assoziation: ist der kapitalismus auch eine *opferökonomie*? anmerkungen zur psychohistorischen sicht auf ökonomische krisen

ziemlich missvergnügt melde ich mich zwischenzeitlich wieder; es gibt gerade zu viele baustellen, die im realen leben warten - und das hat einfluss auf das schreiben hier. der angekündigte beitrag zum "freien willen" kommt noch, aber aus aktualitätsgründen (s.u.) schiebe ich jetzt ein thema dazwischen, welches aus meiner sicht nicht nur schon viele unsichtbare verbindungen zum willenskomplex aufweist, sondern mich auch schon spätestens seit dem offenen ausbruch der wirtschaftskrise letztes jahr beschäftigt. aber bislang fand ich irgendwie noch nicht den richtigen einstieg - das hat sich nun geändert.

*

und dafür verantwortlich ist hartmut finkeldey, der sich in einem
beitrag mit der frage beschäftigt hat...

"...warum speziell der Mittelstand sich so widersprüchlich verhält, warum er zB zwar in Umfragen immer wieder pro soziale Politik votiert, um dann dennoch schwarz-gelb zu wählen. Albrecht Müllers Antwort - das Volk sei Opfer manipulativer Machenschaften - habe ich hier schon mehrfach als zwar nicht falsch, jedoch unzureichend bezeichnet." (...)

und danach als antwortversuch friedrich engels mit einer art sozioökonomischer betrachtung aus dem vorletzten jahrhundert zitiert, die phasenweise selbst auf das aktuelle heute bezogen gar nicht mal falsch sein mag, aber erstens nach meinem eindruck zu sehr eine art irrational-rationaler kalkulation bei der skizierten klasse unterstellt, und zweitens muss die frage damals wie heute auch breiter gestellt werden: was treibt nicht nur die mittelklasse, sondern auch das "lumpenproletariat", aktuell die "unterschicht" oder - weiter gefasst - das sog. prekariat immer wieder in die in unterschiedlichen gewichtungen / ausprägungen zu konstatierenden haltungen wie
  • resignation, apathie, fluchtverhalten aller art
  • devotes bücken nach oben
  • aggressives treten nach unten ?
speziell bezgl. der hiesigen bevölkerung hatte ich ja schon einen
mehrteiligen antwortversuch geschrieben, aber erstens ist das obige nicht nur ein rein "deutsches" phänomen in der krise, und zweitens fehlt noch ein bereits existierender theoretischer ansatz, das ganze einmal aus einer qualitativ anderen perspektive zu betrachten. und darum geht´s jetzt im folgenden.

*

"Wir geben dir (...) keine Schuld an der Rezession. Wir waren zu fett geworden, zu bequem, zu faul zum Konkurrieren. Unsere Standards sind nicht mehr so hoch, wie sie es immer waren und man ist viel zu schnell bei der Hand, jemandem die Schuld zuzuschieben... Aber wir glauben noch an die alten (...) Werte, von denen Sie sprechen. Vielleicht mußten wir leiden, um uns zu reinigen von unserem ausschweifenden Leben."

na, wer könnte das wann gesagt haben - oder sagen? kein langen ratespiele: in die erste auslassung gehört der name ronald reagan, in die zweite das wort "puritanische", und beides zusammen macht ort und zeit deutlich:

"Obwohl das schwer zu glauben sein mag: Selbst viele Opfer der Reaganomics stimmten der Opferung zu. Eine Umfrage der Washington Post 1983 unter Reaganomics-Geschädigten faßte die Gefühle von Arbeitslosen, die krank waren und nicht behandelt werden konnten, weil sie keine Krankenversicherung mehr hatten, deren Leben durch die Reagan-Rezession zerstört worden war, derart zusammen."

und damit sind schon ein paar schlüsselbegriffe - "ausschweifendes leben", "opferung", "reagonomics" - gefallen, die allesamt eine zentrale rolle spielen im 1984 erschienenen buch des psychohistorikers
lloyd deMause, reagan´s amerika (der link führt auf die derzeitige neue url der ex-utopie 1, deren betreiber öfter mal im wahrsten sinne des wortes die seite wechselt. aber dankenswerterweise sind große teile des buches online lesbar - tipp!).

