist die historie dieses wortes nicht ganz so belastet, zum anderen aber stellt sie die besonders frappierende und ausgeprägte eigenschaft des gesamten antisozialen spektrums in den vordergrund, nämlich das leiden lassen der sozialen umwelt unter dem ausagieren der eigenen störung, während das wort psychopathie eher den individuellen aspekt hervorkehrt - und damit auch die assoziationen zu sehr auf diesen aspekt lenkt, unter vernachlässigung des beziehungsgefüges.
ob also die oben zitierte kolumne im strengen sinne innerhalb eines soziopathischen kontextes zu verstehen ist, lässt sich schlicht und einfach nicht belegen - hingegen gibt es imo genügend gründe dafür, die aussagen des textes als deutlich antisozial zu sehen, selbst nach dem zugehörigen diagnostischen modell. und auch, wenn sich viele indizien dafür finden lassen, innerhalb kapitalistischer strukturen tatsächlich gehäuft personen mit sozio-/psychopathischer struktur zu vermuten, so geht doch das reale antisoziale verhalten (und die zahl der derart agierenden) aller wahrscheinlichkeit nach weit über das vorkommen der echten soziopathen hinaus. was dann eben auch die strukturellen eigenheiten des kapitalismus sozusagen ins rechte licht rückt - und genau das ist u.a. eben auch thema des oben empfohlenen films.
anders: um antisozial zu handeln, muss ich kein sozio-/psychopath im bisher skizzierten sinne sein - dazu reicht eine chronische funktionelle dominanz des objektivistischen modus aus, die in bestimmten formen irgendwann unweigerlich zu ähnlichen einbußen an empathie und sozialem verhalten führt, wie es bei soziopathen als prägende und neurophysiologisch basierte eigenschaft zu beobachten ist.
trotz der in der einführung zum thema angesprochenen schwer belasteten historie des begriffs psychopath - die heute darunter verstandene realität existiert imo unbezweifelbar für sich - und deshalb jetzt zur frage der überschrift.
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viele leserInnen hier werden wahrscheinlich ihr bild des psychopathen zu einem großen teil durch produktionen der popkultur - wie zb. die fiktive figur des hannibal lecter aus dem film "das schweigen der lämmer" - bezogen haben: ein überdurchschnittlich intelligenter, emotional kalter, rücksichtsloser und berechnender mensch. lecter ist dabei durchaus als eine zwar überzeichnete, jedoch annäherend realitätsnahe psychopathische figur entworfen worden - so sind sowohl das fiktive trauma in seiner biographie als auch die hier beschriebene eigenschaft
"Bei der Durchführung des EKGs greift er dort eine Krankenschwester an und isst deren Zunge, ohne dass seine Herzfrequenz jemals über 85 Schläge pro Minute (Ruhepuls) steigt."
durchaus in realen psychopathischen biographien wiederzufinden, gerade die letztere besonderheit - das erwähnte trauma jedoch kann, muss aber nicht vorhanden sein.
ein mörderischer "super-verbrecher" wie lecter jedoch ist - zum glück - in der realität weiter eher eine ausnahme, wobei sich viele serienmörder durchaus als psychopathen begreifen lassen. ein beispiel für das weiter verbreitete nichtmörderische wirken von psychopathen ließ sich vor einigen monaten in etlichen medien finden:
"Falscher Fürst foppt den Bundestag
Als falscher Fürst hinterging er die Düsseldorfer High Society, als vermeintlicher Praktikant ging er im Bundestag ein und aus: Ein 21-jähriger Betrüger soll sich monatelang ungehindert Zutritt zu diversen Abgeordnetenbüros erschlichen haben.
(...)
Zunächst habe der vorbestrafte Betrüger Anfang des Jahres ein Praktikum beim heutigen Wehrbeauftragten des Bundestags, Reinhold Robbe, begonnen, hieß es in dem Bericht. Als der Polizeidienst des Bundestages auf die früheren Verurteilungen des Mannes hingewiesen hatte, sei er allerdings nach wenigen Tagen entlassen worden. Dem Blatt zufolge erlangte der 21-Jährige wegen seines sicheren Auftretens auch danach noch Zugang zu den Abgeordnetenbüros.
Mehrfach habe der Hochstapler darauf verwiesen, ein Neffe von Rudolf Seiters zu sein. Als vorgeblicher Praktikant von Wolfgang Thierse habe er auf zahlreichen Abendveranstaltungen Kontakte zu Verbänden und Botschaften geknüpft.
(...)
In Düsseldorf hatte sich der Betrüger als "Jörg Alexander Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" das Vertrauen der High Society erschwindelt. Er war laut Polizei an seinem 21. Geburtstag festgenommen worden, als er unbezahlte Lieferungen von einer Postfiliale abholen wollte. In seiner Wohnung fanden die Ermittler unbezahlte Waren im Wert von 15.000 Euro, darunter Luxuskleidung und Plasmabildschirme. Den Düsseldorfer Ermittlern zufolge war der Mann zuvor auch als falscher Arzt und falscher Polizeibeamter in Berlin aufgefallen."
hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden.
