tja, wenn ein autor polemisch sein möchte, und sich über die geschichte der objekte seiner polemik entweder nicht im klaren ist und/oder aber diese noch nie genauer betrachtet hat - dann kann dabei so etwas herauskommen:
"Krankheiten kommen und gehen. Manche verschwinden einfach. So wie die Hysterie, die Ende des 19. Jahrhunderts als nervöses Frauenleiden hoch im Kurs stand. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erwarb sich seine ersten Meriten mit den 1895 veröffentlichten „Studien über Hysterie“. Heute ist dieses merkwürdige Leiden praktisch verschwunden, es hat sich aufgelöst wie ein Federwölkchen in der Mittagssonne. Genauso wie einige andere Störungen, etwa die „vegetative Dystonie“ oder die „Neurasthenie“. Hoch im Kurs steht dafür zurzeit das „Borderline-Syndrom“, während die „multiple Persönlichkeit“ schon wieder auf dem absteigenden Ast ist."
lieber herr wewetzer, hiermit möchte ich Sie darüber informieren, dass Sie einem verbreiteten "als-ob"-eindruck aufgesessen sind - bei betrachtung der tatsächlichen verhältnisse ergibt sich bezgl. der oben genannten diagnosen doch ein etwas komplexeres bild:
erstens, die hysterie in der klassisch freudschen-psychoanalytischen fassung hat nach heutigem wissensstand bereits damals schon störungsbilder bezeichnet, die heute entweder unter borderline und/oder dissoziativer persönlichkeitsstörung und/oder posttraumatischer belastungsstörung (da wäre die hysterie als ersatzdiagnose dann eben auch als vertuschungsdiagnose zu werten) und/oder aber der "offiziellen" diagnostischen nachfolgerin der hysterie, der histrionischen persönlichkeitsstörung klassifiziert werden. dazu kommt der aspekt, der beziehungskrankheiten in ihrem erscheinungsbildern so rätselhaft machen kann: die symptome der "klassischen" hysterie enthielten so ziemlich alles, was in den damals herrschenden frauenbildern der bürgerlichen gesellschaft an geschlechterstereotypen zu finden war - ohnmacht, passivität, theatralische gefühle, überdrehte verzweiflung... die gesellschaftlichen veränderungen des frauenbildes berücksichtigend, verwundert es deshalb nicht allzusehr, das heute "dieses merkwürdige Leiden praktisch verschwunden" ist - in der form wie zu freuds zeiten sicherlich.
zweitens, die "vegetative dystonie" war tatsächlich immer eine pseudodiagnose, die - und das finde ich besonders bemerkenswert - faktisch nur in der alten brd während der 1960er und -70er jahre eine rolle gespielt hat - und sonst nirgends auf der welt. seit zehn bis fünfzehn jahren taucht innerhalb derjenigen forscherInnen und praktikerInnen, die sich aus verschiedener perspektive mit dem thema trauma beschäftigen, häufiger die spekulation auf, dass sich hinter dieser "diagnose" tatsächlich in der mehrzahl aller fälle (post-)traumatische störungen aus dem zweiten weltkrieg bei kriegs- und fluchtbetroffenen zivilpersonen in deutschland versteckt haben, die - weil gesellschaftlich tabuisiert - zum zeitpunkt ihres erscheinens nicht offen angesprochenen und erst recht nicht "erkannt" werden sollten und durften (einer meiner engsten verwandten* hatte übrigens auch diese "diagnose", und vor meinen erinnerungen betrachtet, enthält die obige hypothese für mich einigen sinn.)
im zukünftigen basisbeitrag "trauma" werde ich auf die "vegetative dystonie" näher eingehen.
drittens, die neurasthenie lässt sich bis heute noch in der icd finden, in der aktuellsten deutschen version unter f48.0; hatte aber ihre "hochzeit" vor dem ersten weltkrieg (siehe dazu auch zb. das buch "Das Zeitalter der Nervosität" von joachim radkau) und wird meines wissens nach - ebenfalls von minderheitenpositionen innerhalb der medizin- bzw. psychiatriegeschichte - als vorläuferin zweier heute wohlbekannter diagnosen angesehen: einmal dem sog. burn-out-syndrom, zum anderen aber - und das war ebenfalls für mich eine echte überraschung - vom "aufmerksamkeitsdefizitsyndrom" ad(h)s. betrachtet man(n) die relativ unspezifischen (eine gemeinsamkeit mit der hysterie) neurastheniesymptome, und macht sich dazu klar, dass in der vergangenheit unter dieser diagnose hauptsächlich männer erfasst wurden, so legt das die folgenden schlüsse nahe: zum einen, dass es sich hier vielleicht um das "komplementär" zur hysterie ("frauenkrankheit") gehandelt haben könnte, zum anderen aber, dass möglicherweise - gerade bei beachtung der kinderverstümmelnden erziehungspraktiken der damaligen zeit - auch hier von (post-)traumatischen folgen - hauptsächlich eben bei männern - ausgegangen werden könnte, die wiederum durch eine weitere individualisierende diagnose unter wissenschaftlicher mithilfe quasi "vertuscht" worden sind.
viertens stimmt zwar die beobachtung, dass borderline schon seit jahren sozusagen "im trend" liegt - aber dazu sollte auch erwähnt werden, dass die diagnostische konstruktion "borderline" sehr wahrscheinlich nur teilwahrheiten über die dahinterstehende komplexe realität aussagt - mehr dazu lässt sich hier in den entsprechenden beiträgen nachlesen.
die "multiple persönlichkeit" hingegen firmiert heute unter der dissoziativen persönlichkeitsstörung, weist zudem etliche querverbindungen richtung borderline und posttraumatischen störungen auf (klassische komorbiditäten alle drei) und ist meines wissen leider alles andere als "auf dem absteigenden ast".
und während ich mir das alles nochmal so anschaue, kommt mir der gedanke, dass die obigen diagnostischen modelle - fast alle von der zeit ihrer entstehung an bis heute heftig umstritten - vielleicht genau in ihrer wechselhaftigkeit eines der zentralen merkmale von beziehungskrankheiten wiederspiegeln: die gedanklichen konstrukte der diagnosen scheinen ebenso wie die phänome, die sie zur erfassen versuchen, ihre inhalte/identität zu wechseln - und zwar zu einem großteil ebenfalls anhand des jeweiligen kulturellen und sozialen zeitgeistes.
jedenfalls scheinen mir die genannten beispiele nicht besonders tauglich zu sein zur kritik dessen, was der herr wewetzer eigentlich aufs korn genommen hat: das "disease mongering" ist auch nach meinem eindruck durchaus sowohl als problem/ausdruck als auch symptom kapitalistischer logik zu betrachten, und dass die pharmakonzerne - wie alle anderen profitorientierten unternehmen - keinesfalls primär aus humanistischen und altruistischen motiven handeln, ist eine binsenweisheit. aber wie eingangs schon gesagt: etwas mehr könnte - und sollte - sich auch der autor einer polemik mit seinem gegenstand beschäftigen.
(*hier stand ursprünglich ein genauerer begriff, den ich aber aus verschiedenen gründen geändert habe).
***
und wo ich schon gerade mal am herumnörgeln bin, möchte ich das gleich weiter betreiben - der journalist und autor ulf poschardt äußert sich in einem radiointerview zu seinem neuen buch "Einsamkeit - Die Entdeckung eines Lebensgefühl" zu mehreren punkten derart, dass ich heftig widersprechen möchte:
"Was ist für Sie Glück?
Ulf Poschardt: Glück ist der Versuch, seinem Leben beim Gelingen habhaft zu werden. Glück ist trainierbar: aus Erfahrung und Instinkt, Reflexion und emotionaler Balance kann jeder Mensch für sich die richtige Harmonie finden. Glück ist ein dynamisches Konzept: es ist ebenso schnell erkämpft wie verflogen. Glücklich sein zu wollen, fordert den Menschen. Es ist kein Geschenk des Himmels."
*grmpf* managementgeschwätz - glück ist keinesfalls "trainierbar", genausowenig "erkämpfbar" - es ist primär eine wahrnehmung, die gerade dann umso flüchtiger werden wird, je mehr versucht wird, sie bewusst anzustreben. trainierbar sind in einem gewissen sinne höchstens die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten. aber was poschardt da sagt, läuft imo lediglich auf die zehntausendste version der alten und üblen ideologie hinaus: "alles ist machbar".
"Der konstruktive Ansatz des Buches versucht, die Traumatisierung der Einsamkeit als Teil seiner mitunter verheerenden Wirkung zu erklären. Indem mein Buch der Einsamkeit ihren schlechten Ruf raubt, eröffnet es neue Chancen. Zudem appelliert es an den unglücklich Einsamen, nicht in Trauer und Selbstmitleid zu versinken, sondern Momente der Einsamkeit als Chance und Glücksfall zu begreifen."
das wörtchen "konstruktiv" ist hier vielleicht als leitfaden zu begreifen - erstens muss meiner ansicht nach deutlich zwischen alleinsein und einsamkeit unterschieden werden - ersteres ist ein eigentlich für uns alle existenziell notwendiger zustand, dessen ausmaß und gestaltung individuell sehr unterschiedlich sein kann. alleinsein ist zur eigenen besinnung und zur eigenen reproduktion unverzichtbar, und ich bin gegenüber menschen, die nicht alleine sein können, recht mißtrauisch - imo verweist eine solche unfähigkeit auf ernste probleme.
einsamkeit hingegen kenne ich selbst genauso gut wie alleinsein, und beides sind - für mich - deutlich unterscheidbare zustände. sie ist von generell schmerzhafter natur - einsamkeit lässt sich imo ähnlich betrachten wie ein hungergefühl: ein mangel ist vorhanden, etwas existenziell notwendiges fehlt - und unsere psychophysische ausstattung lässt uns das über die zugehörige wahrnehmungen spüren. alleinesein kann ich genießen, und ich muss mich dabei keinesfalls einsam fühlen - mit sich selbst gut umzugehen, und die eigene zeit mit sich erfüllend zu gestalten und zu genießen, zeichnet zustände von alleinesein dann aus, wenn ich (mich selbst) gut wahrnehmen kann. oder besser: wenn ich sein kann.
einsam sein hingegen bedeutet, aktuell oder innerhalb beliebiger zeiträume beziehungslos (im weitesten sinne begriffen) zu sein, auch und gerade zu sich selbst (was dann die quasi automatische folge nach sich zieht, auch gegenüber anderen beziehungslos zu sein). und solche momente lassen sich imo keinesfalls als "Chance und Glücksfall" begreifen. ich meine, dass poschardt hier der eben erwähnten verwechslung aufsitzt. wobei: die wahrnehmung von einsamkeit als "chance und glücksfall" lässt sich vielleicht von denjenigen konstruieren (als objektivistische wahrnehmung), für die eine allgemeine und umfassende beziehungslosigkeit eh schon den normalfall darstellt. diese situation kann unter umständen mit diversen fiktionen bzw. simulationen "gefüllt" werden, wie wir gesehen haben. weitergedacht könnte das auch bedeuten, dass die fähigkeit der wahrnehmung von einsamkeit eigentlich etwas positives ist, ließe sie doch den rückschluss zu, dass der wahrnehmende mensch auch schon das gegenteil kennengelernt haben muss. aber vorsicht: auch dieser kontrasteffekt lässt sich vom objektivistischen bewußtsein konstruieren, eine simulative persönlichkeit zb. kann sich aus der objektiven beobachtung dieses kontrastes (anhand von erzählungen anderer bspw.) eben eine genauso objektive nachbildung dieses effektes zusammenbasteln.
weiter im interview:
"Am Ende Ihres Buches heißt es: "Die Unmöglichkeit Liebe zu finden, ist die einzige Entschuldigung für Einsamkeit." Wenn es nun aber jemandem wirklich unmöglich ist, die Liebe zu finden, kann die Einsamkeit dann dennoch ein Lebensgefühl sein, das ein Leben lang beglückend ist?
Das will ich nicht ausschließen. Jeder muss nach seiner Fasson glücklich werden. Mir ging es am Ende nur darum, die Einsamkeit nicht als Lösung aller sozialen Probleme zu überhöhen. Das wäre eine billige Lösung. Weit verbreiteter Autismus führt eine Gesellschaft in den Untergang."
den letzten satz unterschreibe ich - natürlich.
aber ich bezweifle, ob poschardt hier tatsächlich weiß, worüber er eigentlich redet. die einsamkeit als ein "lebenslang beglückendes lebensgefühl" anzusehen, stellt für - wieder in relation - gesunde menschen ein ding der unmöglichkeit dar. stellen Sie sich nur mal vor, Sie würden dazu aufgefordert werden, hunger als "lebenslang beglückendes lebensgefühl" zu betrachten - nichts weiter als eine unverschämte zumutung.
und diese zwanghafte perspektive "jeder muss (!) nach seiner fasson glücklich werden" - schon wieder managementgeschwätz. vor nichts scheint eine gewisse (und gesellschaftlich tonangebende) art von menschen so viel angst zu haben wie vor der erkenntnis, dass eben nicht alles im leben einen guten ausgang nimmt; dass für uns alle grenzen existieren, dass nicht alles machbar und nicht jede existenzielle schädigung korrigierbar ist. stattdessen "sei glücklich!" als quasibefehl. daraus lassen sich zwar fiktionen und simulationen konstruieren, die ein happy-end besitzen mögen - aber mit der realität hat das dann eben nicht mehr eben viel zu tun. es gibt ereignisse und verluste, die nicht oder nur mit schweren konsequenzen zu verarbeiten sind - und gerade die beziehungskrankheiten zeigen das in aller deutlichkeit. ich habe das gefühl, hier will poschardt den "weit verbreiteten autismus" - vermutlich als metapher gemeint, aber eine durchaus treffende beschreibung - mittels empfehlungen zur simulation eher unsichtbar machen.
richtig unsinnig wird es dann spätestens hier:
"Auf das oben genannte Zitat bezogen: Ist Einsamkeit etwas, wofür sich der Mensch entschuldigen muss? Gerade in einer Zeit, in der jüngeren Menschen Bindungs- und Kinderlosigkeit vorgeworfen wird?
Niemand muss sich entschuldigen. Dieses Buch verhindert Stigmatisierung. Der Einsame kann ein künftiger, glücklicher Familienvater sein. Die ewig Einsame eine hervorragende Mutter und Patentante."
schlicht und einfach zu den letzten aussagen: nein. wer beziehungslos ist und das durch die wahrnehmung als einsamkeit "angezeigt" bekommt, kann nur innerhalb von und mittels simulationen ein "glücklicher Familienvater" oder eine "hervorragende Mutter" sein. nicht aber in der realität, in der das gleichzeitige vorhandensein von einsamkeit und authentischer beziehung ein ding der schieren unmöglichkeit darstellt. während das alleine sein innerhalb von authentischen beziehungen, wie schon gesagt, eher als notwendigkeit zu begreifen ist.
innerhalb der letzten tage ließen sich etliche berichte und artikel finden, die hinsichtlich der thematiken dieses blogs aufschlußreich sind - eine kommentierte auswahl:
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der tagesspiegel aus berlin kommt heute mit einigen hintergrundinformationen zum thema mütter und infantizid:
(...)"Experten gehen in Deutschland von jährlich 40 bis 50 Fällen der Kindstötung durch die Eltern (Infantizid) aus, die entdeckt werden.
Häufig töten Mütter nach Aussagen von Psychologen, weil sie aus ihrer eigenen Situation keinen Ausweg sehen und das Kind nicht allein leben lassen wollen. Die meist gebildeten Mütter begehen dann einen «erweiterten Selbstmord». So ertränkte eine geistig verwirrte Krankenschwester im Mai 1999 bei Stendal (Sachsen-Anhalt) ihre zwei Kinder und versuchte anschließend, sich selbst das Leben zu nehmen. Sie wollte ihren Kindern «ein schlimmes Leben ersparen».
Allein Erziehende mit mehreren Kindern oder emotional instabile Frauen, die an einer so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, fühlen sich mit der Erziehung oft überfordert. Zwischen 1992 und 1996 erstickte eine Mutter mit Borderline-Syndrom ihre drei Kinder in Ratekau (Schleswig- Holstein), weil sie nicht aufhörten zu schreien.
Sterben Kinder an den Folgen von Vernachlässigung, stammen die Eltern meist aus sozial schwachen Verhältnissen. So verhungerte die siebenjährige Jessica aus Hamburg im März 2005 qualvoll. Die arbeitslosen Eltern hatten ihre Tochter in einem völlig dunklen, ungeheizten Zimmer wie eine Gefangene gehalten.(...)"
"fälle, die entdeckt werden" - und die betonung ist wichtig.
die hinweise auf zusammenhänge mit borderline und/oder der ökonomischen lage in infantizidalen familien sind nichts grundsätzlich neues; dazu werden noch "auslöser" wie drogenabhängigkeit (hinter der in sehr vielen fällen aber auch traumatische biographien und/oder persönlichkeitsstörungen zu finden sind) sowie die klassische wochenbettpsychose genannt. um dann mit dem hinweis auf die hier schon öfter thematisierte transgenerationelle gewaltspirale zu schließen:
"Vielen gewalttätigen Müttern wurde in der Kindheit selbst Gewalt zugefügt, wie in etlichen Prozessen zu Tage kam."
wie wäre es denn, daraus mal endlich konsequenzen zu ziehen? hm?