das buch eignet sich als praktische einfürhrung in die methodik und arbeitsweise der us-psychohistorie sehr gut, beschäftigt sich neben reagans wirtschaftspolitik als weiteren zentralen punkt mit den teils bizarr anmutenden militärischen übergriffen (lybien, grenada...) der frühen reagan-jahre und stellt teils überraschende zusammenhänge - oder eher ein zusammenspiel - zwischen regierung, medien (als vermittler) und eben großen teilen der damaligen us-bevölkerung her.

kritikpunkte und vorbehalte in kürze: einmal generell der meiner meinung nach überbelastete bezug der deMausschen psychohistorie auf die orthodoxe freudsche psychoanalyse, der mir in jüngerer zeit - siehe Das emotionale Leben der Nationen - durch eine größere berücksichtigung der neurowissenschaften sowie der psychotraumatologie bei ihm etwas in den hintergrund getreten zu sein scheint, aber in dieser vielleicht ersten wirklich spektakulären veröffentlichung noch eine (zu) große rolle spielt. dann sind die eigenarten der damaligen (und heutigen) us-amerikanischen medienwelt, die für die dortigen psychohistoriker als vermittelnde projektionsfläche für die "stillen" botschaften zwischen regierung und bevölkerung eine zentrale rolle spielt, natürlich so nicht auf andere regionen übertragbar, erst recht nicht in zeiten der online-medien. hierzulande wären, wenn man den damaligen deMausschen ansatz ein zu eins übertragen würde, vermutlich nur zeitungen wie die "bild" und andere auflagenstärkere boulevardblätter sowie illustrierte wie "spiegel", "stern" und "focus" im sinne von einigermaßen repräsentativen und wirkmächtigen vermittlungsquellen für
fantasy-messages denk- und brauchbar.

dazu kommen dann noch die ziemlich spezifischen eigenarten des religiösen lebens in den usa sowie die tatsächlich verbreiteten puritanischen einstellungen zur sexualität, die - neben der nachweislich explizit antifeministischen ausrichtung der "reagan-revolution" - mit dazu beigetragen haben mögen, dass deMause die entsprechenden teile der freudschen pa oft und gern zur untermauerung vieler thesen herangezogen hat.

nichtsdestotrotz: eine erweiterung des blicks auf die unzweifelbar vorhandenen zusammenhänge zwischen ökonomischen strukturen einerseits und andere gesellschaftliche bereiche andererseits ist dringend geboten und nötig, und da ist die perspektive von deMause zumindest für mich eine inspirierende. und kann zur eingangs erwähnten fragestellung durchaus neue antwortversuche beisteuern.

*

(...) "Trotz der erstaunlichen Regelmäßigkeit von Wirtschaftszyklen (in den Industrienationen haben sie im allgemeinen einen Achtjahresrhythmus) und der Kriege (die meisten Länder haben durchschnittlich alle zwanzig Jahre einen) wurden sie niemals als Wünsche angesehen; als Wege, durch periodische selbstzerstörerische Abläufe, die wir selber sorgfältig inszenieren, die Angst zu begrenzen, die daher kommt, daß wir unser Leben genießen. Wie der Patient, der seine Probleme als Folge von »Fehlern« in seinem Leben sieht, versteht man gemeinhin ökonomische und politische Krisen als Ergebnisse kollektiver »Fehler«, seien es »Fehler der Überinvestition«, »Fehler in der Geldpolitik«, »Fehler der Finanzierungsprogramme« oder die »Fehler von München«. Ökonomische Zyklen wie auch die Abfolge der Kriege werden kaum gesehen als gewollte.

