assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (7)

"Das neue Jahr hatte kaum begonnen, da wagte einer der renommiertesten internationalen Lebensmittelexperten eine Prognose: Um Ostern, also Ende April, würden Hungerrevolten ausbrechen, warnte der Franzose Philippe Chalmin. (...) "Ich bin sehr besorgt." Doch schon wenig später stellte sich heraus, dass die Warnungen des Fachmanns Chalmin sogar noch untertrieben waren. Die explodierenden Lebensmittelpreise lösten am Freitag die ersten schweren Unruhen aus: Bei Protesten in Algerien starben zwei Männer, 400 Menschen erlitten Verletzungen. Eine wütende Menge griff Regierungsgebäude an, Banken und Postfilialen wurden geplündert. Die Regierung in Algier beschloss, Einfuhrzölle und Steuern auf Zucker und Speiseöl zu senken.

Die Ausschreitungen könnten der Auftakt einer globalen Serie von gewaltsamen Demonstrationen gegen kaum noch bezahlbare Lebensmittel sein. In der vorigen Woche schockte die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO mit den neuesten Zahlen ihres Preisindexes für die wichtigsten Grundnahrungsmittel: Das Barometer, das die Teuerung von Erzeugnissen wie Weizen, Reis, Korn, Zucker, Speiseöl und Milchprodukten anzeigt, schoss im Dezember auf den höchsten Stand seit seiner Einführung zu Beginn der neunziger Jahre." (...)


("Angst vor neuen Hungerrevolten"- mitte januar veröffentlicht)

*

so, hier kommt die verspätete fortsetzung der
sechsten folge dieser reihe - ich hatte und habe die letzten tage ausgiebig mit den unangenehmen effekten eines blockierenden halswirbels zu tun, eine erfahrung, auf die ich ganz gut verzichten könnte. aber bekanntlich lautet ja eine der unausgesprochenen folgerungen dieses blogs ungefähr so: der körper ist der meister. manchmal oder auch gar nicht so selten bringt sich diese absolute basis unserer existenz sehr nachdrücklich und sehr schmerzhaft wieder zu bewußtsein.

der - hm, vorteil an der geschichte für diesen beitrag ist nun, dass sich in den tagen seit donnerstag nun schon wieder derartig viel ereignet hat, dass ich zunächst mit einigen nachträgen beginnen werde. das zitat oben soll im übrigen als eine art sehr loser roter faden dienen; das thema der hungerrevolten und die frage danach, wie und ob denn die aktuellen aufstände unter diesem begriff verstanden werden können, wird im folgenden immer wieder eine rolle spielen.

*

nordafrika / arabische halbinsel:

saudi-arabien: nachzutragen bleibt eine
meldung, die am wochenende verbreitet wurde und nochmal deutlich macht, wie nervös die ölprinzen inzwischen sind:

"In Saudi-Arabien hat die Regierung ein Kundgebungs- und Demonstrationsverbot erlassen. Die Sicherheitskräfte würden mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Versuche unterbinden, die öffentliche Ordnung zu gefährden, berichtete das staatliche Fernsehen am Samstag unter Berufung auf das Innenministerium. Zuvor hatte es kleinere Protestkundgebungen der schiitischen Minderheit im Land gegeben." (...)

das ein paar tage vor dem ersten angekündigten "tag des zorns" am 11. märz und mit unruhen in so ziemlich allen angrenzenden nachbarländern konfrontiert: im süden der yemen und oman, im osten die golfstaaten und -emirate, im norden der irak und im nordwesten jordanien - die diktatur der öligen könige muss sich inzwischen wie in einem kochenden krater vorkommen, und die präventiven ankündigungen verheissen nichts gutes.

kuwait: hatte ich im letzten beitrag noch von den dortigen protestierenden staatenlosen arbeiterInnen geschrieben, die als erste auf den straßen waren, so haben diese inzwischen
gesellschaft bekommen:

(...) "Für Dienstag haben mehrere Gruppen zu Kundgebungen in dem Golfemirat aufgerufen. Nach dem Vorbild der Aufstände in Tunesien und Ägypten fordern sie die Absetzung des Ministerpräsidenten und größere politische Freiheiten. Die Organisatoren, vor allem junge Kuwaitis, haben keine Genehmigung für ihre Demonstrationen eingeholt - die damit illegal wären und die Regierung vor eine Machtprobe stellen könnten." (...)

