Sonntag, 11. Januar 2009

notiz: krisennews und -gedanken (16)

und zur einleitung dieser neuen folge möchte ich die leserInnen zunächst davon in kenntnis setzen, das der heutige beitrag mindestens für die nächste woche vorläufig mein letzter sein wird - passend zum allgemeinen (wirtschaftlichen) desaster habe ich das krisenjahr 2009 gleichmal mit einem persönlichen fiasko eingeläutet, welches in der letzten woche in der kombination von vereister straße und einem fahrrad dazu führte, dass ich mich morgen unters messer auf einem op-tisch legen muss. einer der seltenen anlässe, bei dem ich die mir persönlich verhasste durchhalteparole "muss ja!" wenigstens etwas sinnvoll finden kann.

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und als ich dann vorhin so auf krücken in der kälte zum netcafé meiner wahl humpelte, habe ich mir überlegt, was denn wohl zur zwischenzeitlichen ansammlung immer neuer krisenbotschaften aus meiner sicht zu sagen wäre. und bin zu dem schluß gekommen, dass vieles vor allem ein ausdruck dafür ist, dass sich die krise inzwischen dem erwarteten verlauf aus sicht der sog. pessimisten annährt, und zwar in mehrdimensionaler hinsicht. einmal wäre da die weiter wirkende sedierung großer teile der hiesigen bevölkerung, die vermutlich bei vielen selbst dann noch das verhalten als untertäniges braves schaf stützen wird, wenn sie selbst aus ihren jobs geflogen sind und sich vor den örtlichen agenturen drängeln, um ihre staatlich gewährten brosamen in empfang zu nehmen. das dürfte in vielen fällen gleichfalls gekoppelt auftreten mit der - und in diesem fall ist das attribut angemessen - urdeutschen tradition des tretens und keilens gegen alle, die als noch schwächer und weiter "draußen" stehend wahrgenommen bzw. als solche seitens der "elitären politik" gekennzeichnet und stigmatisiert werden. tatsächlich haben wir die volle aktivierung all der unsichtbaren antisozialen spaltungslinien rassistischer und faschistischer coleur noch nicht einmal ansatzweise in größeren dimensionen erlebt - "deutsche" vs. "ausländer", "moslems", "juden"; aber auch "undeutsches" in form von "schwäche" bzw. minderleistung - obdachlose, kranke, erwerbslose. wobei: vielleicht gibt es gerade wenigstens bei den letzteren einen kriseneffekt, der neulich in der taz
so beschrieben wurde:

(...)"Eine reale Wirtschaftskrise fordert Arbeitsplätze. Psychologisch stellt sich die Frage: Wird nun die Arbeitslosigkeit wieder mehr zu einer kollektiv erlebten Erfahrung?(...)

Wenn Auswirkungen der Krise auch Bessergestellte treffen können, dann ist es nicht mehr so leicht, betroffene Bevölkerungsgruppen deswegen moralisch auszugrenzen. Es gab zuletzt eine Studie des Mannheimer ZEW-Instituts, wonach in Abschwungzeiten Erwerbslosen weniger unterstellt wird, sie seien selbst verantwortlich für ihr Schicksal. In vielen Milieus könnte die Krise eine ähnliche moralische Entlastung für Jobverlust und Firmenpleiten mit sich bringen."(...)


wenn man es so eng begrenzt sieht, könnte ich durchaus vorsichtig zustimmen. allerdings bezweifle ich sofort danach eben auch die fähigkeiten vieler "deutscher" erwerbsloser, ihre aufgrund der üblichen hiesigen sozialisation vorhandenen hasspotenziale jenseits von selbsthass und/oder tretens nach unten in eine richtung gegen oben und die dort favorisierten gesellschaftlichen verhältnisse focussieren zu können, die nicht in eine quasi-faschistische sackgasse führt. die fähigkeit zur kollektiven solidarität beruht u.a. eben auch auf den persönlichen empathiefähigkeiten, die in diesem land bekanntlich bis dato weder gefördert noch im größerem umfang gewünscht sind. daran ändern auch entsprechende bekenntnisse zur simulation von als-ob-empathie bspw. innerhalb von unternehmen nichts. dazu kommt die in vergangenen krisennews öfter erwähnte notwendigkeit, eine grundsätzliche und qualitative alternative jenseits des herrschenden systems von exponentiellem wachstum, konsum als lebenssinn, gesellschaftlichen hierarchien und posttraumatischer antisozialität zu entwickeln. dazu müsste aber bspw. der fortfall von zwangsweiser lohnarbeit von betroffenen ebenso als chance begriffen werden können wie die veränderung des bisher konsumfixierten eigenen lebens, was wiederum eine tiefgreifende auseinandersetzung mit den diese muster tragenden eigenen inneren psychophysischen strukturen zur bedingung hätte. ob eine solche weitgehende und auch schmerzhafte konfrontation mit sich selbst durch zunehmenden druck in den äußeren und alltäglichen strukturen entstehen kann, darf zumindest angezweifelt werden. aber vielleicht erleben wir auch hier positive überraschungen?

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zum anderen können sich die pessimistischen prognosen der jüngeren vergangenheit in ausmaß und geschwindigkeit des prozesses bestätigt sehen, in dem sich die krise bis in die letzten winkel der herrschenden ökonomie frisst - alleine die schlagzeilen der letzten tage sind so spektakulär, dass ein social fiction-autor, der das hypothetisch bspw. vor zwei jahren als plot irgendwelchen verlagen präsentiert hätte, unter allgemeinem hohngelächter auf die straße befördert worden wäre. wieder einmal zeigt sich, dass die realität regelmässig die schärfsten geschichten schreibt und die größten überraschungen bereithält.
breite schrumpfung der industrieproduktion - unvorstellbar, zweistelliger rückgang der hiesigen exporte - absurd, staat wird größter aktionär bei commerzbank - grotesk. und so weiter und so fort. wobei es nicht nur, aber besonders rund um die bankster zum himmel stinkt - hinter diversen aktuellen aktionen zur "bankenrettung", die gerade weltweit unternommen werden, lassen sich prozesse und strukturen erahnen, die immer neue belege für die these liefern, dass es sich beim attribut "legal" innerhalb einer kapitalistischen ökonomie tatsächlich nur um ein leeres wort für eine als notwendig betrachtete simulation handelt, die prozesse decken soll, welche bei genauerer betrachtung keine strukturellen unterschiede mehr zu den illegalisierten schattenökonomien unter der fuchtel von mafia und co. erkennen lassen. wobei sich auch "der staat" in form von diversen landesbanken keinesfalls zurückhält - die sog. steuerparadiese bieten halt für alle leute mit sehr viel geld ihren service an:

"Die staatliche HSH Nordbank hat nicht nur kräftig beim globalen Finanz-Roulette mitgespielt, sie half auch, dem Staat Steuern zu hinterziehen: Briefkastenfirmen in der Karibik, Beteiligungen an dubiosen Fonds auf den britischen Kanalinseln und Tochtergesellschaften in Steuerparadiesen.

Die von der Finanzkrise schwer erschütterte Nordbank unterhält weltweit über 160 Beteiligungen, darunter Niederlassungen auf den karibischen Cayman Islands, den britischen Kanalinsel Guernsey und Jersey sowie den Marshallinseln im Pazifik. Offensichtlich bietet die Staatsbank ihren Anlegern Renditen in Steuerparadiesen an."(...)


was in diesen "paradiesen" wie genau abläuft, lässt sich ganz gut anhand der
kanalinsel jersey nachvollziehen. aber nicht nur deutsche banken handeln nach dem systeminternen zwang der kapital- und profitakkumulation; auch anderswo wird deutlich, dass begriffe wie "legalität", "gesetze" und vor allem "seriösität" für leute mit sehr viel geld offensichtlich eine andere bedeutung haben als für das normale bürgerliche schaf (welches sich natürlich in kleineren dimensionen von fall zu fall an den großen vorbildern orientiert) - "anderswo" liegt in diesem falle in der direkten nachbarschaft :

"Die Schweizer Großbank UBS gibt dem Druck der US-Behörden nach und wird rund 19.000 Offshore-Konten wohlhabender amerikanischer Kunden schließen, berichtete die New York Times am Freitag. Der größte Vermögensverwalter der Welt geriet unter Beschuss, da nur ein Bruchteil der Konten von amerikanischen Anlegern bei der Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) gemeldet waren. Die Zahl der Konteninhaber, die auf diesem Weg Steuern hinterzogen haben, soll sich auf einige tausend belaufen."(...)

wer immer noch glauben sollte, das seien nur ausnahmen von der regel, kennt die regel(n) noch nicht. die lassen sich zb.
hier studieren.

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zum suizid des "pharma-milliardärs" merckle ist schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass ich heute nur noch auf eine art nachruf bei
ad sinistram hinweisen möchte, ebenso auf den dortigen nachtrag:

(...)"Verschiedene Medien berichteten vom Spekulationsfiasko dieses Mannes, der angeblich sein ganzes Firmenimperium an der Börse verspielt hätte. Milliarden hätte er verloren - Milliarden, so wurde zudem berichtet, die er als williger Bruder im Geiste des Profites, skrupellos akkumulierte, die er seinen Kontrahenten regelrecht aus der Tasche nahm. Der freie Markt dieses Herrn war der unfreie Markt all jener, die ihm in die Quere kamen. Wir erinnern uns an den Ausspruch, dass man an ein Milliardenvermögen nicht mittels Ehrlichkeit herankommt - und erfahrungsgemäß wissen wir, die wir nicht einmal fähig sind, eine Million ehrlich zu verdienen, dass diese proletarische Polemik in Spruchform, durchaus ein Korn Wahrheit in sich bergen könnte. Zwar wurde er als bescheidener Patriarch dargestellt, der privaten Asketismus lebte, zwischen Bundesverdienstkreuz, Alpenverein und Studentenverbindung, der aber im Geschäftlichen aufblühte, was soviel heißt wie: verwelkte, weil er alles Zwischenmenschliche absterben ließ. Menschen, ob Angestellte oder Vertreter aus Politik, waren für ihn nur Mittel zum Zweck, benutzbare Bestandteile aus einem Kollektiv verwertbarer Humanroboter, die zur Sicherung und Wahrung, aber natürlich auch zum Ausbau seines Vermögens heranziehbar seien.