Der Grund, aus dem gesellschaftliche Probleme so oft als Folge von Fehlern dargestellt werden, liegt in der Modellannahme eines »homo oeconomicus«, den die meisten Gesellschaftswissenschaften unterstellen. Dieser, er oder sie, handelt nur nach Eigeninteresse, vermehrt den eigenen Lustgewinn, arbeitet rational und rationell und geht in jeder Hinsicht klug mit seinem / ihrem Geld um. Um das zu glauben, muß man allerdings an der erstaunlichen Tatsache vorbeisehen, daß alle die, die man selber kennt, dem »homo oeconomicus« nur sehr entfernt, wenn überhaupt, ähneln. Die eigenen Nachbarn scheinen ihr Geld eher blindlings auszugeben, sie sparen kaum, mit der Arbeit gibt es Probleme oder sie trinken zuviel, oder sie sind eher depressiv oder zu schüchtern, zu streng, zu gelangweilt oder zu sehr geladen, um ihre Talente wirklich entfalten zu können oder ihr Familienleben zu genießen.


In Wahrheit sind die Leute auf genau die Weise irrational menschlich, wie sie in den umlaufenden Romanen vorkommen, und ähneln viel mehr einem Typ, der sich alle Mühe gibt, seine/ihre Vergnügen und Fähigkeiten zu begrenzen als sie zu entgrenzen. Selbst jene, denen es gelingt, ihre Arbeit als fruchtbar zu erleben, enden oft darin, daß alles, was sie tun, ihnen letztlich mißfällt oder sie opfern ihre Familien, ihr Liebesleben oder ihre Gesundheit »dem Beruf«. Menschen, die psychologisch gesund genug sind, sowohl Erfolg zu haben als auch Freude an ihrer Arbeit und an ihrem Besitz und an ihren Angehörigen und an ihrer Liebe, sind in Wahrheit höchst selten anzutreffen.

Wenn aber die meisten Individuen ihre Befriedigungen beschränken, ihre Fähigkeiten nicht entfalten, sowie ihre Einkünfte und ihre Vergnügungen opfern, grad so, als wollten sie keine Schuldgefühle provozieren durch zu exzessiven Lebensgenuß, dann wird das auch auf die Nationen zutreffen, die aus solchen Menschen bestehen. Eine brauchbare Theorie der Psychoökonomie muß deshalb auch untersuchen, durch welche Strategien Nationen ihren Überfluß vernichten, nicht nur, wie sie ihn erzeugen — Strategien, die periodische Blütezeiten, Zusammenbrüche und Kriege einschließen.

Wirtschaftswissenschaftler stoßen hin und wieder eher unfreiwillig auf die Möglichkeit selbstzerstör­erischer Motivationen, aber da ihr Modell dem »homo oeconomicus« nur rational zu sein erlaubt, verwerfen sie ihre Wahrnehmung als offensichtlich zu verrückt, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. So folgt in mehreren Büchern auf den Versuch, die Wirtschaftzyklen nach rationalen Modellen zu erklären, das Eingeständnis ihres Ungenügens; die Autoren werfen die Arme in die Luft und stellen, wie Paul Samuelson, fest, fast scheine es, als ob die Menschen »absichtlich einem manisch-depressiven Muster folgten und dabei erst den ökonomischen Zyklus erzeugen«, oder jemand ist versucht, wie Robert E. Lucas Jr., »anzunehmen, daß die Leute Depressionen mögen.« Aber das sind nur Momente psychologischer Einsichten, die schnell wieder fallengelassen werden; und sie kehren zurück zu ihrem Grundlagemodell »ökonomischer Mensch« mit seinen unmotivierten »Fehlern«. (...)


so ein längeres zitat aus der einleitung des kapitels 4,
Reaganomics als Opferritual, welches einen ganz zentralen punkt der psychohistorischen sichtweise deutlich macht. als reaganomics wird seit damals - analog dem britischen thatcherism - eine explizit neoliberale politik verstanden, die ökonomisch auf der "chicagoer schule" des milton friedman fusst, und in der umsetzung durch rabiate steuersenkungen zugunsten der oberklasse einerseits und ebenso rabiate sozialkahlschläge anderseits, bei ideologischer beweihräucherung der "freien märkte", reaktionären vorstellungen bezgl. familie und ehe, nationalismus als popanz, militaristischer aussenpolitik sowie allgemein antisozialer tendenz berühmt und noch mehr berüchtigt geworden ist. in einem artikel zur neuen bundesregierung, der mir kürzlich unter die augen kam (ich weiss leider nicht mehr wo), werden übrigens etliche gemeinsamkeiten vor allem der fdp-politik zu den reaganomics herausgearbeitet - die lassen sich meiner meinung nach tatsächlich nicht nur in punkto steuern auch belegen.