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das lässt sich aus der oben dem fiktiven lecter zugeschriebenen psychophysischen besonderheit folgen, die als eines der wesentlichen merkmale echter psychopathen gelten kann - auszüge aus einem empfehlenswerten radiomanuskript :
"Psychopathen neigen überhaupt nicht zu starken Empfindungen, vor allem verspüren sie nur sehr wenig Angst."
das ist ein ganz entscheidender punkt, der den betroffenen zumindest in vielen gesellschaftlich-sozialen situationen zu einem gewaltigen vorteil verhelfen dürfte - wer nur wenig bis gar keine ängste verspürt, kann logischerweise sehr überzeugend simulieren/schauspielern, gerade in echten situationen, die nicht auf einer bühne stattfinden - um überzeugend zu tricksen und zu faken, ist angstfreiheit eine wesentliche vorbedingung. diese besondere art angstfreiheit bei psychopathischen persönlichkeiten ist nicht nur objektivierbar bzw. messbar, zb. innerhalb von besonderen experimentiellen situationen:
"Bei jedem fünften gewalttätigen Mann verlangsamte sich der Herzschlag hingegen. Die Forscher erinnerte dieser Typ Mann an eine Giftschlange, die ruhig und konzentriert wirkt, bevor sie blitzschnell zubeißt. Deshalb nannten sie ihn Kobra - im Unterschied zum aggressiv aufgeputschten Typ „Pitbull“. Kobras regen sich nicht auf, sie setzen Gewalt gezielt ein, um die Frau unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht alle Kobras sind Psychopathen, aber etliche sehr wohl."
sondern lässt sich auch direkt als folge neurophysiologischer veränderungen ansehen:
"In den letzten Jahren haben Forscher nicht mehr nur Puls und Hautleitfähigkeit gemessen, sondern sich auch das Gehirn von Psychopathen angeschaut. Sie sind auf zahlreiche Auffälligkeiten gestoßen. Psychiater Müller-Isberner nennt eine:
O-Ton 6 - Rüdiger Müller-Isberner:
Wenn man sich, und das ist heute maschinell möglich, wenn man sich sozusagen Aktivitäten des lebenden Gehirnes anguckt, sieht man, dass es im Bereich des Vorderhirnes, also oberhalb unserer Augen im Frontalhirn ein Funktionsdefizit gibt. Das Frontalhirn ist von der Evolution her, von der Entwicklung der jüngste Teil unseres Gehirns. Unsere Funktionen im Frontalhirn, das sind auch die, die uns von den anderen Lebewesen, den anderen Tieren unterscheiden.
Sprecherin:
Psychopathen verfügen im Frontalhirn über elf Prozent weniger so genannte graue Masse, das ist ein Teil des Nervengewebes. Dies hat Adrian Raine mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomografie nachgewiesen, einem Verfahren, das Bilder des Gehirns erzeugen kann.
Das Frontalhirn sorgt dafür, dass wir im richtigen Moment handeln, aber auch dafür, dass wir manche Handlungsimpulse nicht ausführen. Was passieren kann, wenn es beschädigt wird, zeigen Fallstudien der Universität von Iowa. Eine Patientin war als Kleinkind von einem Auto überfahren worden. Sie schien sich innerhalb weniger Tage zu erholen. Doch bald erwies sie sich als praktisch unerziehbar. Sie reagierte weder auf mahnende Worte noch auf körperliche Strafen. Sie bestahl ihre Familie und andere Kinder. Sie log viel, hatte keine Freunde, lief von zuhause weg. Mit 18 bekam sie ungeplant ein Kind, das sie gefährlich vernachlässigte. Überhaupt schien sie unfähig zur Empathie zu sein. Kurz, sie zeigte viele psychopathische Züge. Ein Gehirnbild der inzwischen 20-jährigen verriet die Ursache der Störung: Ihr Frontalhirn war geschädigt."
neben der angstfreiheit taucht hier jetzt offen ausgesprochen ein zweites wesentliches merkmal auf: die unfähigkeit zur empathie, die unmittelbar mit der angstfreiheit zusammenhängt - denn wenn sich jemand erstens selbst keinen begriff von angst generell machen kann (bzw. sie nicht wahrnehmen kann, was auf das gleiche hinausläuft), dann kann diese person zwangsläufig auch nicht nachfühlen, wenn sie bei anderen ängste auslöst. spekulativ lässt sich annehmen, dass gerade die teile des gehirns geschädigt sind, in denen sich zumindest z.t. die erst seit kurzem bekannten spiegelneurone befinden, die nach weiteren forschungsergebnissen auch bei der möglichen autismus-genese eine rolle spielen. das in der einführung erwähnte begriffswirrwarr von der psychopathie über das autistische spektrum hin zu den persönlichkeitsstörungen und sogar in den bereich der psychotraumata könnte zu einem teil daraus entstehen, dass das spektrum der überlappungen von möglichen symptomen tatsächlich einen hinweis auf strukturelle innere verwandtschaften bei den betreffenden störungen darstellt - was keinesfalls heisst, dass die jeweils individuellen daraus folgenden lebens- und verhaltensweisen bei den betroffenen nicht extrem unterschiedlich sein können. aber diesem eindruck kann ich mich nach einer langen beschäftigung mit dem thema einfach nicht entziehen. ebensowenig dem gefühl, dass bei den weitaus meisten dieser störungsbilder bösartige soziale prozesse - gewalttätige prozesse - entscheidend an der entstehung beteiligt sind.
fortsetzung folgt.
