kontext 38: "bloße gegenständlichkeit"

die zunehmend brutaler werdenden formen (nicht unbedingt die fallzahl) der gewalt seitens und von jugendlichen sind natürlich kein spezifisch deutsches problem, was auch der folgende artikel deutlich macht:

"Eine brutale Exekution – man kann den Hergang des Ereignisses nicht anders beschreiben – erschüttert in diesen Tagen die schweizerische Öffentlichkeit. (...) In der Stadt Locarno, idyllisch situiert an den Ufern des Lago Maggiore, haben in der Nacht zum vergangenen Samstag drei junge Männer einen Passanten zu Tode geprügelt. Das Opfer – der Student Damiano, wohnhaft im benachbarten Gordola – wurde mit Tritten und Hieben traktiert und starb nach der Einlieferung ins Spital. Zeugen machen geltend, dass Damiano einen Streit schlichten wollte. Der Hass drehte sich gegen den Vermittler; in kürzester Zeit – mithin in einer Aktion der geballten Vernichtung – verlor er dabei sein Leben."(...)

es folgt ein beitrag, der sich zumindest zu bemühen scheint, jenseits der üblichen platitüden und/oder sensationsheischenden ausschlachtung seitens der boulevard-medien (aka dreckschleudern) auf motivsuche zu gehen. und dabei tatsächlich fragmente der realität ans licht befördert:

(...)"Zwei der Täter stammen aus Kroatien. Der dritte Schläger kommt aus Bosnien. Einer stellte Bilder ins Web, die Symbole der kroatischen Ultranationalisten zeigen; dazu einen Kampfhund in den Nationalfarben des Landes. – Das Thema Herkunft ist bekanntlich heikel. Wer es aufgreift, macht sich des Rassismus verdächtig, der nirgendwo leichthin zu unterschätzen wäre. Für die Suche nach Einstellungen, Lebenslagen, Formen des Verhaltens im Mit- und Zueinander kann es gleichwohl nicht totgeschwiegen werden. Wir alle sind – auch –, woher wir kommen, mit welchen Geschichten wir fühlen, in welchen Lebenswelten unser Gewissen wurzelt."(...)

und weitergedacht (was der autor an dieser stelle leider unterlassen hat) führt eine breite spur zum problem der inneren und äußeren verheerungen von krieg und nationalismus, und zwar primär im psychophysischen sinne; das menschen in kriegszonen - die das ohne adäquate verarbeitung auch bleiben, wenn anscheinend schon länger "frieden" ist - teils unsichtbar von der massiven traumatischen gewalt gezeichnet sind und leider auch meistens bleiben, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. und mit einer tat wie beschrieben haben die täter einen ganz wesentlichen teil der gewaltlogik im krieg quasi in raum & zeit versetzt, in die "idyllisch situierte" schweizerische stadt. dieser wesentliche, oder sogar entscheidende teil wird so beschrieben:

(...)"Was freilich generell – und jenseits von spezifischen Konstellationen der sogenannten Inkulturation – zu beobachten ist, wo immer junge Männer gewalttätig explodieren, hat mit zwei Voraussetzungen wesentlich zu tun. Die erste Ursache oder Bereitschaft gründet darin, dass das reale Dasein des Anderen als des Nächsten zunehmend im Sinne von blosser Gegenständlichkeit begriffen wird. Schlichter formuliert: Der Tessiner Student trat seinen Häschern als Objekt von Störung entgegen."(...)

mal abgesehen davon, dass gerade bei betrachtung des letzten blogbeitrages von gestern deutlich wird, dass die "exklusivrechte" junger männer an gewalt in öffentlichen räumen zunehmend verschwinden, ist hier der wahrnehmungsmodus der täter auf den üblen und nur zu bekannten punkt gebracht: verdinglichung, der / die andere als objekt.

ich möchte es mir an dieser stelle sparen, auf die zahlreichen ähnlichen geschichten hinzuweisen, die in der zeit des bestehens dieses blogs bisher hier dokumentiert wurden. die gemeinsamkeiten, und an erster stelle die gerade benannte, stechen einen mittlerweile schon ins auge. und es ist interessant, dass eine derart angemessene realitätswahrnehmung es inzwischen immerhin auch in den kulturteil einer großen bürgerlichen und nicht gerade kapitalismus-unfreundlichen zeitung schafft. die allseits übliche fragmentierte bzw. dissozierte (selbst-)wahrnehmung verhindert aber offensichtlich bis auf weiteres den durchbruch derlei erkenntnisse und v.a. der daraus folgenden fragen in die wirtschaftsteile. denn ob nun verdinglichung oder
ökonomisierung der sozialen beziehungen: ausdruck und konsequenzen bleiben sich im ergebnis immer gleich.

nichtsdestotrotz würde ich sagen, dass der artikel zu den besseren bezgl. diese themas zählt - und zum ende sind noch folgende sätze zu lesen:

"(...)Am anderen Ende der Kommunikationsgemeinschaft, die gern den herrschaftsfreien Diskurs als Regulativ für Konflikte jeglicher Façon begreift, steht der Autismus. Inzwischen ist Autismus auch wieder gruppenbildend. Er formiert sich dann im Gestammel, dann in Hauen und Stechen, wenn's so beliebt."(...)