ich empfehle übrigens zum besseren verständnis, mindestens das gesamte kapitel, besser noch auch die anderen vorhandenen auszüge des buches zu lesen - einfach, weil sich durch das gesammelte mediale material die inhaltliche tendenz der argumentation besser erschliessen lässt.

eine argumentation, die ich jetzt in eigenen worten versuchen will, auf´s wesentliche zu komprimieren:

bekanntlich geht die psychohistorie von der existenz von psychoklassen aus, deren mitglieder durch die art und weise des elterlichen / familiären umgangs mit ihnen in der kindheit (dazu gehört auch die pränatale phase) entsprechend zugeordnet werden. diese klassen sind nicht identisch mit soziologischen oder ökonomischen klassen (auch, wenn "erziehungsstile" durch entsprechende materielle umstände natürlich beeinflusst werden), sondern stellen sich sozusagen quer - liebevoller oder liebloser, verdinglichender umgang mit kindern lässt sich jeweils sowohl in (materieller) armut als auch im "reichtum" beobachten.

diese psychoklassen, die ihre mitglieder quasi durch die jeweilige individuelle neurologische konfiguration gewinnen, agieren nun im öffentlich-gesellschaftlichen leben als quasi-kollektive - ältere erziehungsstile mit ihrem gewaltvolleren umgang gegenüber kindlichen bedürfnissen produzieren angstbesetzte, in destruktiv-irrationalen emotionalen mustern verhedderte erwachsene, die davon determiniert nun in der öffentlichen arena zwanghaft all das abspalten, verfolgen und projizieren, was sie selbst als bedrohlich empfinden und sich eher für grundsätzlich reaktionäre politikkonzepte gewinnen lassen, weil diese sie nicht zwingen, sich mit ihren mustern auseinanderzusetzen, sondern eher ihre konflikte im aussen inszenieren und symbolhaft und praktisch stellvertretend ausagieren (ganz im diesem sinne war auch "der führer" primär ein delegierter, wie überhaupt als grundaussage über den verschiedensten autoritären herrschern der geschichte als motto stehen könnte: er bündelte die vorherrschenden psychophyischen pathologien am wirksamsten und gab ihnen am wirkungsvollsten ausdruck. bezgl. ronald reagan empfehle ich auch noch mal den zweiten teil
dieses beitrags.)

demgegenüber sind die mitglieder neuerer psychoklassen, bedingt durch weniger traumatisierende kindheiten, innerlich ein stückchen freier - (hier befindet sich ein wichtiger link zum thema des "freien willens") - und eher zur emotionalen rationalität fähig; deMause fügt als wichtigen punkt u.a. auch die fähigkeit zum qualitativen genuß an. diese psychoklassen sind es in der psychohis. lesart, die letztlich die träger jedes gesellschaftlich-zivilisatorischen fortschritts darstellen - ohne unbedingt in moralischer hinsicht jetzt "bessere menschen " zu sein.

aus der psychohistorischen lesart der geschichte ergibt sich nun bezgl. der vorherrschenden und "beliebtesten" kollektiven inszenierungen (die eigentliche aufgabe von regierungen! jedenfalls werden sie dafür von älteren psychoklassen gewählt) eine schnelle focussierung auf den begriff des opfers. und der stammt nicht zufällig ursprünglich aus dem religiösen bereich - die praxis von sach-, aber auch tier- und menschenopfern zur beruhigung der "götter", aber auch zur "reinwaschung" von empfundener schuld (mit eine der schlimmsten möglichen plagen von traumatisierten menschen!) ist ein uraltes und global verbreitetes, interkulturelles und interreligiöses phänomen.

