zur allgemeinen einführung bzw. für einen umfassenden historischen abriß der diagnose "hysterie", incl. des zusammenhangs mit der entwicklung der psychoanalyse, kann ich diesen überblick empfehlen. ansonsten ist die geschichte der hysterie heute ein recht gut erforschter bereich, was nicht zuletzt vielen kritischen feministischen arbeiten zu verdanken ist. ich werde mich im folgenden also wie angekündigt auf die aspekte konzentrieren, die diese diagnose aus meiner sicht zu einer "vertuschungsdiagnose" machen. ebenfalls sollen ein paar verbindungslinien zu heutigen persönlichkeitsstörungen deutlich werden.
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die orthodoxe psychiatrie hat, seitdem es in deutschland überhaupt so etwas wie psychiatrische kliniken gibt, immer wieder mit den opfern verschiedenster gesellschaftlicher gewaltverhältnisse zu tun gehabt und sich mächtig darum bemüht, auf teils widerwärtige art und weise diese opfer unsichtbar zu machen.die krankengeschichten sprechen da bände - ich kenne alte anamnesen, bei denen die erlebten sexuellen übergriffe wortwörtlich festgehalten sind - was die entsprechenden patientinnen (und einige wenige patienten) nicht davor bewahrt hat, als "schizophren" oder "hysterisch" abgestempelt zu werden. ab einem bestimmten punkt hat sich die psychiatrie dabei in theorie und praxis den jeweiligen äquivalenten der ansonsten größtenteils durchaus ge- und verschmähten psychoanalyse angenährt.
und anhand der geschichte der hysterie in der psychoanalyse möchte ich das deutlich machen: freud hat nachweislich in "zur ätiologie der hysterie" von 1896 völlig korrekte schlüsse hinsichtlich der tatsächlichen ursachen des leidens seiner patientinnen gezogen:
"Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie."
(sigmund freud, "zur ätiologie der hysterie"; 1896; in: gesammelte werke, bd.1, S.423 - 459, zitat S.439)
was war die folge dieser zur damaligen zeit absolut mutigen behauptung?
"Kaum ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als Ursache der Hysterie. Aus seinen Briefen (an wilhelm fließ, anm.mo) geht hervor, daß ihn die drastischen sozialen Konsequenzen, die seine Hypothese nahelegte, zunehmend beunruhigten. Weibliche Hysterie war weit verbreitet. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine Theorie stimmte, blieb nur die Folgerung, daß das, was er "Perversion gegen Kinder" nannte, weit verbreitet war. Solche Dinge kamen demnach nicht nur im Pariser Proletariat vor, wo er die Hysterie zuerst erforscht hatte, sondern auch unter geachteten bürgerlichen Familien in Wien, wo er mittlerweile praktizierte. Dieser Gedanke war schlichtweg unannehmbar. Er überstieg das Vorstellungsvermögen."
(judith herman, "die narben der gewalt"; siehe literaturliste; s.26)
so kam es also dazu, dass das überhaupt erste aller modernen psychotherapeutischen verfahren von anfang an in der theoretischen grundlage massiv von gesellschaftlichen gewaltverhältnissen - genauer: patriarchalen gewaltverhältnissen - deformiert wurde. so entstanden die teils bizarren theoretischen konstruktionen innerhalb der orthodoxen psychoanalyse. freud, dem sehr an einer anerkennung seiner methode durch die etablierte psychiatrie gelegen war, konnte der allgemeinen verleugnung nicht widerstehen. im zusammenspiel mit den antisemitischen diffamierungen, denen er ebenfalls ausgesetzt war, führte das dazu, dass das vielversprechende gesellschaftskritische potenzial der psychoanalyse in diesem punkt schließlich weitgehend entschärft wurde.
es gibt aber noch einen anderen wahrscheinlichen grund für diese verleugnung, die von der ersten psychoanalytischen generation nicht nur seitens freud betrieben wurde. einmal wären da hinweise darauf, dass freud selbst betroffen gewesen sein könnte:
"Im selben Jahr verdichtete sich Freuds Verdacht, dass auch sein eigener Vater sich an seinen Kindern vergangen hat. Vielleicht hat sogar - wie so oft - die eigene Mutter dabei weggeschaut. Sein Bruder und die jüngeren Schwestern litten an schwerer Hysterie. Daher - so Freuds Vermutung - müsse auch sein eigener Vater ein Kinderschänder gewesen sein. Freud schreibt wörtlich: 'Dann müsste mein eigener Vater auch ein so Perverser gewesen sein'"
dazu kommt ein weniger bekannter aspekt, auf den j. erik mertz in seinem borderline-buch hingewiesen hat (und sich dabei wiederum auf entsprechende arbeiten von jeffrey masson beruft: danach ist nämlich freuds briefpartner und freund, wilhelm fließ, nach aussagen seines sohnes robert fließ - der auch psychoanalytiker wurde - selbst ein täter gewesen, der u.a. eben diesen sohn mißbrauchte! freud diskutierte also seine "verführungstheorie" mit eben einem derjenigen "respektablen mitglieder der bürgerlichen gesellschaft", die an einer tatsächlich realistischen theoriebildung nun überhaupt kein interesse haben konnten.
(desweiteren ist aus der ersten generation der psychoanalyse auch noch carl gustav jung als ein prominenter name zu nennen, der in der neueren forschung sowohl traumainduzierte opfer- (durch eventuelle sexuelle übergriffe, aber auch durch eine allgemein traumatische kindheit) als auch täteranteile (im verhältnis zu frauen) aufweist. mehr zu diesem thema und möglichen zusammenhängen mit der jungschen theoriebildung hier.)
im handbuch der borderlinestörungen (siehe literaturliste) ist gleich das erste kapitel von birger dulz ausführlich dem thema der freudschen zurücknahme der "verführungstheorie" gewidmet. dulz versucht dabei meiner meinung nach, durch viele relativierungen und das aufzeigen von widersprüchen in freuds äußerungen zum thema, eine art "ehrenrettung", die darin endet, dass er u.a. zu dem ergebnis kommt:
"Freud hat für die Hysterie - sprich Borderline-Störung - eine Traumaätiologie postuliert, die später durch die Annahme einer zusätzlichen intrapsychischen Komponente erweitert, nie zurückgenommen, doch stets angefochten - und manchmal sogar umkämpft - wurde."
(birger dulz "über die aktualität der verführungstheorie", in: handbuch der borderlinestörungen; s.24)
wobei ich anhand seines präsentierten materials finde, dass das nur ein möglicher standpunkt ist - ich empfinde freuds äußerungen teils sehr taktierend, und faktisch bleibt festzuhalten, dass sich die psychoanalyse insgesamt jedenfalls so verhalten hat, als ob der widerruf vollgültig gewesen ist und seine ursprüngliche theorie von der "intrapsychischen variante" nicht nur "erweitert", sondern komplett ersetzt worden ist. und zumindest dagegen ist von freud nie in der nötigen deutlichkeit stellung bezogen worden.
(zur bemerkung von dulz, die hysterie sei implizit gleichbedeutend mit borderline, mehr weiter unten).
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durch solch komplexe verhältnisse und zusammenhänge kam es also jedenfalls dazu, dass sich durch die pschoanalyse nichts an der sexuellen ausbeutung von kindern - und zwar vorwiegend weiblichen geschlechts - änderte. in den psychiatrischen krankengeschichten spiegelt sich das in der form wie oben erwähnt (nur die diagnosen änderten sich, je nach psychiatrischem zeitgeist), bis ende der 1960er jahre wieder (die späteren akten gelangen erst jetzt in die psychiatrischen altarchive).
der begriff der hysterie blieb zwar erhalten, jedoch änderte sich der inhalt - wo zu zeiten von freuds forschungen die tür zur erbärmlichen realität, aus der die symptome der hysterie stammten, ein stück weit aufging, legte er selbst mit dem widerruf seiner ersten (und zutreffenden) folgerungen imo den grundstein dafür, dass hysterie für uns heute hauptsächlich die verächtliche bedeutung eines schimpfwortes hat.
"du bist doch hysterisch!" = stell dich nicht so an, übertreib nicht so.
daraus spricht bis heute das ferne echo der freudschen verleugnung der gewalt, die ihn mächtig erschreckt hatte. und genau wie beim wort "neurotisch" ist "hysterisch" irgendwann so derart negativ im allgemeinen sprachgebrauch besetzt worden, dass selbst die psychiatrie auf die weitere nutzung dieser begriffe größtenteils verzichtet - und anstelle der hysterie die "histrionische persönlichkeitsstörung" eingeführt hat. ich weiß nicht, wie oft diese diagnose heute gestellt wird. ich vermute, nicht sehr häufig.