und tatsächlich: wenn man sich etwas von den kategorien der psychiatrischen diagnosenkataloge löst und autismus als weitgehende bis totale funktionelle bzw. strukturelle einschränkung der beziehungsfähigkeiten begreift (was wiederum mehr als eine bloße metapher ist), und dazu die existenz von simulationsfähigen autismusvarianten akzeptiert, ist der erste satz ein volltreffer. das "gruppenbildend" jedoch gehört in dicke anführungszeichen: menschen in einem derartigen wahrnehmungsmodus sind höchstens zu pseudokollektiven, zu als-ob-gruppen in der lage, die sich eben gerne und bevorzugt auch unter staatswappen, fahnen und ähnlichen magischen symbolen formieren - unter abstraktionen halt, bei denen jegliche gemeinsamkeit nicht real, sondern von halluzinatorischen qualitäten ist. und objektiven quantitäten: "wir sind im gleichen landstrich geboren" , "wir sind männer" und dergl. mehr.

für das reale menschliche zusammenleben also mehr oder weniger belanglose quantitative gemeinsamkeiten werden vom objektivistischen modus kompensatorisch für die geschädigten authentischen beziehungsfähigkeiten als pseudo-qualitative gemeinsamkeiten präsentiert. derart funktionieren solche "gruppen", egal unter welcher (austauschbaren) ideologie sie letztlich ihr dasein fristen. das gestammel und besonders das hauen und stechen ist dabei regelrecht konstituierend für derartige zusammenschlüsse. authentische sozialität sieht anders aus.

trotz dieser nötigen korrektur: erstaunliche schlußfolgerungen.
guru - 30. Jun, 19:17

Erstaunliche Schlussfolgerungen...

... sind das allerdings.

**** "(...)Am anderen Ende der Kommunikationsgemeinschaft, die gern den herrschaftsfreien Diskurs als Regulativ für Konflikte jeglicher Façon begreift, steht der Autismus. Inzwischen ist Autismus auch wieder gruppenbildend. Er formiert sich dann im Gestammel, dann in Hauen und Stechen, wenn's so beliebt."(...)

" und tatsächlich: wenn man sich etwas von den kategorien der psychiatrischen diagnosenkataloge löst und autismus als weitgehende bis totale funktionelle bzw. strukturelle einschränkung der beziehungsfähigkeiten begreift (was wiederum mehr als eine bloße metapher ist), und dazu die existenz von simulationsfähigen autismusvarianten akzeptiert, ist der erste satz ein volltreffer. das "gruppenbildend" jedoch gehört in dicke anführungszeichen: menschen in einem derartigen wahrnehmungsmodus sind höchstens zu pseudokollektiven, zu als-ob-gruppen in der lage, die sich eben gerne und bevorzugt auch unter staatswappen, fahnen und ähnlichen magischen symbolen formieren - unter abstraktionen halt, bei denen jegliche gemeinsamkeit nicht real, sondern von halluzinatorischen qualitäten ist. und objektiven quantitäten: "wir sind im gleichen landstrich geboren" , "wir sind männer" und dergl. mehr. " ****


Dass Autismus sich im Hauen und Stechen formiert, ist nicht zutreffend. Der Begriff wurde dort falsch und abwertend verwendet und mit Gewalttätigkeit gleichgesetzt. Autisten stehen sicher am anderen Ende der Kommunikationsgemeinschaft, jedoch wird der herrschaftsfreie Diskurs intern genauso als Regulativ für Konflikte jeglicher Façon begriffen, wenn nicht noch mehr. Zwei sich prügelnde Autisten sind mir jedenfalls noch nicht begegnet.

Autismus als weitgehende bis totale funktionelle bzw. strukturelle Einschränkung der Beziehungsfähigkeiten zu begreifen, ist eine nicht haltbare Herangehensweise.
Auch Autisten haben Beziehungen. Mit Nichtautisten wie auch untereinander.
"Simulationsfähige" Autismusvarianten wären hochfunktionale, wobei hier zu hinterfragen ist, inwieweit Autisten überhaupt simulationsfähig sind und ob es sich bei "autistisch" und "simulationsfähig" nicht sogar um Gegensätze handelt.

Menschen in einem "derartigen Wahrnehmungsmodus" sind mitnichten höchstens zu pseudokollektiven "als-ob-gruppen" in der Lage. Sicher mögen Autisten Gruppen nicht, aber es gibt auch autistische Gruppen, in denen auf die Besonderheiten Einzelner Rücksicht genommen wird.
Wenn man eine nichtautistische Gruppe von Kollegen betrachtet, die sich alle gegenseitig etwas vorheucheln, kann man eher von einer Pseudo- Gruppe sprechen.

Unter Staatswappen, Fahnen und ähnlichen magischen Symbolen fühlen sich Autisten äußerst unwohl. Unter Autisten gibt es nur sehr wenige Wehrdienstleistende und das liegt nicht nur daran, dass wir alle T5 sind.
Staatswappen, Fahnen und magische Symbole wie z.B. Kruzifixe sind Zeichen von sehr großen Gruppen, zu denen Autisten sich nicht zugehörig fühlen, deren Werte sie sehr oft nicht nachvollziehen können und deren Ziele ihnen suspekt sind.
Teil einer Massenbewegung zu sein widerspricht der autistischen Persönlichkeit zutiefst. Greenpeace ist gerade so noch akzeptabel.

Abstrahieren kann man nur, wenn man das Ganze als solches erkennt und sehr stark vereinfacht. Halluzinieren kann man nur, wenn man ernsthafte hirnorganische Erkrankungen hat. Beides trifft auf Autisten nicht zu.

"wir sind im gleichen landstrich geboren" , "wir sind männer" und dergl. mehr" sind so ziemlich genau die beiden Dinge, die Autisten am aller aller wenigsten interessieren von allen möglichen Interessensgebieten.

Gruß, Guru

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