ich konnte bisher noch nichts finden, ob und was da heute möglicherweise passiert ist. kann sein, dass ich später nochmal drauf zurückkomme und ergänze.

tunesien: zur illustration und vertiefung meiner thesen vom letzten beitrag - die revolution befindet sich tatsächlich in ihrer nächsten und ebenfalls entscheidenden
phase:

(...) "Wem gehört die Revolution? Allein der "Kasbah", den tausend Personen, die seit zwei Wochen die Regierung erfolgreich unter Druck setzen, weil sie notfalls auch 100000 Menschen mobilisieren? Vor dem Sportpalast von El Menzah, einem noblen Außenviertel von Tunis, sieht man das anders. Hier demonstriert seit Montag täglich zwei Stunden die "schweigende Mehrheit", von der Ghannouchi in seiner Rücktrittsrede gesprochen hatte. Es sind etwa gleich viel Leute wie auf dem Kasbah-Platz. Doch ist es eine andere Gesellschaft. Viele tragen Krawatte. Demonstriert wird zwischen 17 und 19 Uhr. Vorher arbeitet man schließlich. Man will ja ein neues Tunesien aufbauen. Das wollen die Jugendlichen auf dem Kasbah-Platz gewiss auch, bloß haben die meisten von ihnen eben keine Arbeit." (...)

das beschreibt nochmal ganz gut den konflikt, den ich auch skizziert habe - hier wird entschieden, ob es letztlich in richtung einer sozialen revolution geht oder aber lediglich - ich sagte schon, dass das im verhältnis zur diktatur schon eine verbesserung wäre - eine spezifisch nordafrikanisch-tunesische bürgerlich-demokratische herrschaftsform etabliert wird.

an dieser stelle seien die nachträge erstmal beendet, und es ist durchaus sinnvoll, sich anhand der drei beispiele oben gedanken zu machen zum stichwort vom beginn: hungerrevolten?

wenn ich mir das, was ich inzwischen fragmentarisch in den letzten monaten zu den diversen ländern alles gelernt habe, so betrachte, dann finde ich, dass sich bei dieser frage zunächst ein sehr grober regionaler, geographischer unterschied festmachen lässt: das motiv des hungers (bürokratischer: "nahrungsmittelknappheit") spielt in nordafrika (ausnahme ist möglicherweise ausgerechnet libyien) eine große, aber nicht die einzigste rolle. auf der arabischen halbinsel hingegen - die ausnahme dürften hier zunächst der yemen, aber auch der irak darstellen - rangiert es von außen betrachtet unter den motiven der proteste weiter hinten. der grund für diese unterscheidung dürfte klar sein und ist in einem einzigen kurzen wort zusammenzufassen: öl.

saudi-arabien und die meisten golfstaaten verfügen aufgrund ihrer vorräte an fossilen brennstoffen ebenso wie libyien immer noch über so derart viel materiellen reichtum, dass es ihren herrschern potenziell möglich wäre, sämtliche (materiellen) nöte in ihren ländern abzustellen. das das teils nicht bzw. nur unzureichend (libyien, einige golfemirate) geschehen ist und die schlichte wahrheit des satzes "der mensch lebt nicht von brot alleine" - das beides ergibt zusammen die glut, aus der jetzt die flammen der revolte hochschlagen. in nordafrika hingegen ist der aufstand in ländern wie tunesien, algerien, ägyten... für viele etwas, was auf eine anderen ebene existenziell ist - hier geht und ging es gerade für die mehrheit der armen unterklassen ums pure überleben, eine situation, die durch das geprotze, die widerwärtigkeiten und die repression der jeweiligen diktatorischen clans dann bekanntlich vor kurzem derart unerträglich wurde, das seit dem die weltgeschichte weiter und neu geschrieben wird.