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wir bleiben beim thema und landen in der taz, die vor ein paar tagen wieder einmal eine der meist sehr lesenswerten reportagen von gabriele goettle veröffentlichte, die dieses mal unter der überschrift "Kindesmisshandlung - Eine Rechtsmedizinerin erzählt" eine forensisch tätige medizinerin aus ihrer praxis erzählen lässt, zu der auch ein bisher einmaliges forschungsprojekt gehört:
"Am Leipziger Institut für Rechtsmedizin arbeitet Frau Dr. Ulrike Böhm mit einem kleinen Team seit längerem an einer Studie über "Tödliche Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung in der BRD vom 3. Oktober 1990 bis 31 Dezember 1999".
ich kann den ganzen artikel allen interessierten nur empfehlen.
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das filmfestival ausnahmezustand wird ab dem 27. april bis zum oktober in 70 deutschen städten station machen:
"Gezeigt werden aktuelle Dokumentationen aus den USA, der Schweiz, Norwegen, Italien, Frankreich und Deutschland, die hierzulande noch nicht im Kino zu sehen waren, erklärt Projektkoordinator Hans Habiger. Acht Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten, beschäftigen sich mit Depressionen, Psychosen, Schizophrenie, Essstörungen oder Suizid. Im Zentrum steht die Wahrnehmung der Betroffenen und die Auswirkungen der seelischen Erkrankungen für deren Umfeld. Spielfilme wurden ganz bewusst ausgeklammert."
klingt sehr spannend, und sollte gerade vor dem hintergrund des folgenden wirklich viele zuschauerInnen finden:
"Denn psychische Erkrankungen sind ein ernst zu nehmendes Problem. Jeder Dritte Europäer durchlebe nach Angaben der Veranstalter einmal in seinem Leben eine größere psychische Krise. Bei vierzig Prozent der Betroffenen drohe die Gefahr, dauerhaft zu erkranken, besagt eine Studie der TU Dresden. Markos Kyprianou, Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz der EU, geht sogar noch einen Schritt weiter: "Psychische Erkrankungen sind Europas unsichtbare Killer."
und weisen damit auch wieder auf die sozialen verhältnisse zurück, die eine wesentliche rolle bei der entwicklung vieler psychophysischer störungen spielen.
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das autismus in vermutlich allen seinen möglichen bekannten und noch unbekannten varianten zentral etwas mit störungen der selbst- und fremdwahrnehmung zu tun hat, und sich diese auch in dem finden und manifestieren, was sich als "senso-motorische fähigkeiten" bezeichnen lässt, diese these ist hier im blog nicht unbedingt unbekannt und wird jetzt durch neue forschungen untermauert:
"(...) Vor allem beim Erkennen so genannter biologischer Bewegungsmuster schneiden die jungen Asperger-Autisten schlecht ab. Um herauszufinden, warum ihre Bewegungswahrnehmung verändert ist, führt Christine Freitag ihren Patienten einen kleinen Film vor. Er zeigt einige tanzende weiße Punkte vor schwarzem Hintergrund. Manchmal ergeben die weißen Punkte einen gehenden Menschen.
Wir haben hinterher auch die Reaktionszeiten gemessen, wie schnell sie diese Person erkannt haben. Und da hat sich auch deutlich gezeigt, dass sie eben auch deutliche Probleme haben, die wahrzunehmen. Das heißt, es ist kein Problem des Sehsystems, sondern es ist ein Problem, das tiefer liegt, nämlich auf der Ebene der automatisierten Wahrnehmung von Bewegungsmustern. Also das ist offensichtlich bei autistischen Jugendlichen sehr viel schlechter ausgeprägt als bei den Kontrollen.
Was genau bei der automatisierten Wahrnehmung von Bewegungsmustern bei den autistischen Jugendlichen schief läuft, zeigen Aufnahmen mit dem so genannten Kernspintomographen. Dieses bildgebende Verfahren erlaubt den Forschern einen Blick in das arbeitende Gehirn. Bei den Jugendlichen mit Asperger Syndrom waren einige Bereiche in der linken Gehirnhälfte nicht aktiv.
Diese Zentren, die normalerweise aktiviert werden, wenn biologische Bewegung verarbeitet wird, wurden bei den autistischen Jugendlichen einfach nicht aktiviert. Das heißt, offensichtlich nehmen die diese Bewegung aus dem Grund schlechter wahr, weil da in dem Schläfenlappen das Gehirn anders funktioniert als bei gesunden Jugendlichen.(...)"
die mögliche bedeutung dieser information wird für die meisten unter uns vermutlich erst dann deutlicher werden können, wenn allgemein ein größeres bewusstsein über die rolle bspw. von propriozeption und vestibulärer wahrnehmung vorhanden ist, die sehr viel sowohl mit unseren bewegungsmöglichkeiten als auch unserem selbstgefühl zu tun haben. die meldung verstärkt meine bereits vorhandenen überlegungen, "wahrnehmung" zukünftig als eigenen schwerpunkt im blog zu behandeln.
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zum thema "familienpolitik" bzw. der "neuen mütterlichkeit", die momentan verstärkt gepredigt wird, eventuell in den nächsten tagen mehr - ich bin aus diversen gründen z.zt. zu sehr genervt, sowohl von der form als auch den inhalten dieser medial-öffentlichen debatte.
beim wiederholten lesen der letzten beiden beiträge geht es mir so, dass mir selbst viele fragen, ergänzungen und weitergehende gedanken in den kopf kommen - die sollen hier unsortiert gesammelt werden.
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zunächst ein paar interessante links: ich hatte u.a. geschrieben, dass es innerhalb der klassifikationen der orthodoxen psychiatrie keine diagnose mit dem namen "als-ob" gibt - aber es scheint augenscheinlich zumindest psychiatrisch tätige zu geben, die das modell der simulativen persönlichkeit trotzdem nutzen, wie ich der folgenden, bereits etwas älteren prozeßreportage entnehme:
"Zu den Indizien passt die Persönlichkeit des Angeklagten. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt ihm eine »Als-ob-Persönlichkeit«, die immense Unsicherheiten und Ängste mit der Fassade des Machers, des Herrn-im-Haus kaschiere.
Kontrolle über die Umgebung sei Crantz das Wichtigste, mit Reichtum und Statussymbolen versuche er sein schwaches Ego zu stabilisieren. Gerate sein glanzvolles Selbstbild aber in Konflikt mit der Realität, so täte er »vieles, wenn nicht gar alles dafür«, die schöne Illusion zu retten."
erinnert doch irgendwie an unseren mr. ripley, oder? der begriff "schwaches ego" hingegen lässt sich imo höchstens in metaphorischer bedeutung verwenden.
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unter dem titel "Die Als-Ob-Strategie - Hochstapeln für Anfänger und Schüchterne" findet sich ein beispiel dafür, wie mittels simulationen im berufsleben getrickst und getäuscht wird (ironischerweise spielt dieses geschichte auch noch innerhalb einer versammlung von professionell psychologisch tätigen). ich halte das beschriebene inhaltlich nicht von vorneherein für völlig fragwürdig - schließlich nutzen wir alle in bestimmten situationen simulative zustände - ,aber bemerkenswert und bezeichnend finde ich, dass bereits in der überschrift völlig ungeniert der - ja, bewußte betrug an den mitmenschen als quasi-erfolgsstrategie propagiert wird. auch an solchen beispielen wird sehr gut deutlich, dass die grenzen zwischen als "legal" und "illegal" betrachteten ökonomischen aktivitäten eine sehr fließende ist.
und gerade die am ende des artikles genannten sechs bausteine erfordern eine gründliche betrachtung und machen die versteckten gefahren deutlich, die im völlig unkritischen und geradezu begeisterten hantieren mit simulationen innerhalb sozialer zusammenhänge lauern:
"Niemand kann Ihnen von außen ansehen, wie kompetent sie sind. Jedes Urteil über Sie wird allein aufgrund Ihres Aussehens und Ihres sichtbaren Verhaltens gefällt. Wenn Sie auftreten, als ob Sie kompetent sind, dann gelten Sie für die Zuschauer auch als kompetent. Aus dem Schein wird Sein."
das ist leider eine oft zutreffende beobachtung - aber woran liegt das? ich würde hier sagen, dass ein derartiger zustand ganz zwangsläufig auf mehr oder weniger verbreitete wahrnehmungsdefekte hindeutet - wie jemand gestylt ist, ob jemand seriös wirkt oder gar mittels einer uniform wirkung erzielt (kennen Sie eigentlich den hauptmann von köpenick?) - all diese äußerlichkeiten lassen keinesfalls automatisch rückschlüsse auf die reale persönlichkeit zu - aber das gilt in alle richtungen (das als anmerkung für diejenigen, die sich z.b. darüber aufregen, dass bestimmte eher "linke" vorurteile mit uniformen und yuppie-klamotten automatisch immer negatives assoziieren - ich halte solche vorurteile real meistens für zutreffender als die umgedrehten varianten, in denen abschätzig über "schmuddelige" aller art geurteilt wird.
all das deutet auf wahrnehmungs- und in der folge auch kommunikationsstörungen hin. vorurteile sind bilder des objektivistischen bewußtseins, bei denen es mehr oder weniger zufällig bleibt, ob sie mit der realität übereinstimmen oder nicht. eine als-ob-strategie wie die hier beschriebene macht sich derartige bilder von gesellschaftlich verbreiteter relevanz zu nutze und konstruiert daraus ein eigenes schein-bild. entscheidend ist aber, dass derlei nicht klappen kann ohne die (un-)freiwillige mithilfe derjenigen, die in die irre geführt werden sollen. ob also aus dem schein immer das sein werden kann, liegt auch an uns allen, bzw. an der qualität unserer wahrnehmungsfähigkeiten.
"Oft zitiert und doch immer wieder wichtig: Ihre Wirkung beruht zu 55 Prozent auf Körpersprache, zu 38 Prozent auf der Stimme und nur zu 7 Prozent auf dem Inhalt des Gesagten. Den Auftritt zu proben ist daher wichtiger als das sorgfältig ausgearbeitete Manuskript. Allerdings: wo nur heiße Luft verströmt wird, nutzt auch der beste Auftritt nichts."
die wichtigkeit der körperlichen präsenz - wenn sie denn real vorhanden ist, was z.b. bei videokonferenzen schon nur noch eingeschränkt der fall ist - kann die als-ob-strategie zwar bis zu einem gewissen punkt berücksichtigen - aber eben nicht total, weil es mehrere ebenen von körpersprache gibt, von denen wenigstens eine völlig am objektivistischen bewusstsein vorbeigeht - die kommunikation von körper zu körper (nein, sex ist hier nicht gemeint) funktioniert auf mindestens einer ebene unterhalb jeder bewussten wahrnehmungsschwelle (einzelheiten werde ich jetzt aus zeitgründen nicht anführen, aber mir sind entsprechende forschungen bekannt), und aus dieser ebene stammen aller wahrscheinlichkeit nach auch die in den gestrigen beiträgen erwähnten möglichen irritationen von authentisch kommunizierenden in der konfrontation mit simulativer kommunikation.
was bedeutet das jetzt vor dem hintergrund des obigen? wenn als-ob-strategien erfolgreich täuschen sollen, müssen sie entweder die wahrnehmung der gerade erwähnten ebene beim wahrnehmenden irritieren oder aber in irgendeiner art und weise für irrelevant erklären. auch diese vorhaben funktionieren umso besser, je mehr die wahrnehmungsfähigkeiten bereits geschädigt sind und simulationen eine gewisse art von normalität darstellen.
"Feilen Sie an Ihrem Auftreten, kopieren Sie aber nicht bis aufs I-Tüpfelchen irgendein berühmtes Vorbild, sondern überlegen Sie: Wie würden Sie auftreten, wenn Sie so locker, selbstsicher usw. wie Ihr Vorbild wären. Aufgesetzte Forschheit wirkt unecht, Ihr Auftreten muß also zu Ihnen passen. Am sichersten fahren Sie, wenn Sie ihre Wirkung ein paar mal im stillen Kämmerlein erproben und dann guten Freunden vorführen, mit der Bitte um kritische Hinweise."
im prinzip nichts weiter als bewährte leitlinien für erfolgreiche schauspieler. ist im theaterkontext auch nichts gegen einzuwenden - aber innerhalb realer sozialer zusammenhänge?
"Vor Ihrem Auftritt sollten Sie keinesfalls grübeln „Oh Gott, wenn nun alles schief geht“. Gehen Sie die Sache vielmehr spielerisch an. Sie sind Schauspieler(in) und spielen sich selbst. Sie gehen in einer Rolle auf und die Reaktionen der anderen - egal, ob freundlich, mißmutig oder gar empört - gehören dazu. Sie ziehen Ihren Auftritt durch und werden sich von den Leuten nicht aus dem Konzept bringen lassen. Es ist natürlich gut, wenn Sie für unterschiedliche Reaktionen Ihres Publikums passende Varianten Ihres Verhaltens vorbereitet haben. Auf keinen Fall werden Sie aber zwischendurch die Sache hinschmeißen, wenn es nicht so laufen sollte, wie Sie gedacht haben. Solange Sie Selbstsicherheit zeigen - so bin ich, ich kann nicht anders - werden die Leute Sie respektieren. Nur wer aus der Rolle fällt, fällt beim Publikum durch."
wie gesagt, innerhalb von theater und film - wo alle wissen (sollten), dass es hier um die produktion von möglichst überzeugenden fiktionen geht, und das publikum dafür bezahlt, sich mit simulierten realitäten die zeit zu vertreiben - ist gegen derartige ratschläge nichts einzuwenden. warum sollte aber jemand bspw. in beruf und arbeitswelt (wo sich ja, wenn auch mit glücklicherweise abnehmender tendenz, für viele menschen immer noch ein haupteil des sozialen lebens abspielt) dazu gezwungen sein, in unterschiedlich großem maße rollenspiele zu veranstalten? das lässt u.a. eigentlich nur den schluß zu, dass die authentische menschlichkeit mit all ihrer "unperfektheit" und ihren "schwächen" an bestimmten orten nicht nur nicht erwünscht ist, sondern sogar als störend angesehen wird. wir haben uns an diese zweiteilung zwischen den wechselnden identitäten "beruflich" und "privat" schon derart gewöhnt, dass die sich darin eigentlich ausdrückende zumutung - nicht nur die arbeitskraft, sondern auch potenziell erfüllt sein könnende authentische menschliche lebenszeit wird verkauft, zum bloßen materiellen überleben - nicht (mehr) als solche wahrnehmen. die kapitalistische ökonomie (auch in ihrer "staatssozialistischen", bereits gescheiterten variante) ist ein vampiristisches system. und als-ob-simulationen sind davon sowohl ausdruck als auch mittel zum zweck.
den nächsten punkt überspringe ich, da nicht grundsätzlich verschieden zum obigen. und dann:
"Was den Inhalt Ihres Auftritts betrifft: Bereiten Sie rund zwanzig Prozent mehr Inhalt vor, als Sie benötigen. Es wirkt besonders souverän, wenn Sie bei passender Gelegenheit (zum Beispiel einer Diskussionsfrage) zeigen können, daß Sie noch weitere Kenntnisse abrufbereit im Hinterkopf haben. Daraus schließen die Zuhörer, daß nicht nur Ihr Auftritt, sondern ihre ganze Person auf Kompetenz beruht."
wie täusche ich meine mitmenschen am besten? vielleicht war ich gestern mit meinen überlegungen zur moral doch etwas voreilig - selbst als verhaltenskrücke wäre mir eine moral, die derartiges verhalten sanktioniert, durchaus willkommen.
der eigentliche hammer jedoch kommt ganz zum schluß:
"Die Als-ob-Strategie eignet sich nicht nur für öffentliche Reden. Mit der gleichen Methode können Sie auch andere ungewohnte Situationen meistern, zum Beispiel Bewerbungsgespräche, Telefonate mit wichtigen Personen, Verhandlungen, Verkaufsgespräche, aber auch Flirts, Liebeserklärungen und Heiratsanträge."
es ist eine sache, die existenz und offensichtlich breite anwendung von simulationen aller art in der sog. öffentlichen sphäre von ökonomie, politik und auch medien zu propagieren und zu tolerieren - ich selbst bin mir durchaus darüber klar, dass sich in der momentanen situation dieser zustand nicht von heute auf morgen ändern kann, und als-ob-strategien für menschen in diesen strukturen in bestimmten umständen womöglich existenziell wichtig sein können, nicht im sinne von karriereerfolgen, sondern zur bewahrung letzter reste von selbstachtung und würde. bei der gefährlichkeit dieser strukturen wünsche ich ihnen jedoch ein möglichst baldiges ende, und jegliche gesellschaftlichen alternativmodelle werden sich im verhältnis von authentizität und simulation im menschlichen leben grundlegend von der heutigen situation unterscheiden müssen, in denen simulationen auch mehr und mehr bereiche erfassen oder gar beginnen zu dominieren, in denen sie in dieser position absolut nichts zu suchen haben!
so eben auch in den zonen sozialer zwischenmenschlicher beziehungen, die hier unter "Flirts, Liebeserklärungen und Heiratsanträgen" umschrieben werden. hallo?!? ich habe mir echt die augen gerieben beim lesen - hier wird offen auch zum betrug innerhalb von partner- und freundschaften geraten, die strategien aus der kapitalistischen arbeitswelt umstandslos in gerade die sphären übertragen, in denen derlei simulationen bei dominanz nun zwangsläufig für ernste schwierigkeiten sorgen müssen. das macht eigentlich nur sinn für solche menschen, bei denen die authentischen fähigkeiten bereits eh geschädigt sind. und damit beißt sich die katze in ihren virtuellen schwanz.
mehr wahrscheinlich demnächst - das, was sich hinter dem modell der "als-ob-persönlichkeit" alles so verbirgt, stellt meiner meinung nach die größte gefahr für das menschliche leben - in den formen, die wir zumindest bis jetzt noch als lebenswert betrachten - dar, die überhaupt vorstellbar ist - oder wie finden Sie die aussicht darauf, als entkernte puppe ein bereitwilliges rädchen im getriebe zu sein? eine maske, die sich mit einem virtuellen surrogatleben abspeisen lässt?
edit am 30.04.: unregelmäßig schaue ich auf vielen der in der sidebar verlinkten seiten vorbei, und manchmal gibt es da so interessantes zu entdecken wie diesen thread im öffentlich zugänglichen forenteil der borderline-community: "Woher weiss ich, dass ich eine Identität habe?" eine sehr berechtigte und nötige frage, die direkt auf all jenes verweist, was in den beiträgen zur "als-ob-persönlichkeit" thematisiert wurde. bezeichnend finde ich dabei, dass - bisher - niemand der diskutierenden den körper als notwendige basis jeder - authentischen - identität angesprochen hat (nein, ich bin dort nicht (mehr) registriert und habe bisher auch nicht die absicht, mich im thread zu beteiligen).