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ein weiteres längeres zitat aus dem schon mehrfach erwähnten buch von judith herman (welches ich an dieser stelle hier nochmal dringend allen leuten ans herz legen möchte, die mit ptbs auch nur interessehalber etwas zu tun haben - wer diese diagnose "besitzt", sollte sich das sowieso unbedingt besorgen), bringt uns von der hysterie zu borderline:
"Opfer von Mißbrauch in der Kindheit hören oft viele unterschiedliche Diagnosen, bevor das zugrundeliegende Problem eines komplexen posttraumatischen Syndroms erkannt wird. Viele Diagnosen haben stark negative Konnotationen. (unterschwellige bedeutungen, besetzungen)
Drei sehr unangenehme Diagnosen werden besonders häufig auf Opfer von Mißbrauch in der Kindheit angewendet:
Somatisierung, Borderline-Störung und multiple Persönlichkeitsstörung.
Alle drei Diagnosen waren früher unter der heute obsoleten Bezeichnung Hysterie zusammengefaßt. Patienten, zumeist Frauen, bei denen diese Störungen diagnostiziert wurden, lösen bei Ärzten und Pflegepersonal oft ungewöhnlich heftige Reaktionen aus. Man zweifelt an ihrer Glaubwürdigkeit und beschuldigt sie der Manipulation und Simulation. Sie stehen häufig im Mittelpunkt heftiger, eindeutig parteilicher Auseinandersetzungen. Manchmal erfahren sie offenen Haß.
Alle drei Diagnosen sind stark negativ besetzt. Besonders berüchtigt ist die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Bezeichnung bedeutet in vielen psychiatrischen Einrichtungen eine wohlformulierte Beleidigung. (hier schreibt sie zwar über die usa, jedoch läßt sich das wohl 1:1 übertragen. anmerk. mo)
So gab ein Psychiater freimütig zu: `Als Assistenzarzt fragte ich einmal meinen Vorgesetzten, wie man bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgeht. Er antwortete hämisch: Man überweist sie.´
Die Bezeichnung `Borderline´, so der Psychiater Irvin Yalom, `ist ein Wort, das den ruhebedürftigen Psychiater mittleren Alters in Angst und Schrecken versetzt.´ Borderline, so sagen einige Ärzte, ist inzwischen mit so vielen Vorurteilen belastet, daß man auf diese Bezeichnung ganz und gar verzichten sollte, wie auch die einstige Diagnose Hysterie fallengelassen werden mußte."
(judith herman "die narben der gewalt"; siehe literaturliste; s. 172)
nach den ansätzen und gedanken, die ich bisher im blog allgemein zu den themen trauma und borderline skizziert habe, könnte das erwähnte ablehnende verhalten aus zwei verschiedenen quellen entspringen:
einmal die weiterhin praktizierte verleugnung/verdrängung gewalttätiger und krankmachender lebensverhältnisse.
zum zweiten aber auch aus der vorhandenen erfahrung mit - hm, *echten* persönlichkeitsgestörten leuten, die zwar imo eher außerhalb als innerhalb psychiatrischer institutionen anzutreffen sind - nichtsdestotrotz aber trotzdem ihre spuren bei vielen menschen hinterlassen und diagnostisch eher zum antisozialen spektrum zu zählen wären.
sollte das einigermaßen zutreffend sein, so würde hier eine fatale vermischung von klassifizierungen vorliegen, die inhaltlich nicht bzw. nur zu einem kleinen teil gerechtfertigt wären: nämlich da, wo das re-inszenieren eigener traumatischer erfahrungen in eine täterrolle führt. zu den oberflächlichen gemeinsamkeiten von bps und ptbs ist ebenfalls ein wenig in den borderline-beiträgen zu lesen, das wird aber im rahmen dieser reihe unter dem stichwort "komorbiditäten" noch einmal gesondert eine rolle spielen.
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als vorläufiges fazit aus dieser durchaus verwirrenden geschichte der hysterie ziehe ich für mich (achtung, jetzt wird´s wieder mal kompliziert):
- diese diagnose ist spätestens seit freuds rückzieher zu einer stigmatisierenden und einer vertuschenden, d.h. individualisierenden und für die gesellschaft entlastenden, geworden. letztere feststellung wird durch die seitens der psychohistorie von deMause belegte gewalttätige europäische tradition der behandlung von kindern untermauert.
- ebenfalls ist sie eine diagnose, die zu - inzwischen in der form überholten - traditionellen patriarchalen verhältnissen passt.
- die damals so etikettierten würden heute ganz überwiegend unter den folgenden modellen "laufen": ptbs, borderline und histrionische persönlichkeitsstörung, dissoziative ps. diese diagnosen könnten in beliebigen kombinationen und reihenfolgen auftreten.
- diese tatsache wiederum verweist besonders auf das ungeklärte spannungsverhältnis zwischen ptbs und borderline: die entscheidende frage dabei lautet, ob beim letzteren tatsächlich in jedem fall eine traumaätiologie gegeben ist. teile der aktuellen borderline-forschung verneinen das, während ebenso aus großen bereichen der psychotraumatologie die forderung stammt, borderline generell unter einem traumaschwerpunkt zu begreifen - judith herman kann dafür stellvertretend stehen, und ihr im einleitungsbeitrag dieser reihe vorgestelltes modell der komplexen ptbs dient u.a. dazu, die heutigen borderline-symptome in einem neuen modell "aufzufangen".
nach den bisherigen modellen der ptbs, in denen transgenerationale oder auch kumulierte traumata keine rolle spielen, hätte bisher die borderline-forschung eher die meisten argumente auf ihrer seite. andererseits: gerade die anerkennung dieser arten von traumata könnte vielleicht in vielen borderline-diagnosen zu einer neubewertung führen.
aber das ist nicht alles: nachdem ich mich hier schon öfter auf die abweichende borderline-ätiologie von mertz bezogen habe (und die in vieler hinsicht immer noch einleuchtend finde), stellt sich die frage, wie die von ihm als bland / sozial kompatibel / simulativ funktionabel bezeichneten borderline-betroffenen innerhalb des ganzen verstanden werden müssten. eine hypothese dazu: vielleicht wäre es hilfreich, hier von zwei großen gruppen zu reden: einmal die durch - als solche verstandene und definierte - postnatale gewalt in posttraumatische störungen getriebenen, welche sich primär unter den oben genannten diagnosen ptbs, borderline und dissoziativer ps versammeln. und dann diejenigen, die - vermutlich - bereits pränatal in einen strukturell autistischen zustand geraten sind, der z.t. als durch pränatale traumatisierung hervorgerufener verstanden werden kann. diese könnten aus gründen, die auszuführen hier gerade den rahmen sprengen würde, durchaus als-ob-symptome produzieren - als ob sie in eins der gerade genannten diagnostischen modelle gehören würden. und genau diese gruppe wäre es, die für den realen kern im schlechten image ("simulanten") der früheren hysterie und der aktuellen borderline-diagnose sorgen würde. und zwar ohne von heute aus nachweisbarer bzw. als solche definierte traumatisierung. andererseits können sich besonders auch real traumatisierte männer sehr schnell in der täter-opfer-dialektik als antisozial handelnde täter wiederfinden. es dürfte in dem ganzen bereich sehr viel, wenn nicht alles von den verwendeten definitionen abhängen.
damit dürfte jetzt die verwirrung mal wieder komplett sein, wie ich annehme. aber ich hoffe, dass gerade die regelmäßigen leserInnen hier eine ahnung davon haben, worauf ich hinauswill. generell gilt auch hier: stellen Sie ruhig die fragen, die Ihnen in den kopf kommen - und äußern Sie Ihre gedanken.
ich werde mich in den kommenden wochen hier auf den gerade begonnenen schwerpunkt konzentrieren und alles andere in der hinsicht etwas vernachlässigen, als das ich mir interessant und nachdenkenswert erscheinende materialien ohne große eigene kommentare nur kurz erwähne - anders ist das derzeit nicht nur zeitlich für mich nicht hinzubekommen. "nicht nur zeitlich" bedeutet, dass ich die arbeit an den themen dieses blogs immer wieder auch stark belastend empfinde, und dementsprechend dosieren möchte.
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drei texte, die ich nicht nur als belastend empfunden habe, sondern die mich auch mal wieder extrem wütend gemacht haben, im folgenden. das nettblog machte mich auf dieses aufmerksam:
(...) "Jens Söring hat den größten Teil seines Lebens in Amerika verbracht. Die meiste Zeit davon in Gefängnissen. Er war elf Monate im Wallens Ridge State Prison, das er "die Hölle auf Erden" nennt.
Es ist eines der berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisse, ein Supermax Prison, von denen sie immer mehr bauen, obwohl immer mehr Studien nachweisen, dass eine derartige Bestrafung die Menschen nicht besser macht, dass sie die Rückfallquoten für Straftaten nur nach oben treibt.