Vor diesem Hintergrund ist sein letzter Akt zu sehen. Er suchte ein Gleis auf, weil er selbst nicht tun wollte oder konnte, was einem Menschen, selbst bei größter Lebensmüdigkeit, nicht leichtfällt. So bediente er sich der Deutschen Bahn, genauer eines Lokführers, der zum ungewollten Tötungsinstrument werden sollte."(...)


bingo. nimmt man dazu noch die "öffentliche erklärung" seitens der familie...

"Adolf Merckle hat für seine Familie und seine Firmen gelebt und gearbeitet. Die durch die Finanzkrise verursachte wirtschaftliche Notlage seiner Firmen und die damit verbundenen Unsicherheiten der letzten Wochen sowie die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben den leidenschaftlichen Familienunternehmer gebrochen, und er hat sein Leben beendet."

...vervollständigt sich der eindruck einer unglaublichen kälte in diesen kreisen, die sich ein leben jenseits ihrer wert- und normenskala so vollständig nicht mehr vorstellen können, das der tod in so einer situation als kleineres übel erscheint. sie begreifen sich tatsächlich primär als "unternehmer", "finanziers" u.ä. - und nicht mehr primär als menschen. wer glaubt denn wirklich, dass der milliardär selbst bei einem völligen crash seiner unternehmen verarmt auf der straße gelandet wäre? aber vor allem: wen wundert die breite berichterstattung über einen der ihrigen und das ebenso breite schweigen über
die anderen?

der vollständigkeit halber und in der sprache, die angemessen ist - hier die bisher bekannte "elitäre"
suizidale bilanz...

(...)"Im Mai vergangenen Jahres sprang Barry Fox, der neun Jahre für Bear Stearns gearbeitet hatte, aus seiner Wohnung im 29. Stock. Das geschah kurz nachdem Fox erfahren hatte, dass er nicht von JP Morgan übernommen wird. Im September stürzte sich der Chef einer Private-Equity-Firma in Großbritannien vor einen Zug. Im November erschoss sich in Brasilien ein Trader auf dem Parkett der Börse in São Paulo. Im Dezember nahm sich in den USA der Hedge-Fonds-Manager Eric Von der Porten das Leben. Und zwei Tage vor Weihnachten schnitt sich René-Thierry Magon de la Villehuchet in seinem Büro an der Madison Avenue in Manhattan die Pulsadern auf. Das Büro lag nur einige Blocks von der Wohnung von Bernard Madoff entfernt. Villehuchet hatte etwa 1,5 Mrd. $, sein Vermögen und das vieler Freunde und Familienmitglieder, bei dem Madoff-Betrug verloren."(...)

...die womöglich
erweitert werden muss:

"Der Chef eines führenden US-Immobilienauktionshauses, Steven Good, ist tot aufgefunden worden. Der 52-Jährige weise eine Schussverletzung auf, die er sich offenbar selbst beigebracht habe, teilte das Sheriff-Büro des Bezirks Kane bei Chicago mit."(...)

und es fällt mir durchaus sehr schwer, bei all diesen toten so etwas wie mitleid in mir zu entdecken.

*

zumal sie durch ihr treiben im leben einiges zur notwendigkeit von einrichtungen wie
suppenküchen beigetragen haben, die für sie selbst immer nur unendlich ferne parallelwelten darstellten:

(...)" Mutter Liz ist gewiss kein zorniges Gemüt, aber wenn sie anfängt, über die soziale Gesamtsituation ihrer Stadt zu reden, gerät sogar sie in Rage. Die Tatsache, dass es im Schatten der opulentesten Konsumtempel und der Konzernzentralen in solch unfassbarem Ausmaß Hunger gebe, wettert sie, werde ignoriert - von der Politik, von der Wirtschaft, von den Medien. "Es ist einfach unakzeptabel, dass Millionen von Menschen nichts zu essen haben. Wir brauchen eine völlig neue Diskussion darüber, was Gemeinwohl bedeutet."

Gewiss, Armut und krasse soziale Gegensätze hat es in New York immer gegeben. Seit sich die Finanzkrise zur Depression ausweitet, scheint jedoch niemand mehr wirklich gefeit davor, bei Mutter Liz in der Schlange zu stehen. "Wir sehen hier vielleicht noch keine arbeitslosen Banker, aber ihre arbeitslosen Putzfrauen und die arbeitslosen Chauffeure, die sind schon da." In vielen Fällen, so die Pastorin, hätten ihre Gäste sogar Arbeit, könnten von dem Lohn in New York jedoch nicht leben."(...)


mit einer gewissen wahrscheinlichkeit demnächst auch in unseren straßentheatern zu sehen - eine 1929er-revival-aufführung, präsentiert von wirtschaft & politik.

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falls nicht auch hier doch noch entwicklungen eintreten, die der marxistische historiker und
optimist karl-heinz roth in einem interview so umschreibt:

(...)"Der Marktradikalismus selber war doch schon für viele Menschen mit Verunsicherung besetzt. Seine Krise löst nun die große Panik aus?

Ja, denn er hat den Alltag auch großer Teile der Unterschicht bestimmt. Es gab eine unglaubliche Expansion der Konsumentenkredite, die Masseneinkommen sind in den letzten Jahren radikal gesunken - auch in der Unterschicht. Millionen Menschen haben ihre prekäre Lage durch Kredite verdrängt und sitzen nun in der Falle. Die Unterklassen der entwickelten Welt kompensierten ihre Prekarität durch Verschuldung. Das spielt auch in der Alltagskultur eine gewaltige Rolle.

Inwiefern?

Das alte Sozialstaatsmodell ist gescheitert. Seine Wiederherstellung ist genauso in Frage gestellt wie der Marktradikalismus. Das sind Prozesse unheimlicher Dynamik. Alle bemerken: So geht es nicht weiter! In Italien führen die Bildungsreformen der Berlusconi-Regierung seit Monaten zu Massenaufständen. Die Jugendlichen sagen: Wir zahlen eure Krise nicht. In Griechenland gab es eine extrem weit fortgeschrittene Erwerbslosigkeit, dort existieren heute keine Perspektiven nach dem Studium. Das sind neue existenzielle Bedrohungen, die dort zu einer ganz breiten Sozialrevolte geführt haben.(...)

Sie werden dem, was Sie "dissidente Strömungen" nennen, zugerechnet. Was sind denn Ihre Rezepte?

Wir müssen die Krise analysieren und über aktuelle Teilaktivitäten hinaus eine konkrete Utopie formulieren. Das ist ein ungeheurer Anspruch, aber nur so wird man der epochalen Bedeutung der neuen Situation gerecht.

Können Sie das konkretisieren?

Bremerhaven etwa wird massive Problem bekommen. Als Folge der Wirtschaftskrise brechen seit dem Spätsommer weltweit die Frachtraten im Schiffsverkehr ein. Es gibt deshalb in Bremerhaven - wie auch anderswo - eine ungeheure Überakkumulation an Transportkapazität. Und es ist klar, dass deswegen alles abstürzen wird. Hier müsen wir Prozesse in Gang bringen, die die Privatisierung stoppen und die Wiederaneignung der Anlagen und der Infrastruktur auf die Tagesordnung setzen.

Wie soll das gehen?

Gefragt ist ein alternatives Restrukturierungsmodell für die Hafenindustrie. Die Arbeiter sollten sich selber organisieren und müssen dabei über das Klein-Klein der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen hinausgehen. Mit ihnen werden neue Modelle zu entwickeln sein, die das katastrophale Scheitern der Managerklasse mit der Entlassung und Abschaffung der Managerklasse beantworten. Das steht an. Das ist sicher sehr weitgehend, aber so muss die konkrete Utopie aussehen, die es zu entwickeln gilt.

Die BLG ist rund eine Milliarde Euro wert, profitabel und gehört dem Land Bremen. Warum sollte dieses eine solche Form von Selbstverwaltung tolerieren?

Der Weg führt über die Arbeiter. Zu ihnen müssen wir mit unseren Konzepten gehen. Die Perspektive für sie muss lauten: Radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Nur so können Massenbedürfnisse befriedigt und kann die für die gesellschaftliche Selbstverwaltung erforderliche Nicht-Arbeitszeit erobert werden."(...)


das finde ich tatsächlich ganz schön optimistisch, zumal über den inneren zustand des einzelnen arbeiters im angesicht der krise die gleichen bedenken angebracht erscheinen, die ich eingangs schon bezgl. der erwerbslosen geäussert hatte. wie gern würde ich mich in beiden fällen irren!

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im interview oben ist auch das stichwort "griechenland" gefallen, und die durchaus sympathisierende beobachtung der dortigen sozialrevolte habe ich bekanntlich ebenfalls in dieser beitragsreihe eingeführt. ein mediales aufflackern der berichterstattung war zuletzt allerdings nur bei den
schüssen auf einen polizisten anfang januar zu registrieren, zu denen ich zunächst auszugsweise eine stellungnahme direkt "aus der bewegung" zitieren möchte:

(...)"Unser erster Gedanke war, dass keine Person, die Teil unserer Bewegung ist - egal wie wütend sie ist oder wie sehr sie die Taktiken der Stadtguerilla unterstützt - sich ausgerechnet den, in den letzten Tagen buchstäblich unter Besatzung der Polizei stehenden, Bezirk Exarchia aussuchen würde, um solch eine Attacke auszuführen und anschließend sicher zu entkommen.

Daher können wir es nicht als Zufall ansehen, dass Massenmedien, Politiker_innen und ihre Lakaien eine Athmosphäre aufgebaut haben, dass irgendeine dynamische Racheaktion unmittelbar zu erwarten sei. Wir können die Möglichkeit natürlich nicht ausschließen, dass so was passiert - aber wir sind nicht so dumm zu glauben, dass es in Exarchia passiert, oder wie das Mal zuvor [die Schüsse auf den Polizeibus einige Tage vorher, anm.ü.] vom Unicampus Zografou aus. Der Staat hatte über sein mediales Sprachrohr die öffentliche Meinung schon auf eine "bevorstehende" Aktion gegen die Polizei vorbereitet. Die Auswahl des Angriffsortes (das Kultusministerium in Exarchia) hat ihnen irgendwie die Suppe versalzen: Ein Angriff in dieser schwerstüberwachten Gegend verweist ganz klar auf Angreifer_innen, die nur vom Staat selbst kommen können. Es ist nicht der Rede wert festzustellen, dass diese Leute keine Skrupel haben, einen der ihren zu erschießen - darüber brauchen wir nicht nachdenken: Menschenleben bedeuten ihnen nichts.(...)

