kontext

Sonntag, 15. Juli 2012

kontext 77: "Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich."

dieses zitat aus "1984" von george orwell könnte als unsichtbarer leitsatz über dem gleich folgenden video stehen, welches unter dem titel "This Is What Democracy Looks Like" einfach bilder aus den letzten beiden jahren montiert - und darüber eine wirkung entfaltet, wie sie hunderte seiten schriftlicher und ausgefeilter analysen nicht hinbekommt. nichts gegen letztere, aber um sich dafür wirklich zu interessieren, muss überhaupt erst mal eine innere motivation vorhanden sein. und die könnte bei ansicht der folgenden bilder durchaus bei einigen entstehen.

zu sehen sind u.a. szenen aus griechenland, den usa, ägypten, spanien, chile, großbritannien... und bitte vorsicht, etliches davon kann selbst beim zusehen von einem "sicheren ort" traumatisch wirken.




und noch ein paar aktuelle nachrichten des tages:
  • in tel aviv hat sich bei den jüngsten israelischen sozialprotesten ein älterer mann aus verzweiflung und protest selbst angezündet und liegt mit schweren verbrennungen im krankenhaus
  • das neueste geplante "sparpaket" in griechenland enthält den ernsthaften vorschlag, alle sozialleistungen künftig zu einer zusammenzufassen und nur noch den "wirklich armen" -> geschätzt 20% der bevölkerung - zukommen zu lassen. wer allerdings "wirkliche armut" definiert, dürfen Sie dreimal raten
  • in bahrein hat das dortige westliche marionettenregime ein totalverbot aller oppositionellen kundgebungen/demonstrationen erlassen
und so nehmen die dinge ihren fatalen lauf, der den planeten als ganzes relativ ungerührt lassen dürfte - das ist zu beginn des videos der einzige punkt, den ich bzgl. der montagetechnik nicht gut finde -, für die menschliche spezies jedoch ungehindert in ein dystopisches desaster führen dürfte. wenn nicht noch ... (mit der eigenen inhaltlichen füllung der drei punkte lasse ich Sie jetzt in den sonntagnachmittag).

Montag, 28. Mai 2012

kontext 76: psychophysische mutanten unter uns

"Könnte ich die Psychopathen nicht im Gefängnis studieren - an der Wall Street würde ich genug von ihnen finden."

*

der obige satz ist schon mehrere jahre alt, und er erschien damals im zusammenhang mit dem ersten blogbeitrag, der das thema der
psychopathen im big business aufgriff. in großen abständen kam es seitdem immer wieder mal zu ähnlichen artikeln in den medien, ohne dass jedoch vertiefend gegraben worden wäre. dabei reicht das vorliegende material in form einiger studien sowie der gesamten bisherigen erkenntnisse über den komplex der soziopathie (aus gründen bevorzuge ich diesen begriff) eigentlich hinreichend aus, um schlüsse zu ziehen, die erstens über eine reine anerkennung des phänomens hinausgehen und zweitens auch den absolut nötigen bogen von den konkreten personen hin zum sie umgebenden system schlagen. an beidem mangelt es bis heute, wie es vor ein paar wochen anlässlich einer neuen studie auch der schweizer "tagesanzeiger" einmal mehr belegte:

"Die Wallstreet tickt nicht richtig. Psychopathen sind anscheinend überdurchschnittlich repräsentiert. (...) Neu entbrannt war die amerikanische Diskussion über die geistige Befindlichkeit der Banker nach der Publizierung einer Studie im einflussreichen Branchenblatt «CFA Magazine». Gestützt auf Interviews mit Wallstreet-Psychologen schrieb die Verfasserin Sherree DeCovny, dass rund zehn Prozent der an der Wallstreet Arbeitenden «klinische Psychopathen» seien – zehnmal mehr als in der amerikanischen Gesamtbevölkerung." (...)

ich spekuliere, dass sich diese diagnose dabei v.a. an den arbeiten des in den usa immer noch in dem bereich sehr relevanten robert hare orientiert hat. die im artikel folgende auflistung der markanten soziopathischen eigenschaften sollte allen bekannt sein, die sich mit dem bereich schon einmal beschäftigt haben. neu ist vielleicht letztlich nur dieser hinweis:

(...) "Laut DeCovny sind die psychopathischen Charakterzüge der Banker meistens schon vorhanden, bevor sie an der Wallstreet anheuerten, in manchen Fällen aber entwickelten sie sich unter dem Druck der Arbeit. Einer im Jahr 2000 veröffentlichten Studie zufolge leidet zudem fast ein Viertel der Wallstreeter an Depressionen, andere Untersuchungen attestierten ihnen vermehrt Alkoholismus, Schlaflosigkeit, Herzbeschwerden, Esskrankheiten und extrem kurze Lunten." (...)

wobei ich gerade keine ahnung habe, was ich unter "extrem kurzen lunten" nun genau verstehen soll. aber unabhängig davon wäre die gesamte aussage bestens dafür geeignet, sich näher mit der sozialen umgebung sowie den (als-ob)-biographien der identifizierten soziopathen zu beschäftigen. inhaltlich sind beide genannten stränge plausibel; im interesse von prävention jedoch wäre die möglichst genaue rekonstruktion der entwicklung von - funktional - antisozialem verhalten bis hin zu einer womöglich strukturellen soziopathie eigentlich eine der dringendsten aufgaben nicht nur der klinischen psychiatrie. aber weder solche noch andere auf der hand liegende schlüsse bzw. forderungen werden im artikel gestellt.

die gleiche studie hat die "new york times" ebenfalls im gleichen zeitraum zum anlass genommen, um unter dem titel
Capitalists and Other Psychopaths immerhin ein auge auch auf die systemischen umstände zu werfen. das der autor auch dabei nicht groß über die befunde herauskommt, die vor jahren bereits die dokumentation "the corporation"...



...in beeindruckender weise zusammengetragen hat, ist so ärgerlich wie bezeichnend. denn der zusammenhang zwischen der im film herausgearbeiteten diagnose "psychopath" für die juristische person "konzern" mit der ebenfalls deutlich antisozialen ideologie des neoliberalismus und den (a-)sozialen verhältnissen in familien über schulen bis hin zu unternehmen, plus den diesen zustand unterfütternden medialen produktionen - diesen zusammenhang einmal in allen schattierungen und konsequenzen nachvollziehbar darzustellen, wäre genau jene "große erzählung", die der selbsterklärten "postmoderne" heute fehlt (und dieses fehlen ist nicht zufällig).

das die nyt dann am ende ein paar tage später noch eine korrektur bezgl. der studienergebnisse hinterherschob, ändert nichts am grundsätzlichem befund, der da lautet, dass die global dominierende form des kapitalismus mitsamt seiner propagierten ideologie ideal kompatibel mit der bösartigsten form des wahnsinns ist, die sich überhaupt vorstellen lässt: der echten soziopathie. und an einen zufall sollte bei diesem fakt wiederum niemand glauben. ich gehe inzwischen übrigens mehr und mehr davon aus, dass die soziopathie eher vorhanden war als die ihrem wesen am deutlichsten gemäße ökonomische form.

*

grummel und sansculotte haben am ende in ihren
kommentaren zum letzten beitrag einiges an weiterem material zusammengetragen, welches in diesen kontext gehört. das möchte ich ergänzen um eine meldung, die anfang des monats wie so vieles andere im medialen rauschen ziemlich unterging, aber eigentlich alle kriterien für eine böse sensation erfüllt:

"Ein auch in Deutschland gängiges Schädlingsbekämpfungsmittel verursacht bleibende Schäden am Gehirn von Kindern im Mutterleib. Selbst bisher als ungiftig geltende Mengen des Insektizids Chlorpyrifos greifen bereits in die Gehirnentwicklung der Ungeborenen ein. Sie lassen wichtige Bereiche der Großhirnrinde schrumpfen und führen später zu spürbaren Einbußen in den geistigen Leistungen der Kinder, wie US-amerikanische Forscher im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences berichten. (...)