(bereits im blog vorhandene themenbezogene fragmente lassen sich hier nachlesen).
bei der recherche zu diesem gleichzeitig bedrohlichen, aber auch irgendwie faszinierendem thema (eine reaktion, die ich nicht nur bei mir feststellen kann und die eigentlich einer näheren betrachtung bedarf), wurde wieder einmal mehreres deutlich: einmal das chaotische begriffswirrwarr in der psychiatriegeschichte, zum anderen aber auch die ungenügend reflektierten gesellschaftlichen implikationen des themas. wozu auch der begriff psychopath(ie) selbst gehört:
“Psychopathie ist eine veraltete Bezeichnung für eine Persönlichkeitsstörung, die aufgrund charakterlich-konstitutioneller Gründe zu einer Anpassungsstörung führt, unter der sowohl der "Psychopath" als auch die Umwelt zu leiden haben.
Im ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, wird Psychopathie nicht speziell, aber in Verbindung mit 2 Erkrankungen erwähnt:
* ICD 10 F84.5 autistische Psychopathie:
o (ICD 10 F84.0) Tiefgreifende Entwicklungsstörung (Sammelbezeichnung für Autismus, Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom)
o (ICD 10 F84.5) Asperger-Syndrom (heutzutage besser: Asperger-Autismus)
(...)
Daneben werden auch manche Persönlichkeitsstörungen (ICD 10 F60) unter die Psychopathien gerechnet, vor allem die:
* Paranoide Persönlichkeitsstörung
* Schizoide Persönlichkeitsstörung
* Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (aka borderline, anmerk. mo)
* Dissoziale ("antisoziale") Persönlichkeitsstörung“
auch wenn artikel von wikipedia von fall zu fall mit einiger skepsis zu betrachten sind - das, was rund um den komplex "psychopathie" zusammengetragen worden ist, gibt in einer einigermaßen verständlichen form kurz und knapp wesentliche und relevante informationen wieder. dazu gehören sowohl die begriffe soziopathie als auch die antisoziale persönlichkeitsstörung. wenn Sie sich die links betrachten (was für das verständnis durchaus hilfreich wäre), werden Sie neben inhaltlichen überlappungen bei den definitionen der obigen begriffe auch erwähnungen anderer wohlbekannter diagnostischer begriffe finden, wie bspw. diagnosen aus dem autistischen spektrum, borderline, die narzisstische ps und auch die postraumatische belastungsstörung.
gleichzeitig sollten Sie sich immer wieder bewußt machen, dass bereits hinsichtlich der a) anerkennung der existenz, b) definition, c) möglicher zusammenhänge untereinander, d) der möglichen beschaffenheit dieser zusammenhänge und e) der daraus zu ziehenden konsequenzen seit jahrzehnten innerhalb von psychiatrie/neurologie und psychologie/diversen psychotherapeutischen ansätzen wilde und z.t. erbitterte auseinandersetzungen toben, die teils seit jahrzehnten andauern. in diesem sinne sind die definitionen der klassifikationen icd-10 und dsm-IV eher als kleinste gemeinsame nenner anzusehen, die nichtsdestotrotz weiteren veränderungen unterworfen sind und auch unterworfen sein werden. bei den möglichen sehr weit gehenden implikationen und konsequenzen sowohl für betroffene als auch für die gesellschaft als ganzes aus diesem diagnosenbereich ist das zwar kein wunder, stellt aber trotzdem für ein imo dringend notwendiges verbreitetes öffentliches verstehen dessen, was sich an realen phänomenen hinter diesen diagnosen verbirgt, ein leider schwer zu überwindendes hindernis dar. das spüre ich selbst u.a. beim schreiben dieses beitrags, der mich seit monaten immer wieder vor probleme gestellt hat.
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und auch deshalb - um sozusagen eine art roten faden zu haben - versuche ich jetzt bereits im vorgriff, mein persönliches fazit kurz zu umreißen:
- der begriff "psychopathie" sollte nur auf eine ganz bestimmte gruppe von menschen angewendet werden, bei denen sich - dank der fortschritte der neurowissenschaften - deutliche psychophysische bzw. hirnanatomische veränderungen einer bestimmten art nachweisen lassen, welche ein eingrenzbares spektrum von bestimmten wahrnehmungs- und verhaltensweisen nach sich ziehen.