Bereits jetzt gab es 75 Verhaftungen, viele Übergriffe der Polizei auf Bewohner_innen und Passant_innen in Exarchia und Hausdurchsuchungen - wie praktisch für sie."(...)


nun meine persönliche meinung: spätestens seit dem bekanntwerden der existenz von "gladio" und der betrachtung der us-amerikanischen praktiken der aufstandsbekämpfung weltweit ist natürlich nicht auszuschließen, dass es sich bei dem athener angriff tatsächlich um eine klassische counter-insurgency-aktion gehandelt haben könnte. könnte deswegen, weil ich mir durchaus auch vorstellen kann, dass die schüsse tatsächlich von leuten abgegeben worden sind, die - ganz ähnlich wie einst hierzulande die raf - sich aufgrund einer falschen analyse der gesamtgesellschaftlichen situation zum handeln in ihrem sinne entschlossen haben. und das würde ich für falsch halten, zumal die griechischen verhältnisse noch nicht die einer offenen diktatur sind, in der sich die frage nach der legitimität von bewaffnetem widerstand sozusagen von selbst beantwortet. in den aktuellen westlichen demokratiesimulationen ist und bleibt das eine sehr, sehr zwiespältige sache. und wesntlich vielversprechender und auch wichtiger schätze ich die ersten ansätze für eine breite selbstorganisierung immer mehr gesellschaftlicher klassen ein, wie ich sie in den krisennews nr. 14 am ende dokumentiert hatte.

erste folgen dieser schüsse waren aktuell bereits wahrzunehmen, bei der ersten
großdemonstration des neuen jahres in athen kam es zu harten polizeiangriffen:

"Während der heute Mittag stattgefundenen ersten Demo von SchülerInnen und StudentInnen im neuen Jahr in Athen wurden 15 Rechtsanwälte die versuchten juristische Hilfe anzubieten, an ihrer Arbeit gehindert und festgenommen! Mindestens zwei Journalisten wurden verletzt, mehrere andere an ihrer Arbeit gehindert und festgenommen. Sogar Krankenwagenpersonal das Verletze abtransportieren wollte, wurde von der Polizei angegriffen und verletzt. Zwei Verletzte, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden, sind von der Polizei nochmal einmal angegriffen und verletzt wurden."

es bleibt zu hoffen, dass der wichtige und eher unspektakuläre prozeß der selbstorganisation nicht von einer eskalierenden gewaltspirale aufgehalten bzw. verhindert wird.

Mittwoch, 7. Januar 2009

kontext 50: "Da stimmt etwas ganz Fundamentales mit dieser Gesellschaft nicht"

mit diesen sätzen endet ein artikel, der eigentlich nicht nur bei spon als zumindest zeitweise ständige topschlagzeile präsentiert gehört, weil er wissen über uns selbst und unsere psychophysischen funktionen enthält, ohne dessen verbreitung und anschliessende weitreichende konsequenzen keinerlei entwürfe grundsätzlich sozialerer gesellschaftlicher verhältnisse mehr auskommen können. es geht um einen überblick hinsichtlich wichtiger ergebnisse der pränatalen forschung, und dieser überblick lässt sich als ergänzung und vertiefung meines eigenen basisbeitrags zur pränatalen phase nutzen. gleichfalls macht er auch wesentliche strukturen deutlich, die zu den unsichtbaren quellen von kriegen wie aktuell in nahost oder sri lanka gehören.

(...)"Die Annahme oder Ablehnung des Fötus ist die erste, ganz zentrale Erfahrung von Beziehung. Denn nicht nur über die Nabelschnur, auch über seine Sinnesorgane ist der Fötus eng an die Gefühlswelt der Mutter angeschlossen: Wenn sie Angst hat, schlägt ihr Herz schneller, ihre Blutgefäße verengen sich, die Gebärmutter zieht sich zusammen. Der Lebensraum des Fötus wird enger, der Sauerstoff in seiner Blutzufuhr knapp. Gleichzeitig dringen über die Nabelschnur Botenstoffe in seinen Organismus, die ihn biochemisch auf das Gefühl von Angst und Furcht programmieren. Über diesen Umweg hat auch der Vater Einfluss auf das neue Leben.(...)

Die Gefühlswelt des ungeborenen Kindes wird über biochemische Marker als Reaktionsmuster im Organismus tief verankert – mit gravierenden Folgen. Unerwünschte Kinder, deren Mutter keine Bindung zu ihnen aufbauen kann, produzieren deutlich weniger Oxytocin, das Bindungshormon, das für den Aufbau von Beziehungen, vor allem aber für die Liebe zwischen Mutter und Kind zuständig ist. Selbst wenn sie gleich nach der Geburt in die Obhut liebevoller Pflegeeltern kommen, bleibt ihr Oxytocinhaushalt ein Leben lang geschwächt, weil seine Basis bereits in der Schwangerschaft gelegt wird. "Die Fähigkeit oder Unfähigkeit zu lieben", so Pränatalexperte Ludwig Janus, "kann so über Generationen weitervererbt werden." Da jede Schwangerschaft immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kindrolle mit sich bringt, können traumatische Erlebnisse im Uterus auch noch Enkel und Urenkel beeinflussen."(...)


und dieses fazit kann ich - wen wundert´s - nur dreimal dick unterstreichen:

(...)"Die Fähigkeit zum sozialen Miteinander, eine Tendenz zu Kriminalität und Gewalt, aber auch Friedfertigkeit und Empathie werden ganz entscheidend bereits in der Phase vor der Geburt geprägt."(...)

und dabei muss nicht nur an schwangere in offenen kriegsgebieten gedacht werden, sondern auch bspw. an schwangere frauen unter der knute von "hartz-IV" mit allem stress, der damit verbunden ist. solange wir uns unsere antisozialen mutanten auf diesen und anderen wegen selbst weiter produzieren bzw. wir diese vorgänge mehr oder weniger stillschweigend dulden, brauchen wir uns eigentlich über die folgen nicht zu
beschweren.

assoziation: im schatten von nahost - der "vergessene" krieg in sri lanka

und das wort vergessen steht deshalb in hochkommata, weil diese art des vergessens meiner meinung nach erstens eine medial produzierte, zweitens aber auch ein ausdruck dafür ist, dass nicht alleine die entsetzlichen bilder aus gaza und israel derart mobilisierend und vor allem polarisierend wirken, sondern die beteiligung israels am krieg offensichtlich affekte und emotionen aufwühlt, die tief in der geschichte der jüdischen bevölkerungsteile weltweit, realem und/oder fehlwahrgenommenem antisemitismus sowie der extremtraumatischen shoa und ihrer jeweiligen (nicht-)verarbeitung wurzeln. denn bei näherer betrachtung sind die parallelen zwischen der situation im indischen ozean und der im nahen osten frappierend - das beginnt bei der in sri lanka sogar weitaus längeren konfliktgeschichte, bei der ebenso wie im nahen osten großbritannien eine gelinde gesagt unrühmliche rolle spielte...

(...)"Unter den Briten werden in der Verwaltung vor allem hochkastige Tamilen eingesetzt, was durch ihre traditionell gute Bildung begünstigt wird, aber wohl hauptsächlich einer Divide et impera-Taktik entspricht; dadurch genießen die Tamilen einige Privilegien. Die britische Regierung holt zahlreiche indische Tamilen nach Ceylon, die sie als Arbeitskräfte auf ihren Teeplantagen benötigt. Der Anteil von Tamilen an der Gesamtbevölkerung steigt dadurch im Lauf der Zeit von 12 auf 18 Prozent an. Bereits 1840 kommt es daher zu ersten Spannungen wegen des unterschiedlichen Glaubens."(...)

...setzt sich im laufe des krieges mit einer art selektion mittels brutalität bei den kriegsparteien fort...

(...)"Nach dem Anschlag kommt es zu landesweiten Pogromen gegen die tamilische Minderheit. In ihrem Verlauf werden, vor allem in den Gebieten mit singhalesischer Bevölkerungsmehrheit, zwischen 1000 und 5000 Tamilen ermordet und mindestens 100.000 zur Flucht in andere Landesteile gezwungen, wobei ein großer Teil des tamilischen Eigentums in singhalesische Hände übergeht; dabei werden die Täter teilweise von regierungsnahen Politikern angestachelt, und Mitglieder von Polizei und Militär beteiligen sich an den Ausschreitungen.

Auf Seite der Tamilen gewinnt bald die LTTE (auch als „Tamil Tigers“, tamilische Tiger bezeichnet) die Oberhand, indem sie andere separatistische tamilische Gruppierungen rigoros und teilweise gewaltsam bekämpft. Im andauernden Krieg kann sie als stärkste militärische Kraft auch schnell die politische Führung der Tamilen übernehmen."(...)


...mit dem ebenfalls aus nahost bekannten ergebnis, das kein mensch mit emotionaler vernunft sich vorbehaltlos irgendwie positionieren könnte. und geht mit der ebenfalls bekannten konstellation eines "asymmetrischen krieges", bei dem von beiden seiten aus auch die zivile bevölkerung attacktiert wird, weiter:

(...)"Am 14. Juni 2006 starben bei einem mit zwei mit Metallkugeln gefüllten Sprengsätzen durchgeführten Anschlag auf einen Reisebus bei Kebitigollewa (nördliche Zentralregion, nahe Anuradhapura) mehr als 60 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit 2002. Während die Regierung die LTTE dafür verantwortlich macht, sagte ein Sprecher der Organisation, sie habe nichts damit zu tun. Die srilankische Luftwaffe flog noch am selben Tag Einsätze gegen Stellungen der LTTE an der nordöstlichen Küste, dabei wurden 1000 tamilische Zivilisten getötet.(...)

Ebenfalls in Muttur wurden am 6. August 17 tamilische Mitarbeiter der französischen Hilfsorganisation „Aktion gegen Hunger“ ermordet aufgefunden. Regierung und LTTE gaben sich gegenseitig die Schuld an dem Massaker. Am 8. August 2006 erklärte die LTTE überraschend ihren Rückzug von dem umkämpften Stausee, so dass die Schleusentore wieder geöffnet werden konnten. Am 14. August 2006 wurden durch einen Bombenangriff der Armee Sri Lankas mit Kampfflugzeugen des Typs KFIR auf das Kinderheim „Chencholai“ in Mullaithivu 61 Schulmädchen getötet und über 129 verletzt. Die Regierung gab an, sie habe nur ein LTTE-Ausbildungslager bombardiert, aber unter Umständen griff die Armee diese Schule gezielt an."(...)


kommen solche nachrichten Ihnen nicht von woanders her sehr bekannt vor? und halten Sie
selbstmordattentate eventuell für ein rein islamistisches phänomen?