4. das gleiche muster: ein modell des soziopathen (psychopathen) - und etliche spekulationen zum pränatalen leben
"Der amerikanische Psychiater Hervey Cleckley schreibt in seinem grundlegenden Werk The Mask of Sanity über ein Phänomen, das innerhalb der psychiatrischen Krankheitsbilder ein ungelöstes Rätsel blieb. Bei allen `orthodoxen´ Psychosen gibt es mehr oder weniger deutliche Veränderungen im Denkprozeß oder andere die Persönlichkeit verändernde Merkmale, seien es Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder völlig alogisches Denken. Nicht so beim Psychopathen. Ist er auf irgendeine Weise auffällig geworden und unter psychologische oder psychiatrische Beobachtung gekommen, dann ergibt sich folgendes Bild:
`Der Beobachter ist mit einer überzeugenden Maske von geistiger Gesundheit konfrontiert. Die Außenansicht dieser Maske ist vollkommen intakt; man kann sie nicht mit Fragen durchstoßen, um zu den tieferen Schichten vorzudringen. Der Prüfende trifft nie auf das Chaos, das man manchmal unter der Oberfläche des paranoiden Schizophrenen findet. Das Denken verläuft unter psychiatrischen Gesichtspunkten in ganz normalen Bahnen, und in Tests, die verborgene Störungen aufdecken könnten, kommt nichts zutage.´
Geboten werden die soliden Strukturen einer gesunden und vernünftigen Persönlichkeit. Auch alle Ausdrucksformen des Gesichtes und der Sprache sowie die geistigen und emotionalen Werturteile entsprechen dem.
`Nur sehr langsam steigt der Verdacht auf, daß es sich trotz dieser Intaktheit ... hier nicht im geringsten um einen intakten Menschen handelt, sondern um eine subtil konstruierte Reaktionsmaschine, die eine menschliche Persönlichkeit perfekt nachahmen kann. Dieser einwandfrei arbeitende psychische Apparat bringt nicht nur unermüdlich Proben richtigen Denkens hervor, sondern auch die passenden Nachahmungen normaler menschlicher Gefühle, die auf nahezu alle Reize des Lebens reagieren. Die Kopie eines vollkommenen und normalen Menschen ist so perfekt, daß niemand, der einen solchen Menschen in der klinischen Situation untersucht, in wissenschaftlich objektiven Begriffen darlegen kann, wie und warum er nicht real ist. Und doch wissen oder fühlen wir, daß er keine Realität im Sinn eines voll und gesund erfahrenen Lebens hat.´
Cleckley macht den Vorschlag, dies auf eine Wahrnehmungsstörung zurückzuführen: Es fehlt die `Fähigkeit, gewahr zu werden, was die grundlegenden Lebenserfahrungen für andere Menschen bedeuten.´ Damit meint er die emotionale Grundausstattung und die damit verbundenen Ziele und Verantwortungen. Im Psychopathen ist die Ganzheit dieser Erfahrung beseitigt, blockiert oder abgetrennt."
(arno gruen, "der wahnsinn der normalität"; siehe literaturliste; s. 161/162)
ich habe mich beim lesen des obigen schon oft gefragt, ob cleckley bei der entwicklung seiner definition kenntnis des modells von helene deutsch hatte - zu deutlich gleichen sich beide beschreibungen bis in details hinein. und das wäre nicht nur aus psychiatriehistorischer sicht interessant zu wissen, sonder eher deswegen, weil eine von deutsch´s definition unabhängige forschung, die zum gleichen ergebnis kommt, als weiteres indiz dafür zu begreifen wäre, das das modell der simulativen persönlichkeit etwas reales beschreibt. ich kenne cleckleys buch nicht selbst (und wenn Sie sich die horrenden preise im obigen link betrachten, sehen Sie dafür auch einen ganz pragmatischen grund), aber falls hier jemand mitliest, der/die weitere kenntnisse genau über die aufgeworfene frage besitzen sollte - und vielleicht hat cleckley ja irgendwo hinweise auf helene deutsch gegeben - , dann wäre ich sehr dankbar für eine entsprechende information.
nun habe ich mich hier vor einiger zeit bereits mit dem klassischen soziopathen beschäftigt, und dabei auf eine durch die neuere forschung entdeckte neurophysiologische besonderheit dieser menschen hingewiesen, nämlich die unfähigkeit zu angstempfindungen, die dann in der konsequenz bedeutet, dass soziopathen auch durch sie ausgelöste ängste bei anderen nicht wahrnehmen bzw. verstehen können. objektiv beobachten können sie hingegen auch die ängste bei anderen, aber - wie schon gesagt - es findet keine innere berührung statt. von diesem punkt aus lässt sich also eine praktische identität zwischen simulativer persönlichkeit und soziopathie annehmen. nicht mehr so einfach wird es aber bei dem gedanken, dass es sich beim modell der als-ob-persönlichkeit auch um ein modell eines eigenständigen und sozusagen "höher" organisierten (simulationsfähigen) autismus´ handelt. der klassische autismus, selbst in seiner (relativ) realitätstüchtigsten aspergervariante, ist - ich verweise wieder einmal u.a. auf entsprechende aussagen von temple grandin - ja eher von einer ständigen und möglicherweise allumfassenden weltangst geprägt, was sich u.a. in der von grandin beschriebenen permanenten anspannung des nervensystems manifestiert. ebenso spielen existenzielle ängste bei (als solchen diagnostizierten) borderline- und narzisstischen persönlichkeiten eine große rolle, und nicht zuletzt natürlich auch im traumakontext. andererseits gibt es aber bei den letztgenannten störungsbildern auch wieder massive hinweise auf simulative zustände teils sehr umfassender art - wie lässt sich also dieser ganze komplex am besten verstehen?
ich persönlich muss mich an dieser stelle auf meine ganz eigenen spekulationen beschränken, die auf das folgende szenario hinauslaufen, natürlich grob reduziert: erstens deutet für mich einiges darauf hin, bei den verbreitesten beziehungskrankheiten von einem spektrum auszugehen in dem sinne, dass die elemente "starke behinderung bis totaler wegfall der beziehungsfähigkeit" sowie - als kompensation - "eine objektivistische bewältigung dieses elementaren mangels mittels mehr oder weniger umfassenden simulationen" zentrale gemeinsamkeiten darstellen. zweitens können sich diese strukturellen gemeinsamkeiten aber in teils sehr unterschiedlichen individuellen formen manifestieren, was drittens mit einem in der pränatalen phase liegenden beginn der katastrophalen entwicklung zu tun haben könnte. ich gehe nach meiner bisherigen kenntnis der pränatalen forschung von der möglichkeit aus, das sowohl die klassische soziopathie (in dem sinne, wie ich sie in den entsprechenden beiträgen versucht habe zu definieren, also nicht gleichgesetzt mit der antisozialen ps), die klassischen autismusformen als auch die mehrzahl der persönlichkeitsstörungen durch die überhaupt frühstmöglichen (sozialen) einflüsse entscheidend mitverursacht werden: während der pränatalen entwicklung der grundlagen der (selbst-)wahrnehmungs- und beziehungsfähigkeiten im mutterbauch. es existieren für die jeweilige psychophysische entwicklung jeweils teils sehr enge zeitfenster, in denen sich die nötige basis für praktisch unser gesamtes gesundes menschliches funktionieren entwickeln muss. gleichfalls kann, ohne das hier im einzelnen genauer zu beschreiben, davon ausgegangen werden, dass gerade im bereich der basis der sozialen fähigkeiten die beziehungsfähigkeit der mutter zum embryo eine notwendige voraussetzung darstellt, um diese basis überhaupt zu ihrer entwicklung zu stimulieren / anzuregen.
davon ausgehend, ließe sich nun mit der these arbeiten, dass die bisher bekannten verschiedenen beziehungkrankheiten in ihren zentralen eigenschaften jeweils die besonderheiten des zugehörigen pränatalen zeitfensters sowie des im hintergrund vorhandenen psychophysischen zustands der mutter wiederspiegeln: das kanner-autistische kind bspw. den totalausfall jeglicher authentischen und simulativen zuwendung bzw. stimulierung seitens der mutter zumindest in der entscheidenden pränatalen phase; beim asperger-autist gleiches, mit einem minimum an simulativer beziehung (was sich in den fragmenthaft vorhandenen simulationsfähigkeiten bei aspergerbetroffenen niederschlagen würde). in einer uns unfaßbaren art und weise wäre das für die embryos als überhaupt früheste denkbare und existenziellste ablehnung erfahrbar, die überhaupt möglich erscheint - noch nicht einmal ganz da, und schon ignoriert/abgelehnt (was nichts mit einem bewußten tun seitens der mutter zu tun haben muss - das ist wichtig.) ist es unter dieser prämisse so abwegig, anzunehmen, dass die quasi natürliche reaktion des werdenden menschen auf eine solch entsetzliche erfahrung auch darin liegen kann, eine ebenso existenzielle angst als grundlegende prägung der eigenen wahrnehmung zu entwickeln? ich verweise in diesem zusammenhang auch auf diesen älteren beitrag (es geht da um die letzte meldung), wo diese möglichkeit etwas konkreter sichtbar wird.
wenn sich die mutter selbst in einem überwiegend objektivistischen bzw. simulativen modus befindet (was ganz verschiedene gründe haben kann), führt das bekanntlich zwangsläufig zu einer offen oder verdeckt vorhandenen extrem verdinglichenden selbst- und fremdwahrnehmung. so wie sie sich als quasi dinghaft wahrnimmt, so würde sie auch den embryo in sich als fremdes ding wahrnehmen, im schlechtesten fall noch dazu als störendes. in dieser letzten konstellation dürfte der schlüssel zu vielen der hier im blog thematisierten fälle von infantizid zu suchen sein. kann sie sich hingegen eine einigermaßen haltbare identität z.b. anhand der gesellschaftlich vorgegebenen mutterrolle konstruieren, so wird diese simulation die verdinglichende wahrnehmung zwar verdecken, nicht jedoch beseitigen. der embryo wäre in der bzw. den für die entwicklung seiner beziehungsfähigkeiten entscheidenden phase(n) nicht mit einem authentischen, sondern mit einem simulativen als-ob-angebot konfrontiert, bei dem er mit der verdinglichenden qualität zwangsweise irgendwie umgehen müsste. und wie es gesündere menschen in einer solchen situation im späteren leben meist auch tun, allerdings nicht alternativlos, so würde er in einem solchen fall - ohne jegliche ausweichmöglichkeit - seine gesamte beziehungsbasis, die sich gerade erst entwickelt, auf diese simulative qualität hin reduzieren müssen, weil nichts anderes zur verfügung steht. anders: das objektivistische bewusstsein als werkzeug würde extrem früh aktiviert werden müssen, um mit dieser art von (fehl-)stimulierung umgehen zu können. und es wird sich - wieder eine hypothese, aber von einiger wahrscheinlichkeit - in einer monopolposition innerhalb der selbst- und weltwahrnehmung des werdenden menschen installieren.
und das wäre die eigentliche geburtsstunde für diejenigen, die später unter diagnosen wie soziopathie und auch (mit einschränkungen) borderline und narzissmus sowie in modellen wie der als-ob-persönlichkeit von ihrer mitwelt erfasst werden. beim soziopathen mit der besonderheit der hier als negativ zu begreifenden angstfreiheit ließe sich eine durch besondere prozesse verursachte spezielle anpassung hinsichtlich der massiv angsterzeugenden pränatalen konstellation vermuten, die nicht nur die angstwahrnehmung faktisch ausschaltet, sondern dadurch auch das objektivistische bewusstsein hinsichtlich seiner späteren simulationsfähigkeiten noch in eine bessere ausgangspostion bringt.
bei borderline sieht es imo etwas anders aus, aber nur auf den ersten blick: wenn die these von mertz zutreffen sollte, dass es sich bei der blanden form von borderline um die "eigentliche" und ursprüngliche borderlinekrankheit handelt und die auffälligen symptome entweder - immer noch mertz - daraus resultieren, dass das grundsätzlich blande simulative funktionieren des menschen aus was für gründen auch immer nicht mehr klappt und sich erst daraus die klassischen bl-symptome entwickeln; oder aber - mein eigener eindruck - die bl-diagnose fälschlicherweise auf viele menschen mit postnatalen (oder auch perinatalen) traumatischen erlebnissen gepappt wird, so lässt sich schon vermuten, dass mit einiger sicherheit gerade dort, wo sich bei einer bl-diagnose kein (post-)traumatischer hintergrund im weitesten sinne finden lässt, eine pränatale genese ungefähr der art wie oben skizziert vorhanden sein könnte. ich hatte schon im bl-beitrag geschrieben, dass sich nach meiner erfahrung auffällig häufig schlechte bis sehr schlechte verhältnisse zur eigenen mutter bei bl-diagnostizierten menschen finden lassen, was sowohl ein indiz für das obige pränatale modell sein könnte, als auch die schlußfolgerung nahelegen würde, dass die (nicht-)beziehung zur mutter sowie überhaupt die verhältnisse innerhalb der mütterliche linie in den jeweiligen familien als zwingendes kriterium bei der diagnose von borderline zukünftig zu berücksichtigen wäre. aber gehen Sie mal mit dieser forderung in die offiziellen psychiatrischen bzw. psychologischen zuständigen institutionen...
eins noch zur konfusion zwischen borderline und posttraumatischen störungen (ptbs): mein schon früher ausgesprochener verdacht, dass es sich bei der bl-diagnose aus einer bestimmten perspektive betrachtet auch um eine der psychiatrietypischen und gesellschaftsentlastenden vertuschungsdiagnosen - in diesem fall hinsichtlich der folgen sexualisierter gewalt - handelt, bleibt für mich weiterhin gültig. vor dem hintergrund des oben umrissenen ergibt sich aber noch eine weitere erklärungsmöglichkeit für die auffälligen überschneidungen zwischen bl und ptbs: es kann mit sicherheit davon ausgegangen werden, dass menschen, deren beziehungsmäßig relevante wahrnehmungsfähigkeiten bereits pränatal schwer bis total geschädigt worden sind, natürlich im späteren leben nicht über die nötige intuition/empathie verfügen können, um für sie gefährliche situationen und menschen früh genug zu erkennen. das ist das eine. dann: sie können aus dem gleichen grund nur schlecht bis gar nicht grenzen setzen (wer sich selbst als dinghaft erlebt, wird auch - gerade als frau - die entsprechenden zuschreibungen verinnerlichen). stichwort frau: wenn sich bl-frauen ihre identitäten zwangsläufig anhand vorhandener frauenbilder und -rollen konstruieren, so gibt es bei der vielzahl von patriarchal definierten frauenbildern, die bis heute auf dem markt für identitäten verfügbar sind, noch genügend vorhandene, in denen die begriffe des opfers und der (sich) opfernden eine zentrale rolle spielen. eine solche identität vor dem hintergrund zusätzlich fehlender wahrnehmungsmöglichkeiten betrachtet, erhöht die wahrscheinlichkeit doch ganz extrem, irgendwann einmal tatsächlich zum opfer gemacht zu werden.