- die psychopathie in diesem sinne ist nicht automatisch gleichzusetzen mit der antisozialen bzw. dissozialen persönlichkeitsstörung - diese gleichsetzung ist ein weit verbreiteter irrtum, der aufgrund der ähnlichkeiten der symptome zwar verständlich ist, nichtsdestotrotz zu einer fehleinschätzung bzw. unterschätzung des problems der "echten" psychopathie führt, die sich, vom heutigen wissenstand ausgehend, eher als eine untergruppe der antisozialen ps begreifen lässt. borderline- und auch traumabetroffene können unter bestimmten umständen zwar zahlreiche oder auch alle symptome der antisozialen ps aufweisen, jedoch dürfte sowohl die innere dynamik dahinter als auch die prognose sowohl anders als auch beim letzteren positiver aussehen. für das teils direkt betroffene umfeld, welches unter den symptomen der verschiedenen störungen zu leiden hat, dürfte diese differenzierung erstmal egal sein - für das verständnis jedoch halte ich sie für sehr wichtig.
- eine weitgehende übereinstimmung dürfte hingegen zwischen der psychopathie und dem phänomen bestehen, welches seit helene deutsch als als-ob-persönlichkeit in der psychiatriegeschichte bekannt ist:
"1942 prägte Helene Deutsch den Begriff der sogenannten Als-ob-Persönlichkeit. Charakteristisch für die Als-ob-Persönlichkeit ist die Fähigkeit, ihre schwer gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen durch äußere soziale Angepasstheit zu maskieren. Ihre Patienten waren auf einer frühkindlichen Entwicklungsstufe fixiert, wo noch primitive Objektbeziehungen mit wenig Konstanz, eine mangelhafte Über-Ich-Entwicklung, Identitätsschwäche, Affektarmut und ein Mangel an Reflexion bestehen."
die deutlich psychoanalytische sprache wird später noch einmal thema werden, zumal sie etwas in die irre führen dürfte, was den tatsächlichen sachverhalt anbelangt.
- die bloße ersetzung des psychopathie-begriffs durch das wort "persönlichkeitsstörung", wie sie nicht nur in den wiki-artikeln, sondern auch in diesem sehr lesenswerten artikel stattfindet, ist imo nach den vorliegenden erkenntnissen nicht zu rechtfertigen. allerdings werden in diesem beitrag einige wichtige implikationen näher ausgeführt:
"Noch schwieriger wird es, wenn man die Biographien der Großen dieser Welt aus Politik, Wirtschaft und Militär, ja Kunst und Wissenschaft durchforstet. Das liest sich stellenweise wie die reine „Psychopathologie“, also die Lehre von den krankhaften Veränderungen des Seelenlebens. Sind also psychopathische Züge nur lästig, negativ, „minderwertig“? Erwachsen daraus nur missgestimmte, unbeherrschte, leicht erregbare, geltungssüchtige, gemütlose, fanatische, querulatorische oder wahnhafte Krankheitszüge? Oder sind die Psychopathen tatsächlich das „Salz der Erde“? Kurz: Ob Psychopathie oder Persönlichkeitsstörung genannt - es handelt sich zwar um ein alltägliches und doch weitgehend unbekanntes Krankheitsbild.
Das heißt: So unbekannt nun auch wiederum nicht, denn Persönlichkeitsstörungen sind ja nicht selten. Die Häufigkeit von Personen mit auffälliger Persönlichkeitsstruktur beträgt nach weltweiten Schätzungen knapp 10% (also allein im deutschsprachigen Bereich mehr als 10 Millionen).
Das irritiert erst einmal, wird aber dann verständlicher, wenn man auch die nicht-dominanten bis nach außen unauffälligen Beispiele heranzieht (s. o.). Oder mit anderen Worten: Die Persönlichkeitsstörungen dürften jene seelischen Krankheitsbilder sein, die das breiteste Leidensspektrum (und zwar nicht nur für die Betroffenen, auch für ihr näheres und weiteres Umfeld), die erstaunlichste Vielfalt und damit auch die größten Gegensätze in sich vereinen (zumal auch nicht wenige „Erfolgs-Storys“ unter diesen Menschen zu finden sind).
Nun soll sich der mangelhafte Kenntnisstand über diesen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung aber ändern. Denn diese „Stör-Bilder“ nehmen nicht nur zu, sie rücken auch ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Warum? Die Probleme, die sich aus den psychosozialen Konsequenzen ergeben (partnerschaftlich, familiär, nachbarschaftlich, Freundeskreis, beruflich, ja wirtschaftlich, politisch, kulturell u. a.) werden auch im Alltag immer bedrängender. Man denke nur an die sich offensichtlich fast epidemisch ausbreitende narzisstische Wesensart (ich - ich - ich), die auch zu einem Anstieg der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (siehe später) zu führen scheint."
hier sind einmal viele wesentliche aspekte zusammengefasst, die eine beschäftigung mit den diagnosen und psychophysischen zuständen, die hier thema sind, als dringend notwendig erscheinen lassen - auch und gerade mit der psychopathie. wie gesagt: der artikel ist sehr lesenswert.