(...)"Die LTTE führt mit rund 250 ihr zugeschriebenen Anschlägen die Statistik der weltweit verübten Selbstmordattentate an. Die Selbstmordattentate würden, laut LTTE, nicht zum Erreichen eines Ziels oder zum Durchdrang in die von der Regierung kontrollierten Gebiete (anfänglich) eingesetzt, sondern seien vorwiegend zur Abwehr von Großoffensiven der oppositionellen Parteien auf die tamilische Bevölkerung."(...)

wie auch in nahost (und jedem anderen krieg) hat sich ein geschlossener kreis aus gegenseitiger traumatisierung und brutalisierung inzwischen verselbstständigt - mit der folge des entstehens einer
"kultur" der gewalt:

(...)"Des einen Freiheitskämpfer sind des anderen Terroristen – dies gilt insbesondere auch für die LTTE. Immer wieder gelang es den Befreiungstigern mit Minenanschlägen und Selbstmordattentaten, die auffällig häufig von Frauen begangen wurden, Vertreter des Staats und noch mehr Unbeteiligte zu ermorden. Die LTTE hat einen martialischen Kult um ihre so genannten Black Tigers aufgebaut, eine Eliteeinheit von Selbstmordattentätern, die nach ihrem Tod als "Märtyrer" verehrt werden. Sie trugen den Konflikt wiederholt in die Hauptstadt Colombo und die eher ruhigen Landesteile.

Doch auf Seiten der Regierung bedienen sich insbesondere paramilitärische Gruppen ebenfalls terroristischer Mittel, um sich missliebiger Personen zu entledigen oder häufig einfach nur um die tamilische Bevölkerung in umstrittenen Gebieten einzuschüchtern. Es herrscht eine Kultur der Gewalt, die Angst eines Großteils der Bevölkerung begünstigt jene, die sich als Schützer der jeweiligen Gruppeninteressen aufspielen.

Rund 80.000 Menschenleben hat der Bürgerkrieg bislang gefordert. Hunderttausende wurden in seinem Verlauf immer wieder zur Flucht gezwungen."(...)


im laufe des letzten jahres und besonders in den letzten wochen bis heute hat sich der ständig glühende konflikt zu einem aufgeflammten
krieg entwickelt:

(...)"Es geht um das Kernland der Rebellen, auch Tamilen-Tiger genannt, im Norden der Insel. Es sind die heftigsten Kämpfe seit Jahren, und die Welt nimmt vergleichsweise wenig Notiz von ihnen. Perera sagt, was die Zahl der Opfer angehe, spiele Sri Lanka in einer Liga mit anderen, keineswegs vergessenen Konflikten: "Sri Lanka kommt gleich nach dem Irak und Afghanistan. Dann gibt es noch Somalia. Sri Lanka ist also unter den ersten Vier, was Kriege auf dieser Welt angeht, aber das spielt in den internationalen Medien und auch für die Regierungen kaum eine Rolle", meint Perera, und: "Weil es geopolitisch und strategisch nicht so wichtig ist. Und es hat auch kein Öl, was der Grund dafür sein dürfte, dass andere Länder viel prominenter behandelt werden."

Hinzu kommt, dass die Regierung in Sri Lanka kaum unabhängige Journalisten in dem umkämpften Gebiet zulässt und Beobachtern zufolge die Presse in der Hauptstadt ohnehin gut im Griff hat - oder wieder fester zupackt, wenn das mal nicht der Fall sein sollte. Was aus der Kampfzone nach außen dringt, ist viel Propaganda: Erfolgsmeldungen der Regierungstruppen, dass sie Fortschritte machen; so genannte Erfolgsmeldungen der LTTE-Rebellen, dass sie viele Soldaten getötet hätten."(...)


wie, auch die situation der berichterstattung kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? und womöglich auch noch die frage am ende des folgenden zitats?

(...)"Die Großen, die USA, Indien, China würden mittlerweile, wo nicht laut, so doch stillschweigend dulden, dass die Regierung sich offenbar fest vorgenommen hat, die Tamilen-Rebellen ein für alle Mal militärisch in die Knie zu zwingen. Die Frage ist nur, ob ein solcher Krieg überhaupt gewinnbar ist."(...)

wie gesagt: die parallelen sind frappierend, wobei sich hier ebenfalls die frage nach unserer involviertheit - in gestalt "unserer" angeblichen repräsentanten aka regierung(-en) - genauso wie bei vielen anderen kriegen stellt -
deutsche waffen, deutsches geld... - in diesem speziellen fall deutsche lizenzen:

(...)"Nachweisliche Abnehmer sind auch Bangladesch und Sri Lanka, dessen Armee das G3 im Bürgerkrieg gegen die Rebellen der Tamil Tigers einsetzt."(...)

eine auswahl weiterer und recht "versteckter" deutscher beteiligungen an der ausrüstung der regierungstruppen in sri lanka ist u.a.
hier zu finden; wobei dort ebenfalls zu sehen ist, das bspw. der großteil der ausrüstung der dortigen marine von israel geliefert wurde - so schliesst sich denn der traurige kreis am ende auch hier wieder. ein kreis, der hauptsächlich durch unsere von der allgegenwärtigen aufmerksamkeitsökonomie verzerrten wahrnehmung sowie eben bei etlichen auch durch die direkte beteiligung israels in nahost mobilisierten antisemitischen ressentiments zu ausschließlich hauptsächlich die dortige situation im focus hat (was sich auch als beleg für die instrumentalisierung der palästinensischen opfer für diese ressentiments begreifen lässt). das menschliche leiden ist jedoch rund um den planeten überall das gleiche. und kann nicht durch räumliche distanzen relativiert werden.

Samstag, 3. Januar 2009

notiz: "blindflug durch die welt" - zur wahrnehmung der aktuellen krisenkaskade

nachdrückliche leseempfehlungen zu spon finden sich ja (berechtigterweise) in blogland inzwischen ziemlich selten, aber natürlich gibt es auch hier ausnahmen von der regel - und dieser essay von harald welzer enthält so viele anregende und wichtige gedanken, das er weite verbreitung verdient:

(...)"In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Soziale Katastrophen passieren im Unterschied zu Hurrikans und Erdbeben nicht abrupt, sondern sind ein für die begleitende Wahrnehmung nahezu unsichtbarer Prozess, der erst durch Begriffe wie "Kollaps" oder "Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein eruptives Ereignis verdichtet wird.(...)

Stabilitätserwartungen an Systeme sind nicht schon dadurch gerechtfertigt, dass es ein paar Jahrzehnte gutgegangen ist. Das 20. Jahrhundert hat eindringlich vorgeführt, dass wir jederzeit mit extrem beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu rechnen haben. Und dass diese nicht immer gut ausgehen."(...)


das wochenende bietet ja etwas mehr zeit als sonst - nutzen Sie sie auch für diesen essay.

kontext 49: "eyeless in gaza" - die unendliche re-inszenierung

das ist nicht nur der name einer band der frühen 1980er jahre, sondern auch eine metapher, die mittels drei worten das ganze dilemma eines konfliktes auf den punkt bringt, der durch seinen charakter wie kaum ein anderer die destruktive wucht und dynamik ständiger und sich über generationen hochschaukelnder posttraumatischer re-inszenierungen sichtbar macht.

verwundete palästinensische frau ende dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi

(eine verwundete palästinensische frau nach einem israelischen luftangriff, dezember 2008;
foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)








ein auszug aus einem inzwischen leider kostenpflichtigen artikel der nzz aus dem jahr 2006, "ein irrenhaus namens gaza":

(...)"Psychiater Sarraj fürchtet, das Umfeld der Angst, Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit werde die Generation der Bettnässer in eine von «Gorillas» verwandeln. Er spricht vom Konflikt als einer Psychopathologie, von Israel und Palästina als psychisch kranken Patienten. Der israelische Patient sehe sich immer noch als Opfer, das keine Versöhnung durchlebt habe und deshalb in all seinen Handlungen von Angst getrieben werde. Der palästinensische Patient bleibe gefangen in Gedanken von Widerstand und Vergeltung. Doch das Schicksal der Menschen liegt nicht in den Händen von Psychiatern, sondern von Politikern. Diese waren bisher unfähig, Heilung und Versöhnung zu bringen. Wer hat je das Leid des anderen anerkannt?"(...)

"Wie viele psychisch krank sind und wie ihre Krankheiten heissen, weiss niemand so genau. Statistiken verzeichnen eine Anhäufung von Borderline-Persönlichkeiten, emotional instabilen Personen, die ein zerrüttetes Selbstbild aufweisen und sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren können. Eine Studie des Gaza Community Mental Health Programme stellt fest, dass über 70 Prozent der Kinder an PTBS leiden und knapp 100 Prozent Symptome davon aufweisen: Albträume, Flashbacks, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Konzentrationsstörung, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depression, manchmal Panik- oder Aggressionsattacken und Bettnässen. Wer Geld hat, kauft Tabletten: Schlaftabletten, Beruhigungstabletten. Man klagt, aber man spricht nicht über psychische Krankheiten. Wenige suchen Hilfe bei einem Psychiater. Wäre das nicht ein Geständnis, dass einen der Besatzer in die Knie gezwungen hat? Ein Eingeständnis von Schwäche in einer Zeit, in der man stark sein muss, in einer Gesellschaft, in der man stigmatisiert würde? Und welche Behandlung ist gut genug, um Wunden zu heilen, die mit jeder Bombe, jedem Angriff erneut zu eitern beginnen?"(...)


und anläßlich der innerpalästinensischen kämpfe im jahre 2007 ergänzte ein anderer psychiater in einem
interview:

(...)SPIEGEL ONLINE: Was für Auswirkungen hat solch ein Bruderkrieg auf eine Gesellschaft?