opferung eines chistlichen kindes
<br />
nürnberg 1493
<br />
quelle: wikipedia

während deMause in seinem buch sehr schön die entsprechenden amerikanischen motive - wo die azteken historisch eine nachwirkende rolle gespielt haben - herausgearbeitet und illustriert hat, habe ich als bewussten kontrast die darstellung eines kindlichen opfers aus dem hiesigen christlichen mittelalter gewählt.

und im kern spielt der doppeldeutige begriff des opfers bei seiner analyse eine hauptrolle: reagan wurde gewählt (und auch geprüft) dafür, dass er die rolle des opfernden als delegierter einehmen sollte (und dazu das passende ökonomische system bereitstand, welches strukturell u.a. auf solchen kollektiven dispositionen aufbaut). und sowohl die von ihm angezettelte us-rezession der frühen 1980er jahre als auch sein militärisches banditentum lassen sich als materiell gewordene inszenierungen von opferungen begreifen. und in alter paranoider und traumatischer tradition waren diese opfer hauptsächlich, aber nicht nur, kinder (kinder und frauen in rezessionen, jugendliche männer in kriegen):

(...) "Man soll nicht denken, Sätze wie die von den »Opfern der Reaganomics« seien bloß metaphorisch zu nehmen. Ein wirksames Opfer verlangt einen wirklichen Menschenschlucker und echte Tote.

Es ist nicht einmal sehr schwer, die ungefähre Zahl der Tode anzugeben, die auf das Konto von Reagans Opferungszeit gehen. Der durchschnittliche Anstieg der Sterblichkeitsrate in Rezessionen wird sorgfältig statistisch aufgezeichnet und analysiert vom Gemeinsamen Wirtschaftsausschuss des Kongresses (Congressional Joint Economic Committee), insbesondere für Selbstmord, Mord, Herztode und andere, die mit der ökonomischen Lage in Verbindung gebracht werden können. Ausgedehnt bis zum jetzigen Zeitpunkt (1984) können demnach annähernd 150.000 zusätzliche Tode den Effekten der Reaganomics zugeschrieben werden.

Dazu kommen die Todesfälle, die man mit Reagans Haushaltskürzungen in Beziehungen setzen darf — die vor allem auf die Millionen von Frauen und Kindern zielten, die auf die Unterstützung durch die Regierungsprogramme angewiesen sind —, sowie die Tode, die durch Kürzung von Kinderernährungsprogrammen verursacht wurden, durch Kürzung der Hilfe für Familien mit mehreren Kindern in Schule oder Ausbildung, der Lebensmittelhilfe für schwangere Frauen mit niedrigem Einkommen, der staatlichen Schulspeiseprogramme, der Unterstützung für behinderte Kinder und Erwachsene usw. Die abrupte Kürzung solcher Hilfsprogramme läßt den Todeszoll für Reaganomics die Zahl von 150.000 weit übersteigen.

Schließlich umfaßt diese Zahl noch nicht einmal die weniger augenfälligen Opfer von Kürzungen wie der beim Umweltschutz, bei der Unterstützung von Wohlfahrtsorganisationen wie der UNICEF, den Wegfall der Krankenversicherung bei Millionen von Arbeitslosen, Tode in den unterentwickelten Ländern als Folge der Reagan-Rezession und eine Reihe ähnlicher todbringender Aktivitäten. (...)

»Cut«, runter mit drei Millionen Kindern von der Schulspeise. »Slash«, weg mit den Geldern für 340.000 Stellen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. »Chop«, raus mit den behinderten Kindern aus der staatlichen Hilfe."(...)


und weiter aus dem buch zitiert (online leider nicht vorhanden):

(...) "So aber erschien im Winter 1981/82 Artikel auf Artikel über die steigende Kindersterblichkeit in sozialen Bereichen, die am härtesten von den Kürzungen und der Arbeitslosigkeit betroffen waren. Artikel über die Kinder auf den Armenlisten, mehr als eine Million waren hinzugekommen, über die sechs Millionen Kinder, die wegen der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern die Krankenversicherung verloren hatten, über die halbe Million Kinder, denen die Krankenversorgung entzogen war durch die Schließung von 229 Gesundheitszentren (community health centers) seitens der Regierung und über die Hunderte von Kindern, die zu Tode geprügelt werden würden, weil Reagan fast alle Mittel für das sehr erfolgreich arbeitende Zentrum für mißhandelte und vernachlässigte Kinder gestrichen hatte - man kommt auf über zwanzig Millionen Kinder, die unnötig Schmerzen und Hunger leiden mußten oder sogar starben, aber kaum jemand war zu sehen, der um sie getrauert hätte.