- natürlich ist und bleibt der begriff "psychopathie" vor allem aus zwei gründen problematisch - einmal wäre da das im nationalsozialismus tödliche etikett "asozialer psychopath" :
"Unmittelbar mit der „Machtergreifung" der NSDAP 1933 begann die unverhöhlte, offene Hetze gegen sog. „Asoziale", psychisch Kranke, Behinderte, gegen sog. „Gemeinschaftsunfähige", was immer darunter zu verstehen war. Diese Kategorien, die zur Klassifikation der Bevölkerung gebildet wurden, erfaßten all jene, welche nicht dem „arischen" Ideal entsprachen, aber nicht in die rassistische Schablone des „Ewigen Juden" paßten. Asyliert wurden Nichtseßhafte, Alkoholiker, „asoziale" Tuberkulosekranke, um den „gesunden Erbstrom" der „Volksgemeinschaft" nicht zu schädigen. „Jugendschutzanstalten" wurden eingerichtet, in denen sog. „Schwererziehbare" interniert wurden; auch dies ein dehnbarer Begriff, dem alle dem „gesunden Volksempfinden" Zuwiderhandelnden zum Opfer fielen, so auch junge Frauen, die auf sexuelle Selbstbestimmung bestanden.
So fielen unter den Terminus „Asoziale" alle Ausländer, Angehörige politisch Verfolgter, Familien, aus denen ein Angehöriger sterilisiert worden war, Vorbestrafte, Rauschgiftsüchtige, Prostituierte, Landstreicher, „Unwirtschaftliche", „Arbeitsscheue", Sonderlinge, „Nichtsnutze aller Art", Verkehrssünder und „Raufbolde". 1938 sprach man von „getarntem Schwachsinn", unter den vor allem Fürsorgezöglinge fielen, von „moralischem Schwachsinn", womit vor allem unangepaßte Frauen und Mädchen gemeint waren. Die Begrifflichkeit „asozial" wurde zunehmend mit „Psychopathie" ineinsgesetzt und lieferte so die darunter subsumierten Menschen der „Euthanasie" aus."
wobei es mir als eine zynische ironie der geschichte erscheint, dass von heute aus betrachtet eher die führungsschichten der ns-diktatur diese etikettierung verdienen, was aber auch die gesellschaftliche bedingtheit nicht nur dieser diagnose nachdrücklich deutlich macht. und zum anderen spielt gerade diese bedingtheit auch eine wesentliche rolle gerade bei kriterien wie "Unfähigkeit zur Verantwortungsübernahme, gleichzeitig eine klare Ablehnung und Missachtung sämtlicher sozialen Normen" (...) "Fehlendes Schuldbewusstsein", wozu mertz hinsichtlich einer definition von persönlichkeitsstörungen im dsm-IV berechtigt feststellt:
"Die Persönlichkeitsstörung sei ein `überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten´, das `merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umwelt abweicht´. Damit wird die pathologische Komponente, die in vielen Erwartungen bzw. Normen einer immer auch mehr oder weniger krankmachenden sozialen Umwelt enthalten ist, zum `gesunden Maßstab´ erklärt bzw. verklärt."
(j. e. mertz, "borderline...." s. 176 (siehe literaturliste)
das sollte nicht schwer zu verstehen sein, was hier gemeint ist - was als gesund oder auch sozial akzeptabel zu gelten hat, bestimmt nicht nur in totalitären systemen im zweifelsfall die regierung und das strafgesetzbuch - dieses muster ist historisch aus etlichen diktaturen bekannt, wird verdeckt aber auch innerhalb der sog. demokratischen welt weiter angewandt - hier jedoch eher durch mehr oder weniger subtilen sozialen druck zur konformität an jeweils gültige norm- und wertsysteme. wenn sich jedoch diese normen und werte selbst als pathologisch entpuppen, weil zb. die normsetzenden eliten selbst überwiegend aus schwer gestörten personen bestehen - und u.a. für die realität dieser these versucht dieses blog, belege zu sammeln - dann ist eine schwer zu entwirrende situation geradezu vorprogrammiert, was bei der beschäftigung mit dieser materie hohe wachsamkeit verlangt. auch dieses sollten Sie beim lesen nicht nur dieses beitrags immer im hinterkopf behalten.
fortsetzung folgt.
heute schon mal etwas zum lesen dazu - ich werde vermutlich erst zum wochenende dazu kommen, selbst ein bißchen zu kommentieren (was ich bei der thematik allerdings auch reizvoll finde). mehr dann an dieser stelle.
einige der immer selteneren momente, in denen ich meine tv-abstinenz bedauere, werden innerhalb der nächsten drei tage liegen: arte startet eine kleine reihe zum thema Expedition ins Gehirn mit einem schwerpunkt hinsichtlich der zusammenhänge zwischen autismus und sog. savant-fähigkeiten - folge 1, heute abend (!) um 19.00 h: "Gedächtnis-Giganten":
"Kim Peek aus Salt Lake City ist der „wahre Rainman“. Er liest nicht, er scannt Buchseiten. Das visuelle System seines Gehirns erlaubt ihm offenbar, mit dem einen Auge eine Seite und mit dem anderen Auge parallel eine andere Seite zu lesen und den jeweiligen Inhalt in etwa acht Sekunden zu speichern. Genauso speichert Kim beliebige Daten, wie auf einer internen Festplatte: Melodien, Namen, historische Jahreszahlen, den Kalender, das komplette Fernsehprogramm, alle Telefonvorwahlen der USA, das Straßennetz aller Staaten. Doch Kim bezahlt einen Preis für seine geheimnisvollen Fähigkeiten: Kim galt als Kind als geistig schwerbehindert - ehe er mit vier die ersten Lexikonbände im heimischen Wohnzimmer auswendig konnte. Auch mit über 50 kann der Mega-Savant, wie ihn die Wissenschaftswelt bewundernd nennt, nicht allein für sich sorgen."