Sarradsch: Solche Ereignisse sind extrem schmerzhaft, sie schaffen sehr viel Hass und Rachegelüste. Lang anhaltende Gewalt führt zu einem Phänomen, das wir Psychiater chronische soziale Vergiftung nennen. Die Menschen werden weniger sensibel und rational, dafür impulsiver und hemmungslos. Neue Gruppen außerhalb des Familiengefüges bilden sich, reißen Macht an sich und laufen aus dem Ruder. Sie werden zu unantastbaren Herren über Leben und Tod, das zieht viele an, die anderswo keine Chance haben.

: Das sind Prinzipien, die überall auf der Welt auf Gangs oder Mafia-Familien zutreffen. Funktionieren die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen genau so?

: Die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen sind einen Art Vater mit dem heiligen Buch in der Hand. Jeder kann Fatah-Mitglied werden, aber um der Hamas beizutreten, muss man ein neuer Mensch werden. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert, mit Prüfungen und Initiationsriten, bis man einen neue Identität angenommen hat. Strikte Disziplin schafft endlose Loyalität. Das ist der erste Schritt dazu, ein Selbstmordattentäter zu werden.

: Anhaltendes Trauma schafft Gewaltbereitschaft. Lässt sich das auch auf Israel anwenden?

: Sicher. Israel gilt als das beste Beispiel dafür, dass sich ein Volk mit dem Aggressor identifiziert und dessen Machtposition einnehmen möchte. Der Effekt des Holocausts auf die jüdische Gesellschaft war unendlich dramatisch und wurde nie richtig aufgearbeitet. Daraus ist eine echte klinische Paranoia entstanden: "Töte deine Feinde bevor sie dich töten". Leider zahlen wir Palästinenser den Preis dafür.

: Die Bevölkerung im Gaza-Streifen ist schlimmes gewöhnt. Wird sie sich rasch von den jüngsten Kämpfen erholen?

: Ich fürchte Nein. Diese Zusammenstöße, die Brutalität, mit der sie sich gegenseitig abgeschlachtet haben, das hat ein länger anhaltendes Trauma geschaffen. Die Schäden an der geistigen Gesundheit der Menschen werden immer schlimmer, wir kommen nicht mehr dagegen an."(...)


und in diesem zusammenhang sollte auch der hinweis auf die psychophysischen
quellen des islamistischen fundamentalismus, wie er zb. in gestalt der "hamas" auftritt, nicht fehlen.

*

beim ganzen thema geht es mir weiterhin so, wie ich es in
diesem alten beitrag schon einmal schrieb:

"ich muß dabei ehrlich gestehen, dass es mich regelrecht überwindung kostet, mich an das knäuel von ineinander verschlungenen dynamiken zu wagen, die sowohl den israelisch-palästinensischen als auch den umfassenderen sog. westlich-islamistischen konflikt kennzeichnen. mein überdruß rührt dabei vor allem aus der hemmungslosen instrumentalisierung der realen - vergangenen und aktuellen - opfer her, die sich sowohl bei allen direkt beteiligten seiten als auch bei denen finden lässt, die sich - aus eigenen und durchaus fragwürdigen motiven, wie ich finde - in diesen konflikten gerade in d-land unbedingt positionieren wollen."

der gleiche beitrag enthält auch den versuch, die quellen des aktuellen israelischen handelns nachzuvollziehen - denn trotz aktueller motivationen der heutigen protagonisten ist die mobilisierung größerer kollektive zu kriegerischen aktionen immer auf die aktivierung von deren untergründigen reservoirs an wut, ängsten sowie paranoiden feindbildkonstruktionen angewiesen, die durch aktuell reale destruktivität nicht nur immer wieder getriggert, sondern noch erweitert und neu "gefüllt" werden.

von einem hamas-raketenangriff getöteter israelischer mann ende dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi

(ein getöteter israelischer mann nach einem hamas-raketenangriff ende dezember 2008;
foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)








abschließend kann ich im angesicht des ganzen trostlosen szenarios nur ein ebenfalls schon älteres
vorläufiges fazit wiederholen, dessen unzulänglichkeiten mir allerdings heute noch deutlicher bewusst sind als damals:

"im nahen osten ist live und seit jahrzehnten eine spirale der gegenseitigen und generationenübergreifenden re-traumatisierung zu beobachten, die - realistisch betrachtet - nur durch eine massive intervention von außen, mit anschließender - vorläufiger - trennung und entwaffnung der kontrahenten sowie isolierung der am extremsten agierenden gruppen auf beiden seiten - betrifft zb. die klar islamistischen fraktionen genauso wie auch die religiös motivierten jüdischen siedler - gestoppt werden könnte. parallel zu diesen maßnahmen müsste dann in allen beteiligten gesellschaften besonderes gewicht auf die entwicklung ziviler strukturen / entmilitarisierung gelegt werden, zu denen neben einer gesicherten grundversorgung besonders bildung und auch ein breites angebot von traumaspezifischen therapeutischen strukturen gehören würde - letzteres ist meiner meinung nach unverzichtbar, um die wesentlichen quellen des konfliktes mittel- und langfristig aufzulösen.

wer die erwähnte massive intervention von außen allerdings durchführen sollte, ist das erste große problem - realistisch ist da eigentlich nur die uno zu nennen, und zwar ohne beteiligung der usa/nato einerseits (besonders d-land hat - als durch die geschichte mitverantwortliche konfliktursache - dort nichts zu suchen), aber auch ohne russland und china. und damit wird´s dann schon wieder unrealistisch. ich bleibe aber dabei, dass bis auf weiteres das oben grob skizzierte szenario dasjenige mit der größten wahrscheinlichkeit darstellt, den ewigen krieg tatsächlich zumindest wirkungsvoll behindern zu können."


es fehlt weiterhin an einer weltweit anerkannten, tatsächlich neutralen, aber mit allen opfern parteiischen instanz, die sowohl den willen als auch die mittel besitzt, in solchen konflikten wirkungsvoll zu intervenieren. und das stellt nicht nur in diesem fall eine schmerzhafte lücke dar.

Freitag, 2. Januar 2009

notiz: krisennews und -gedanken (15)

na, alles überstanden? die diversen räusche, von denen offensichtlich auch die offiziellen neujahrsansprachen nicht unbeeinträchtigt geblieben sind? was bleibt, ist wie üblich ein haufen müll und ein grandioser kater, der ganz im gegensatz zu früheren jahren jedoch zu dauerkopfschmerzen zumindest bei all jenen führen wird, die sich auf die salbungsvollen worte aus den schaltzentralen der macht verlassen:

"In einem Gastkommentar schreibt Nouriel Roubini, dass das Jahr 2009 noch schlimmer als erwartet werden wird. Der Professor für Ökonomie an der Stern School of Business der New York University meint, nachdem die Finanzmärkte 2008 ihre schwerste Krise seit der Großen Depression der 30er-Jahre erlebt haben, würden die USA mit Sicherheit auch die "schwerste Rezession" erleben. Sie erwartet einen tiefen Abschwung, der etwa 24 Monate über das Jahresende 2009 hinaus anhalten werde. Die gesamte Weltwirtschaft werde entgegen der Prognosen von Weltbank und IWF schrumpfen, kündigt er an: "Die Schwellenmärkte drohen hart zu landen, da über Handels-, Finanz- und Währungsverbindungen Schocks in den Industrieländern an sie weitergegeben werden."(...)

und das
schrumpfen wird tatsächlich zu einer allgemeinen beschäftigung, die auch hierzulande zu besichtigen ist:

(...)"Der aktuelle Einkaufsmanagerindex zeigt, dass die komplette Industrie ihre Produktion massiv zurückfährt - und auch bei Unternehmen in anderen Staaten der Euro-Zone stehen die Zeichen auf Abschwung.(...)

Die Industriefirmen haben den Experten zufolge mit massiven Überkapazitäten zu kämpfen und bauten deswegen Arbeitsplätze ab. Jede vierte Firma habe angegeben, Stellen gestrichen zu haben, hieß es. Besonders bei den Herstellern von Investitions- und Vorleistungsgütern sei es wiederum zu Entlassungen gekommen."(...)


nein, man muss nicht wirklich zum apokalyptiker werden, um die offiziellen beruhigungspillen und notorischen schönrednereien inzwischen als realitätswidrige belästigungen und beleidigung der eigenen intelligenz und intuition zu empfinden - es reicht einfach, sich die
realen verhältnisse zu betrachten:

"Ein Stückchen Hoffnung suggerierten die letzten Tage im alten Jahr an den Aktienmärkten. Die Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten sind jedoch enorm, wir haben erst einen Anfang beim Abbau von Spekulationsblasen und den destruktiven Kräften einer totalen Verschuldungskrise gesehen! In der Summe dürfte die Auslöschung von virtuellen Vermögen an den Finanzmärkten und deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft bereits irreparabel sein!(...)

Liquiditätsprogramme, Nothilfen und Kreditgarantien werden zwar die drohende Insolvenz des Bankensystems vorerst abwenden, aber nachhaltig wirksam wären sie nur, wenn es gelänge die Geschäftsfelder und damit den Umsatz der Banken zu reaktivieren bzw. neue wenn möglich noch größere Spekulationsblasen zu erzeugen und daraus Gebühren und Provisionen zu generieren. Ein unwahrscheinliches Szenario. Übrig bleiben wird nur ein Zeitgewinn!"


"zeitgewinn" dürfte aus sicht der "eliten" tatsächlich diejenige art von gewinn sein, die derzeit am nötigsten ist - müssen sie sich doch auf szenarien wie die folgenden vorbereiten -
griechenland lässt grüßen :

"In der Silvesternacht hat eine Gruppe von bis zu 1.000 Menschen die Polizeiwache im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg angegriffen. Zunächst hätten rund 500 Menschen in der Schönhauser Allee einen Streifenwagen mit Feuerwerkskörpern beworfen und Fenster einer Straßenbahn zerstört, wie Polizeisprecher Frank Millert heute in Berlin sagte.

Die Gruppe sei später auf bis zu 1.000 vor allem junge Menschen angewachsen, die auf das Polizeigebäude losgingen."(...)


das ist aus meiner sicht recht ungewöhnlich - die obligatorische, rituelle und alkoholgetränkte silvesterrandale an vielen orten ist das eine, aber ich kann mich tatsächlich nicht an einen angriff auf eine polizeiwache erinnern. um die zu erwartenden konsequenzen einer solchen aktion in kauf zu nehmen oder aber sie für den moment einfach als egal zu empfinden, müssen sich, selbst die wirkungen von alkohol berücksichtigend, sowohl etliches an zur aggressiven entladung drängenden gefühlen aufgestaut als auch diverse hemmende ängste bei den beteiligten reduziert haben. und ich glaube, dass diese konstellation bei größeren menschenmengen im verlaufe des jahres noch öfter zu beobachten sein wird - und zwar nicht nur in europa.