***
so. schnaufen Sie einmal tief durch. wenn Sie sich bis hierhin vorgearbeitet haben, dann werden Sie den rest auch noch schaffen.
bevor ich gleich zum letzten aspekt der simulativen persönlichkeit komme, den ich erwähnenswert finde, noch ein paar (präventive) bemerkungen zum ganzen pränatalen komplex: erstens, hinsichtlich der mütter halte ich es nach wie vor für sinn- und zwecklos, hier mit moralischen kategorien wie "schuld" o.ä. zu arbeiten. verantwortlichkeit trifft es eher, wobei ich diese nur als gesamtgesellschaftlich begreifen kann. die rolle der mütter in der menschlichen geschichte ist und bleibt sowohl zentral als auch schwer ambivalent: einerseits sind sie für unser aller existenz unverzichtbar und auch - in einem gewissen sinne - für viele mögliche deformationen dieser existenz verantwortlich; andererseits lässt sich letztlich aber auch so ziemlich jeder tatsächliche zivilisatorisch-gesellschaftliche fortschritt auf das wirken von liebesfähigen müttern zurückführen (lesen Sie dazu, wie zu vielem anderen, deMause).
zweitens: natürlich gibt es auch dokumentierte fälle, in denen bspw. soziopathische persönlichkeiten durch postnatale geschehnisse entstehen; natürlich gibt es gerade auch narzisstische problematiken, die sich innerhalb der ersten drei bis vier lebensjahre entwickeln; und die vermutlich größere zahl von fälschlichen bl-diagnosen hatte ich gerade erst erwähnt. all das sind aber nicht unbedingt argumente gegen das modell der pränatalen genese vieler beziehungskrankheiten, erst recht dann nicht, wenn sie regelrecht totalitär - im sinne von weitreichend und existenziell - daherkommen. gerade die letzteren eigenschaften sprechen imo doch für eine ganz grundsätzliche und ebenso totalitäre verursachung, die sich eben als möglichkeit am ehesten im pränatalen geschehen verorten lässt.
drittens: das in etlichen fällen der hier erwähnten beziehungskrankheiten auch einflüsse aus ganz anderen ecken beteiligt bzw. verantwortlich sein könnten, sollte ebenfalls im hinterkopf bleiben. damit meine ich noch nicht mal primär mögliche genetische komponenten (die entwickeln in den allermeisten fällen erst im zusammenspiel mit den sozialen bedingungen ihre wirkung), sondern bspw. unerkannte vergiftungen, primär organische störungen oder auch infektionskrankheiten, geburtskomplikationen sowie - im trauma- und auch borderline-kontext - postnatale ursachen, die sich deutlich an negativen äußeren bedingungen festmachen lassen. eine ptbs kann bspw. auch nach einem verkehrsunfall oder dem erleben einer naturkatastrophe entstehen; ich kenne borderline-geschichten, die z.b. durch einen längeren krankenhausaufhenthalt traumatischer natur während der kindheit ausgelöst worden sind (wobei wir da wieder bei der frage landen, ob derlei nicht korrekter als ptbs bezeichnet und behandelt werden sollte), u.a. selbst bei den meisten der eben genannten beispiele lassen sich aber mehr oder weniger große einflüsse der herrschenden sozialen verhältnisse aufspüren, die jedoch verdeckt als strukturelle gewalt wirksam sind und meistens nicht wahrgenommen oder aber toleriert werden. die schulterzuckende akzeptanz von tausenden verkehrsopfern pro jahr sowie einer mehr oder weniger großen kontamination unserer gesamten umwelt mit synthetischen und teils eindeutig giftigen stoffen gehört dazu genauso wie klimatische extremereignisse, durch die in den nächsten jahrzehnten ganze regionen v.a. in der sog. dritten welt unbewohnbar werden, was für flüchtlingsbewegungen größten ausmaßes mit allen dazugehörigen (und potenziell traumatischen) folgen sorgen wird. aber machen Sie sich bitte auch klar, dass die frauen, die unter solchen bedingungen irgendwann einmal mütter werden, eben auch in großer gefahr sind, simulative zustände als fluchtpunkt und "normalität" in eigentlich unerträglichen sozialen verhältnissen anzusehen - und damit wären wir wieder beim eigentlichen thema. wobei mir dieser letzte absatz jetzt auch eine einigermaßen passende überleitung zum nächsten punkt möglich macht:
5. soziologische und politische implikationen der simulativen existenz
"Die gleiche Leere und der gleiche Mangel an Individualität, die das emotionale Leben so unübersehbar beherrschen, kommen auch in der moralischen Struktur zum Vorschein. Volkommen ohne Charakter, gänzlich prinzipienlos ... die Moral der Als-Ob-Individuen, ihre Ideale, ihre Überzeugungen sind bloß ein Reflex auf andere Personen, gute oder böse. Wenn sie sich sozialen, ethischen und religiösen Gruppen anschließen, was ihnen sehr leicht fällt, so versuchen sie dadurch ihrer inneren Leere Inhalt und Realität zu verleihen und sich ihrer Existenz auf dem Weg der Identifikation zu versichern...´
`Ein weiteres Charakteristikum der Als-Ob-Persönlichkeit ist die Tatsache, daß aggressive Tendenzen fast vollständig maskiert werden...´, wobei diese arglose Fassade `jederzeit in Bösartigkeit umschlagen kann´. Die Als-Ob-Person ist steckengeblieben in einer `Entwicklungsphase, in der triebhafte Impulse ausschließlich durch den unmittelbaren Eingriff äußerer Autoritäten im Zaum gehalten werden.´ Destruktive Tendenzen und Impulse werden, wie wir wissen, von den `äußeren Autoritäten´ gewöhnlich `gezügelt´, um sie dann im Bedarfsfall gezielt auf diese oder jene, ziemlich beliebige Objekte ausrichten zu können. Die Als-Ob-Persönlichkeit jedenfalls kann einem etwaigen destruktiven Ansinnen der Umwelt prinzipiell keine authentischen, aus der eigenen Lebenserfahrung resultierenden Widerstände entgegensetzen."
kurz etwas zum moralbegriff bei helene deutsch: je mehr und öfter ich über "moral" nachdenke, desto zweifelhafter erscheint mir das ganze konzept. moralische normen beschreiben eigentlich nur jeweils sozial gewünschtes verhalten, was von vorneherein darauf hindeutet, dass eine gesellschaft die eigentlich mögliche entwicklungsebene von individueller und kollektiver selbstregulierung noch nicht erreicht hat und sich stattdessen mit formal gefassten und auf papier geschriebenen gesetzen nicht nur justizieller, sondern auch z.b. religiöser art als eine art surrogat behelfen muss. authentisch soziales verhalten bei gesunden menschen entwickelt sich spontan und wird durch authentische und vielfältige soziale beziehungserfahrungen geprägt und geformt. wenn jemand wirklich moralisches verhalten zeigt, besteht eigentlich kein nachvollziehbarer grund, groß darüber zu reden - wenn es selbstverständlich wäre.
nun hatte "moral" in den bürgerlichen kreisen der helene deutsch in der mitte des letzten jahrhunderts auch noch eine andere bedeutung als heute, von daher möchte ich nicht unbedingt scharf urteilen. und für simulative persönlichkeiten ist eine formale moral womöglich eine möglichkeit, offene antisozialität zu vermeiden. aber auch das deutet darauf hin, dass sich moral eher als indiz für grundsätzlich vorhandene pathologische sozialstrukturen ansehen lässt.
ein anderer aspekt, der bei ihren überlegungen deutlich wird: der jeweilige zeitgeist spielt zwangsläufig eine große rolle für die identitätskonstruktionen von simulativen persönlichkeiten. und das hat beim weiterdenken ernste konsequenzen bei der betrachtung der heutigen gesellschaftlichen angebote auf dem identitätsmarkt. da die eher starreren masken und rollen der letzten beiden jahrhunderte hier im westen seit ein paar jahrzehnten breit ins rutschen gekommen sind, ist es in gewisser hinsicht für simulative persönlichkeiten sowohl leichter als auch gleichzeitig schwieriger geworden, sich akzeptierte soziale identitäten zu konstruieren. leichter in der hinsicht, das die auswahl größer geworden ist und auch identitäten mit offen pathologischen aspekten toleriert werden - solange sie gemäß den gesellschaftlichen konventionen "erfolgreich" sind und gewisse formale regeln beachten. dazu spielt eine allgemein größerer verbreitung simulativer bzw. virtueller realitäten eine rolle, die das "unterschlüpfen" für entsprechend strukturierte persönlichkeiten leichter macht. schwieriger ist es aber gleichzeitig womöglich deswegen, weil die jeweils angesagten identitätsmodelle immer schneller unter modediktaten zu wechseln scheinen und bisher nur sehr "trainierte" simulative persönlichkeiten in der lage scheinen, derart schnelle wechsel ohne ernsthaftere komplikationen (die sich womöglich als symptome manifestieren) hinzubekommen. unter diesem aspekt ließe sich auch das sog. neurolinguistische programmieren als eine art von konstruktivistischem training zur identitätsbildung begreifen. der bezug von nlp zu der sog. "philosophie des als-ob" von vaihinger wurde hier ja schon erwähnt, wenn auch noch nicht ausführlicher thematisiert.
jedenfalls stellt eine zunehmende allgemeine gewöhnung an simulative realitäten grundsätzlich ein milieu dar, in dem als-ob-zustände auch bei - in relation - gesunden menschen eine immer größere rolle spielen. für simulative persönlichkeiten hingegen bergen sie geradezu monströse entwicklungschancen. so ist bspw. die verbreitung von virtueller kommunikation in virtuellen räumen bestens dazu geeignet, die tatsächlich vorhandenen existenziellen defizite der simulativen persönlichkeit faktisch unsichtbar zu machen. virtuelle kommunikation ist nämlich in sich grundsätzlich immer und unter allen umständen eine simulative kommunikation. warum? weil die entscheidende bedingung der körperlich-materiellen präsenz der kommunizierenden wegfällt, was alle beteiligten zwangsläufig in den bereich der konstruktivistischen wahrnehmungssurrogate des objektivistischen bewusstseins hineinzwingt. ich kann mir niemals sicher sein, wer im chat, hinter der mail oder dem forumsnick steckt und noch weniger darüber, wie der aktuelle psychophysische zustand des anderen tatsächlich aussieht - beste projektionsflächen also, um sowohl meine eigenen fiktionen unterzubringen als auch zum objekt fremder fiktionen zu werden. für beziehungsfähige menschen ist diese art der simulativen kommunikation irgendwann reizlos oder gar frustrierend, weil zuviele bedürfnisse virtuell eben nicht erfüllt werden können. für simulative persönlichkeiten hingegen ist die simulierte kommunikation eher befreiend, weil sie nicht mehr in der gefahr sind, mit den irritationen ihrer authentischen mitmenschen umgehen zu müssen - sie können völllige normalität simulieren, weil das simulieren selbst die normalität in virtuellen räumen darstellt. vor diesem hintergrund bekommen phänomene wie internetsucht oder auch das "versacken" in virtuellen rollen eine weitere und sehr unschöne bedeutungsebene.
im autismusbeitrag sind von temple grandin ein paar überlegungen hinsichtlich der eigenschaften von computern und virtueller kommunikation dokumentiert, die die bedeutung für autistische - also offen beziehungsunfähige - menschen deutlich machen. zu dem thema ließe sich etliches sagen, was aber hier endgültig den rahmen sprengen würde. deshalb dazu am ende nur ein gedanke: die verbreitung von computern und virtuellen räumen sowie die heutige dominanz dieser technologie an praktisch allen öffentlichen (und auch vielen privaten) orten lässt sich meiner meinung nach nur vor dem hintergrund der existenz strukturell autistischer und simulativer einflüsse in unserem sozialen leben tatsächlich begreifen. ich hatte früher schon mal geschrieben, dass ein sich computer quasi als perfekte materialisation des objektivistischen bewusstsein verstehen lässt. bei interesse lesen Sie bitte hier nach (besonders unter punkt 11).
erhellende worte zum sog. politischen leben:
"Es sind hier, um es einmal ganz unmißverständlich auszudrücken, ausschließlich situative Zufälle, nämlich die günstigen Gelegenheiten oder externalen Kontrollmechanismen der jeweiligen historischen Situation, die aus ein und derselben Als-Ob-Person beispielsweise einen weithin respektierten Moraltheologen oder einen begnadeten Folterer machen. Bei entsprechender Intelligenz und persönlichem Geschick ist auch ein völlig reibungsloser Wechsel von einem zum anderen möglich. Diese außerordentlich glatten und merkwürdig stillen Metamorphosen, besonders auffällig bei unseren Funktionseliten und großen Teilen der Intelligenz, treten vor allem in Erscheinung als massenhaftes und sehr charakteristisches Phänomen beim Übergang von totalitären zu eher demokratischen Verhältnissen ... und umgekehrt. Bürgerliche Schafe verwandeln sich flugs in reißende Wölfe ... und umgekehrt."
(die beiden letzten zitate: mertz, "borderline..."; s. 56)
tja. wenn Ihnen bei diesen worten assoziationen zu nazideutschland gekommen sind, so liegen Sie damit wahrscheinlich leider richtig. der kz-kommandant, der tagsüber massenmörderisch tätig ist und abend zum "liebenden" und sentimentalen vater wird; der eiskalte und wie ein geschmiertes rädchen in der anonymen vernichtungsmaschenerie funktionierende bürokrat/technokrat; und nicht zu vergessen die vielen nach dem krieg urplötzlich zu unauffälligen "demokraten" mutierten nazis, von denen es offensichtlich außer hitler und seinen engsten kumpanen niemals welche in d-land gegeben hat - gerade vor dem hintergrund der fakten, die z.b. die psychohistorie zur realität der kindererziehung in diesem land während langer phasen zusammengetragen hat, und die auf vielfältige und allgemein verbreitete beziehungskrankheiten und traumatisierungen schließen lassen, ergibt eine solche betrachtungsweise wie die obige erschreckenden sinn. ohne jetzt das folgende mit dem ns in einen totalitarismus-eintopf schmeißen zu wollen: aber die ddr-wortkreation "wendehälse" bringt derlei personen und ihr verhalten fast auf den punkt. es könnte sich tatsächlich um wendeidentitäten handeln, die tatsächlich wie wendejacken gehandhabt werden. und vor diesem hintergrund lässt sich auch gleich der begriff opportunismus mit neuem inhalt füllen: psychophysisch könnte sich dahinter in vielen fällen die manifestation einer als-ob-person verbergen. "könnte" deshalb, weil als-ob-verhalten prinzipiell jedem menschen zugänglich ist und in für das eigene überleben als gefährlich wahrgenommenen situationen eine verhaltensoption sein kann. aber ich weiß nicht, ob diese relativierung wirklich als tröstlich betrachtet werden sollte.
existenzielle gleichgültigkeit und die ständige suche nach dem neuen "kick" können ebenfalls als merkmale von soziopath und simulativer persönlichkeit betrachtet werden. ein weiteres und sehr prägnantes kennzeichen stellt gerade unter den heutigen bedingungen ein im wahrsten sinne des wortes identitätsschaffendes ding dar - der besitz von dingen (wozu umstandslos auch menschen zählen können) im allgemeine sinne, zu dem patricia highsmith ihren mr. ripley sinnieren lässt:
"Er liebte Besitz, nicht etwa massenhaft Besitztümer, sondern ein paar ausgesuchte Objekte, von denen er sich nie trennte. So etwas verlieh einem Menschen Selbstachtung. Nicht Prunk, sondern Qualität und Kennerschaft. Besitz erinnerte ihn daran, daß er existierte (sic!), und bewirkte, daß er sich seiner Existenz erfreute. So einfach war das. Und war das etwa nichts? Er existierte."
(highsmith, "der talentierte mr. ripley"; s. 286)
besitz als verifikation der eigenen (defekten und beschädigten) existenz - es gehört nicht allzuviel phantasie dazu, hier einen möglichen mitbeteiligten grund für die dominanz der kapitalistischen ökonomie zu vermuten, zumal sich identitätsprobleme bei allen beziehungskrankheiten finden lassen.
ripley konstruiert sich selbst eine sehr bohèmehafte und betont lässig-bürgerliche identität, voll mit attributen, die er berechtigterweise (zumindest teilweise) als anerkannte zeichen für den ausgewählten lebensstil betrachtet. er existiert tatsächlich nur in seinen fiktionen (tagträumen), in denen er sich selbst als weltmännischen und kunstsinnigen lebemann betrachtet. alleine diese betrachtungen verschaffen ihm einzig und alleine so etwas wie einen genuß - allerdings einen surrogatgenuß. ripley lässt sich neben vielen anderen pathologischen zügen auch eine existenzielle anhedonie, also genußunfähigkeit, attestieren - einen wirklichen, realistischen bezug hat er weder zur kunst noch zu dingen. und in der konfrontation mit anderen menschen ahnt er immer wieder die wahrheit über seinen eigenen zustand:
"Es hieß, durch die Augen könne man in der Seele lesen, könne man die Liebe sehen, sie seien der einzige Ort, der es ermögliche, zu sehen, was wirklich in einem anderen vorging, doch in Dickies Augen war für Tom nicht mehr zu erkennen, als würde er auf die harte, blutleere Oberfläche eines Spiegels blicken. Tom verspürte ein schmerzliches Ziehen in der Brust und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ihm war, als hätte man ihm Dickie unversehends entrissen. Sie waren keine Freunde. Sie kannten einander nicht. Tom war, als offenbarte sich ihm eine schreckliche Wahrheit, die für alle Zeiten galt, für alle Menschen, die er einst gekannt hatte und einst kennen würde: Jeder einzelne hatte ihm gegenübergestanden und würde ihm gegenüberstehen, und er würde immer wieder wissen, daß er keinen von ihnen jemals kennen würde, und das schlimmste daran war, daß er immer wieder für kurze Zeit der Illusion erliegen würde, er kenne sie und er und sie seien einander völlig ähnlich und in völliger Harmonie miteinander. Für einen Augenblick schien der wortlose Schock dieser Erkenntnis mehr zu sein, als er ertragen konnte. Ihm war, als schüttelten ihn Krämpfe und er müsse zu Boden stürzen. (...) Er fühlte sich von Fremdheit und Feindseligkeit umzingelt."