meine eigene antwort, ohne anspruch auf vollständigkeit, auf die frage des anfangs also: teils-teils. die nahrungsmittelpreise spielen und spielten eine rolle, die aber möglicherweise in allernächster zukunft noch deutlicher und fataler werden wird. es ist nämlich kein ende des anstiegs absehbar, und das nicht nur deshalb, weil diese preise nicht nur indirekt mit dem ölpreis zusammenhängen. ebenfalls aber werden die aufstände - und zwar querdurch alle länder hindurch - von wünschen nach mehr gesellschaftlicher partizipation im allgemeinen sinne befeuert - und dabei spielen die städtischen mittelschichten, die dazugehörigen (gutausgebildeten) jugendlichen und auch teile der weiblichen bevölkerung eine große rolle. in so ziemlich allen derzeit "betroffenen" staaten, in denen die aufständigen bewegungen schon die "kritische masse" erreicht haben oder aber dabei sind, diese zu erreichen, spielen blanke materielle existenznöte (für große teile der land-, aber auch stadtbevölkerungen), perspektivlosigkeiten von millionen teils sehr junger menschen, bewußtsein über die bisher völlig fehlenden möglichkeiten der eigenen und politischen selbst- und mitbestimmung sowie das inzwischen global übliche arm-reich-gefälle - das letztere auch besonders für diejenigen, die in den ländern einen arbeitsplatz haben, egal ob im öffentlichen oder privaten sektor; die zahl der gemeldeten stattgefundenen, stattfindenden oder geplanten streiks in den regionen ist nicht mehr zu überblicken - zusammen die entscheidende rolle, um diejenige wucht ins rollen zu bringen, die nötig ist, um diktaturen der dortigen sorte hinwegzufegen. das das nur der erste schritt auf einem langen weg sein kann, wenn es darum geht, das jahrzehnte- bis jahrhundertealte geflecht aus autokratischen, feudalen, religiös untermauerten und patriarchal geprägten (teils auch noch stammes- und clan-) strukturen aufzurollen, dürfte etlichen aktivistInnen in den ländern selbst klar sein.

soweit ein antwortversuch, wie ich ihn z.zt. ungefähr geben würde. mit der frage
Demokratie- oder Hungerrevolten? hat sich vor wochen schon telepolis beschäftigt. lesen, auch wenn ich die frage eben nicht so formulieren würde.

*

was ich gerade oben von "ersten schritten auf einem langen weg" geschrieben hatte, wird untermauert von einem ganz frischen beitrag der
nahostinfos- eine aktion zum internationalen frauentag heute in kairo auf dem tahrirplatz...

"Auf dutzenden Blogs und auf facebook wurde geworben und zum Frauenmarsch auf dem Tahrir-Platz in Kairo aufgerufen. Auf einer facebook-Seite hatte das mehr oder weniger feministische Event über tausend Teilnahmezusagen erhalten. Mit dem noch der revolutionären Hybris entstammenden Pathos sollte es ein “Millionenmarsch für die Frau” werden. Es ging um mehr Gleichberechtigung in einer neuen, säkularen Verfassung und die öffentliche Thematisierung und Kritik des patriarchalen und sexistischen Alltags, wie er sich vor allem in den täglichen verbalen und physischen (=offensives Grabschen) sexistischen Übergriffen auf Frauen mit und ohne Kopftuch, die 9 von 10 befragten ägyptischen Frauen schon mehrmals erlebt haben, äußert. So viele waren enthusiastisch, Schilder wurden gemalt, Witze kursierten auf twitter. Doch 18 Tage Kairiner Revolution verändern eben doch keine Gesellschaft.

Es kam anders, aber anders, als alle dachten. Nur einige Dutzend Frauen und ein paar Männer fanden sich auf dem Tahrir-Platz ein, und begannen zwei Transparente und selbstgemachte Schilder hochzuhalten und Flyer zu verteilen, die u.a. eine säkulare Verfassung und die Möglichkeit weiblicher Präsidentschaft forderten. Auf Schildern verurteilten sie die weitverbreitete Praxis der sexuellen Übergriffe. Innerhalb kurzer Zeit sammelten sich Männer um die kleine Gruppe, und ganz im Sinne massendynamischer Prozesse kamen, als es etwas zu sehen gab, immer mehr hinzu. Bald waren die DemonstrantInnen, die zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 70 und 250 an der Zahl waren, von bis zu tausend ganz normalen ägyptischen Männern [manche behaupten, es seien "angeheuerte thugs" gewesen, aber unklar wer sie hätte anheuern sollen] von allen Seiten umringt, die sie beschimpften, beleidigten und teilweise angrapschten. Sie wurden wahlweise als Ausländer oder “Katzen” bezeichnet, und in hitzigen Pöbeleien ging es darum, dass sie zurück in die Küche sollten, sich nicht wundern brauchten betascht zu werden, wenn sie so aussehen würden. Am meisten aufgebracht waren die Männer von der Forderung, dass auch Frauen Präsident werden sollen. Das alles sei irgendwie gegen die Werte, wahlweise ägyptische, islamische, arabische etc." (...)