Mittwoch, 31. Dezember 2008

2009 oder der sprung ins ungewisse

frau mit kindern in der großen depression, usa 1936 (quelle: wikipedia)

mit der gleichen skepsis - aber auch unter anderen bedingungen - wie die namenlose migrantische frau in kalifornien 1936, während der großen depression, blicke wahrscheinlich nicht nur ich ins nächste jahr. persönlich könnte es so prekär werden wie selten zuvor, und gesellschaftlich - dito.

ich wünsche darum allen leserInnen heute vor allem eines: gesundheit, und zwar in jeder nur denkbaren hinsicht. und ansonsten bleiben mir vor allem die
botschaften aus der griechischen revolte präsent:

"Eine Loslösung von dem Warten auf andere Tage, zu einem Punkt, an dem so viele gleichzeitig dachten: „Das war es, kein Schritt weiter, alles muss sich ändern, und wir werden es verändern.“

in diesem sinne lesen wir uns im nächsten jahr - und sehen uns auf den straßen, in den läden, den betrieben...

Dienstag, 30. Dezember 2008

notiz: klartext - im oktober war tatsächlich ein bank run im gange!

ein kleiner zeitsprung:

(...)"Der Angestellte der Sicherheitsfirma, der am Eingang der Deutschen Bank am Marienplatz steht, überblickt nicht nur das Gewusel in der Filiale. Seine Firma macht Sicherheitslogistik für Filialen mehrerer Banken in München, und er sagt: „Es wird vermehrt abgehoben. Das ist in allen Filialen so.“ Und bekräftigt: „Die Leute heben große Mengen Geld ab.“(...)

diese info zitierte ich anfang oktober, genauer am 7.10. nun kommt eine art
bestätigung dafür, die schlaglichtartig einiges deutlicher werden lässt:

(...)"Die Rede ist von Kernschmelze, Flächenbrand, Abgrund. Ist es wirklich so schlimm? Michael Best, Leiter der ARD-Börsenredaktion, erinnert sich: "Ende September, Anfang Oktober wurden die 500-Euro-Scheine knapp. In der Schweiz begannen sie 1000-Franken-Scheine nachzudrucken." Bis am 5. Oktober die Bundesregierung die improvisierte Erklärung abgibt und alle Spareinlagen der Bürger im Wert von 1500 Milliarden Euro garantiert. "Das half und zwar sofort", sagt Best.

In Windeseile schnürt die Bundesregierung ein Multimilliarden-Rettungspaket für die Banken, die Parlamentarier beraten die Nacht durch. Eile ist geboten, eine deutsche Großbank, die Hypo Real Estate, ist im freien Fall. "Wir standen am Abgrund, vor dem Kollaps der Geldwirtschaft. Ein paar Tage noch und man hätte keine Geldscheine mehr aus dem Automaten bekommen", sagt Best. "Nur der Staat konnte noch helfen und die Notenbanken."(...)


diese worte lassen all das gerede der notorischen optimisten und schönfärber erstens als die durchhalteparolen kenntlich werden, die sie sind.

zweitens, und das halte ich für bedeutsamer: es bleibt tatsächlich nur der schluß zu ziehen, dass ein - "rechtlich", also juristisch, völlig irrelevantes - versprechen seitens der regierung, dessen einlösung real den staat an seine finanziellen grenzen führen würde, als massensedierung gewirkt hat - letztlich eine art der fiktion, die auf reinem glauben beruht. das nun bestätigt aus meiner sicht etliches, was ich in den krisennews zum psychophysischen zustand eines großteils der hiesigen bevölkerung angesichts der krise geschrieben habe.

drittens aber: was unterscheidet die heutige ökonomische situation eigentlich qualitativ von der damaligen? der fortgang des allgemeinen geldverkehrs mag vorläufig gewährleistet sein, und wenn man sich klar macht, das ein (massiver) bank run als wahrscheinlichste folge einen sofortigen zusammenbruch des finanzsystems nach sich ziehen würde, ist die strategie der "eliten" vom oktober schon klar - das zumindest musste aus deren sicht auf alle fälle verhindert werden. ich sehe hingegen nicht, dass sich die ökonomischen fundamentaldaten grundsätzlich verändert haben, d.h., veränderung ist schon zu beobachten, aber fast durchgängig
negativer art - zumindest aus systemstützenden perspektiven.

viertens: ganz offensichtlich haben damals die (mainstream-)medien bei der verschleierung der tatsächlichen lage mehrheitlich mitgeholfen. das mögen nun einige wieder als "politische verantwortung" oder ähnlichen phrasen sogar positiv bewerten. ich werte es hingegen als weiteres zeichen dafür, dass sich die sog. "vierte gewalt" im zweifelsfall immer an der seite der macht wiederfindet. was zwar auch keine neue erkenntnis darstellt, aber eine, die permanenter wiederholung bedarf.

mein vorläufiges fazit insgesamt: es besteht absolut kein grund mehr dazu, den (regierungs-)offiziellen politischen statements zur krise auch nur ansatzweise über den weg zu trauen. vor allem dann nicht, wenn sie die fiktion von "es-ist-alles-in-bester-ordnung" verbreiten.

*

nachtrag/edit am 31.01.09: zeitlich perfekt passt das in
diesem beitrag erwähnte treffen von regierung und mainstreampresse ins szenario, welches am 08.10. stattgefunden haben soll - und die presse ist der "bitte" augenscheinlich nachgekommen, natürlich nur aus "staatsbürgerlicher verantwortung."

Montag, 29. Dezember 2008

notiz: krisennews und -gedanken (14)

wenn man sich in diesen tagen quer durch den mainstream von print- und onlinemedien arbeitet, so ist die polarisierung im angesicht des kommenden jahres 2009 nicht zu übersehen - während auf der einen seite wahlweise bilder von scharfkantigen eisbergen, unermesslichen abgründen und verheerenden großbränden dominieren (die durch die krise generierten bilder werden hoffentlich in bälde einmal von psychohistorikern näher betrachtet werden), lässt sich die verfassung der anderen seite auf einen begriff bringen: "crisis? what crisis?" und allerhöchstens wird eine - inzwischen immerhin von "klitzeklein" auf "etwas größer" mutierte - rezession zugestanden, nach der aber "alles wieder so sein wird wie vorher".

letzteres lässt sich mit halbwegs funktionierenden wahrnehmungsfähigkeiten nur als drohung begreifen. weiter mit dem zwang zum exponentiellen wachstum, weiter mit der umverteilung von unten nach oben, mehr konsum, mehr straßen, mehr autos, mehr müll. und vor allem mehr psychophysisches elend bei der ungebremsten expansion der dingwelt. das ist nicht nur der wunsch der "eliten", sondern auch derjenige ihrer medial sedierten und konsum als sinnstiftend empfindenden braven untertanen, für deren idealtypische form das wort "ich-ag" die am treffendsten auf den punkt bringende metapher darstellt. unfähig, sich alternativen auch nur vorzustellen, werden ihnen entweder grenzen gesetzt werden müssen - oder sie werden die real vorhandenen grenzen ihrer irregeleiteten form des versuchs zu überleben an mehr und mehr stellen erreichen und sich blutige köpfe holen.

hinsichtlich der weltwirtschaftskrise sieht diese mischung aus wahrnehmungsunfähigkeiten und fiktionalen wünschen aus offiziellem munde dann zb.
so aus:

(...)"Bundesfinanzminister Peer Steinbrück zeigt sich optimistisch: Der SPD-Politiker sieht positive Anzeichen, dass Deutschland ohne großen Schaden aus der Finanzkrise hervorgeht. "Es gibt zum Glück auch positive Entwicklungen", sagte er der "Neuen Presse". "Die Benzinpreise gehen zurück, der Wechselkurs hilft der Exportindustrie. Die Inflation ist gesunken. Die real verfügbaren Einkommen steigen. Die Rentenerhöhung zum Juli 2009 wird um 2,5 Prozent höher als in den Vorjahren ausfallen. Es gibt keine Immobilienblase in unserem Land. Deutschland hat die Kraft, die Krise zu bewältigen. Auch wenn das ein schweres Stück Arbeit für uns alle wird", zeigte sich der Finanzminister optimistisch."(...)

ja, es ist eine beleidigung für pippi langstrumpf, wenn Ihnen an dieser stelle der zugehörige titelsong in den kopf kommen sollte. immerhin hatte pippi einen gesunden kontakt zur realität, die sie in ihrem sinne auf den kopf stellte. steinbrück jedoch scheint sich - stellvertretend für viele andere seiner klasse - in einer art parallelwelt zu befinden:

"Die Benzinpreise gehen zurück,..." - was sich selbst mit nur einem fitzelchen verständnis für ökonomische zusammenhänge primär als zeichen für die wucht der krise begreifen lässt (besonders auch bei betrachtung der nichtvorhandenen auswirkungen der förderreduzierung der opec). und ebenfalls bleibt der fakt, dass eine hypothetische reanimation der westlichen art des kapitalismus sofort vor dem hintergrund von peak oil den ölpreis explodieren lassen würde.

"...der Wechselkurs hilft der Exportindustrie." selbst billige maschinen und anlagen werden woanders nicht mehr gekauft werden, wenn ganze industrien den geist aufgeben. und das es gegenwärtig so gut wie keine kredite für investitionen gibt - ein durchaus globales phänomen - ist ihm auch nicht aufgefallen.

"Die Inflation ist gesunken." was sich eben derzeitig genausogut als indiz für eine deflationäre entwicklung begreifen lässt.

"Die real verfügbaren Einkommen steigen." na steinbrück, gehen Sie doch mal in eines der städtischen ballungsgebiete mit vielen erwerbslosen und tröten diesen spruch dort in der gegend herum. auch die vielen teilzeitjobber und zeitarbeiterInnen freuen sich bestimmt über solch frohe botschaft.

"Die Rentenerhöhung zum Juli 2009 wird um 2,5 Prozent höher als in den Vorjahren ausfallen." was sich bei dem für nächstes jahr zu erwartendem wandel der deflationären tendenzen zu einer inflation, die sich gewaschen haben wird, konkret wie auswirken wird?