Es sind Orte, an denen man 23 Stunden am Tag in Einzelhaft verbringt und eine Stunde in einem Einzelkäfig an der frischen Luft. Jahrelange, totale Isolation." (...)
ich möchte ausdrücklich die frage stellen, was die us-amerikanische und auch unsere gesellschaft eigentlich tatsächlich dabei zu gewinnen glaubt, wenn sie auch als schuldig erklärte unter solchen bedingungen einsperrt (was ja bei dieser geschichte offensichtlich noch nicht mal der fall ist). für den schutzaspekt der realen und potenziellen opfer "draußen" sind solche bedingungen schlicht nicht nötig, und der wäre bei einem tatsächlichen bemühen um psychophysische veränderungen - soweit diese möglich ist - auch und gerade bei gewalttätern sehr wahrscheinlich in der mehrzahl aller fälle besser gewährleistet. die aufkommende branche der privatisierten knäste ist jedenfalls eine einzige katastrophale und schlicht perverse fehlentwicklung - in jeder hinsicht.
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der - nicht nur dort, aber dort besonders - in der kapital- und profitorientierten logik (= verdinglichung von allem lebendigen) der sog. "freien marktwirtschaft" zutage tretende krankhaft entgleiste objektivistische wahrnehmungsmodus richtet allüberall nur leid und zerstörung an:
"Über 360 Millionen Tiere werden jedes Jahr quer durch Europa gefahren. Von den Transporten betroffen sind vor allem Rinder, Kälber und Schweine, aber auch Pferde, Esel, Hühner und Enten.Transportmittel sind Lkw, Bahn, Schiff und Flugzeug. Bei den Transporten stehen die Tiere unter enormem Stress und verlieren an Gewicht. Regelmäßig kommt es zu Verletzungen und Verstößen gegen die Regelungen der Europäischen Union." (...)
und wie beliebige sachen und dinge werden nicht nur tiere behandelt - auch menschen, und vor allem kinder, sind bekanntlich regelmäßig von dieser pathologischen wahrnehmungspraktik betroffen. zustände, bei denen das wort "skandalös" schlicht völlig unzureichend ist, sondern die eher zum himmel schreien, werden in einer lesenswerten reportage zu den straßenkindern in rumänien deutlich - und deutlich wird auch der zusammenhang mit themen wie trauma und borderline:
(...) "Roxana und Melinda ziehen ihre Lacktüten aus den Hosentaschen. Roxana ist siebzehn, sie hat vor ein paar Monaten ein Kind geboren. Es wäre fast gestorben, jetzt ist es irgendwo in einem Heim. Melinda hat sich in der Nacht mit Glasscherben den ganzen linken Unterarm aufritzt, vom Ellenbogen bis fast zum Handgelenk, Schnitt neben Schnitt. Sie war wütend, sie hat verschiedene Scherben ausprobiert, sie wollte sehen, welche besser schneidet, sagt sie. Sie ist 27 und sehr dünn, sie sieht aus wie eine alte Frau, sie hustet wie eine Tuberkulosekranke. Ionela, die Vierzehnjährige, wacht auf, sie lallt unverständlich. Ihre dunkelbraunen Haare sind frisch gewaschen, ihre Kleider sauber. Nachts war sie wieder bei dem Alten in der Wohnung, sagen die anderen, hinterher hat sie Lack genommen bis zum Umfallen. Ionela weiß nicht mehr, wie viele Freier es waren." (...)
nur eines dazu: solche zustände werden von denen, die ständig die umwelt mit ihrer propaganda von "die marktwirtschaft wird´s schon richten", "es lebe das freie unternehmertum" und ähnlichem grotesk von aller menschlichkeit reduziertem zeug verpesten, in aller regel achselzuckend hingenommen - "na und? pech gehabt. survival of the fittest".
und das, liebe leser und leserinnen, ist nicht nur tiefster verrat an allen mitmenschen und mitgeschöpfen - nein, das ist genau die heute aktuell dominierende pathologische und entfremdete art des menschlichen seins, aus der bis dato regelmäßig die schwersten verbrechen, die übelste kriminalität und der bösartigste terrorismus entstammen. und mit diesem zustand gibt es - schon alleine aus gründen der ganz elementaren selbsterhaltung - keinerlei kompromisse zu schließen, es gibt nichts zu verhandeln. es kann nur eines geben: sein vollständiges verschwinden. und für die konstrukteure, profiteure und propagandisten dieses zustandes wird sich irgendwann die frage stellen, ob sie mit diesem system untergehen wollen - oder aber das mögliche menschliche potenzial entwickeln, um qualitativ einen sprung zu schaffen, der letztlich für die meisten - nicht für alle! - von ihnen das leben entschieden sinnhafter machen würde.
"Gewalttaten verbannt man aus dem Bewußtsein - das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als daß man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort `unsagbar´gemeint.
Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewißheit entgegen, daß Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muß ans Tageslicht."(...)
judith herman
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"Trauma verlangt nach Wiederholung"
selma fraiberg
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die geschichte des (psycho-)traumas im allgemeinen und der diagnose der posttraumatischen belastungsstörung (ptbs) (die manchmal auch verwendete, vom englischen "posttraumatic stress syndrome" herrührende abkürzung ptss benutze ich hier nicht weiter) im besonderen füllt mittlerweile ganze bücher. und wie auch bei den anderen schwerpunkten in diesem blog sehe ich keine andere möglichkeit, als ein paar aspekte, die mir besonders wichtig erscheinen, hervorzuheben. aus diesen aspekten wird die hiermit beginnende reihe zum trauma dann auch bestehen - wobei ich mich, was die meisten leserInnen nicht überraschen wird, auf die heute sichtbaren (oder auch nur zu ahnenden) verbindungen zwischen traumatischen störungen und gesellschaft / politik konzentrieren werde.
im einzelnen wird es folgende beiträge zu lesen geben:
- in dieser einführung werde ich neben einer kurzen thematisierung der non-man-made-violence-traumata - darunter fallen z.b. alle durch natukatastrophen, unfälle etc. erzeugten traumatischen störungen - auch eine linksammlung zur verfügung stellen, in der sich informationen zur geschichte des begriffes und der diagnose, die heutigen "offiziell" akzeptierten definitionen sowie einiges zum aktuellen stand der psychotraumatologie finden lässt. ebenfalls werde ich das diagnostische modell der chronischen ptbs nach judith herman hier vorstellen, welches für mich besser als die heutigen in der icd und dem dsm enthaltenen definitionen geeignet ist, traumatische störungen realitätsgerecht abzubilden.
- dann wird es weitergehen mit einer vorstellung derjenigen von heute aus erkennbaren psychiatrischen diagnosen, die seit über hundert jahren für verwirrung gesorgt haben, weil sie faktisch zur vertuschung und verschleierung der folgen von zwischenmenschlicher gewalt geeignet waren - und dafür in einer gewissen hinsicht auch aktiv genutzt worden sind. als erstes wäre hier die hysterie zu nennen, und zwar im kontext der gewalt gegen frauen und mädchen. ebenso wie diese diagnose hatte auch die neurasthenie einen wahren "boom" in d-land und den usa vor dem ersten weltkrieg, und lässt sich womöglich als eine weitere fehldiagnose allgemein verbreiteter traumatischer symptome begreifen.
- danach geht es in den bereich der kriegstraumata und zur diagnostischen konstruktion der rentenneurose. dabei wird es auch um eine weitere und kaum bekannte sehr unrühmliche seite der orthodoxen psychiatrie gehen: die militärpsychiatrie und ihre teils nicht anders als verbrecherisch zu nennenden praktiken.
- die durch krieg induzierten traumatischen folgen besonders in der deutschen zivilbevölkerung des zweiten weltkrieges sind thema anhand der bemerkenswerten geschichte der vegetativen dystonie.
- tradierte bzw. transgenerationale traumata werden zwar als existierendes phänomen mehr und mehr akzeptiert, sind aber nach wie vor in den offiziellen diagnostischen katalogen faktisch nicht vorhanden. diese teils geradezu unheimlich anmutende "vererbung" (das ist hier ausdrücklich eine metapher) von traumatischen störungen über die eltern bis hin sogar zu den enkelkindern wird ebenfalls thema sein.
- in ihrer existenz nur sporadisch wissenschaftlich anerkannt sind hingegen die sog. "kleinen", besser: kumulierten traumata, die ein modell für die möglichen destruktiven folgen von langanhaltendem stress - auch auf "kleiner flamme" - darstellen. ein modell im übrigen, dessen implikationen durchaus einen radikalen perspektivenwechsel auf unseren heutigen sozialen umgang miteinander nahelegen würde. vielleicht stammt aus dieser ahnung auch die bisherige ignoranz gegenüber diesem phänomen. ein grund mehr, es zu thematisieren.