so bitter es klingen mag - aber derlei szenen sind in den zwischen- oder nach?revolutionären phasen durchaus zu erwarten. ich kann mich an die vielen teils euphorischen äusserungen gerade von frauen aus den 18 tagen der "republik tahrir" erinnern, hier eine durchaus
repräsentative:

(...) "Der Tahrirplatz hat sich in eine gut organisierte Republik innerhalb der Republik verwandelt. Menschenliebe, Aufmerksamkeit und Rücksicht zeichnet das Verhalten aller DemonstrantInnen aus. Komitees für Sauberkeit und Ordnung sind gebildet worden. Ein Teil des Platzes wurde für Menschen mit Behinderungen bestimmt, dort können sie von den anderen unterstützt und beschützt am Geschehen teilnehmen. Die Nahrungsmittelspenden werden über Stände verteilt. Es sind Millionen, die sich selbst ohne fremde Hilfe verwalten. Es sind zahlreiche Ambulanzstationen errichtet worden. Es gibt keine einzige Meldung über Diebstähle, sexuelle Belästigungen oder Gewaltverbrechen. Nicht vom Tahrirplatz, aber auch nicht vom ganzen Land. Ein Land in der Größe Ägyptens mit 80 Millionen EinwohnerInnen ist in einem Zustand der Aufruhr, ohne einen einzigen Polizisten, und ist dennoch sicherer als vor dem 25. Januar!" (...)

selbst, wenn das in der totalität als übertrieben gezeichnet erscheint - der kern des berichts darf durchaus als realistisch angesehen werden, und frauen waren nach vielen berichten durchaus völlig selbstverständlich überall beteiligt. telepolis hat heute übrigend gerade vier frauen aus der region nochmals beispielhaft
gewürdigt, und ihr anteil an den revolutionären prozessen ist bereits jetzt ein geschichtlicher fakt.

ist der bericht aus kairo von heute nun ein zeichen für das scheitern der revolutionären bewegung? ich finde nein - immer noch befinden sich ausser tunesien alle anderen staaten in der ersten oder gar den vorphasen der eigenen möglichen revolution. ägypten hat nach dem ersten meilenstein - sturz der symbolischen führungsfigur - noch viel arbeit vor sich, die in tunesien schon weiter fortgeschritten ist. die künftige stellung und bedeutung von frauen im öffentlichen leben lässt sich allerdings - aus westlicher sozialisierter sicht - als echte nagelprobe für die frage ansehen, wieweit sich die antidiktatorischen revolten zu sozialen revolutionen entwickeln - einfach deshalb, weil dieser aspekt sehr direkt an die weiter oben angesprochenen basisstrukturen auch der heutigen herrschaftssyteme in den beiden regionen rührt. und zukünftig bedeutet das auch einen schärferen konflikt zwischen womöglich immer größeren teilen der weiblichen bevölkerungen dieser länder mit allen vorhandenen spielarten des islam. was wir gerade erleben, kann der erste schritt in diese zukunft sein.

vielleicht sollte für leute, besser gesagt männliche leute, die bei dem bericht aus kairo schon wieder chauvinistisch abgewunken haben und im stillen denken: "sieht man(n) ja wieder, wie `die araber´ wirklich ticken" auch noch die empfehlung auf den weg gegeben werden, sich selbst - vorzugsweise als beobachter - auf den weg zu hiesigen feministischen aktionen zu machen und einfach mal zu sehen und zu hören, wie die reaktionen des hiesigen publikums dann so ausfallen. jegliche anflüge kultureller arroganz sollten sich in aller regel dann zuverlässig verflüchtigen.

*

so, wieder recht lang geworden, und ich mache wieder einen cut. aber der nächste teil soll in den kommenden stunden folgen.

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