(highsmith, "der talentierte..."; s. 102)
puh. was highsmith hier in stilistisch und sprachlich beeindruckender art und weise beschreibt, ließe sich hinsichtlich der real vorhandenen psychophysischen hintergrundstruktur vielleicht so ausdrücken:
ripley fehlen schlicht die (wahrnehmungs-) fahigkeiten, die ihn in die lage versetzen würden, tatsächlich eine authentische beziehung erleben zu können. er kann andere nicht "lesen" (die betonung der augen in diesem zusammenhang weist auf ein verbreitetes und imo zu reduziertes klischee hin, welches sich eine simulative persönlichkeit aber als "erkenntnis" aneignen könnte). in der beschriebenen situation verlassen ihn für einen moment seine fiktionen darüber, was er als "echten" kontakt ansieht. und sein objektivistischer blick zeigt ihm tatsächlich auszugsweise und bis zur grenze des erträglichen seinen grundsätzlich autistischen status ("der wortlose Schock dieser Erkenntnis"). das er tatsächlich keinerlei authentische beziehungserfahrung kennt, beweisen die sich als solche herausstellenden illusionen: "völlig ähnlich und in vollkommener Harmonie miteinander" zu sein, hat nun wirklich nichts mit einer authentischen beziehung gleich welcher art zu tun, bei der die beteiligten sich wegen ihrer verschiedenheit schätzen, mögen und respektieren. und sich auch darüber im klaren sind, dass ein grundsätzlich fremder anteil des anderen niemals sein geheimnis preisgeben wird, egal wie groß die vertrautheit ist. dazu ist eine authentische beziehung niemals statisch, sondern dynamisch in bewegung, sprunghaft-paradox in ihrer eigenen zeit und mehrdimensional. ripley kocht diese dynamik in seinen fiktionen aber auf einen quasi eingefrorenen und möglichst ewigen eindimensionalen status quo herunter: "völlige ähnlichkeit und völlige harmonie" deutet eher auf ein massives kontrollbedürfnis hin, welches den anderen nicht als anderen erträgt, sondern ihn sich einverleiben will. ein bedürfnisbefriedigendes ding, grundsätzlich nicht verschieden von anderen bedürfnisbefriedigenden dingen. die "völlige harmonie" erlaubt zudem spekulationen in richtung pränataler phase, aber das überlasse ich Ihnen, ob und wie Sie das weiterdenken.
die deutlich psychophysischen reaktionen ("schmerzliches Ziehen", "Krämpfe") lassen sich ebenfalls verschieden deuten: einmal ließe sich hier hypothetisch die (authentische) und schmerzerfüllte reaktion eines völlig verschütteten und erstickenden selbst in höchster not vermuten. das wäre die gutwillige interpretation, die Sie sicher genauso sympathisch wie ich finden. ich fürchte aber, realistisch betrachtet, dass es sich hier eher um simulationen körperlicher art handelt - auch das leiden von ripley besitzt eine grundsätzliche als-ob-qualität, die ihm selbst die fiktion eines (nicht vorhandenen) eigenen kerns vorgaukelt. tiefensimulation nannte mertz das weiter oben. leiden zut er in einem gewissen sinne schon, aber in einigen szenen des romans wird sehr deutlich, dass es sich grundsätzlich immer um verschiedene grade von selbstmitleid handelt, die dann auch noch von der menschlichen mitwelt regelmäßig fehlgedeutet werden, was ripley auch niemals korrigiert.
die "Fremdheit und Feindseligkeit" sind dann, wenn man so will, eine der wenigen wahrnehmungen von ripley, die auf ihre ganz besondere art und weise - hm, authentisch sind: das objektivistische werkzeug kann in der welt keinen immanenten sinn wahrnehmen (der erschließt sich nur in der vollen subjektivität, die ripley nicht (mehr) leben kann) und produziert also wahrnehmungen von existenzieller fremdheit, die quasi automatisch auch die paranoide komponente im der menschlichen struktur auf den plan rufen. was hier als ausnahme erscheint, stellt in wirklichkeit die regel dar: ripley lebt immer in diesem zustand der fremdheit und feindseligkeit (mit der er im übrigen selbst besonders seiner menschlichen mitwelt begegnet), überspielt jedoch die entsprechende wahrnehmung fast ständig mit fiktionen und simulationen - sowohl für sich als auch für andere.
was mich immer wieder überrascht, so oft ich dieses buch in die hand nehme, ist die art und weise, wie die autorin es schafft, beim leser einen eindruck besonderer verletzlichkeit und sensibilität ripleys zu erzeugen - es ist sehr einfach, ihn sympathisch zu finden und mit ihm bzw. seiner einsamkeit mitzufühlen. die puren tatsachen in der geschichte betrachtet, sind diese eindrücke aber sämtlich fehlwahrnehmungen und führen völlig in die irre: ripley ist ein hochstapler und zweifacher mörder, der es sogar noch schafft, seine opfer als irgendwie mitschuldig erscheinen zu lassen. er ist völlig beziehungslos und -unfähig, nimmt andere nur als nützliche oder störende objekte wahr und lebt nur in seinen konstruktionen. dazu zeigt er immer wieder verhaltensweisen, die sich - imo fälschlicherweise - als hochgradig narzisstisch verstehen lassen. kurz, highsmith hat es geschafft, einen simulativ sehr intelligenten und deutlich antisozialen menschen mit klarer soziopathischer bzw. als-ob-struktur bis in die feinen details hinein zu zeichnen. als er einmal knapp an einem dritten mord vorbeischrammt, werden interessante einsichten in sein objektivistisches bewusstsein deutlich:
"Um Haaresbreite wäre es geschehen! Er erinnerte sich an seine kaltblütigen Überlegungen, sie mit dem Schuhabsatz bewußtlos zu schlagen, doch nicht so brutal, daß die Haut riß, sie durch den Eingangsraum und zur Tür hinauszuschleifen, ohne Licht zu machen, damit sie nicht gesehen wurden, und an seine schnell ausgedachte Geschichte, sie sei ausgerutscht und er habe gedacht, sie könne zur Treppe zurückschwimmen und sei deshalb nicht in den Kanal gesprungen und habe nicht um Hilfe gerufen, bis... In gewisser Weise hatte er sich sogar die genauen Worte vorgestellt, die er und Mr. Greenleaf später getauscht hätten, Mr. Greenleaf entsetzt und verwundert, er selbst dem Anschein nach ebenso entsetzt, doch nur dem Anschein nach.
Unter der Oberfläche wäre er so ruhig und selbstsicher gewesen, wie er es nach dem Mord an Freddie gewesen war, weil seine Geschichte unwiderlegbar war. (...) Seine Geschichten waren gut, weil er sie sich intensiv vergegenwärtigte, so intensiv, daß er sie fast selbst glaubte. (ich kann´s mir hier nicht verkneifen: ungefähr nach dem gleichen prinzip funktionieren auch methoden wie das sog. nlp; anmerk. mo).
Einen Moment lang hörte er seine eigene Stimme: `Ich stand draußen auf der Treppe und rief nach ihr, weil ich dachte, sie würde jede Sekunde auftauchen oder sie hätte mir sogar nur einen Schrecken einjagen wollen´ (...) Er verkrampfte sich. Es war, als liefe eine Schallplatte in seinem Kopf, als fände ein kleines Schauspiel in seinem Wohnzimmer statt, dem er nicht Einhalt gebieten konnte. (...) Er sah und hörte sich, wie er mit vollem Ernst sprach. Und wie ihm geglaubt wurde.
Doch was ihn eigentlich erschreckte, war nicht der Dialog oder die Einbildung, er hätte es getan (er wußte, daß er es nicht getan hatte), sondern die Erinnerung daran, wie er mit dem Schuh in der Hand vor Marge stand und sich alles so kühl und gelassen überlegte. Und der Umstand, daß er es zuvor schon zweimal getan hatte. Diese zwei anderen Male waren Tatsachen, nicht Einbildung. (...) Er wollte kein Mörder sein. Manchmal konnte er ganz und gar vergessen, daß er gemordet hatte, fiel ihm ein."
in seinem objektivistischen modus funktioniert ripley ungerührt und mechanisch wie ein computer, er beobachtet die situation prinzipiell auf die gleiche art und weise wie sich selbst auch, er ist - genauso wie er andere zu objekten macht - auch für sich selbst ein objekt, welches sich selbst beobachtet. damit kann er zwar überleben, nicht jedoch leben - in momenten der größten klarheit (wie vorhin schon einmal geschildert) wird sein verdeckter psychotischer zustand gefährlich deutlich, und zwar zunächst gefährlich für ihn selbst:
"Er legte sich zusammengekrümmt auf die Seite, zog die Füße auf das Sofa hoch. Er schwitzte und zitterte am ganzen Leib. Was war nur los mit ihm? Was war passiert? Würde er morgen, wenn er Mr. Greenleaf sah, lauter Unsinn brabbeln - daß Marge in den Kanal gefallen war und er um Hilfe gerufen hatte und ins Wasser gesprungen war, ohne sie zu finden? Würde er durchdrehen, obwohl Marge neben ihnen stand, und alles herausschreien und sich selbst als Irren entlarven?"
(highsmith, "der talentierte..."; beide zitate s. 290 - 292)
konkret: wenn er einerseits probleme mit seiner selbstkonstruierten identität bekommt, weil die realität einzudringen droht - die rolle des eiskalten mörders hat er darin nicht vorgesehen - , und andererseits sein objektivistisches werkzeug probleme mit der realitätsbewältigung innerhalb einer komplexen sozialen welt bekommt und sich zu verheddern droht - dann, ja dann droht sein psychotisches dasein auch für seine mitwelt manifest zu werden, weil er die simulation von normalität nicht mehr durchzuhalten vermag und sich dann "selbst als Irren entlarven" würde. er ist natürlich bereits die ganze zeit schon "irre", aber das fällt faktisch niemandem auf (und auch aus der obigen situation schafft er es innerlich wieder rechtzeitig heraus - mithilfe neuer simulationen...) ripley lässt sich im übrigen - genauso wie der folterer o´brien in orwells "1984" - als radikaler und existenzieller konstruktivist begreifen.
ich war mir beim ersten lesen irgendwann ziemlich sicher, dass patricia highsmith einen großteil von dem, was sie mithilfe ihres objektivistischen werkzeugs so präzise beschrieben hat, selbst in irgendeiner art und weise kennengelernt haben musste - und tatsächlich finden sich in ihrer biographie entsprechende indizien:
"Wesentliche Anregung bekam sie durch das Buch The Human Mind (nicht auf Deutsch erschienen) des deutsch-amerikanischen Psychiaters Karl A. Menninger, das sie im elterlichen Bücherschrank fand. In diesem Buch werden im populären Stil Personen mit den unterschiedlichsten psychischen Defekten geschildert."(...)
"Highsmiths Vater, Jay Bernhard Plangman (1887–1975), ein Sohn deutscher Auswanderer, kam in Fort Worth zur Welt und war Grafiker von Beruf. Auch ihre Mutter, Mary Coates (1895–1991), arbeitete als Grafikerin. Ihre Eltern ließen sich nach nur 18-monatiger Ehe neun Tage vor Patricias Geburt scheiden. Ihre Mutter heiratete 1924 Stanley Highsmith (1901–1970), auch Grafiker von Beruf. Ihren leiblichen Vater lernte Highsmith erst mit zwölf Jahren kennen.
Nach der Scheidung ihrer Eltern wurde Highsmith von ihrer Großmutter Willie Mae Coates in Fort Worth aufgezogen."(...)
"Highsmith galt als sehr zurückhaltende Persönlichkeit, die nur wenige Freunde hatte. Zeitlebens mied sie öffentliche Auftritte und Interviews. Highsmith hatte in ihrem Leben eine Vielzahl von Liebesbeziehungen mit Frauen, die meist ein bis zwei Jahre dauerten und fast immer mit völliger nervlicher Zerrüttung endeten. Sie suchte sich offensichtlich immer wieder den gleichen Typ Frau, der sie nach einiger Zeit völlig dominierte und herumkommandierte.
1963 zog sie nach Europa, wo sie es selten mehr als einige Jahre am gleichen Ort aushielt. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in dem süditalienischen Fischerdorf und Künstlerort Positano lebte sie von Ende 1963 bis 1967 in Großbritannien, von 1967 bis 1981 in Frankreich in der Gegend von Fontainebleau und schließlich seit 1981 in der italienischen Schweiz. In ihren späten Jahren soll sie zunehmend einsamer und misanthropischer geworden sein und stark dem Alkohol zugesprochen haben."(...)
machen Sie sich selbst Ihren reim drauf.
über die kindheit von tom ripley, besonders die frühen jahre, lässt sich zumindest in diesem ersten buch der ripley-reihe (die anderen kenne ich bisher nicht) recht wenig erfahren - vereinzelt sind aber fragmente eingestreut, die einiges ahnen lassen:
"Plötzlich fiel ihm ein Sommertag ein, an dem er als etwa Zwölfjähriger mit Tante Dottie und einer Freundin seiner Tante auf einer Fahrt über Land in einen Verkehrsstau geraten war. Es war ein heißer Sommertag; Tante Dottie hatte ihn mit einer Thermoskanne zur nächsten Tankstelle geschickt, wo er Eiswasser besorgen sollte, und plötzlich begann die Kolonne sich zu bewegen. Er erinnerte sich, wie er zwischen den großen Autos, die anfuhren, hin und her gesprungen war, immer kurz davor, die Tür von Tante Dotties Wagen zu erreichen, der ihm immer wieder davonfuhr, weil Tante Dottie nicht auf ihn wartete, sondern ununterbrochen aus dem Wagenfenster rief: `Na los, du Trantüte, beeil dich!´ Als er es endlich geschafft hatte, tränenüberströmt vor Wut und Frustration, hatte sie munter zu ihrer Freundin gesagt: `So ein Schlappschwanz! Durch und durch! Wie kann man nur so ein Schlappschwanz sein! Genau wie sein Vater!´"
(highsmith, "der talentierte..."; s. 44)
eine bösartige tante also, und faktisch verschwundene eltern. auch dieser hintergrund passt sowohl zur gesamtgeschichte als auch zur biographie der autorin.
und nun noch eine anmerkung zum schluß: wenn Sie sich etwas in der kriminalliteratur oder auch im science fiction-genre auskennen, werden Sie selbst auf viele andere beispiele kommen, in denen sowohl beziehungskrankheiten als auch simulative zustände - meistens unausgesprochen - so etwas wie die tragende rolle spielen. wenn Sie etwas über die zusammenhänge zwischen sozialer gewalt und traumatisierungen, die neue gewalt hervorrufen können, erfahren möchten, lesen Sie bspw. am besten die wallander-romane von henning mankell. die alten bücher von edgar wallace wimmeln nur so von soziopathischen figuren, während das in einem anderen beitrag schon erwähnte "schweigen der lämmer" gleich zwei soziopathische mörder als hauptdarsteller besitzt. es gäbe noch mehr beispiele zu nennen, aber "mr. ripley" ist nun mal in einer imo anderswo kaum zu findenden detailliertheit gezeichnet, weshalb ich mich auf diesen roman konzentriert habe. generell habe ich vor, das thema "beziehungskrankheiten in film und literatur" einmal gesondert zu bearbeiten, ebenso wird das thema der simulation und der virtuellen welten zukünftig einen schwerpunkt bilden.
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ausblick
das war nun der wahrscheinlich bisher längste beitrag in diesem blog, der dazu noch das namensgebende phänomen behandelt - und was für eins! ich bin ziemlich neugierig auf anmerkungen und diskussionsbeiträge, zumal provokantes material genug vorhanden sein sollte.
mit den nächsten schwerpunktbeiträgen werde ich mir erstmal zeit lassen - "nlp 2" wäre da zum einen, und zum anderen - was mich z.zt. am meisten interessiert - das thema "sensorische deprivation", welches hier noch gar nicht erwähnt worden ist, obwohl es z.b. auch bei der als-ob-persönlichkeit und den meisten anderen beziehungskrankheiten eine vielleicht entscheidende rolle spielt. in der soziopathie-reihe fehlt noch ein beitrag, der sich v.a. mit der arbeit von robert hare sowie der aktuellen kritik am begriff der psycho-/soziopathie beschäftigt. bis es soweit ist, werde ich hier wie üblich fortfahren und spontan mehr oder weniger aktuelle ereignisse und news aufgreifen, die ich interessant finde. das das jeweils viel mehr sind, als ich verarbeiten kann, hatte ich neulich schon mal geschrieben. wundern Sie sich also bitte nicht, wenn hier themen fehlen, die Sie vielleicht erwartet hätten.
(fortsetzung der beitragsreihe zum themenbereich soziopathie. und zum besseren verständnis des folgenden möchte ich vor allem neuen leserInnen hier noch einige ältere artikel empfehlen - einmal wären da die basisbeiträge autismus und borderline , zum anderen aber auch gerade die überlegungen zum verhältnis zwischen subjektivität und objektivität bzw. dem teil unserer menschlichen struktur, der hier immer wieder als objektivistischer modus / objektivistisches bewusstsein thematisiert wurde und wird. es bedeutet zwar zeit- und arbeitsaufwand, aber das modell der "als-ob-persönlichkeit" hat imo durchaus das potenzial, ganze welt- und menschenbilder zu erschüttern. und um diesen eindruck nachvollziehen zu können, ist eine tiefere einarbeitung voraussetzung.)
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"Er packte weiter. Das, soviel war ihm klar, bedeutete das Ende Dickie Greenleafs. Widerwilig wurde er wieder zu Thomas Ripley, einem Niemand, widerwillig schlüpfte er in seine alte Haut, nahm er wieder die Position dessen ein, auf den andere herabsahen, die sich nicht um ihn scherten, solange er sie nicht wie ein Clown unterhielt, und der sich zu nichts nutze und zu nichts befähigt fühlte als dazu, andere für ein paar Minuten zu amüsieren. Er schlüpfte in seine alte Haut so widerwillig zurück, als wäre sie ein abgetragener, ungebügelter, fleckenbespritzter Anzug, der sogar in besserem Zustand nicht viel getaugt hatte. (...)