- ebenso wie der aspekt der dissoziation als eine mögliche und sehr spezifische folge von traumata. hier werde ich dann auch auf eine frage eingehen, über die ich mir selbst noch keine abschließende meinung gebildet habe: sind simulative (als-ob) zustände womöglich eine folge oder ein ausdruck von dissoziativen zuständen? auch das thema der sozialen trance soll hier nochmals aufgegriffen werden.
- die mögliche bedeutung von prä- und perinatalen traumata im späteren leben - sowohl für den betroffenen menschen als auch die gesellschaft als ganzes - zeichnet sich erst seit vergleichsweise sehr kurzer zeit ab. hier möchte ich v.a. einen an die psychohistorischen arbeiten von lloyd deMause angelehnten überblick zur entsprechenden forschung geben. dazu stellt sich gerade bei pränatalen destruktiven ereignissen die frage, ob sich hier nach den heutigen definitionen bzw. dem verständnis überhaupt noch von trauma reden lässt - die heutigen modelle der ptbs erfassen diesen bereich jedenfalls nicht.
- daran anschließend stellt sich fast von selbst die frage nach den bekannten und möglichen komorbiditäten bei der ptbs-diagnose: die persönlichkeitsstörungen, allen voran borderline, wären hier zu nennen. aber ebenso gibt es indizien, die über das aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts)syndrom ins autistische spektrum führen.
- die epidemiologie von traumatischen störungen ist selbst nach den vermutlich zu eng gefassten heutigen diagnostischen modellen schlicht erschreckend. und über die daraus sichtbare erkennbare dimension der existenz von traumatischen störungen ergibt sich die notwendigkeit, über die möglichen individuellen und gesellschaftlichen implikationen für uns alle ausgiebig zu reden. darin enthalten wird auch nochmals die frage sein, wie denn trauma nun verstanden werden muss und soll - incl. der frage nach denjenigen, die zwar in gewalttätigen strukturen leben, aber keine klassischen symptome aufweisen. was hemmt traumatische wirkungen? es sind auf diese frage auch antworten denkbar, die keineswegs beruhigend sein können...
so also meine bisherige planung für diesen schwerpunkt - änderungen vorbehalten, und Sie sind gerne eingeladen, weitere aspekte hinzuzufügen bzw. zu ergänzen.
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- zu den non-man-made-violence-traumata
hierunter lassen sich folgende ereignisse fassen:
Naturkatastrophen: Großbrand, Blitzschlag, Überschwemmung, Dammbruch, Bergrutsch, Lawinenunglück, Erdbeben, Vulkanausbruch, Tornados.
Technikkatastrophen: Zeuge oder Beteiligter an einem schweren Autounfall, Eisenbahn-, Schiffs- oder Flugzeugunglück, Explosion, Arbeitsunfall, Chemieunfall.
Körperliche oder psychische Extrembelastungen: Giftgasunfall, schwere Verbrennungen oder Schmerzzustände, Gehirnblutung, überlebter Herzstillstand, schwerer allergischer Schock, Knochenmarkstransplantation, lebensbedrohliche Erkrankung.
(die quelle dieser aufzählung reiche ich weiter unten nach)
ich führe diesen bereich vor allem deswegen an, um einen meiner meinung nach bis heute völlig unterbelichteten sachverhalt deutlich zu machen: es ist nämlich zu beobachten, dass die be- und verarbeitung von aus den obigen beispielen herrührenden traumata in aller regel sowohl für betroffene als auch therapeutInnen leichter fällt, als bei traumasymptomen, die aus menschlicher gewalt stammen. ich greife einmal weit vor und behaupte, dass das zumindest z.t. an der sich anders oder auch gar nicht stellenden schuld- und verantwortlichkeitsfrage liegt, die bei man-made-violence-traumata zusätzlich zur allgemeinen erschütterung des weltvertrauens auch noch zur implosion des vertrauens in die soziale mitwelt führen kann - z.b. durch rache- , verlassenheits- und schuldgefühle, die die symptomatik um einiges schwerer machen können.
einen grenzbereich stellen nach dieser logik die sog. technikkatastrophen dar, gerade wenn es sich etwa um die folgen menschlichens versagens oder auch fehlenden arbeitsschutzes handelt - in solchen fällen kann der ganze komplex von schuld und verantwortung eine ähnliche rolle spielen wie bei direkter zwischenmenschlicher gewalt.
die unpersönliche gewalt einer naturkatastrophe hingegen - wie z.b beim schweren tsunami im indischen ozean 2004 - kann offensichtlich in bereits in ihrem sozialgefüge geschädigten gesellschaften als eine art trigger wirken, mit dem latent vorhandene gewalt in den sozialen beziehungen zur manifesten werden kann. so, wie es der obige link belegt. auch in einem solchen fall ist die grenzziehung zwischen den beiden traumaarten bei vielen betroffenen nicht mehr möglich.
es wird auch noch zu beobachten sein, was passiert, wenn sich das bewußtsein um die mit einiger wahrscheinlichkeit menschengemachten klimaveränderungen vor dem hintergrund häufiger werdender gewalttätiger wetterereignisse - wie tornados und hurricanes - verbreitet. auch das könnte ein potenzielles feld werden, in dem sich die erwähnte trennung mehr und mehr verwischt.
als letztes möchte ich zu diesem thema anmerken, dass es bis heute eine offene frage ist, ob und wie stark auch durch unpersönliche gewalt traumatisierte menschen das jeweilige soziale gefüge nachhaltig beeinflusst wird - anders: inwieweit bildet diese gruppe eine art "reservoir", aus dem sich in der folge auch direkte zwischenmenschliche gewalt entwickeln kann? damit sind einige der wichtigsten bezugspunkte angesprochen, die zum mich am meisten interessierenden thema der traumatischen man-made-violence führen. es ist vielleicht ganz angebracht, sich diese punkte vor allem folgenden im hinterkopf zu notieren.
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mehr noch als bei den anderen basisthemen hier möchte ich Ihnen etliches an lektüre nahelegen - einfach, weil das thema so derart umfassend ist. die bücher von judith herman und auch sabine bode rechts in der literaturliste sind als einstieg ganz gut geeignet, und ich werde vermutlich noch eine extraliste zum traumathema als beitrag hier nachreichen. aber auch online gibt es einiges, was einen längeren blick lohnt. dabei beschränke ich mich auf deutschsprachige seiten.
zunächst wären da die großen psychotraumatologisch tätigen wissenschaftlichen institutionen zu nennen, die jeweils gebündelt und kompakt etliches an grundlegenden informationen bereitstellen: dazu gehören das Deutsche Institut für Psychotraumatologie, die Deutsche Gesellschaft für Psychotraumatologie sowie das Fachinstitut für angewandte Psychotraumatologie. etliche regionale institutionen aus dem klinischen und forschungsbereich lasse ich einmal außen vor.
in der psychotraumatologischen Literaturdatenbank Prometheus finden sich v.a. hinweise auf wissenschaftliche arbeiten zu fast allen aspekten des themas - das ist besonders etwas für diejenigen unter Ihnen, die vielleicht auch beruflich mit dem bereich zu tun haben. als volltext sind auf den seiten des Instituts für Traumatherapie etliche interessante arbeiten zu finden, besonders, aber nicht nur, zu therapeutischen aspekten. mit dem letzteren kann ich überleiten zum EMDR-Institut, welches stellvertretend für eine therapeutische technik ausgewählt ist, die im bereich der traumatherapie seit etwa 15 jahren international für aufsehen sorgt - und da ich mich mit dieser technik theoretisch und auch als klient etwas tiefer beschäftigt habe, möchte ich die auseinandersetzung mit den dahinter stehenden konzepten ausdrücklich empfehlen.
weitere links finden sich ebenfalls rechts in der sidebar. zum thema dissoziation werde ich ein paar augewählte seiten im entsprechenden beitrag vorstellen. nicht solange vorenthalten möchte ich Ihnen allerdings die seite des hiesigen vereins refugio, der zu der unter diesem namen auch bundesweit tätigen reihe von institutionen gehört, die sich speziell mit flüchtlingen und migrantInnen auseinandersetzen, die aufgrund von kriegen, folter, vertreibung und flucht oft schwer traumatisiert sind. gerade zum thema der folter findet sich bei refugio etliches material, welches trotz oder gerade wegen seiner bedrückenden aussagen in die breiteste öffentlichkeit gehört.
dann bleibt mir jetzt noch, die quelle der obigen aufzählung von unpersönlichen traumaproduzierenden ereignissen nachzureichen: auf der seite panikattacken.at findet sich ein insgesamt sehr empfehlenswerter text zur ptbs, bei dem es auch um einige historische aspekte geht, die hier ebenfalls thema sein werden. als einstieg kann ich das ganze allen interessierten wirklich nahelegen.