Während jener kalten Winternächte saßen wir alle vor dem Fernseher und sahen, Abend für Abend, Szenen von Kindern, die im Schnee unter Brücken schliefen, weil ihre Eltern Arbeit und Wohnung verloren hatten und Bilder von Neugeborenen, die vor der Kamera aus Schwäche starben, weil der Regierung die Gelder "fehlten" zur weiteren Finanzierung der Zusatzdiät für mittellose schwangere Frauen und stillende Mütter. (...)

"Reagans Netz sozialer Sicherheit ist ein Mythos", kommentierte Bill Moyers im Fernsehen. "Menschen sterben infolge dieser Kürzungen". (...)

(s. 117/118)


opfer - mindestens geduldet, schlimmstenfalls gewollte.

*

wie gesagt: lesen Sie das ganze kapitel selbst und betrachten Sie sich vor allem die vielzahl an entsprechenden medialen motiven aus der zeit - das ist schon frappierend.

ansonsten kann zumindest ich die obigen kapitel nicht lesen, ohne sehr schnell an die hartz-IV-kinder hierzulande denken zu müssen - vielleicht nicht in solch drastischen formen wie oben für die usa beschrieben, so ist die kinderarmut vor dem hintergrund des geldhinterherwerfens an die bankster doch ebenso als geduldet, wenn nicht schlimmstenfalls als gewollte, zu verstehen - wäre das grundlegend anders, so würde die mehrzahl von uns anders handeln als bisher. manchmal habe ich schon den eindruck, dass die kollektiven uralten frühreligiösen überbleibsel in unseren psychophysischen strukturen gerade von sich selbst als "aufgeklärt" haltenden gerne unterschätzt werden.

nun hatte ich weiter oben schon die reibungslose übertragbarkeit des ansatzes von deMause bspw. nach d-land relativiert, und dazu kommen zwei weitere punkte, die ich schon in der rezension des Emotionalen Lebens... angemerkt hatte: einmal die bei ihm fehlende berücksichtigung von anderen, aber trotzdem massenwirsamen traumata (wie kriege und diktaturen), zum anderen die möglichkeit, dass die existenz generationenübergreifender tradierter traumatischer strukturen am ende per evolutionärer selektion etwas hervorbringt, was sich als psychophyische mutationen bezeichnen liesse: empathiegestörte und weitgehend gleichgültige, aber deswegen auch schmerzunempfindlichere, überlebensfähigere (in traumatischen sozialen bedingungen) menschen -> soziopathen .

und trotzdem kann der ansatz auch hierzulande zum erweiterten verständnis befruchtend sein, wenn nämlich einfach hinsichtlich der aktuellen politik von einer gewünschten ausgegangen wird, und zwar gerade deswegen, weil sie verheerende soziale konsequenzen nach sich zieht und ziehen wird. die dazu nötigen psychoklassen hatte neulich ausgerechnet
peer steinbrück explizit und beispielhaft benannt, nämlich in dem fall die generation der kriegskinder des wk2, die sich nach den psychohistorischen kriterien durchaus als klasse verstehen lassen. und mehrheitlich immer noch in ihren traumatischen lebensbezügen feststecken, diese teils schon weitergegeben haben (da weiss ich sehr gut, wovon ich rede...) und in ihrem zustand die öffentlichen diskurse mitbestimmen. es geht dabei nicht um mehr oder weniger sinnlose schuldzuweisungen, aber ich denke, wir brauchen dringend ein erweitertes verständnis gesellschaftlicher prozesse. und da sollten ansätze wie der hier skizzierte und eher "klassische", soziologische und ökonomiekritische nicht als widersprüchlich, sondern als ergänzend empfunden werden.