Er ließ die Fahrkarte auf den Namen Greenleaf reservieren und dachte dabei, daß dies das letzte Mal war, daß er eine Fahrkarte auf diesen Namen reservieren ließ, obwohl man so etwas nie mit Sicherheit sagen konnte. Er klammerte sich noch immer an die Hoffnung, daß alles nur ein Strum im Wasserglas sei. Sein könnte. Und folglich wäre es dumm gewesen, Trübsal zu blasen, selbst als Tom Ripley. Auch Tom Ripley hatte nie wirklich Trübsal geblasen, mochte er auch hin und wieder so gewirkt haben. Hatte er aus den letzten Monaten nicht seine Lehren gezogen? Wenn man fröhlich oder melancholisch oder wehmütig oder gedankenverloren oder höflich sein wollte, dann mußte man das Gewünschte lediglich mit allem Einsatz spielen."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley"; bibliothek der süddeutschen zeitung 2004 (lizenzausgabe), diogenes, zürich 2002; isbn 3-937793-13-5; s. 218/219)
"Das ganze Forschungsfeld der Psychosimulation befindet sich (...) in einem ziemlich beklagenswerten Zustand, einem Zustand der Verwahrlosung, nicht zuletzt deshalb, weil ein einigermaßen präziser, psychopathologisch brauchbarer und allgemein anerkannter Simulationsbegriff bislang noch nicht zur Verfügung steht. Ein brauchbarer Simulationsbegriff, der moralisierende Denkfiguren etwa vom Typus der absichtlichen Täuschung überschreitet, setzt einen realistischen Begriff des Authentischen voraus. Der Simulationsbegriff macht nur Sinn, wenn es etwas Nichtsimulatives, also Authentisches gibt und wenn diese Differenz psychologisch bzw. psychopathologisch bedeutsam ist und ernst genommen wird. Auch H(elene) Deutsch tut sich schwer, jene Verhaltensweisen und Erfahrungsmodi, die man üblicherweise pseudo, unecht, fassadär, simulativ, imitativ, oberflächlich oder als-ob nennt, in ihren theoretischen Bezugsrahmen einzubauen."
(j.e. mertz, "borderline..."; siehe literaturliste; s. 48)
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1. einführung: kurze geschichte einer nicht-diagnose
in den entsprechenden katalogen werden Sie eine diagnose mit dem namen "als-ob" nicht finden, ebensowenig spielt das thema simulation im psychiatrischen kontext eine größere rolle, mit ein paar eher randständigen ausnahmen: einmal gibt es da das sog. münchhausen-syndrom, zum anderen - älter und von übler natur im kontext von (post-)traumastörungen - die sog. rentenneurose, die als diagnose eigentlich erst nach dem 1. weltkrieg eine rolle zu spielen begann - damals, um mögliche oder tatsächliche ansprüche von kriegsbeschädigten bzw. -traumatisierten deutschen soldaten nach schadensersatz seitens des deutschen staates mit williger hilfe der offiziellen psychiatrie abzuschmettern. dieses vorgehen wurde und wird bis heute dann auch im zivilen leben in bestimmten fällen versucht. vereinzelt taucht der begriff des simulativen bzw. täuschenden auch im zusammenhang mit der klassischen psychopathie auf (betrüger, hochstapler). ansonsten lässt sich die situation in psychiatrie/psychologie so zusammenfassen, wie es mertz oben im zitat getan hat.
mir persönlich ist der begriff der als-ob-persönlichkeit in den letzten jahren immer mal wieder sporadisch in thematisch sehr verschiedenen veröffentlichungen hauptsächlich im psychologischen bereich begegnet, wo er in der mehrzahl als synonym für das verwendet wird, was in verschiedenen psychologischen schulen als "falsches selbst" begriffen wird. dieser begriff impliziert gleichzeitig eigentlich immer auch die existenz eines "richtigen, authentischen selbst", zu dem durch die verzerrungen und masken des "falschen" durchgedrungen werden soll. real spielt dieses denkmodell besonders im zusammenhang mit einigen diagnosen aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen eine teils wichtige rolle: borderline, die antisoziale und die narzisstische ps wären hier zu nennen, aber auch die frühere "hysterie" und ihre diagnostische nachfolgerin, die histrionische ps.
das geflügelte wort von der "harten schale mit dem weichen (= guten) kern" erfasst dieses denkmodell zumindest z. t. in einer populären art und weise.
es ist hier wieder mal das buch von mertz, welches zu der obigen und weitgehend etablierten sichtweise einen krassen und provozierenden gegenpol setzt:
"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´
Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offensichtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."
( j.e. mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)
zum angesprochenen aspekt des autismus später mehr. diesem buch verdanke ich zuerst aber die kenntnis von helene deutsch als "schöpferin" des modells der als-ob-persönlichkeit:
"1942 veröffentlichte Helene Deutsch die etwa zwanzigseitige klinische Studie (...) (deutscher titel: `Über einen Typus der Pseudoaffektivität [als-ob]´). Die Studie (...) beschreibt die Als-Ob-Persönlichkeit, einen klinischen Typus mit vermeintlichem Seltenheitswert, den manche, aber nicht alle Experten heutzutage dem Borderlinespektrum oder seinem Umfeld zuordnen würden. Charakteristisch für die Als-Ob-Persönlichkeit sind Pseudoemotionalität, unechte Beziehungsformen und ein grundlegendes Defizit an authentischer Personalität bzw. Identität, das sie durch Identifikation mit und Imitation von externalen Modellen zu kompensieren sucht." (...)
"H. Deutsch hatte sich schon früh für die `pathologische Lüge´ interessiert, für Betrüger und Hochstapler, und damit einen klassisch psychiatrischen Typus, nämlich den Psychopathen, ins Visier genommen, einen der historischen Vorläufer des Borderlinetypus.
Manche Traditionslinien innerhalb der Borderlineforschung zählen diesen Aufsatz von 1942 zu den frühen Standardarbeiten, er wird immer wieder erwähnt, teils aus historischen Gründen (...), teils wegen psychodynamischer Details, die von der psychoanalytisch orientierten Borderlineliteratur gelegentlich aufgegriffen werden."
(mertz, "borderline..."; s. 47/48)
der begriff setzte sich jedoch "offiziell" niemals wirklich durch, was primär etwas mit dem (nicht-)verständnis von begriff und rolle des simulativen bei psychophysischen störungen und da besonders bei den beziehungskrankheiten zu tun haben dürfte. wobei aber auch noch wichtig ist, wie denn nun genau die definition eines als-ob-zustandes aussieht: maskerade eines "versteckten selbst", oder aber - simulation über simulation ohne authentischen "kern" dahinter? dazu mehr jetzt im punkt
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2. als-ob: zwischem "falschem selbst" und "totaler simulation"
wie schon hinsichtlich des objektivistischen modus angemerkt, sind auch die wahrscheinlich von diesem produzierten als-ob- bzw. simulationszustände (ich werde in der folge beim letzteren begriff bleiben) erstmal nichts grundsätzlich pathologisches. wenn ich bisher im blog auf simulationszustände zu sprechen gekommen bin, dann eigentlich immer in überwiegend negativen zusammenhängen, weil eine dominanz (!) dieser zustände (wozu auch trance- bzw. dissoziationszustände zu zählen sind, auch wenn das nochmal ein eigenes thema ist) in sozialen zusammenhängen nun mal ein alarmzeichen ersten ranges darstellt. (psycho-)simulationen an sich, von denen als krasseste und vermutlich auch verbreiteste form das lügen uns allen bekannt sein dürfte, sind eine spezifische menschliche ausstattung, die letztlich dem überleben dient - probleme und schwierige situationen bspw. simulativ durchzuspielen, aus bedrohlichen situationen mithilfe von tricks und lügen zu entkommen, in sozialen/gesellschaftlichen situationen zu beginn ersteinmal eine art maske zu präsentieren, bis deutlich geworden ist, ob und wem der anderen wirklich vertraut werden kann - all das lässt sich zunächst als durchaus mehr oder weniger sinnvolles verhalten begreifen. verhalten, für welches das objektivistische werkzeug unseres bewußtseins genutzt wird.
"Wir dürfen also allein schon aufgrund unserer ganz gewöhnlichen Alltagserfahrung folgendes festhalten: Erstens, die funktionalen Beziehungen zwischen authentischen und simulativen Lebensäußerungen und Optionen sind wesentlich komplexer und außerdem viel interessanter, als man sich das üblicherweise vorstellt. Zweitens, die Begriffskomplexe `authentisch´ und `simulativ´ sind regelmäßig, auch im wissenschaftlich-professionellen Denken bis zur Unkenntlichkeit überladen mit ideologischen und moralischen Implikationen und Konnotationen: Das Authentische ist in keiner Weise identisch mit dem Guten und Schönen und Gesunden, und das Simulative ist keinesfalls per se etwas Schlechtes oder Böses."
(mertz, "borderline...."; s. 70)
entscheidend ist auch hier das verhältnis zur qualitativ anders strukturierten vollen subjektivität mit ihren authentischen beziehungsoptionen, für die das objektivistische werkzeug letztlich nur eine art zuarbeit (im vorbereitenden und korrigierenden sinne) liefern sollte. bei den hier thematisierten beziehungskrankheiten und pathologischen zuständen jedoch ist quasi das werkzeug zum einzigen mittel der realitätbewältigung geworden - anstelle des "seins an sich" sozusagen -, und das kann nicht ohne schwere und fatale konsequenzen bleiben - das virtuelle fängt an, die realität zu ersetzen; die lüge wird zum lebensstil, und die maske verdeckt dann nicht mehr ein eingeschüchtertes oder verkümmertes selbst zum schutz, sondern im besonderen extremfall der totalsimulation ein - unpersonales nichts.
die meisten der als solche bezeichneten "psychischen" (psychophysischen) krankheiten dürften zu einem großen teil dadurch bedingt sein, dass das homöostatische gleichgewicht zwischen subjektivem sein und objektivem werkzeug in trudeln geraten ist, und sich jemand immer mehr und mehr in simulationszuständen verstrickt, die bspw. in der vergangenheit vielleicht einmal ein schutzfunktion hatten (bei einer traumatischen biographie z.b.); oder aber die in der gegenwart vielleicht durch einen beruf innerhalb von stark anonymisierten strukturen zb. eines großen unternehmens gefördert werden, in denen das funktionieren an erster stelle steht und die gesamte (authentische) beziehungsebene diesem funktionieren eher hinderlich wäre - weshalb dann hauptsächlich nur noch beziehungssimulationen angesagt sind. und gerade durch diese art simulationen scheint sich das sog. öffentliche leben in gesellschaften wie unserer mehr und mehr charakterisieren zu lassen - bei den welten von show und film ist das eh offensichtlich (siehe auch die querverbindungen zu borderline- und narzisstischen persönlichkeiten), aber auch in der imo unberechtigterweise so genannten (berufs-)politischen sphäre lässt sich mehr und mehr eine dominanz des simulativen beobachten (was dann auch etwas mit den früher schon angesprochenen suchtstrukturen bei politikerInnen zu tun haben dürfte).
mertz (und bis zu einem gewissen punkt auch arno gruen, wobei der eine imaginäre grenzlinie nicht überschreitet und immer von einem hypothetisch vorhandenen selbst ausgeht) zieht nun die konsequenz, die beim weiterdenken von simulationszuständen auf der hand liegt: es macht einen qualitativen unterschied aus, ob jemand trotz einer zeitweiligen und funktionellen dominanz dieser zustände verdeckt, im hintergrund, und nicht mehr unbedingt ohne ernsthafte schwierigkeiten erreichbar, immer noch über seine/ihre volle subjektivität mit der option zu authentischen beziehungen verfügt - oder ob jemand diese option womöglich niemals besessen hat, weil die psychophysiologischen grundlagen dafür (u.a. zentrale wahrnehmungsfähigkeiten) bereits z.b. pränatal schwer beschädigt oder gar - von seiten einer beziehungs- und liebesunfähigen mutter aus, wobei die gründe dafür erstmal zweitrangig sind - niemals die notwendigen beziehungsmäßigen stimulationen (mit "t"!) für ihre entwicklung erhalten haben. ein solcher mensch würde sich quasi noch vor seiner geburt auf das objektivistische werkzeug als einziges mittel zur lebens- und realitätsbewältigung zurückgeworfen sehen. und: er oder sie würde nichts anderes kennen können, würde die aus diesem speziellen defektzustand sich ergebende realität/welt für die quasi natürliche und normale halten. und immer dann in schwierigkeiten geraten, wenn authentische beziehungen gefragt sind. wofür einem solchen menschen schlicht die nötige psychophysische ausstattung fehlen würde.
das dürfte für die meisten unter uns erstmal befremdlich klingen. aber machen Sie sich bitte einmal folgendes klar: ebenfalls haben die meisten menschen nach entsprechender aufklärung keine großen schwierigkeiten damit, im allgemeinmedizinischen bereich krankheitskonzepte zu verstehen, die bspw. davon ausgehen, dass ein durch eine bestimmte organische funktionsstörung nicht mehr (ausreichend) produziertes enzym für weitreichende probleme im stoffwechselgeschehen sorgen kann. die genese einer solchen störung - Sie können auch eine bakterielle oder virale infektion nehmen - erscheint irgendwie logisch, ebenso wie die dadurch ausgelösten symptome und/oder behinderungen.
viele menschen haben aber sehr deutlich mühe mit der vorstellung, dass die in den obigen beispielen zutage tretenden prinzipien zwar nicht eins zu eins übersetzbar (das wäre imo sachlich nicht gerechtfertigt), aber doch prinzipiell eben auch im bereich von beziehungskrankheiten bzw. schweren störungen der sozialen fähigkeiten gültig sein könnten. wer fragt (sich) schon danach, wenn er oder sie z.b. verliebt ist, was eigentlich genau im psychophysischen geschehen notwendigerweise passieren muss, um in einen solchen zustand zu geraten (und was bei denen anders ist, die sich nicht verlieben können)? wer fragt danach, was für psychophysische voraussetzungen nötig sind, um bspw. ein tiefes, emotional befriedigendes gespräch mit einem anderen führen zu können (wozu die körperliche präsenz unabdingbar ist, und ebenso die fähigkeit, das ganze und zu einem großen teil unbewußt ablaufende körperlich basierte kommunikationsgeschehen wahrnehmen zu können)? richtig: es wird genausowenig gefragt wie nach einem guten essen zu den an der verdauung beteiligten und notwendigen prozessen. solange diese funktionieren, ist das ja auch keine unbedingte notwendigkeit.
wenn aber das soziale leben im allgemeinen und - in gestalt der jeweils individuellen beziehungs(un)fähigkeiten - im besonderen so aussieht, wie es ein blick in die menschliche geschichte nahelegt, lässt sich wohl nur sehr schlecht von einem tatsächlichen funktionieren sprechen. belege dafür sind in den täglichen nachrichten zur genüge zu sehen, und zu einem kleinen teil auch hier im blog dokumentiert. und als das extremste symptom dieses nichtfunktionierens bzw. für die störung existenzieller psychophysischer prozesse können eben jene menschen angesehen werden, die eine mehr oder weniger komplette beziehungsunfähigkeit aufweisen - die klassischen autisten -, und diejenigen, die soziale aktivität und soziales handeln im weitesten sinne von beginn ihres lebens an nur simulieren können bzw. müssen. für genau diese existiert das modell der als-ob-persönlichkeit. und das sieht im einzelnen so aus - wir kommen zum punkt
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3. die definition nach h. deutsch
"Zunächst, so Helene Deutsch, haben wir es im Fall der Als-Ob-Person mit einem durchaus `realitätstüchtigen´ Menschen zu tun, der `äußerlich´ vollkommen `normal´ funktionieren kann: `Es gibt nichts, was auf irgendeine psychische Störung hinweist, das Verhalten hat nichts Ungewöhnliches an sich, die intellektuellen Fähigkeiten scheinen intakt zu sein, die emotionalen Äußerungen sind wohlgeordnet und angemessen´. Die Als-Ob-Person kann `begabt´ sein und `großes Verständnis für intellektuelle und emotionale Probleme aufbringen, ihre `Beziehungen´ sind `gewöhnlich intensiv und tragen alle Merkmale von Freundschaft, Liebe, Sympathie und Verständnis.´ Die Als-Ob-Persönlichkeit kann also realitätstüchtig, vollkommn angepaßt und unauffällig sein und sozial wie beruflich effizient funktionieren."
(mertz, "borderline..."; s. 53)
also ein (fast) perfekter fall von mimikry. oder anders ausgedrückt: "sie waren keine persönlichkeiten und imitierten die menschen". im besten - für die als-ob-person - und schlechtesten fall - für die menschliche mitwelt - könnte das z.b. so aussehen:
"Er fühlte sich allein, aber überhaupt nicht einsam. Es war sehr ähnlich wie das, was er am Heiligabend in Paris empfunden hatte, ein Eindruck, als beobachteten ihn alle, als agiere er vor einem Publikum, das aus der ganzen Welt bestand, und dieser Eindruck spornte ihn zu Höchstleistungen an, denn jeder MIßgriff hätte katastrophale Folgen gehabt. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß er keinen Mißgriff begehen würde. Sein Dasein war mit einer besonderen, köstlichen Atmosphäre der Reinheit angereichert, dem vergleichbar, dachte Tom, was ein Schauspieler empfinden mußte, wenn er eine wichtige Bühnenrolle in der Überzeugung spielt, daß niemand diese Rolle besser spielen könne als er. Er war er selbst und war es nicht.
Er kam sich unschuldig und frei vor, obwohl er jeden Schritt, den er tat, bewußt plante und ausführte."
einschub: erinnern Sie sich noch an temple grandin, im basisbeitrag autismus? "Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück."