folge zwei: morgen, am 21.02., ebenfalls 19.00 h: "Der Einstein-Effekt":
"Der Dubliner Hirnforscher Prof. Michael Fitzgerald vertritt die Theorie, dass herausragende Kreativität sehr häufig mit den Fehlschaltungen von Autisten zusammengeht. Einstein, Newton, Mozart und Beethoven, so sagt Fitzgerald, seien extreme Begabungen gewesen, weil ihre Gehirne falsch verkabelt waren. Irgendwie so, wie die von Matt Savage und Stephen Wiltshire. An der Universität Sydney versucht Prof. Alan Snyder deshalb, bei Versuchspersonen Teile des Hirn zeitweilig zu lähmen, um aus ihnen eine größere Kreativität herauszuholen: „Faszinierend“, sagt Snyder, „dass man Teile unseres Gehirns abschalten muß, damit unsere schöpferischen Kräfte sich entfalten können.“ Doch Snyders Experimente sind höchst umstritten."
(isaac newton war ja hier vor kurzem erst ein thema).
folge drei: mittwoch, 22.02., 19.00 h: "Der große Unterschied" - u.a. wird hier auch etwas über temple grandin zu erfahren sein, zu der es hier mehr zu lesen gibt.
"Baron-Cohens Erkenntnisse brechen mit dem gesellschaftlich erwünschten Dogma, dass Männer- und Frauen-Gehirne sich nur unwesentlich unterscheiden. Die Fehlkonstruktion des extrem männlichen Gehirns kann Genies und Monster hervorbringen - und Savants: Als kleines Mädchen sprach Temple Grandin gar nicht. Und danach hänselten die anderen Schulkinder sie, weil sie „wie ein Cassetten-Recorder“ aufgeschnappte Worte und Sätze nur abzuspielen schien. Menschensprache hat sie sich - Dank ihrer herausragenden Intelligenz - als „Fremdsprache“ angeeignet. Die Sichtweise von Tieren aber, die ebenfalls nicht in Sprache, sondern in Bildern „denken“, kennt Temple wie ihre Muttersprache. Prof. Baron-Cohen meint, dass in Temples Kopf ein eigentlich männliches „System“-Gehirn arbeitet. Dr. Temple Grandin ist heute die wichtigste Frau in der Viehindustrie der Steak- und Burger-besessenen USA. Sie hat mehr als die Hälfte aller Tierzuchtanlagen des größten fleischproduzierenden Nation der Welt designt, weil sie die Ängste der Kühe, Schweine oder Schafe genau kennt. Doch die Gefühls- und Denkwelten der Normalmenschen wird sie nach wie vor nicht verstehen. Sie wird sich nie im Leben verlieben können."
ich würde mich sehr freuen, wenn es unter den leserInnen hier vielleicht einige gibt, die diese reihe aufzeichnen könnten - diese sendungen versprechen, interessant zu werden.
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dem hinweis eines lesers verdanke ich die erstmalige kenntnisnahme der "philosophie des als-ob" von hans vaihinger, auf die sich interessanterweise auch im "neurolinguistischen programmieren" bezogen wird - dieser spur nachzugehen, verspricht ebenfalls einiges (u.a. leider eine verzögerung der fortsetzung des nlp-beitrags ). für weitere infos und hinweise bezgl. der wirkung und des einflusses dieser philosophie, von der es bei wikipedia heißt "Weitgehend vereinbar ist die Philosophie des Als Ob auch mit dem Konstruktivismus (...)", wäre ich sehr dankbar. ebenfalls für weitere informationen zum 2005 in halle gegründeten als-ob-institut, welches sich mit der obengenannten philosophie beschäftigt. online lässt sich zur arbeit dieses instituts bisher so gut wie nichts finden.
(das folgende lässt sich als ergänzung/fortsetzung dieses beitrags lesen.)
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die zeit arbeitet in einem neuen artikel an der rehabilitation der gefühle, in dem sich u.a. diese behauptung findet:
"Entscheidungen ohne Gefühle gibt es gar nicht. Der Homo oeconomicus, der die Alternativen rein rational abwägt, erweist sich als Fiktion der klassischen Wirtschaftstheorie."
jein. wer sich mit phänomenen wie dem autismus, der klassischen psychopathie und eben auch der alexithymie näher beschäftigt, könnte sehr wohl zu dem schluß kommen, dass es sich hier um versuche zur angleichung an das "ideal" des "homo oeconomicus" handelt (oder aber das modell des "homo oeconomicus" nach den primären strukturellen eigenschaften der genannten störungen konstruiert ist...) - genau diese befürchtung (nicht nur von mir) war ja bereits öfter thema hier. ich hätte mir gewünscht, das das thema der simulation von gefühlen nicht so vollständig unter den tisch fällt.