auch, wenn es uns dann vielleicht selbst in der erkenntnis, dass all die
kevins und jessicas und all die anderen bekannten und unbekannten kinder, die hier in den letzten jahren thema waren, in der doppelten wortbedeutung zu opfern wurden, vorkommen mag, als würden uns aus dem spiegel, in den wir schauen, monster zurück anstarren. vielleicht ist der schreck dann groß genug für konsequenzen.
hf - 2. Nov, 21:45

interessant, dass wir immer wieder. von völlig unterschiedlichen ansätzen ausgehend, zu vergleichbaren ergebnissen kommen. zur rehabilitierung des opferbegriffs etwa durch karl-heinz bohrer habe auch ich mir schon einige gedanken gemacht

zu bohrer siehe etwa: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=1694 (gespenstisch!die halb-positive bewertung bohrers durch den rezensenten mache ich natürlich nicht mit. da will iner kriegen wieder einen tieferen sinn geben.)

monoma - 2. Nov, 22:03

wobei ich sagen muss...

...dass ich den verlinkten text wohl noch ein paar mal lesen muss, bevor ich überhaupt eine ahnung von dem bekomme, was sowohl bohrer als auch der rezensent überhaupt aussagen will. nagut, schimmert schon irgendwie durch, dass bohrer für sein konstrukt einer imäginären "noblesse" sich auch im schlammigen graben die kugeln um die ohren pfeifen lassen möchte - daran sollte man ihn dann auch nicht hindern...
hf - 3. Nov, 00:27

hi mo

neee, bohrer will sich nicht die kugeln um die ohren pfeifen lasen. er sucht junge männer, im rahmen einer sog falsch verstandenen emanzipation inzwischen auch junge frauen, die das für ihn besorgen. er selber will lieber bildungsrotwein trinken und die anfeuerung besorgen. ist bequemer!

lg
monoma - 3. Nov, 01:51

@hf: schon klar, das war auch eher ironisch gemeint...
monoma - 2. Nov, 22:16

nachträge, die ersten

wie üblich bei texten solcher art, habe ich alles ziemlich bruchlos runtergeschrieben und reingestellt, nur noch mit kurzer formaler prüfung. was noch mit reingehört:

- wenn ich von wünschen bzw. "gewollt" hinsichtlich der umsetzung antisozialer maßnahmen spreche, so ist damit nicht der "bewusste willen" gemeint.

- die frage, warum bspw. ein nicht geringer teil von erwerbslosen ausgerechnet fdp (und cdu) gewählt hat, bekommt eine deutliche mögliche antwort: weil nicht die ökonomische klassenlage bzw. eigene ökonomische situation entscheidet, sondern - siehe artikel.

- bush junior hat sich in puncto erzeugung von rezessionären (?) verhältnissen gut in den fußstapfen des RR aufgehalten.

- obama? soweit ich die diskussionen unter den psychohistorikern um deMause in den usa mitbekommen, interpretieren sie seine wahl schon als ausdruck des wirkens einer neuen psychoklasse. wobei seine wahl nicht zustande gekommen wäre, wenn sich nicht das zahlenverhältnis von wasp´s einerseits und afroamericans bzw. hispanics in den jahrzehnten seit reagans wahl - der wurde von weißen gewählt - drastisch geändert hätte. und eine solche wahl wird natürlich auch von anderen motivationen mitentschieden.

"politisch" kann er eh nur in sehr engen grenzen etwas bewirken, wobei ich noch nicht mal einen echten willen - von unverbindlichen absichtserklärungen abgesehen - sehe.

leo (Gast) - 3. Nov, 03:45

"die frage, warum bspw. ein nicht geringer teil von erwerbslosen ausgerechnet fdp (und cdu) gewählt hat..."

zum teil vielleicht recht einfach beantwortet : ein randvoller lotto-jackpot. die endphase des wahlkampfes wurde von einem wie du sagst nicht geringen teil der erwerbslosen in tagträumen von den privilegien einer finanziellen unabhängigkeit wahrgenommen und irgendwie kondensierte da, ich sag mal, ein nüchternes sicherheitsdenken.

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