"Und nach mehreren Stunden war er jetzt nicht mehr erschöpft wie zu Anfang. Wenn er allein war, mußte er sich nicht mehr ausruhen. Jetzt war er Dickie, sobald er aufstand und sich die Zähne putzen ging, die er sich mit angewinkeltem Ellbogen putzte, er war Dickie, der die Eierschale für einen letzten Bissen auf dem Löffel drehte, Dickie, der unweigerlich die erste Krawatte, die er vom Krawattenhalter zog, zurückhängte und sich eine andere nahm. Sogar ein Bild in Dickies Stil hatte er verfertigt."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley", siehe weiter oben; s.155/156)
wie hier ebenfalls schon öfter erwähnt, spricht vieles für mehr oder weniger große strukturelle verwandtschaften zwischen den psychiatrischen diagnosen, die sich als beziehungskrankheiten verstehen lassen. im falle der totalsimulativen persönlichkeit, welche die offizielle psychiatrie und psychologie bis heute noch nicht mal als hypothetische möglichkeit anerkennen will, haben wir bis jetzt also hinweise richtung klassischer psychopathie (soziopathie), klassischem autismus sowie borderline und narzisstischer ps. jedenfalls dann, wenn diese störungsbilder jeweils oberflächlich betrachtet werden. zum jetzigen zeitpunkt ist mein persönlicher eindruck der, dass der bereich der simulation bei allen eine große rolle spielt - aber wie genau und wie stark, dürfte teils im entscheidenden maße unterschiedlich sein.
"Wie reagiert nun die menschliche Umwelt auf die Als-Ob-Persönlichkeit und deren Fassade?
Die Als-Ob-Leistung mag zunächst glaubwürdig erscheinen und von der menschlichen Umwelt für bare Münze genommen werden, aber `etwas Unfaßbares und Unbestimmbares schiebt sich zwischen diese Person und ihre Mitmenschen´, ein diffuses Gefühl, daß `irgendetwas nicht stimmt´, `selbst der Laie bemerkt bald etwas Seltsames´. Das ist die ganz unvermeidliche authentische Reaktion auf eine extreme Diskrepanz in den Lebensäußerungen einer anderen Person, die objektiv betrachtet alles richtig macht und doch zugleich, in unserer authentischen Wahrnehmung, auf eine zunächst ganz und gar unverständliche, unerklärliche und unbeschreibliche Weise alles falsch macht.
Diese Irritationen samt den dazugehörigen diffusen Mißempfindungen können in der alltäglichen Begegnung immer wieder blitzartig einschießen oder als Störfrequenz den Kontakt mit der Als-Ob-Person ständig überlagern. Die Störmeldungen werden vor allem dann ausgelöst, wenn wir ein auch nur ansatzweise authentisches Beziehungsfeld zur Als-Ob-Person hin aufmachen, also auf interpersonale Nähe gehen: Das geht auch einseitig.(...)"
(mertz, "borderline..."; s. 53)
darauf folgend beschreibt er etwas, was er mit "psychoallergischem reflex" bezeichnet - da die meisten menschen nichts vom modell bzw. vom angenommenen tatsächlichen existieren der simulativen persönlichkeit wissen, werden sie - bei eigener einigermaßen voll ausgebildeter wahrnehmungsfähigkeit - auf die simulative art reagieren, allerdings in einer unbewußten, subtilen und versteckten form. so, wie auch die eigene realistische wahrnehmung der simulativen persönlichkeit aussieht - die authentische kommunikation bzw. ihre voraussetzungen können von der simulativen persönlichkeit nicht "erreicht" werden, da die notwendigen körperlich basierten (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten lahmgelegt sind, die erst jene prozesse ermöglichen würden, die eine ganzheitliche authentische kommunikation ausmachen - als vielleicht zentralstes wäre hier die empathiefähigkeit zu nennen, die für ein "einschwingen" auf den psychophysischen zustands des gegenübers erforderlich ist. simulative persönlichkeiten lassen hier ein merkmal erkennen, welches auch für den klassischen autismus (in der aspergervariante) bedeutsam ist: sie können zwar korrekt - "objektiv" - beobachten und das beobachtete auch beschreiben - aber sie werden davon nicht berührt. der unterschied zum klassischen autisten liegt darin, dass die simulative persönlichkeit dieses berührtsein mehr oder weniger überzeugend zu spielen vermag. aber vorsicht an dieser stelle mit wertungen wie "vorsätzlicher betrug" o.ä.: der betroffene mensch glaubt i.d.r. daran, dass sein spiel identisch mit dem authentischen ist und wird möglicherweise erst durch den selbstvergleich mit authentizitätsfähigen menschen irritiert. gesellschaften, in denen simulationen im sozialen leben verbreitet sind und als "normal" angesehen werden, fördern diesen irrtümlichen eindruck selbstverständlich noch.
der erwähnte "psychoallergische reflex" besteht auf seiten des zur authentischer kommunikation fähigen menschen nun darin, dass die eigentlich erwarteten authentischen signale des gegenübers ausbleiben bzw. das das, was so aussieht als ob, keinerlei tatsächlichen inhalt besitzt. das führt zu diversen irritationen und mißempfindungen in "psyche" und im körper, die jedoch - da nur sehr wenige menschen über ihre vollen (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten verfügen - als diffus, unklar und subtil wahrgenomen werden, in der folge nicht "korrekt" zugeordnet werden können und letztlich das objektivistische bewußtsein auf den plan rufen, welches dann - ironischerweise - versucht, die lücken in der eigenen wahrnehmung mit intellektuellen erklärungen und fiktionen zu schließen, die sich beliebig weit von der tatsächlichen situation entfernen können. eine innere distanzierung quasi (notwendige folge der aktivität des objektivistischen modus), die den relativ gesünderen menschen selbst in eine sekundäre als-ob-position bringt - und damit wiederum den eindruck der simulativen persönlichkeit fördert, dass ihre weltwahrnehmung die eigentlich "richtige" und normale darstellt!
"Dem Analytiker, so H. Deutsch, `wird bald klar´, daß bei der Als-Ob-Person `alle Gefühlsäußerungen rein formal´ sind und das dabei alle `innere Erfahrung vollkommen ausgesperrt bleibt´. Gefühle werden im `objektiven´ Sinne `formal´ richtig und situationsadäquat geäußert, aber die eigentlich dazugehörenden `inneren Erfahrungen´ fehlen. Ohne diese binnenpsychischen Prozesse bleibt das geäußerte Gefühl als bloß `äußerliches´ Gefühl unvollständig und wird von der Als-Ob-Person nicht in der Weise empfunden, wie es die äußere Form vermuten lässt."
bei der zwangsläufig folgenden frage danach, wie solche pseudoemotionen denn nun produziert werden, attestiert mertz helene deutsch erstens einen krassen bruch in der argumentation und zweitens ein strategisches gedankenmanöver, in dessen folge die innere leere als eine art "vakuum" hinter den masken der als-ob-persönlichkeit aufgefasst wird, welches es mit authentischen erfahrungen aufzufüllen gilt. weiter dazu:
"Das angebliche Vakuum existiert nicht wirklich, zumindest nicht realpsychisch, d.h. weder subjektiv-erfahrungsmäßig noch funktional, es handelt sich bei diesem angeblichen Vakuum lediglich um eine unglückliche Metapher, eine bloße Fiktion, die auf die Als-Ob-Person projiziert und dort deponiert wird. Das vermeintliche Vakuum ist (...) tatsächlich angefüllt mit `innerer Erfahrung´, die der geäußerten Pseudoaffektivität realpsychisch vollständig entspricht. Die Als-Ob-Persönlichkeit, die äußerliche Pseudoaffekte produziert, operiert auch intrapsychisch ( `innen´) auf der gleichen Funktionsebene, nämlich auf der Als-Ob-Ebene: Ein passender und mnemotechnisch günstiger Begriff hierfür wäre Tiefensimulation.
Ganz allgemein formuliert: Hinter den Als-Ob-Produktionen, etwa den Pseudoemotionen, steckt weder ein authentischer Prozeß (nicht nachweisbar) noch ein Vakuum (rein fiktiv), sondern ein subjektiv-erfahrungsmäßiger und funktional gleichartiger Als-Ob-Prozeß. Dieser Gedankengang klingt banal, ist es aber nicht: In der Theorie tendiert man dazu, das Unechte, die Fassade als bloß Äußerliches zu betrachten, das wie ein Hindernis überwunden werden muß, um schließlich zum Eigentlichen und Inneren, eben zum authentischen Kern der Person vorzudringen."
(zitate oben: mertz, "borderline..."; s. 54)
diese verbreitete vorstellung von der harten bzw falschen schale, die den kern schützt und versteckt, hatten wir weiter oben schon mal angesprochen. und in der tat ist dieser aspekt des modells der als-ob-persönlichkeit - das sich nämlich hinter der maske nur wieder eine maske und eine maske...befindet - , der für mich immer noch verstörendste und auch bedrückendste teil. tatsächlich werden Sie in so ziemlich allen etablierten psychologischen schulen (eventuell bilden einige richtungen der verhaltenspsychologie hier die ausnahme) genau die theorie finden, die vom als-ob-modell radikal negiert wird: das authentische selbst wird wie eine naturgesetzlichkeit als grundsätzlich vorhanden vorausgesetzt. wenn aber nun - wofür es imo gute gründe gibt - davon ausgegangen wird, dass das, was wir allgemein so als selbst (persönlichkeitskern) begreifen, ganz elementar an unsere körperlichkeit gebunden ist und sich darüber gestaltet und wahrgenommen wird, wird das modell der simulativen persönlichkeit nicht mehr als völlig abwegig abgetan werden können - eben weil das notwendige funktionieren der nötigen prozesse auf der materiell-körperlichen ebene geschädigt werden kann. und zwar auch und gerade durch zerstörerische einflüsse im sozialen leben, wozu sich - als eine besondere variante - bereits das pränatale leben zählen lässt.
"Die Als-Ob-Persönlichkeit, so Helene Deutsch, `versucht affektive Erfahrung zu simulieren´, `emotionale Beziehungen zur Außenwelt oder zum eigenen Ich´ `fehlen´vollständig, sind also nicht bloß `unterdrückt´ bzw. `blockiert´.
Das kann kaum anders als folgendermaßen interpretiert werden: Der lebendige Dialog hat nicht stattgefunden, die entsprechenden Dialog-, Beziehungs- und Liebesfähigkeiten, die ja ohne authentische Emotionalität nicht denkbar sind, konnten sich beim Kind nie entwickeln. Wohlgemerkt, die authentischen Potenziale der Als-Ob-Persönlichkeit sind nicht unterdrückt oder blockiert, es verhält sich eher so, daß ein authentischer Nucleus, der zum Ausgangspunkt eines Heilungsprozesses gemacht werden könnte, nicht mehr existiert. Das authentische Potential ist nicht beantwortet worden,und deshalb erloschen, d.h. nicht mehr aktualisierbar, praktisch nicht vorhanden. So H. Deutsch. (...)
Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß es die totalsimulative Persönlichkeit, d.h. den Totalsimulanten, tatsächlich gibt."
(mertz, "borderline..."; s. 55)
ein äußerst unangenehmer und bedrohlicher gedanke, wie schon angedeutet. und möglicherweise lässt sich der als-ob-zustand auch als extremste und tiefste form dessen begreifen, was unter dem begriff entfremdung seit eh und je in gesellschafts- und sozialkritischen diskussionen zwar benannt, aber kaum jeweils einmal in einer tatsächlich "griffigen" art und weise genau in seinen konsequenzen und in seinem möglichen funktionieren beschrieben wird. ich vermag mir jedenfalls keine weitgehendere form der entfremdung - von sich selbst und der gesamten sozialen mitwelt - vorzustellen, als die lebenslängliche existenz innerhalb von virtuellen räumen, in denen weder (authentische) biographie, (authentische) identität noch die (authentische) subjektive zeit vorhanden sind.
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da er bisher nur selten öffentlich zu sehen ist und in de. nur von einem einzigen einschlägig bekannten vertrieb auf dvd geführt wird (wo er auch noch oft genug ausverkauft ist), möchte ich an dieser stelle - noch mit genügend vorlauf - auf den folgenden termin hinweisen:
mittwoch, 26.04., um 19.30 h im kino 46 an der waller heerstr.
"the corporation" wurde im blog in verschiedenen beiträgen ja schon öfter erwähnt - inhaltlich finden sich nähere angaben/rezensionen dazu z.b. hier, hier und hier.
eingeladen zur anschließenden diskussion ist rudolf hickel - betrachte ich mit etwas gemischten gefühlen. aber vielleicht finden ja auch ein paar psychiatrisch/psychotherapeutisch tätige den weg nach hb-walle.
ja, und ich vermute, dass eine kartenreservierung empfehlenswert sein dürfte.
edit: nicht unterschlagen möchte ich den link auf die homepage der regisseure.
als ergänzung zu diesem beitrag hier können heute ein paar artikel in der aktuellen taz gelesen werden, so z.b. dieser:
"Sofort nach seiner knappen Wahlniederlage forderte Silvio Berlusconi nicht nur eine Überprüfung von 43.000 umstrittenen Stimmzetteln in Italien, sondern gleich dazu die komplette Neuauszählung der von den Auslandsitalienern abgegebenen Stimmen; da nämlich habe es "gravierende Unregelmäßigkeiten" gegeben.
Die Forderung überrascht schon deshalb, weil die gesamte Abstimmungsprozedur in den Händen des Innenministeriums der Regierung Berlusconi lag. Sie überrascht aber auch vor einem ganz anderen Hintergrund: Nicht immer, nicht überall ist Berlusconis Blick auf mögliche "gravierende Unregelmäßigkeiten" so kritisch - zum Beispiel nicht in Sizilien. Die Insel bildet seit Berlusconis Einstieg in die Politik 1994 das wichtigste Stimmbecken für seine Partei Forza Italia und für seine Koalition. Viele der Abgeordneten und der Senatoren aus seinem Lager haben Ermittlungsverfahren oder Prozesse laufen - wegen Mafiaverstrickungen. Doch kein einziger musste sein Mandat niederlegen oder wenigstens bis zur Aufklärung der Vorwürfe ruhen lassen. Im Gegenteil: Alle wurden wieder als Kandidaten aufgestellt, meist dazu noch auf sicheren Listenplätzen, um ihnen die Wiederwahl zu garantieren.
Berlusconi selbst musste sich über die Jahre in Palermo fünf Ermittlungsverfahren gefallen lassen, wegen Unterstützung einer mafiösen Vereinigung und wegen Geldwäsche; allerdings wurden alle diese Verfahren eingestellt. Auch die Staatsanwaltschaften von Florenz und Caltanissetta ermittelten: Sie verdächtigten Berlusconi gar, einer der Hintermänner jener blutigen Anschläge der Mafia von 1992/93 in Palermo, Mailand und Florenz gewesen zu sein, die die Staatsanwälte Giovanni Falcone, Paolo Borsellino und zahlreiche andere das Leben kosteten. Auch diese Ermittlungen wurden schließlich eingestellt, weil innerhalb der vom Gesetz für ein Ermittlungsverfahren vorgesehenen Fristen keine hinreichenden Beweise für eine Anklageerhebung gefunden wurden."(...)
ich denke nicht, dass ich das noch groß kommentieren muss. eher sollten wir uns erstens deutlich machen, dass sehr viele informationen dafür sprechen, dass diese zustände keineswegs nur in italien so herrschen, und zweitens - noch wichtiger - die frage stellen: warum lassen wir derartige gestalten faktisch über unser leben bestimmen? es gibt zweifelsohne einen starken eigenanteil bei den beherrschten, wenn antisoziale/soziopathen immer wieder in zentrale macht- und führungspositionen gelangen können. mögliche gründe dafür sind in der vergangenheit hier schon mehrmals angerissen worden, v.a. im kontext der psychohistorie von deMause. aber es wird von tag zu tag dringlicher, nicht nur die gründe für die eigenen verstrickungen wahrzunehmen, sondern endlich auch praktikable konzepte zu schaffen, um die völlig unakzeptblen realitäten nachdrücklich zu verändern. das ist schlicht eine überlebensfrage.
und wenn´s nur das wäre...ab mitte der woche wird sich das glücklicherweise wieder ändern, und dann plane ich hier - aber dazu später mehr.
"zeitung", bzw. diverse online-versionen verschiedener blätter, sind aber das angemessene stichwort - natürlich gehen mir nicht nur viele interessante artikel und news und durch die lappen, weil ein einigermaßen repräsentativer überblick zu einem oder mehreren themenbereichen eigentlich nur in einem entsprechenden beruflichen kontext möglich ist ( so jedenfalls meine eigene erfahrung), sondern selbst dann, wenn ich im kontext dieses blog immer wieder mal gezielter recherchiere, ist es meistens rein vom umfang her unmöglich, alles anfallende so zu behandeln, wie ich es mir eigentlich wünschen würde. ein teil kann ich hier durchaus bearbeiten (einige beispiele dafür finden sich z.b. in den beiträgen der letzten zwei wochen), aber andere - und imo ebenso interessante und wichtige informationen - bleiben schlicht und einfach liegen. was mich ebenso schlicht und einfach stört und unzufrieden macht, aber es wird mir wohl vorläufig nichts anderes übrigbleiben, als dem sich darin manifestierenden hang zum perfektionismus mal wieder den kampf anzusagen.und am besten fange ich auf der stelle damit an, denn es stört mich auch, wenn artikel (aus meiner sicht) wichtige themen aufgreifen und zu (aus meiner sicht) falschen oder sogar verheerenden schlüssen kommen. und trotzdem bzw. gerade deswegen möchte ich Ihnen die folgenden fundstücke nicht vorenthalten, wobei ich sehr wahrscheinlich bei gelegenheit die dort angesprochenen themen nochmals aufgreifen werde.