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zumal es dort auch eine komprimierte auflistung der ptbs-modelle aus icd und dsm gibt, die in dieser form anderswo nur schwer zu finden ist (ich konnte jedenfalls bisher nichts derart übersichtliches auftun). damit komme ich zum letzten punkt dieser einführung, vor dem ich die lektüre der symptomkataloge nach icd und dsm für notwendig halte - es geht um das modell der komplexen ptbs, welches u.a. von judith herman entwickelt wurde. und das ich für einen fortschritt im vergleich mit den bisherigen diagnostischen modellen halte - vergleichen Sie einmal selbst:
1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder physisch mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.
2. Störungen der Affektregulation, darunter
- anhaltende Dysphorie (verstimmung, gereiztheit, anm. mo)
- chronische Suizidgedanken
- Selbstverstümmelung
- aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
- zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (dito)
(alternierend: wechselweise, umspringend)
3. Bewußtseinsveränderungen, darunter
- Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
- zeitweilig dissoziative Phasen
- Depersonalisation/Derealisation
- Wiederholungen des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung.
(hypermnesie: übersteigertes erinnerungsvermögen
intrusiv ist hier nicht ganz leicht zu übersetzen, ich würde es im sinne von "aufdringlich gestaltend, von innen her normierend" an dieser stelle benutzen - die betroffenen werden quasi von der störung in all ihren lebensäußerungen modelliert. die anderen fachbegriffe setze ich mal als bekannt voraus.)
4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter
- Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
- Scham- und Schuldgefühle
- Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
- Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen oder nimmt eine nicht menschliche Idenität an.)
5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter
- ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
- unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird
- Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
- Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
- Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Täters
6. Beziehungsprobleme, darunter
- Isolation und Rückzug
- gestörte Intimbeziehungen
- wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
- anhaltendes Mißtrauen
- wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
7. Veränderung des Wertesystems, darunter
- Verlust fester Glaubensinhalte
- Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
(zitiert nach: herman, judith "die narben der gewalt"; junfermann, paderborn 2003; s.169/170; isbn 3-87387-525-X)
soweit ein modell, welches überarbeitet und ergänzt - zb. fehlen mir persönlich die diversen körperlichen symptome, die eine ptbs / ein trauma mit sich bringen kann - durchaus deutlicher ein realitätsgerechtes verständnis des traumas ermöglicht, als die imo zu eng gefassten konventionellen modelle. und das sage ich selbst unter der berücksichtigung, dass hier viele der weiter oben erwähnten möglichen, teils eher subtilen erscheinungsformen von traumata immer noch sozusagen hinten runter fallen. wichtig finde ich aber vor allem eins: die für ein diagnostisches modell erstmalige und explizite betonung, dass es sich hier um die folgen zwischenmenschlicher gewalt handelt - in letzter konsequenz also um die folgen und wirkungen extremster und brutalster verdinglichung. wenn ich also von ptbs rede, dann habe ich das obige modell bevorzugt dazu im kopf.
so lässt sich die - mehr oder weniger willkürliche - zeitmarkierung "neues jahr" auch beginnen - mit dem langsamen lesen dieses artikels:
(...) "Anfang November las ich in verschiedenen wissenschaftlichen Studien folgende Fakten: Ehepaare reden am Tag durchschnittlich acht Minuten miteinander; 40 Prozent der leitenden Angestellten leiden unter Stress; das Lebenstempo hat sich in den letzten 200 Jahren verdoppelt; vier von fünf Kindern in Deutschland fühlen sich unter Zeitdruck; der Einsatz von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Muntermachern steigt jährlich um acht bis zehn Prozent; und Untersuchungen der Historikerin Juliet Schor zufolge haben Amerikaner seit Mitte der 1970er Jahre 37 Prozent ihrer Freizeit eingebüßt." (...)
ich hatte schon früher anhand der geschichte von herr fusi etwas zur meiner meinung bisher meist unterschätzten rolle der objektivistischen pervertierung unserer lebenszeit geschrieben, und die folgenden sätze lassen sich als nahtlose ergänzung/erweiterung verstehen:
(...) "Seit es die Räderuhr als pures Messgerät gibt, um sich von der Naturuhr unabhängig zu machen, ist das Naturwesen Mensch zunehmend vertaktet und vermessen worden. »Die Uhr quantifiziert und objektiviert den Menschen«, schreibt der kulturkritische Trendforscher Jeremy Rifkin, »sein Leben wird mit der Uhr gleichgeschaltet, mit den Erfordernissen des Zeitplans und den Diktaten der Effizienz.« Dieses System arbeitet forciert vor allem an der Aufhebung von Verbindlichkeit. Je mehr Verbindungen angeboten werden, desto weniger verbindlich sind sie." (...)
verbindlichkeit aber - das steckt bereits im wort selbst - bedeutet eine wesentliche soziale fähigkeit, die für das menschliche beziehungsleben unverzichtbar ist. der bereits an vielen stellen hier thematisierte und inzwischen unverkennbare angriff der "objektivistischen maschinerie" auf eben diese grundlegende basis allen sozialen lebens mittels des zeitdiktats ist aber ein - ja, kriegsschauplatz, auf dem wir im gegensatz zu anderen mehr möglichkeiten haben: das wiederzulassen der eigenen (körper)zeit und der bruch der dominanz der fremdbestimmten zeit kann unter den heutigen bedingungen zu einem subversiven, ja schon revolutionären akt werden - und das könnte bereits in kleinen schritten funktionieren. entwöhnung von uhr und kalender, bei gleichzeitiger wiederentdeckung der eigenen rhythmen, wäre z.b. einmal ein wirklich schöner neujahrsvorsatz
*
edit am 02.01.07: sozusagen auf die schnelle hier ein paar weitere lese- und suchanregungen, wobei ich Ihnen gerade bei letzteren etwas arbeit aufbürde.
Wie das Zeitgefühl entsteht gibt einen komprimierten überblick zu einigen aspekten des aktuellen wissenstandes - und vor allem das folgende möchte ich herausheben:
(...) Darum hängen der Sinn für Bewegung und das Gefühl für die Zeit untrennbar zusammen. Wenn - etwa durch einen Schlaganfall - eines von beiden gestört ist, geht meist auch das andere verloren. Für das Gehirn ist Zeit Bewegung." (...)
körperbewegung.
mir fällt beim thema der zeitwahrnehmung dazu immer wieder ein, dass sich selbige v.a. im autistischen spektrum, ebenso bei zuständen, die heute als psychotisch begriffen werden und bei nutzung psychoaktiver substanzen teils krass und spektakulär ändert. ich kann Ihnen sehr empfehlen, einfach mal in diesen und diesen treffern herumzuschmökern. der aspekt des verlustes der eigenen, inneren zeit wird in etlichen materialien nachdrücklich deutlich. und damit wird ein weiterer gedanke klarer: die allgegenwärtige strukturierung unseres alltags mittels eines objektivistischen zeitrasters lässt sich u.a. als angepasste struktur begreifen - und zwar vor allem für menschen, die mehr oder weniger stark vom gerade erwähnten verlust der eigenen zeit betroffen sind. dieser gedanke wiederum verlangt geradezu nach einer vertiefenden betrachtung - zu der ich momentan aber nicht kommen werde. was natürlich aber keinesfalls ausschließen soll, dass Sie sich ebenfalls gedanken machen, die dann bestenfalls auch hier zu lesen sein werden (jaja, der zaunpfahl...;-)
ich habe dem hier eigentlich nur anzufügen, dass die vor einem jahr geäußerte absicht, hier im blog mehr platz für - hm, alternativen und visionen zu geben, auch aus meiner sicht viel zu kurz gekommen ist - aber noch ist die vorläufige "bestandsaufnahme" in sachen beziehungskrankheiten nicht abgeschlossen. dazu habe ich dem alltäglichen wahnsinn immer wieder mehr platz eingeräumt, als ich eigentlich vorhatte - zuviel ist passiert, was bei mir als trigger für gefühle und gedanken gewirkt hat, die in worte gefasst werden wollten. und letzteres ist für mich ganz persönlich leider auch ein ebenso ganz persönliches indiz dafür, wie übel die gesellschaftliche situation tatsächlich aussieht.
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ich habe mir die letzten tage einige gedanken zum blog gemacht und möchte davon für den moment vor allem meinen wunsch mitteilen, dass sich einige der stammleserInnen doch vielleicht (nochmals) das vor längerer zeit geäußerte angebot überlegen, sich hier auch als autorInnen zu beteiligen. es werden innerhalb der nächsten zwei wochen einige konkrete anfragen von mir herausgehen.