"Es gibt keine Immobilienblase in unserem Land." was sich bezgl. büroräumen erst noch zeigen wird, wie ich glaube. ansonsten gibt´s hier zustimmung: wir haben hier primär zunächst eine blase von offiziellen simulationen und fiktionen. und wenn diese blase erstmal platzt...

"Deutschland hat die Kraft, die Krise zu bewältigen." wer oder was ist dieses "deutschland"?

"Auch wenn das ein schweres Stück Arbeit für uns alle wird." eine verklausulierte version von blut, schweiß und tränen. und fraglich ist auch, ob es wirklich uns alle treffen wird. aber vielleicht hat der minister ja auch die verteidigung der elitären pfründe im sinn, wenn er von "arbeit" redet - und das dürfte in diesem fall tatsächlich einmal zutreffend sein.

*

angesichts solch hochoffiziellem pfeifen im stockfinsteren walde bekommt nun auch der mediale mainstream
beklemmungen:

(...)"Wer sollte auch antworten? Regierung und Opposition sind ineinander verschlungen, und man weiß nicht, ob sie miteinander ringen oder sich gegenseitig trösten. Die Bundespolitik erweist sich derzeit als geschlossenes und selbstgenügsames System, von dem wenig zu erwarten ist. Aber auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte wirken auf sich selbst zurückgezogen. Es gibt wirklich ein deutsches Problem. Wir machen es uns gerade so richtig gemütlich miteinander. Die Stille im Lande ist nicht bloß ein Ausdruck der Jahreszeit, sie ist ein Symptom: Auf zu vielen Feldern ist das betretene Schweigen das einzig verbliebene Kommunikationsmittel.(...)

Aufklärung ist kein Wert an sich mehr und investigative Kritik ein aussterbendes Handwerk, dem nur noch das Freiluftmuseum fehlt. Nie erfolgt auf einen Skandal oder eine Krise eine Reaktion von einiger Anmut oder gar Originalität. Nie wird mehr zugestanden, als bekannt ist, nie wird das eigene Handeln in eine Geschichte gekleidet und der Öffentlichkeit dargestellt.

Sich bedeckt zu halten, sichert offensichtlich mehr Vorteile als die offene Auseinandersetzung oder gar das umfassende Geständnis. Es ist, als hätten sich die Eliten unserer einst so zivilen Republik die Maxime französischer Kardinäle aus den Zeiten vor der bürgerlichen Öffentlichkeit zu eigen gemacht: Man verlässt die Ambiguität nur zum eigenen Nachteil.

Ist auch bequemer. So bleibt auch das ganze Land schön still."(...)


auch wenn ich das als eine seltsam diffuse symptombeschreibung betrachte: die diagnosen des schweigens und der stille im angesicht des heranziehenden sturmes sind als eine aktuelle spezifisch hiesige art des wegduckens tatsächlich weit verbreitet, unterbrochen nur von den offiziellen durchhalteparolen alá steinbrück. das heisst, manchmal verirren sich auch realistische
wetterberichte in die mediale öffentlichkeit:

(...)"SAP-Mitbegründer Hasso Plattner blickt für seinen Konzern pessimistisch in das neue Jahr 2009. "Schlimmer als schlechte Aussichten sind gar keine. Es herrscht totaler Nebel. Wir haben keine Ahnung mehr, wie es weitergeht"(...)

keine ahnung haben, aber dann trotzdem - oder gerade - noch die unverzichtbare prävention:

(...)"Dennoch übte Plattner auch Kritik am neuerdings kapitalismusfeindlichen Klima - speziell in Deutschland: "Es gibt so eine Stimmung im Land, dass wir Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr wollen, sondern was anderes, Netteres. Es existiert aber nichts Besseres, trotz vieler Schwächen und Schattenseiten des Systems", sagte Plattner."

die "eliten" schießen gerade häufiger wirklich schöne eigentore: kapitalismus = nicht nett. ja, so lässt sich das flapsig auch sagen. und weil dieses unnette system gerade für immer mehr hautnah spürbar wird, muss das TINA*-prinzip zur anwendung kommen. aber auch prinzipien können abnutzungserscheinungen aufweisen.

(*"there is no alternative", margaret thatcher)

*

wie sich die krise hierzulande vorwärts frisst: drei beispiele, die immerhin auch einige lektionen über die heutigen globalen ökonomischen zusammenhänge bereithalten. oder wissen Sie, wo Ihr
altpapier so landet?

(...)"Doch so jäh, wie die Bankenkrise über viele hereinbrach, so plötzlich fiel auch das Geschäft mit dem Recyclingmüll in sich zusammen. Von Oktober auf November sank der Preis um 40 Prozent, inzwischen bekommen Papierhändler nicht mehr als zehn Euro für eine Tonne. "Wir bekommen die Krise mit voller Wucht zu spüren", sagt Jörg Lacher vom Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung. Vor allem die plötzlich nachlassende Nachfrage aus China und Indien lasse die Preise dramatisch purzeln."(...)

sieh an, die vorzeigeländer kapitalistischer entwicklung in asien - was sogar stimmt, wenn man die aussage eingrenzt: entwicklung für ganz wenige.

nun mag altpapier für viele nicht gerade ein existenzielles gut sein, ganz im gegensatz zu
getreide:

(...)"Viele Bauern in Deutschland sind in diesem Herbst wegen der Finanzkrise auf großen Teilen ihrer Getreideernte sitzen geblieben. Die Landhandelshäuser hätten den Landwirten nicht wie sonst die Ernte im großen Stil aufgekauft, weil die Kredite dafür fehlten, sagte Bauernpräsident Gerd Sonnleitner der Deutschen Presse-Agentur. "Das ist alles auf Kredit finanziert." Dabei sind die Lager weltweit so leer wie seit Jahrzehnten nicht: Dort lagern laut Sonnleitner nur Getreidereserven für etwa zwei Monate.

Erstmals hatte es heuer überhaupt wieder eine der Nachfrage entsprechende Ernte gegeben, nachdem in den Vorjahren immer wieder von den Vorräten gezehrt werden musste. "Die Versorgungslage ist weltweit knapp", warnte Sonnleitner.

Die Situation am Getreidemarkt werde sich im kommenden Jahr weiter zuspitzen. Denn wegen der - wie auch bei anderen Rohstoffen - gesunkenen Preise fehle es den Bauern an Geld für Düngemittel. „Es wird weltweit dermaßen an Düngung gespart und der Anbau von Getreide eingeschränkt, dass wir 2009 eine enorme Minderernte haben werden.“ Die diesjährige Ernte liege inzwischen vielfach immer noch auf den Höfen."(...)


was dann wiederum die stadtbevölkerung zunächst(!) nicht so interessieren mag - wer bspw. in
duisburg lebt, sieht vor einem eventuellen brotmangel erstmal anderen sorgen entgegen:

(...)"Der Regierungspräsident hat die Regie über den städtischen Haushalt übernommen. Gestern erläuterte Regierungspräsident Jürgen Büssow den Kommunalpolitikern sein weiteres Vorgehen. Ohne seine Zustimmung darf die Stadt (mit Ausnahme der Pflichtaufgaben, die allerdings auf ihre Verpflichtung überprüft werden) kein Geld mehr ausgeben. Nach seinen Berechnungen wird die Stadt bereits 2009 ihre letzten Rücklagen aufgebraucht und bis 2012 einen Schuldenberg von fast 350 Millionen Euro aufgehäuft haben. Alle laufenden Sparbemühungen der Stadt reichen nach seinen Einschätzung nicht aus, so dass bis 2013 zusätzlich 100 Millionen Euro eingespart werden müssen – pro Jahr."(...)

mit anderen worten: duisburg hat jetzt eine art insolvenzverwalter vorgesetzt bekommen, und dessen bestrebungen lassen nichts gutes erahnen:

(...)"Gleichzeitig fordert die Bezirksregierung „kostendeckende Gebühren“ und die Anhebung kommunaler Steuern – eine Maßnahme, die bei Oberbürgermeister Adolf Sauerland auf energischen Widerstand stieß. „Gerade Unternehmen, die sich hier ansiedeln wollen und viele Arbeitsplätze schaffen, schrecken wir so wieder ab.“ So habe man auch Multi Development aus Düsseldorf nach Duisburg holen können, obwohl die Gewerbesteuer hier höher liege.

Auch die Forderung nach weiterem Personalabbau bei der Stadt stieß bei Sauerland auf wenig Gegenliebe. „Ich möchte nicht die Verantwortung für ein totes Kind übernehmen wie in Bremen, nur weil bei den Mitarbeitern für den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) gespart wird“, so der OB."(...)


und dann noch eine floskel, die uns in den nächsten jahren zu den ohren herauskommen wird:

"In Duisburg müsse man in den nächsten vier Jahren „den Gürtel noch enger schnallen und den Haushalt konsolidieren.“

vielleicht erinnern Sie sich noch an die information aus den news nr. 12, wo es hieß, dass sich 18 städte aus nrw mit einer art hilfsappell bezgl. ihrer finanziellen situation an die öffentlichkeit gewandt haben? da im obigen artikel faktisch nichts zu den gründen für den duisburger quasi-bankrott gesagt wird, drängt sich der verdacht auf, dass es sich dabei auch um die folgen des sog.
cross-border-leasings handeln könnte. in diesem fall könnte in den kommenden monaten eine neue parole ihren weg gehen: duisburg ist überall.

*

aber ach, ich höre schon einige leserInnen schimpfen - "unbegründeter pessimismus! schwarzmalerei!" okay, speziell für Sie habe ich da die mutmachende
neujahrsansprache unserer aller kanzlerin. ähm, da muss etwas durcheinander gekommen sein - das ist authentisch und war so nicht vorgesehen. fiktionen braucht das land, aber keine fiktionale authentizität.