und hätte sich der autor mal genauer diesen - von ihm selbst oder der redaktion - verlinkten artikel angeschaut, so hätte er selbst entsprechende schlüsse ziehen können. eine art populäre einführung ins thema alexithymie, etliches ist bereits im älteren blogartikel dazu erwähnt - einiges jedoch verstärkt ganz persönliche spekulationen meinerseits:
"Bislang haben Wissenschaftler nur Vermutungen, warum manche Menschen so schlecht mit Gefühlen zurechtkommen. Die beiden plausibelsten: Entweder haben sie es als Kind nie gelernt, oder sie haben es wegen eines traumatischen Erlebnisses wieder verlernt."
man(n) braucht nicht professionell wissenschaftlich tätig zu sein, um mit ein wenig nachdenken selbst darauf zu kommen. und auch darauf, dass das in einem widerspruch zur folgenden behauptung steht:
»Alexithymie ist keine Krankheit, sondern ein gleichmäßig in der Bevölkerung verteiltes Persönlichkeitsmerkmal«, stellt Harald Gündel klar. »Es gibt Menschen, die mit Gefühlen gut umgehen können, und eben welche, die damit schlecht umgehen können.«
das erinnert nicht zufällig an die hier im ersten blogbeitrag zum thema dokumentierte behauptung, dass die alexithymie deswegen keine krankheit sei, weil sie den erfordernissen einer modernen industriegesellschaft ganz gut entsprechen würde. und wieder drängt sich der eindruck auf, dass ein durch prä-, peri- oder postnatale traumatische (in einem weitgefassten sinne) einflüsse erzeugter defekt von einigen leuten unbedingt als quasi zufälliges "persönlichkeitsmerkmal" dargestellt wird - warum, wenn es sich denn bei den genannten wahrscheinlichen ursachen doch um deutlich krankheitswertige einflüsse handelt?
dazu geht es hier nicht um den "guten" oder "schlechten" umgang mit gefühlen, sondern um ihre schlichte wahrnehmung - erstaunlich unpräzise, diese behauptung eines professionellen.
"Manchmal kann es auch praktisch sein, emotionale Zwischentöne einfach zu überhören. Ein alexithymer Uhrenhändler aus Düsseldorf erzählt, dass er ein außergewöhnlich guter Verkäufer sei. Menschen, die schachern wollen, auf die Tränendrüse drücken oder etwas vom letzten Wunsch der Großmutter erzählen, haben bei ihm keine Chance - es perlt an ihm ab. Als ihm seine Frau allerdings neulich weinend erzählte, ein guter Freund sei gestorben, nahm er sie nicht etwa in den Arm und tröstete sie, sondern musste grinsen."
regelmässige leserInnen hier werden sich darüber ihre eigenen gedanken machen können, ebenso wie über folgendes:
"Manche Alexithyme könnten sich aber auch nach einem traumatischen Erlebnis abrupt ihren emotionalen Empfindungen und Wünschen verschlossen haben. Gefühlsblindheit wäre dann eine Anpassungsstrategie des Gehirns, die sie vor dem bewussten Erleben einer Flut negativer Gefühle bewahren soll. Dafür spricht die Entdeckung von Traumaforschern, dass selbst das Gefühlsleben von Erwachsenen noch erstarren kann, wenn sie etwa großer Brutalität ausgeliefert sind."
ich wünsche mir ja dringend forscherInnen, die sich die erkennbaren verbindungen zwischen den bereichen autismus - pränatale prägungen - persönlichkeitsstörungen - psychotraumatologie - sozioökonomische gesellschaftliche strukturen mal systematisch näher betrachten würden - aber es könnte natürlich passieren, dass das schwer verstörende ergebnisse bringen würde.
...der infantizidalen kulturellen bedingungen, unter denen bis heute weltweit diverse existenzielle probleme unserer spezies entstehen, werden die folgenden informationen ein weiteres puzzlestückchen darstellen - und dazu machen sie wieder einmal explizit die unrühmliche rolle religiöser institutionen deutlich:
Sie wurden geschlagen, erniedrigt und eingesperrt. Unter oft unvorstellbaren Bedingungen wuchsen in den fünfziger und sechziger Jahre Hunderttausende Kinder und Jugendliche in kirchlichen Heimen auf. "Wir waren Zwangsarbeiter", sagen sie heute. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. (...)
Rund 80 Prozent der Heime waren in konfessioneller Hand. Insbesondere die katholischen Frauen- und Männerorden führten jahrzehntelang zahlreiche Erziehungsanstalten. (...) Die alte Mönchsregel "Bete und arbeite" erlebte eine perverse Renaissance in diesen konfessionellen Erziehungsheimen der jungen Bundesrepublik.
In der Diakonie Freistatt bei Diepholz, einer Zweigstelle der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, wurde sie brutal umgesetzt. Freistatt mit seiner Presstorfproduktion, mit seinen Schlossereien und Schmieden war als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, der die billigen Arbeitskräften ausnutzte. Wenn nicht gerade Choräle gesungen wurden, mussten die 14- bis 21-Jährigen im Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen. (...)