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ansonsten: danke für Euer/Ihr interesse und ebenso für die kommentare hier. wir lesen uns in ein paar tagen wieder.
...aus einem "großen deutschen nachrichtenmagazin":
(...)"Ehrlich gesagt", sagt Aust, "das ist so ein bisschen wie früher der Satz ,Geh doch nach drüben'. Neoliberal? Ich weiß gar nicht, was das eigentlich heißt. Realistisch zu sein, zwei und zwei zusammenzählen zu können? Was ist daran neoliberal?" Simpel gesagt: Wenn man den Schwachen ordentlich Druck macht und den Mächtigen devot den Bauch krault." (...)
treffender als im letzten satz wurde selten beschrieben, was heute so unter "realismus" firmiert - eine mörderische mischung aus objektivismus und opportunismus.
tja, da bin ich dann doch schneller wieder hier, als ich dachte - aber aus guten gründen, wie ich finde. es gibt ein paar mediale produktionen, die durchaus erwähnenswert sind - weil sie zum nachdenken anregen.
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passend zum jahresende gibt es unter dem titel Ein Jahr voller Schandtaten einen taz-kommentar, der alleine deshalb auffällig ist, weil er der allgegenwärtigen tendenz zur zynischen schönfärberei und gleichgültigen verdrängung deutlich entgegenläuft - deshalb hier (fast) in voller länge, mit einigen anmerkungen:
(...) 1. Im Dezember publizierten die Vereinten Nationen einen Bericht, laut dem 2 Prozent der Menschen vermögender sind als die Hälfte der Menschheit!
Das Missverhältnis ist zwar keineswegs neu, aber die Tendenz geht rasant in Richtung größerer Ungleichheit. Im globalen Maßstab wie auch in Deutschland. Man muss kein Ökonom sein, um zu erkennen, dass etwas Gravierendes nicht stimmt, wenn "Gürtel enger schnallen" bewirkt, dass punktuell das Fett überquillt."
was bedeutet die aussage im ersten satz konkret?
zunächst einmal haben die ominösen "zwei prozent" durchaus gesichter, namen und adresse: die absolute spitze dieser absoluten minderheit dürfte sich zu einem großen teil im sog. forbes-ranking wiederfinden, jener alljährlichen liste der vierhundert reichsten us-amerikaner:
"Auf der Forbes-Liste der 400 reichsten US-Bürger haben sich in diesem Jahr erstmals nur Dollar-Milliardäre platziert – zusammen besitzen sie 1,25 Billionen." (...)
(und das ausgerechnet ein asperger-autist dieses ranking anführt, darf und sollte vielleicht als mehr denn eine ironische fußnote betrachtet werden.)
für deutschland ist ein derartiges ranking aufgrund der notorischen öffentlichkeitsscheu der hiesigen geldelite schwerer zu erstellen - nichtsdestotrotz ist auch hier einiges bekannt.
diese klüngel und clans haben also zusammen und teils auch einzeln jeweils ein vermögen zur verfügung, dessen dimensionen die verfügbaren haushaltsmittel sehr vieler staaten (die sich übrigens in fast allen fällen bereitwillig für die durchsetzung der interessen der elitären minderheit selbst mittels offener gewalt zur verfügung stellen) locker in den schatten stellt - und ein vermögen, welches sich quasi minütlich in noch in unbekannten größen vermehrt - zu welchen und auf wessen kosten?
"So lebt fast die Hälfte der sechs Milliarden Menschen auf der Erde von weniger als 2 $ pro Tag und 1, 2 Milliarden von weniger als 1 $ pro Tag.
Dazu hat sich der Abstand zwischen den reichsten 20 % der Weltbevölkerung und den ärmsten 20 % in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt. Das Vermögen der drei reichsten Milliardäre der Welt übertrifft das Bruttonationalprodukt der 48 ärmsten Entwicklungsländer und deren 600 Millionen Einwohner."
um es ganz konkret zu machen: von dieser extremen schere buchstäblich enthauptet werden erstens kinder, hier bevorzugt mädchen; zweitens frauen. für die - jeweils meist auf schätzungen beruhenden und vermutlich die gesamte jämmerliche realität nicht insgesamt abbildenden - statistischen zahlen recherchieren Sie zb. bei unicef. für deutschland schauen Sie auf den link zur kinderarmut in der liste rechts
die als "indirekte" bezeichneten folgen müssen nach "entwickelten" und unentwickelten regionen aufgeteilt werden und sind kaum zu in ihrer gesamtheit und verwobenheit zu beschreiben - armut lässt sich plausibel in zusammenhang bringen mit:
psychosozialer verelendung, innerfamiliärer gewalt, drogenabusus, armutsinduzierter kriminalität (und folgender drehung der staatlichen repressionsschraube, was dann auch ein ausuferndes knastsystem nach sich zieht, über dessen zustände in diesem land hier in den letzten tagen einiges zu lesen war ), umweltzerstörung, bildung von banden- und mafiastrukturen (die, so wie es ausschaut, von den "eliten" funktionalisiert und genutzt werden - antisoziale mitglieder der unterklassen werden als "rekruten" instrumentalisiert), gesteigertes risiko von (bürger-)kriegen (incl. florierender rüstungsindustrie), fluchtbewegungen planetaren ausmaßes (die tausenden toten zb. an den eu-außengrenzen im süden gehören ebenfalls zu den armutsfolgen), verstärkte und grausamer werdende konkurrenzverhältnisse bei armutsbedrohung (in unseren breiten ist zb. mobbing ein symptom dieser entwicklung) usw. usw.
und nein, man muß wirklich kein ökonom sein (das scheint sogar bei der realitätswahrnehmung eher ein hindernis darzustellen), um solche zustände nicht nur zum schreien, sondern als krieg zu empfinden.
2. Am 30. Oktober veröffentlichte der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern einen Bericht über die globale Erwärmung, der nicht nur, wie alle Untersuchungen und Projektionen zu diesem Thema davor, geradezu apokalyptisch klingt, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit auseinandersetzt, dass Umweltschutz langfristig erheblich wirtschaftlicher ist als Umweltverschmutzung.
Wenn wir national und international handeln, können wir die Konzentration der Treibhausgaskonzentration auf unter 550 ppm (parts per million) halten, womit die schlimmsten Folgen vermieden wären. Zum ersten Mal hat ein Ökonom aus dem Establishment die Kosten für unser Überleben beziffert: 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da die Militärausgaben diese Summe bei weitem übersteigen, gibt die Menschheit weit mehr für Zerstörung als für Erhaltung aus. Und das nennt sich Realpolitik!
eine ganz gute zusammenfassung der zunehmenden wetteranomalien ist aktuell hier zu lesen. (und das sich die sog. "realpolitik" - ein inzwischen krampfauslösendes unwort - seltsamerweise meistens auf zerstörerische wirkungen aller art konzentriert, ist etwas, was sich u.a. mit etwas wissen um die dynamiken und folgen traumatischer sozialer prozesse begreifen lässt. denn fakt ist dabei auch: wir alle - mit ein paar ganz wenigen ausnahmen - dulden dieses treiben mindestens. und die motivationen dafür sind dringend zu verstehen).
3. 2006 hat gezeigt, wie fragil und beschädigbar unsere westliche Demokratie ist. Früher hätten wir das, was wir gegenwärtig erfahren, "Gegenrevolution" genannt. Auf allen Ebenen werden Errungenschaften eingeschränkt oder abgeschafft, auf die wir stolz sein konnten.
In Großbritannien, dem Mutterland der modernen Demokratie, sollte das juristische Rückgrat der Menschenrechte, das Habeas-Corpus-Recht, abgeschafft werden, und es blieb ironischerweise dem einst konservativen Oberhaus überlassen, den schändlichen Gesetzesentwurf abzuschwächen. In den Vereinigten Staaten unterschrieb Präsident Bush am 17. Oktober ein Gesetz, das Folter und Entführung legalisiert, und widerrief somit einen zentralen Teil der "Bill of Rights" und natürlich auch das Habeas-Corpus-Recht.
Das Gesetz gewährt der Exekutive das außergewöhnlich weitreichende Recht, jeden Menschen auf der Welt als "ungesetzlichen feindlichen Kämpfer" zu bezeichnen und ihn somit zu entrechten. Die CIA darf jeden von uns entführen, in "geheime Gefängnisse" überstellen und foltern. Die derart geernteten "Beweise" sind vor "militärischen Gerichtskommissionen" zugelassen.