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die pläne der französischen regierung zum sehr frühen screening von vermeintlichen oder tatsächlichen antisozialen persönlichkeiten wurden hier neulich schon mal vorgestellt. heute hat nun die faz dieses vorhaben mit einem seltsam ambivalenten grundtenor aufgegriffen: der artikel "Aggressive Embryos" wendet sich einerseits mehr oder weniger deutlich gegen die französischen pläne -
(...)"Ausdrücklich genannt wird dabei eine Studie des Institut national de la santé et de la recherche medicale (Inserm) aus dem letzten Herbst, bei deren Lektüre es einem kalt über den Rücken läuft. Ihr Titel lautet „Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen” und ist auf der Internetseite des Instituts abrufbar. Es geht darum, wie bereits im frühkindlichen Alter bis zu drei Jahren oder gar schon vorgeburtlich bei einem Embryo latente Gewaltbereitschaft diagnostiziert werden kann.
Risikofälle schon vom embryonalen Stadium an verfolgen
In eisigem Wissenschaftsjargon wird dort beschrieben, wie in diesem Frühstadium bei Mäusen und Ratten im Labor aggressive Veranlagungen festgestellt werden konnten. Der Bericht unterscheidet zwischen eigentlicher „Verhaltensstörung” (trouble des conduites) und „Störung aus Auflehnung” (trouble oppositionnel): Das sei zwar nicht ganz dasselbe, gehe aber oft zusammen, heißt es beim Inserm. Die Experten wollen sich aber nicht mit bloßen Forschungsergebnissen begnügen. Sie empfehlen in ihrer Studie, schon vom embryonalen Stadium an in besonderen Risikofällen - sehr junge Mütter, Eltern aus dem Drogenmilieu, kriminelle oder psychiatrische Vorbelastungen in der Familie - die Entwicklung eines Embryos oder eines Kleinkindes klinisch und psychologisch genau zu verfolgen.(...)"
um dann am ende mit dem evergreen vom (psychoanalytisch untermauerten) biest in uns allen aufzuwarten:
(...)"Diese Obsession für Normverhalten und Sicherheit, die nicht mehr mit Subjekten, sondern nur noch mit Bevölkerungssektoren rechne, sei jedoch sehr demokratisch, sagt der Psychoanalytiker Gerard Wajcman. In jedem von uns schlummere ein Biest, jeder sei potentiell gewalttätig, also gehe auch am besten jeder mit einem ständig aktualisierten klinischen Führungszeugnis durchs Leben.(...)"
das meint der analytiker womöglich kritisch - ohne sich jedoch offensichtlich darüber im klaren zu sein oder es zugeben zu wollen, dass gerade die orthodoxe pa dieses bild von der "bestie", dem "tier" im menschen (psychoanalytisch als es bezeichnet) ordentlich gefördert und in einem gewissen sinn in den heute vorliegenden bildern davon auch erst konstruiert hat.
ich hatte es ja schon im ersten beitrag zum thema anklingen lassen, dass ich aus gründen, die hier im blog inzwischen zur genüge nachzulesen sind, dem grundgedanken einer frühen erkennung und auch prävention von schwerwiegenden beziehungskrankheiten nicht total verschlossen gegenüberstehe. ich möchte jedoch jede assoziation in richtung eugenik bzw. dem, was einmal auch psychiatrisch unter "rassenhygiene" verstanden worden ist, zurückweisen - mir geht es um die hier zur genüge dokumentierten fatalen individuellen und kollektiven folgen dieser beziehungskrankheiten, deren ursprung sich für mich hauptsächlich in den heutigen sozialen und teils unerträglichen bedingungen unseres lebens verorten lässt. das heißt dann auch, dass die erwähnte prävention für mich auch sachlich nur sinn macht, wenn gleichzeitig diese bedingungen zur disposition gestellt werden. von daher sage ich zu den ideen aus frankreich: eine im grunde richtungsweisende idee wird von den falschen leuten mit falschen begründungen zur falschen zeit in einem falschen kontext und mit zielsetzungen vertreten, die einer befreienden gesamtgesellschaftlichen wirkung konträr entgegenstehen. hier geht es um soziale selektion in einer kapitalistischen gesellschaft. und das ist nichts, was irgendjemand mit einem minimum an sozialer empathie unterstützen kann.
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in der printausgabe der faz findet sich unter dem obigen artikel ein anderer, der - ohne das das weiter thematisiert wird - vielfältige inhaltliche berührungspunkte mit dem beitrag über frankreich aufweist. "Ungeborene Verbrecher" behandelt eine seit längerer zeit in den usa laufende diskussion darüber, ob es einen nachweislichen zusammenhang zwischen der legalisierung der abtreibung und dem rückgang der offiziellen kriminalitätsrate gibt:
(...)"Wesentliche Ursache für den Rückgang der Straftaten um rund dreißig Prozent und den Rückgang der Morde um sogar rund vierzig Prozent sei die Tatsache, daß der Oberste Gerichtshof 1973 ein Recht auf Abtreibung anerkannt habe. „Dies dürfte zur Verminderung der Gesamtkriminalität beigetragen haben”, legten die beiden Professoren in ihrem Aufsatz „The Impact of Legalized Abortion on Crime” dar, der im „Quarterly Journal of Economics” erschien. Rund 30 Milliarden Dollar im Jahr ließen sich dadurch einsparen.
Heikle ethnische Implikation
Wären unter den Menschen, die dank liberalem Abtreibungsrecht nicht geboren werden, überproportional viele geborene Verbrecher? Donohue und Levitt stützen sich auf Befunde, nach denen zum großen Teil Kinder abgetrieben werden, die sonst in instabilen und finanziell schlecht abgesicherten Familien aufwachsen würden - und damit in einem gesellschaftlichen Umfeld, das eng mit der Entwicklung kriminellen Verhaltens verbunden sei.
Heikel ist diese These unter anderem wegen ihrer ethnischen Implikationen: Denn sowohl der Anteil der verurteilten Straftäter als auch der Anteil von Frauen, die abtreiben lassen, ist unter Schwarzen besonders hoch. Wenn sich Levitts und Donohues Ansicht von der kriminalitätssenkenden Wirkung der Schwangerschaftsabbrüche durchsetze, würden sich noch mehr schwarze, sozial schwache Frauen für Abtreibungen entscheiden, mahnte damals zum Beispiel eine christliche Vereinigung.(...)"
diese auseinandersetzung möchte ich in zukunft auf jeden fall nochmals aufgreifen - stichwort pränatales geschehen. für den moment nur soviel: als ich davon das erstemal gehört habe, erschien mir das augenblicklich einleuchtend - es existieren aus mehreren europäischen staaten langzeitstudien zum schicksal sog. ungewollter kinder, wobei das wort "ungewollt" sehr oft auch als synonym für ungeliebt zu lesen ist. ist es so überraschend zu erfahren, dass die betreffenden studien mehr oder weniger alle die gleichen ergebnisse dokumentieren? das nämlich diese kinder teils bereits sehr früh nach den aktuellen gesellschaftlichen kriterien in verschiedenster hinsicht auffällig oder das werden, was justiziell als "kriminell" bezeichnet wird? ich würde schon sagen, dass etliche dieser eigentlich als zutiefst unglücklich zu begreifenden menschen diese empathische wahrnehmung durch ihr teils krasses antisoziales verhalten stark relativieren. das sollte aber nicht die frage nach der letztlichen verantwortlichkeit vom tisch wischen, deren möglichst korrekte beantwortung in meinen augen ungeheuer wichtig ist. purer sprengstoff, weil es hier letztlich um existenzielle fragen im kontext mütterbilder - vorstellungen von kindheit - mutter-kindverhältnisse und deren soziale einbindung geht. die abtreibungsfrage ist davon nur ein teil, allerdings bereits für sich auch schon so brisant, dass jede äusserung egal welcher richtung dazu sofort ordentlich polarisiert. ich glaube allerdings, dass ein sich verbreitendes wissen um die existenzielle wichtigkeit der pränatalen phase für das menschliche leben einiges davon aufheben kann. ein projekt für die nahe zukunft hier im blog.
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ebenso wie eine ausführliche beschäftigung mit dem begriff trauma, und spezieller mit der geschichte und den politisch-sozialen implikationen der diagnose posttraumatische belastungsstörung. dieses diagnostische modell wie auch der traumabegriff spielen hier im blog immer wieder eine starke und meist untergründige rolle, ohne dass sie bisher direkt angesprochen worden wären - wobei gerade die geschichte der ptbs-diagnose eine deutlich politische ist, und leider auch und gerade von der "linken" mehrheitlich völlig in ihren konsequenzen unterschätzt wird. auch das ein zukunftsprojekt hier, wobei ich für eine frühere diskussion an anderen orten etliches material sozusagen fertig vorrätig habe, bisher aber noch nicht zu einer nötigen überarbeitung gekommen bin. für den moment möchte ich nur auf einen teilberich des themas hinweisen, dessen dimensionen allerdings schon wieder beachtlich sind - kriegstraumata, migration und asylgesetzgebung - und ein beleg dafür, dass sich nicht alle heutigen angehörigen der psychiatrischen medizin der unheilvollen tradition ihrer disziplin zurechnen lassen - ein artikel im "deutschen ärzteblatt" thematisiert ein ekelhaftes gerichtsurteil - gegen einen psychiater (gefunden übrigens beim stöbern im blog von che):
"Ein Berliner Arzt wurde verurteilt, weil er Flüchtlingen ohne angemessene Untersuchung Kriegstraumata attestiert haben soll. Die Verteidigung sieht den Prozess politisch motiviert.
(...)
Zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte der Richter den Arzt Dr. B., wenn auch zur Bewährung. Seine ebenfalls angeklagte Ehefrau, die auch Ärztin ist, sprach er frei.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Berliner Psychiater in den Neunzigerjahren bei etlichen Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne ausreichende Untersuchungen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) attestiert hat. Diese Zeugnisse dienten den Migranten zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Bei Frau B. konnte das Gericht nicht zweifelsfrei feststellen, ob sich die Allgemeinärztin ebenfalls eines Vergehens schuldig gemacht hat.(..)"
wer von Ihnen auch nur ein bisschen über traumata im kriegskontext, staatlichen rassismus sowie die gnadenlose asylpolitik des deutschen staates informiert ist, kann sich zu diesem urteil selbst einen reim machen. ich werde dieses spezielle thema im zukünftigen schwerpunkt "trauma/ptbs" nochmal genauer beleuchten.
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da ich hier wieder mal am ankündigen bin (ist manchmal ja auch schon schiefgegangen, aber an dieser stelle kann ich mich dann auch andlich mal bei meinen leserInnen für Ihre geduld bedanken): ich hoffe, bis zum ende der woche hier den basisbeitrag zum thema "als-ob"-persönlichkeiten online gestellt zu haben. und ich kann Ihnen ein thema versprechen, was Ihnen vermutlich genauso viel zu knabbern geben wird wie mir.
edit am 14.04: der mensch denkt...und alles mögliche kommt dazwischen, so z.b. gerade eine schwerere erkältung, die mir die lust am schreiben gründlich vermiest. ein großteil des beitrags ist bereits fertig, aber er schlägt sozusagen nach allen seiten hin aus, und ich habe immer wieder schwierigkeiten, ihn einzufangen. und nun schluß mit der metaphernreiterei. wenn alles klappt, sollte er am nächsten wochenende erscheinen.
da hatte ich im letzten beitrag einen prozeßbericht erwähnt, der von seinen inhalten durchaus nicht alleine dasteht - und bin nun über eine kurze meldung gestolpert, die auch einen prozeß thematisiert - und hier spielt eine diagnose eine rolle, der ich in einem solchen kontext allerdings noch nicht begegnet bin:
(...) "Der Angeklagte wurde gestern vor der Jugendkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Bleiben soll er jedoch in der Klinik. Denn der Gutachter attestierte eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung: das Asperger Syndrom, eine seltene Form des Autismus.
Das führte dazu, dass der junge Mann im Februar 2005 auf eine damals 19-Jährige mit einem 20 Zentimeter langen Küchenmesser einstach. Als Grund dafür nannte er später „Hass auf Menschen“, er habe einfach irgendjemanden umbringen wollen. Die Polizei sprach von einer „Zeitbombe für Neumarkt“. Die junge Frau überlebte den Angriff.
Richter Helmut von Ciriacy ging gestern von einer verminderten Schuldfähigkeit des 18-Jährigen aus. Die Therapie ist zeitlich unbegrenzt."
leider ist der informationsgehalt dieser meldung recht unbefriedigend - es wäre sehr interessant, näheres zum gutachten und zur begründung dieser diagnose zu erfahren. die oben stehende kausale ableitung von der "seltenen form des autismus" (eine imo durchaus unzutreffende behauptung) hin zur tat könnte sich auf aussagen im gutachten beziehen - aber das muss eben vorläufig eine spekulation bleiben. ebenso wie mein spontaner gedanke, dass andere gutachten möglicherweise eine borderlinestörung oder antisoziale ps attestiert hätten. ich verspüre ein ähnliches erstaunen wie bspw. bei der in den kommentaren hier dokumentierten geschichte vom (asperger-)autistischen frontmann einer band. das könnte womöglich daran liegen, dass auch meine spontanen assoziationen zum autismus immer noch vom typischen bild des (kanner-)autistischen kindes mit extremen verhaltensauffälligkeiten bestimmt sind. obwohl im basisbeitrag autismus ja schon deutlich anklingt, dass dieses bild eben nur für einen kleinen und wahrscheinlich nicht repräsentativen teil der betroffenen des autistischen spektrums zutrifft.
als weitere assoziation kam mir vor dem hintergrund der beschreibung der völlig willkürlichen opferauswahl und des - hm, motivs ebenso schnell das wort "amok" in den kopf. nun ist dieses wort inzwischen medial mit einer bedeutung aufgeladen, die sich vom ursprung des begriffs recht weit entfernt hat (die berüchtigten "schulmassaker" der letzten jahre wie zb. in erfurt erfüllen einige der gleich aufgeführten kriterien nicht; so war zb. in den meisten fällen durchaus eine gezielte planung/vorbereitung der täter zu verzeichnen) - ein "echter" amokzustand zeichnet sich meines wissens durch mehrere einmalige eigenschaften aus: er entsteht a) anscheinend aus dem "nichts" heraus, also sehr plötzlich; ist b) an ein begrenztes zeitfenster (das können auch nur ein paar minuten sein) gebunden; stellt c) einen extremen psychophysischen zustand mit teils deutlich verifizierbaren veränderungen zb. des muskeltonus im gesamten körper (unwillkürliche extreme anspannung) und stark herabgesetzter schmerzempfindlichkeit dar; und wird d) in der regel von einer nachfolgenden amnesie beim amoklaufenden begleitet - d.h., die erinnerung an die taten im amokzustand sind wie ausgelöscht und nicht bewusst zugänglich. all diese phänomene zusammengenommen haben dazu geführt, dass amokereignisse in teilen der psychiatrischen forschung inzwischen im weitesten sinne den dissoziativen zuständen zugerechnet werden (eine sehr ausführliche und empfehlenswerte darstellung des amoks aus psychiatrischer sicht findet sich hier .)
vor dem hintergrund von in diesem blog diskutierten möglichen strukturellen zusammenhängen etlicher psychiatrischer diagnosen gibt es also durchaus einige ebenso mögliche links, die zb. von dissoziativen zuständen hin zum autismus führen (vielleicht lesen Sie dazu auch nochmal die selbstbeschreibungen von temple grandin im autismusbeitrag). aber wie gesagt: die informationen sind schlicht zu spärlich, um zu der obigen tat etwas mehr sagen zu können. auch muss es vorläufig spekulation bleiben, ob sich hier womöglich eine art paradigmenwechsel in der "professionellen" wahrnehmung autistischer zustände abzeichnet. wir werden sehen, ob das ein einzelfall bleibt.
einige leserInnen werden vielleicht denken "was hat er eigentlich, passt doch gut in sein konzept?" nun, falls überhaupt von "konzept" die rede sein kann, so bin ich über derartige entwicklungen/ereignisse keinesfalls irgendwie glücklich - im gegenteil bestärken sie sehr ungute gefühle bei der betrachtung der aktuellen sozialen zustände.
ein letztes wort noch zum kommentar der mutter eines autistischen kindes unter der meldung: die argumentation, dass es auf den "charakter" ankäme und nicht auf einen eventuellen autistischen zustand, geht so ziemlich an allem vorbei, was wir heute über menschliche seinszustände wissen können - auch wenn die vermutlichen ängste der mutter vor stigmatisierungen in folge solcher berichte verständlich sind, so ist es doch imo absolut unzulässig, von vorneherein jede möglichkeit einer verbindung zwischen derartigem destruktiven verhalten und störungen des autistischen spektrums kategorisch auszuschliessen. autismus als paradigmatisches modell für eine generelle und allumfassende beziehungsunfähigkeit betrachtet, schliesst antisoziale aktionen solchen grades ganz sicher nicht aus - eher trifft das gegenteil zu. vor allem, wenn sich die "aspergervariante" mit einer grundsätzlich autistischen struktur mehr und mehr als sozial simulativ kompatibel innerhalb von gesellschaften mit großflächigen sozialen zerfallsprozessen erweisen sollte. schon wilhelm reich hat imo ganz treffend erkannt, dass das, was bis heute als "charakter" in unseren vorstellungen herumgeistert, prinzipiell nichts anderes darstellt als ein set von eigenschaften und verhaltensweisen, die ein mensch unter widrigen sozialen und gewalttätigen bedingungen herausbildet, und die als überlebenshiilfe dienen - anders: sog. charakterliche eigenschaften sind in ihrer mehrzahl als ausdruck von verzerrungen/störungen zu betrachten - und keinesfalls als manifestation eines authentischen / beziehungs- und liebesfähigen selbst.