Diese mussten nach ihrer Ergreifung den Torf in schweren "Kettenhosen" stechen, die nur Trippelschritte erlaubten. Selbst zum Kirchgang mussten die Jugendlichen die Beinschellen tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die inzwischen auf sechs Häuser angewachsene Diakonie Freistatt ständig überfüllt. In den fünfziger Jahren waren in Freistatt etwa 500 junge Männer eingesperrt. Damals war es noch üblich, dass Neuankömmlinge, die etwa aus anderen Heimen entwichen waren, aus Schikane anfangs auf dem Boden schlafen mussten.
Trotz des Verbots staatlicher Stellen, zu züchtigen oder als Strafmaßnahme die Haare abzuschneiden, prügelten die Erzieher in Freistatt, meist evangelische Diakone, munter weiter. 1960 beanstandete das Landesjugendamt Hannover "die Verwendung von Forkenstielen, Torflatten, Pantoffeln und Besenstielen als Züchtigungsmittel".(...)
und in der zeit zum gleichen thema:
"Ja, räumt der Mönch schließlich ein, man habe schon mal Störenfriede in einen »Besinnungsraum« gesteckt. »Aber nur kurz.« Besinnungsraum? Oder Bunker? Gerald Hartford erinnert sein Gegenüber daran, dass er viele Wochen in dieser Zelle, auf einer Holzpritsche ohne Matratze, in der Ecke ein Eimer für die Notdurft, zubringen musste. Der Jugendliche hatte vergeblich versucht, dem Arbeitszwang, den ständigen Schlägen und Demütigungen der Salvatorianerbrüder durch Flucht zu entkommen."
und dazu werden interessante details zu den lebensbedingungen nach dem zweiten weltkrieg in deutschland deutlich:
"In den Jahren nach 1945 zogen mehr als 100000 Kinder und Jugendliche bindungs-, heimat-, berufs- und arbeitslos durch Deutschland. Viele Familien waren zerrissen, weil die Väter erst nach Jahren aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten. Soziologische Studien kommen zu dem Urteil, dass nur zehn Prozent der Familien Ende der vierziger Jahre »heil« waren. Die Wohnungen waren häufig eng, eigene Zimmer hatten die wenigsten Kinder. Das Durchschnittseinkommen einer Familie betrug 1955 nur 280 Mark im Monat. Ein Kind ins Heim zu geben war eine vergleichsweise bequeme und billige Lösung."
wobei der krieg die traumatischen bedingungen in vielen fällen nicht primär ausgelöst, aber deutlich verschärft haben dürfte. unabhängig davon: das dokumentierte elend sollte gegen jede tendenz immun machen, den sog. "christlichen westen" irgendwie als "fortschrittlicher" zu halluzinieren als andere regionen des planeten - auch und gerade vor dem hintergrund des von fundamentalistInnen diverser coleur konstruierten "kulturkampfes". das "der westen" in bestimmten bereichen real ein mehr an freiheit zulässt - wenn auch unter ständigen rücknahmedrohungen - ist gerade nicht das verdienst derjenigen, die jetzt bestimmte soziale fortschritte, die bevorzugt von rechter und reaktionärer seite bis heute immer bekämpft worden sind, für ihre eigenen interessen instrumentalisieren und als waffe gegen den fundamentalistischen islamismus benutzen möchten. ganz im gegenteil: die weitaus meisten dieser fortschritte mussten (und müssen) gerade gegen diese fraktionen immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden.
und dazu: besonders institutionalisierte religionen sind weniger "opium", als vielmehr und historisch nachweisbar in massenhafter dimension lebensverneinend, machthörig und tödlich.
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edit am 20.02.: bei spon findet morgen ein chat mit zwei ehemaligen heimkindern statt - im artikel dazu findet sich ganz am ende ein zitat, welches geradezu paradigmatisch für eine mögliche und weit verbreitete folge von psychotraumatisierungen stehen kann:
"Mit dem Verstand sagt er sich dann: "Mensch, ich hab doch was erreicht." Aber es nützt nichts. "Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Dieses Gefühl sagt mir immer: Versteck dich, verkriech dich in eine Ecke, wo dich niemand sieht."
es ist keinesfalls übertrieben, folgendes als these aufzustellen: bei diesem gefühl handelt es sich um eine tragende säule innerhalb von machthierarchien - menschen in einem solchen zustand (eine folge der verdinglichung letztlich, die die thematisierte gewalt im kern ausmacht) sind erstens leicht manipulierbar; zweitens weitgehend unfähig dazu, eigene interessen zu erkennen/zu vertreten; drittens innerhalb von kollektiven strukturen (keine schein- oder zwangskollektive) weitgehend "funktionsunfähig", da diese eine voll entwickelte subjektivität voraussetzen; viertens aber - unter ganz bestimmten bedingungen - auch fähig zu extrem destruktiven bzw. antisozialen verhaltensweisen, was letztlich kein wunder ist - stichworte sind hier einmal re-inszenierungen, aber auch eine art von rache, die nicht mit den verbreiteten klischees über rache verwechselt werden darf.
alle gerade genannten eigenschaften sind geradezu prädestiniert dafür, im interesse von machtstrukturen instrumentalisiert zu werden.