Wie das funktioniert (damals allerdings noch "illegal"), haben mehrere deutsche Staatsbürger schmerzhaft erfahren müssen, ohne - auch das gehört zu den Schandtaten dieses Jahres - ausreichend von der eigenen Regierung geschützt worden zu sein. Die Macht der Gesetzlosigkeit, bekannt aus Absolutismus und Faschismus, macht sich breit. Freiheit und Gerechtigkeit sind in ein Koma gefallen, aus dem sie nur eine weitreichende Therapie wieder zum Leben erwecken kann.
suchen Sie einfach mal mit den keywords "folter" und "knast" hier im blog - und Sie werden das obige illustrieren können.
4. Irak ist offensichtlich eine Katastrophe - obwohl wir uns kein profundes Bild davon machen können, denn westliche Journalisten können kaum mehr aus der Grünen Zone in der Hauptstadt Bagdad heraus. Vielleicht schafft in dieser Hinsicht der englischsprachige Nachrichtensender von al-Jazeera ein wenig Abhilfe. Doch für wen?
Mehr als eine halbe Million Iraker sind an den Folgen der Invasion gestorben, lauter unglückliche Opfer im Kampf für die Demokratie. Für manch andere aber ist Irak eine Bonanza sondergleichen. Für Firmen wie Halliburton und Bechtel, die gewaltige Aufträge abgesahnt haben, die höchst virtuell abgerechnet wurden.
Und auch für all jene, denen es gelungen ist, sich an der systematischen Ausplünderung des Iraks zu beteiligen. Laut Schätzungen sind etwa 20 Milliarden Dollar "verschwunden". Egal, wann die Amerikaner und ihre Verbündeten das Land wieder freigeben: Ein substanzieller Teil des irakischen Reichtums hat seine "exit strategy" schon gefunden.
zwei weitere aspekte (nicht nur) zum "kampf gegen den islamistischen terror:" eins und zwei.
5. Die angesehene britische Journalistin Isabel Hilton, Redakteurin von opendemocracy.com , eines der weltweit besten politischen Infosites, antwortete neulich auf die Frage nach dem typischen Charakteristikum unserer Epoche mit der "Lüge".
Tatsächlich ist auffällig, wie unverhohlen die führenden Staatsmänner der Welt (Wladimir Putin, George W. Bush und Tony Blair mögen als Hauptakteure ausreichen) samt ihrer gesamten Equipage lügen und Lügen gestraft werden, und trotzdem keine Konsequenzen ziehen und nicht gezwungen werden, Konsequenzen zu ziehen. Paraphrasiert gesagt: Es gab schlimmere Zeiten, selten aber heuchlerische.
simulationen im sozialen leben - zu denen die lüge "an sich" deutlich gehört - sind ja ein thematischer evergreen in diesem blog. zur untermalung des obigen empfehle ich nochmals dieses hier. übrigens bezweifle ich, dass die oben genannten ihre lügen auch als lügen empfinden.
selten genug, dass ich etwas in unseren zeitungen bedingungslos unterschreiben würde - jetzt folgt ein solch rarer moment:
(...) Wenn wir also in diesen Tagen zum Nachdenken finden und zum Erhoffen ins Neue Jahr hinein, dann wäre es schön, wenn wir nicht aufhörten, uns eine bessere Welt vorzustellen, gerade in Zeiten, in denen ein zynisches Achselzucken als profundes Weltverständnis verkleidet wird. Eine Welt ohne Ausgrenzung von Anderen, ohne Waffenproduktion, ohne imperiales Gangstertum, ohne die Diktatur des Internationalen Währungsfonds und ohne eine Wirtschaftsweise, die die Mehrheit der Menschen zu einer unwürdigen Existenz verdammt, während sie unser aller Zukunft raubt.
Es wäre schön, wenn wir träumen könnten, gegen die verächtlichenden Rufe der Pragmatiker, die Missstände allein kraft ihrer Existenz beglaubigen, während sie den Visionen jegliche Vernunft absprechen. Auch wenn 2006 ein Jahr der Rückschritte war, wir leben in interessanten Zeiten, und das heißt auch, dass wir an Kreuzungen stehen. Und dass es von uns allen abhängt, in welche Richtung es weitergehen wird.
vielleicht geben Sie der obligatorischen silvesterfeier ja auch einen ganz neuen drive, wenn Sie als einstieg einfach den obigen kommentar laut in der runde verlesen?
*
auf der gleichen seite der taz, von der der gerade vorgestellte kommentar stammt, findet sich auch eine rubrik zur pressedokumentation, deren heutiger inhalt unfreiwillig (?) weitere aufschlüsse über die desolate verfassung der westlichen gesellschaften bietet:
(...) "SPD-Chef Kurt Beck fühlte sich vom struppigen Frank provoziert und forderte ihn zum Haareschneiden heraus. Das war ein Appell an das Arbeitsethos, das zu den Grundlagen westlicher Gesellschaftsordnung gehört: spontan, humorvoll und angebracht."
das "arbeitsethos", welches hier von einem der führenden kapitalistischen propagandablättchen beschworen wird, lässt sich erstens in seiner konzentriertesten form in drei berühmt-berüchtigten worten fassen: arbeit macht frei. und wer zweitens das verächtliche und ressentimentgeladene geschwätz des k. beck als "humorvoll" bezeichnet, dürfte sich mitsamt seinem humor in dieser gesellschaft ganz wohlfühlen.
folgenden unsinn aus der "washington post" möchte ich hingegen inhaltlich nicht weiter kommentieren:
"In den meisten reichen Ländern der Welt hat die Ungleichheit im vergangenen Vierteljahrhundert zugenommen. Sicher ist es nicht möglich, sie vollständig zu beseitigen, dies wäre auch gar nicht wünschenswert: Ungleiche Entlohnung motiviert Menschen."(...)
aber schauen Sie doch noch mal in das weiter oben verlinkte "forbes-ranking" - an zweiter stelle steht dort erneut
"...Investor und Chef von Berkshire Hathaway, Warren Buffett, mit 46 Milliarden Dollar. Berkshire Hathaway hält unter anderem Anteile an Coca-Cola, Gillette und der Tageszeitung „Washington Post“.
manchmal ist die realität tatsächlich nur eins: unsäglich platt.
*
so, und da es ja hier schon ausgiebig um das treiben der sog. "eliten" ging, folgt jetzt zum abschluß ein langer und interessanter ausflug an den starnberger see, für den Sie sich ruhig die zeit nehmen sollten (das war jetzt übrigens ein musterexemplar eines durchaus ungewollten wortspiels).
nur eine kleine textprobe, die zudem auch etliches über menschliche widersprüchlichkeiten und abgründe deutlich macht:
(...) »Ich sage Ihnen was über Starnberg. Wollen Sie eine ehrliche Antwort?« Bitte. »Eine Bombe sollte man da reinwerfen, eine Bombe.« Rudolf Zirngibl ist in Starnberg aufgewachsen, im Kreisrat sitzt er für die CSU, seit 22 Jahren ist er Unternehmer, und er behauptet von sich, dass er in Abgründe gucken könne. »Es ist so widerlich.« Am Ende stünden die Reichen vor ihm und sagten: »Für meine Frau die billigste Kiste. In aller Stille, schnell weg.« (...)
ja. es ist so widerlich.
unfestliches eins: aus den augen, aus dem sinn - oder was eine justizsenatorin unter "problemlösung" versteht:
(...) "Die neue Justizsenatorin Gisela von der Aue will die Öffentlichkeit nicht mehr über Selbsttötungen in den Gefängnissen unterrichten. Nach Informationen des Tagesspiegels hat von der Aue angewiesen, Selbstmorde nicht mehr zu melden. Die Entscheidung sei in der letzten Woche gefallen, nachdem sich in Moabit erneut ein Untersuchungshäftling das Leben genommen hat. Dass der 37 Jahre alte Siam B. sich mit seinem Bettlaken erhängte, sollte die Öffentlichkeit nicht mehr erfahren. Es war die zehnte Selbsttötung in diesem Jahr – so viele hat es seit 1987 nicht mehr in Berlin gegeben." (...)
natürlich nur aus einem hehren motiv heraus:
(...) "Die Sprecherin der Senatorin, Juliane Baer-Henney, begründete die Anweisung so: Die Persönlichkeitsrechte eines Gefangenen und seiner Familie seien höher zu bewerten als das Interesse der Öffentlichkeit. Dem widersprach Andreas Gram, der Vorsitzende des Rechtsausschusses, gestern vehement. „Das Informationsbedürfnis des Parlamentes ist höher zu bewerten“, urteilte Gram. „So soll wohl verhindert werden rauszufinden, was in den Gefängnissen los ist“, kritisierte der CDU-Politiker – also zum Beispiel Drangsalierungen durch andere Gefangene oder schlechte Haftbedingungen."