*

überhaupt, all diese
ansprachen, die jetzt dazu auffordern, zur besinnung zu kommen:

(...)"Nicolas Sarkozy spricht davon, dass die Krise den Franzosen auch vor Augen führen könne, was wirklich wichtig sei im Leben. Der britische Premier Gordon Brown appelliert in einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede an die moralische "Charakterstärke und innere Festigkeit", die den Briten in Zeiten der Krise immer schon zugewachsen sei. Die deutschen Bischöfe rufen in ihren Weihnachtsbotschaften angesichts der Finanzkrise zu einer "Rückbesinnung auf nicht materielle Werte" auf. Papst Benedikt XVI. sieht in der Krise die Chance, die Werte neu zu erfahren, für die Weihnachten stehe - "Wärme, Einfachheit, Freundschaft und Verbundenheit". In Dubai übrigens predigten die Imame in der vergangenen Woche ebenfalls von einer Rückkehr zu den alten Werten, in diesem Falle freilich denen des Islams, die "Verrohung der Sitten" in Zeiten des Booms müsse einer Rückbesinnung auf das gottgefällige Leben, auf die traditionellen Werte des Islams weichen."

sollten all diese triefenden appelle tatsächlich einen realen kern enthalten?

"Der Freiraum, der hier beschworen wird, verdankt sich einer ganz substantiellen, nicht zu denunzierenden Sehnsucht. Einer Sehnsucht danach, dass der Markt sich nicht mehr als "ständiges ökonomisches Tribunal aufspreizt" (wie es Foucault schon in den siebziger Jahren formulierte), ein Tribunal, vor dem sich gefälligst all unser Handeln zu verantworten habe. Eine Sehnsucht danach, dass es ein Ende haben möge mit der ideologischen Überprägung des Kapitalismus, dem heilsbringerischen Gerede, man habe sich selbst nur endlich als Ich-AG mit enggeschnalltem Gürtel und die Gesellschaft als totales Profitcenter zu organisieren, dann werde alles gut. Eine Sehnsucht danach, so schlicht und verschwommen das klingen mag, aufrecht, weniger gehetzt durchs Leben zu gehen, frei von der Zwangsherrschaft der Arbeit.(...)

Aber wahrscheinlich steckt hinter solchen Sehnsüchten auch eine Ahnung um die zermürbenden Nebenwirkungen unserer Leistungsethik. Der Soziologe Alain Ehrenberg hat in seinem Buch "Das erschöpfte Selbst" herausgearbeitet, wie sich das freiheitliche Versprechen der Selbstverwirklichung hinter dem Rücken der so wunderbar Selbstverwirklichten schleichend in einen dämonischen Zwang verwandelte: Indem das authentische Selbst umfunktioniert wurde zum produktiven Motor all unseren Handelns, ist die Erschöpfung vorprogrammiert. "Seien Sie besonders, oder Sie werden ausgesondert!"(...)


dann wäre tatsächlich ein grundsätzlicher optimismus angesagt - falls sich zusammenhänge wie oben skizziert nicht nur in diffusen, sondern in nachhaltigen zuständen emotionaler vernunft bei vielen menschen manifestieren würden. aber das ist zur zeit nur ein wunsch. dazu kommt noch, dass es schwer zu erkennen ist, dass es sich bei den erwähnten anforderungen eher um simulationen des authentischen handelt - ein authentisches selbst zu leben, bedeutet in und für dieses system heute den größten anzunehmenden störfaktor.

*

der eine weiter oben zitierte konzernboss hat keine ahnung mehr, wie es weitergeht - aber auch waschechte bankster stochern im
nebel:

„Ich verstehe selbst nicht, warum wir Banker uns immer noch kein Geld leihen.“

mysterien überall, ihr eigenes system ist ihnen vollends zum rätsel geworden. und banker wären momentan also lieber kantinenpersonal. aber wer möchte sich schon von zwielichtigen gestalten bedienen lassen?

*

soweit eine eher zufällige sammlung von stimmen, stimmungen und zuständen aus diesem land, die Sie hoffentlich für ebenso aufschlußreich halten wie ich. und wie schon öfter in der reihe hier ausgeführt: wenn sich diese krise tatsächlich als grundsätzlicher und von strukturellerer art als bisherige zyklische krisen herausstellen sollte, wonach es nach meinem eindruck eben auch aussieht, bietet das ganz ernsthaft wirklich chancen und kann neue räume öffnen. auch, wenn unsere kollektiven und individuellen psychophysischen voraussetzungen dafür, diese räume positiv nutzen zu können, bei realistischer betrachtung eben nicht besonders gut erscheinen. aber ich finde die these von möglichen evolutionären spüngen in diesem zusammenhang recht tröstlich.

und vor diesem ambivalenten hintergrund abschließend ein paar blicke ins sog. ausland. zunächst die vorstellung einer wissenschaftlichen feldforschung aus den usa, die einige hinweise darauf gibt, wie eine
posttraumatische ökonomie funktionieren kann:

"Unter dem Schutz des Gangsterbosses J.T. studierte der Soziologe Sudhir Venkatesh jahrelang die Ökonomie des Chicagoer Untergrundes. Er hospitierte bei den örtlichen Drogendealern - und stellte fest: Sie sind so gut organisiert wie Mittelständler.(...)

Mit Sozialromantik hat das wenig zu tun. Vielmehr beschreibt Venkatesh ein System von Regeln, Standards und rationalen Verhaltensweisen, mit deren Hilfe sich die Außenseiter der Gesellschaft über Wasser halten. Im Chicagoer Ghetto sind das in erster Linie Afroamerikaner. In der Welt der Weißen haben sie kaum eine Chance, aber ihre Untergrund-Ökonomie ist ein wohlorganisierter, vielfältiger Mikrokosmos.

Strafbare Handlungen wie Drogenhandel, Prostitution und Diebstahl gehören ebenso dazu wie Arbeiten, die legal sind, aber eben "außerhalb der Bücher" stattfinden, wie Babysitten, Haareschneiden und Taxidienste. Das Angebot stellt sich hochflexibel auf wechselnde Bedarfe ein: "Im Handumdrehen werden Prediger Friseure, Sänger Nachhilfelehrer, Barmänner Hilfsmechaniker", beobachtete Venkatesh.

Die Mängel des Systems liegen auf der Hand, aber es funktioniert: Über 90 Prozent der Bewohner in den Hochhausburgen waren arbeitslos. Gleichwohl ging im Chicagoer Süden jeder seinen Geschäften nach. Selbst die Obdachlosen suchten sich ihre Schlafstellen mit System aus - indem sie vor Geschäften und in leerstehenden Häusern campierten, fungierten sie als Nachtwächter und bekamen dafür ein paar Dollar.

Da in den Vierteln der Armen Geld ein chronisch knappes Gut ist, spielt Tauschwirtschaft eine bedeutende Rolle. Die Putzfrau, die nebenbei einen kleinen illegalen Catering-Service betreibt, entlohnt den ebenfalls schwarzarbeitenden Elektriker mit kostenlosen Mittagessen. Der Automechaniker nimmt gebrauchte Handys in Zahlung. Ein Obdachloser, der bei seiner Cousine einzieht, stellt statt Mietbeteiligung sein Auto zur Verfügung. Eine Prostituierte vertreibt gelegentlich Drogen für die Gang, damit sie bei Problemen mit Freiern um Schutz nachsuchen kann.

Öffentliche Güter wie Sicherheit und die Garantie von Eigentumsrechten sind knapp; Korruption, Gewalt und Ausbeutung gehören zum Alltag. Schließlich ist ein großer Teil der Geschäfte illegal, und die Polizei kümmert sich kaum um die Probleme der Slumbewohner. Die Ordnungsfunktion übernehmen andere, vor allem Pastoren, die dafür eine Spende erwarten."(...)


ich möchte nicht unken, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es hier und in europa generell in den nächsten jahren gleichfalls gebiete geben wird, in denen etliches von den beschriebenen zuständen realität ist - und damit meine ich nicht die schon existierenden elendszonen vor allem in osteuropa. in einer rezension des gleichen buches in der "taz" fand sich übrigens auch ein vergleich der ghetto-ökonomie bzw. der rolle der ghetto-elite mit dem handeln transnationaler konzerne. ich muss wohl nicht ausführen, was damit gemeint ist.

*

und was gibt´s noch so? in italien wird öffentlich und offiziell die wahrscheinlichkeit für einen
staatsbankrott verhandelt; in großbritannien geht´s jetzt dem einzelhandel und etlichen ketten an den kragen :

(...)"Die Menschen standen Schlange, um die besten Schnäppchen zu erhalten und die Preise auszuhandeln. Woolworth muss trotzdem ein Viertel seiner Häuser schließen, andere Ketten folgen oder sind bereits gefolgt, die Preise sollen weiter fallen, die Verluste steigen. Ende des nächsten Monats dürfte jedes zehnte Geschäft in den Einkaufsstraßen der Städte leer stehen, wird gewarnt. Die Schulden der Geschäfte und Ketten steigen, die Gewinne sinken."(...)

während die situation in griechenland wieder völlig aus den schlagzeilen verschwunden ist, kommen gerade von dort wirklich nachrichten, die
mut machen:

(...)"Gemeindegebäude und Rathäuser wurden in ganz Athen besetzt und überall in Athen und Thessaloniki gibt es mittlerweile offene Plena von Bürger_innen, „Popular Assemblies“. Einer der positivsten Aspekte der Revolte wird nun deutlich: Die Leute nehmen sich ihr Leben zurück, Straße für Straße, Platz für Platz, Viertel für Viertel. Es geht jetzt nicht um den Sturz der Regierung, um „offene Rechnungen“, um diffuse Forderungen, irgendwelche Rechtfertigungen. Die Leute auf der Straße fordern nichts; sie besetzen, sie organisieren sich,, sie wissen, dass es keinen Weg zurück zur Normalität gibt, das diese Normalität zu bekämpfen eine Frage von Leben oder Tod ist."(...)

und es geht auch um ganz konkreten
widerstand gegen das ganz normale kapitalistische alltagsgeschäft:

(...)"Gegen 13 Uhr besetzten rund 100 AnarchistInnen und andere linke und linksradikale Personen die Zentrale der Athener Verkehrsgesellschaft (ISAP), (vergleichbar der BVG in BERLIN) um gegen den Säure-Angriff auf die Gewerkschafterin Constandina Couneva vom 23.12.08, die miesen Arbeitsbedingungen des Subunternehmens IKOMET, die Couneva beschaeftigt und der ISAP, die Subunternehmen wie IKOMET mit der Reinigung ihrer U-Bahnhoefe beauftragt, zu protestieren."(...)

da gibt´s für alle hoffenden hier eine ganze menge zu lernen.

Samstag, 27. Dezember 2008

aktualisierter index

und wie üblich ist das mein lesetipp für alle neuen leserInnen hier, die feiertagsbedingt etwas zeit mitbringen - zum stöbern, vertiefen und entdecken.

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