"wenn wir schon todesfälle nicht verhindern können (bzw. wollen), so schützen wir dann doch wenigstens das persönlichkeitsrecht" - ich fürchte, die vertreterInnen der sog. politischen klasse meinen ihren zynismus völlig ehrlich. und sollte uns ein hauch von wahrheit aus cdu-mund selbst dann tröstlich stimmen, wenn er erkennbar aus sog. parteipolitischen überlegungen heraus motiviert ist?
dazu auch ein lesenswerter kommentar.
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unfestliches zwei aus mexico: mörderische gewalt gegen frauen ist zwar nicht nur dort eine realität, hat aber in einigen regionen unglaubliche ausmaße erreicht:
(...) Jede Woche verschwindet in Ciudad Juárez mindestens eine Frau, und es wird nie wieder etwas von ihr gehört, es sei denn, ihre Entführer entscheiden sich dafür, ihren leblosen und offensichtlich brutal gefolterten und ermordeten, wüst vergewaltigten und manchmal verstümmelten, manchmal verbrannten Körper verschwinden zu lassen. Weder die Verzweiflung und Angst der Familien, mit der Unsicherheit leben zu müssen, ob ihre Töchter, die das Haus verlassen, auch zurückkehren werden, noch die fast 300 Morde und über 600 Vermissten lösen die Bereitwilligkeit aus, diese Taten unter Kontrolle zu bekommen. (...)
Die mexikanische Journalistin und Feministin Mariana Berlanga treibt derzeit eine Untersuchung über die Frauenemorde in Ciudad Juárez und deren Verbindung mit den Institutionen und den Produnktionsgepflogenheiten der Maquilas ( Billiglohnfabriken ) der Region voran. Sie ist Aktivistin im Bereich der Aufklärung der Morde und im Kampf gegen die Straflosigkeit in Juárez, insbesondere was die Gewaltakte die dort gegen/an Frauen verübt werden anbetrifft.(...)
Marina: In México, wie in anderen verschiedenen Ländern Lateinamerikas und der Welt, war die Gewalt gegen Frauen, einschliesslich der Morde, immer charakteristisch. Aber seit 13 Jahren überrascht uns eine neue Form dieser Gewalt, nämlich dass Frauen nicht nur einfach aus irgendeinem Grund ermordet werden, sondern dass es ein gemeinsames Muster gibt. Das heisst, es werden immer wieder an öffentlichen Orten die Körper toter Frauen aufgefunden, die Zeichen von Folter, sexueller Gewalt und Verstümmelungen aufweisen. Diese Art von Fällen überrascht uns seit 13 Jahren, obwohl die Gewalt gegen Frauen schon vorher strukturiert und systematisch gewesen ist. Vor 13 Jahren ist damit begonnen worde, die Fälle zu zählen und publik zu machen, was keine Rechtfertigung dafür ist, dass seit 13 Jahren solche Dinge geschehen.
Es werden Frauen getötet, die sehr spezifische Kennzeichen besitzen und nicht irgendwelche, jedenfalls nicht in dieser Weise. Die Ermordeten sind immer von brauner Hautfarbe, haben indigene Züge und sind zierlich. Bis vor Kurzem handelte es sich noch um jungendliche Frauen; inzwischen müssen wir sagen, dass Kinder davon betroffen sind, Mädchen im Alter von sechs, fünf bis zu drei Jahren! (...)
lesen Sie´s!
*
unfestliches drei: gibt es eigentlich auch nur einen nachvollziehbaren grund dafür, warum dieser gesellschaft all der selbstproduzierte wahnsinn nicht auch an einem 24. dezember auf die füße fallen sollte? eben:
(...) "Die Großeltern hatten der Polizei einen Hinweis gegeben. Die Beamten fanden den Jungen tot in der Wohnung seiner Eltern. Die 29-jährige Mutter, eine arbeitlose Verkäuferin, sei wegen des Verdachts auf Totschlag festgenommen worden, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Eine Obduktion ergab Anzeichen für einen gewaltsamen Tod des Jungen.
Über die genauen Todesumstände teilte die Staatsanwaltschaft zunächst nichts mit. Die Ermittlungen ergaben bisher, dass sich die Eltern des Kindes an Heiligabend gestritten hatten. In seiner Wut habe der 30-jährige Vater die Wohnung verlassen und sei zu seinen Eltern gegangen. Danach sei zunächst der Vater in die Wohnung zurückgekehrt, später auch dessen Eltern. Diese hätten dann um Mitternacht die Polizei darüber informiert, dass ihr Enkelkind tot sei." (...)
ist Ihnen - neben der trostlosen wiederholung, mit der solche meldungen fast im wochentakt auftauchen - auch das attribut arbeitslos bei der bezeichnung der wahrscheinlichen täterin aufgefallen? genau so werden ressentiments produziert.
*
unfestliches vier: falls Sie wiedereinmal bei Ihren geschenken innerlich aufgestöhnt haben und die frage eines umtauschs auf dem tisch liegt - nun, hier gibt´s einen buchtipp:
(...) Brigitte Schwaiger, "Fallen lassen", Czernin Verlag 2006, ISBN 9783707600827
(...) "Schizophrenie, Depression, Borderline-Syndrom - die zyklisch wechselnden Diagnosen der Ärzte sind ein Spiegelbild der prinzipiellen Unkommunizierbarkeit ihrer Leidenszustände und gleichzeitig der gesellschaftlichen Unsicherheit im Umgang mit seelisch Erkrankten. Darüber lässt sich trefflich entspannt räsonieren, doch hier ist das Opfer eine allem Ungemach zum Trotze disziplinierte Schriftstellerin, die uns voll Zorn mit den ihr verbliebenen schriftstellerischen Mitteln - und dazu zählt die Gabe der klaren, präzisen Beobachtung - erzählt, wie man als Betroffene lebt.
Ihr bewusst schlicht gehaltener Bericht gibt uns keine Darstellung eines gigantischen Fantasmas, wie die legendären "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" des Senatsrates Schreber, der Freud zu seiner Theorie der Paranoia angeregt hat; er ist auch kein Versuch, den eigenen Wahn, der zur Tötung der Gattin geführt hat, intellektuell zu meistern, wie ihn der französische Philosoph Althusser unternommen hat. Brigitte Schwaiger hat ein unprätentiöses, aber unter die Haut gehendes Protokoll des Lebens in drei Höllen verfasst - ihrer inneren Hölle, der des sozialen Umfelds und schließlich der der institutionellen Verwaltung von so genannten Geisteskrankheiten in Wien.
Wie lebt man mit einer Antriebslosigkeit, die einen in die Verwahrlosung treibt, wie lebt man mit Panikattacken, die einen zu Hause festhalten? Wie meistert man den Spagat, dass man einerseits "Beziehungen aufrechterhalten" soll und sich gleichzeitig seinen Mitmenschen nicht mehr verständlich machen kann, zur Körperpflege außerstande ist und am Ende nur mehr "nervt", so dass die Besucher ausbleiben? Und schließlich: Wie lebt man in jener absoluten Hölle, in der diese Krankheiten verwaltet werden, im psychiatrischen Krankenhaus der Gemeinde Wien auf der Baumgartner Höhe? Der Name Steinhof ist verpönt, man soll jetzt Otto-Wagner-Spital sagen." (...)
ob das wirklich nur als "öffentliche schande" begriffen werden soll? schließlich ist hier, ebenso wie in den weiter oben beschriebenen beispielen, zum wiederholten mal die logik der verdinglichung zu besichtigen - und in dieser logik geht es hier auch noch um weitgehend nutzlose dinge:
(...) "Da leben Männer und Frauen, Depressive und Aggressive, Schizophrene, Paranoiker und Heroinsüchtige auf engem Raum, junge und alte, Angehörige verschiedener Nationalitäten in einer Situation, die immer wieder - so Schwaiger - "Missverständnisse und Streit, sogar Androhung von Gewalt und Gewalttätigkeit" produziert.
Die Vorstellung, dass sich eine Insassin des Steinhofs damit tröstet, dass Juden in Konzentrationslagern mehr hätten leiden müssen ist unerträglich - jener Steinhof, den Brigitte Schwaiger schildert, ist eine öffentliche Schande." (...)
- sprach die empörte bürgerlichkeit (und wandte sich dann wahrscheinlich wieder ihren ach so wichtigen geschäften zu). wie wäre es denn, mal die floskel "unerträglich" als wahrnehmung real zuzulassen? das könnte dann nämlich tatsächlich veränderungspotenziale freisetzen.
*
wir lesen uns hier vermutlich spätestens in der ersten januarwoche wieder - dann wird´s auch mit der traumareihe losgehen. und ich wünsche allen leserInnen, das Sie die tage, welche den schönen ausdruck "zwischen den jahren" tragen, wirklich einmal zur besinnung nutzen können.