„Unsere Ergebnisse sind besorgniserregend“, schreiben Virginia Rauh von der Columbia University in New York und ihre Kollegen. Denn das Insektizid Chlorpyrifos werde in der Landwirtschaft weltweit noch immer häufig eingesetzt. In Deutschland wird Chlorpyrifos vor allem im Obst- und Weinbau verwendet, ist aber auch in frei erhältlichen Mitteln zur Bekämpfung von Schädlingen in Haus und Garten enthalten. „So einen Befund muss man daher schon ernst nehmen“, kommentierte Hans Drexler, Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial-, und Umweltmedizin der Universität Erlangen. Die Ergebnisse seien biologisch plausibel. Das Bundesverbraucherministerium wollte sich auf Anfrage der Nachrichtenagentur dapd zunächst nicht äußern.

Viele schwangere Frauen und kleine Kinder in ländlichen Gebieten seien hohen Dosen dieses Mittels ausgesetzt, warnen Rauh und ihre Kollegen. Wahrscheinlich sei die Belastung bei ihnen sogar noch weit höher als bei den in dieser Studie untersuchten Stadtkindern. Über Pestizidreste auf landwirtschaftlichen Produkten gelange das schädliche Mittel aber auch in die Nahrung der breiten Bevölkerung." (...)


und was sind jetzt die genauen folgen?

(...) „Wir haben bei den stärker belasteten Kindern signifikante Anomalien in der Hirnoberfläche gefunden“, berichten die Wissenschaftler. Besonders betroffen seien Gehirnregionen, die für Aufmerksamkeit, Emotionen, Impulskontrolle und soziale Beziehungen zuständig seien. Die Hirnrinde dieser Gebiete sei geschrumpft, die darunter liegende weiße Substanz dagegen erweitert." (...)

"aufmerksamkeit, emotionen, impulskontrolle und soziale beziehungen". tja, die oben erwähnte "große erzählung" müsste auch in bereiche schauen, die auf den ersten blick anscheinend völlig abwegig sind. die ganze geschichte ist jedenfalls ein weiteres indiz für den schon früher hier geäusserten verdacht, dass womöglich nicht nur unsere gestörten sozialen beziehungswelten mittels trauma für nachschub bei den problematischen psychophysischen zuständen sorgen, sondern wir uns alle selbst mittels langsamer vergiftung mehr und mehr in diese pathologischen zonen befördern.

*

in eigener sache: auch passend zum thema wird am freitag der zweite gastbeitrag von
j. erik mertz folgen, bzw. den ersten dann ersetzen. nur als kleine erinnerung an alle interessierten.

Montag, 30. Mai 2011

kontext 75: "werdet zwerge!"

weil´s sehr gut passt und einiges weiterführt, was ich neulich mal angerissen hatte - die "taz-nord" hat einen hamburger literaturwissenschaftler zum zusammenhang zwischen melancholie und utopie interviewt:

"taz: Herr Fuest, was verstehen Sie unter Melancholie?

Leonhard Fuest: Erstmal ist der Begriff konnotiert mit radikaler Traurigkeit und Mattigkeit, Suizidalität. Und es gibt diesen Gedanken, dass der Melancholiker der enttäuschte Utopist ist. Der Melancholiker leidet daran, dass sich das, was er von der Welt erhofft hat, nicht realisieren lässt.

Das Ereignis …

… bleibt aus, genau. Daneben gibt es noch eine auf die Geschichte gerichtete Melancholie, die jüngst sehr wichtig geworden ist. Melancholie als eine Form der nie-an-ein-Ende-gelangenden Trauerarbeit. In den Gedächtnis- und Traumadiskursen seit des Zweiten Weltkrieges ist so die Melancholie als adäquate Haltung, etwa zum Holocaust, erkannt worden.
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Die moderne Übersetzung der Melancholie ist Depression. Was halten Sie davon?

Nichts. An die Depression knüpft sich ein ganz anderer Diskurs. Nach Baudelaire ist die Melancholie die "erlauchte Freundin der Schönheit". Man muss die Melancholie mindestens ästhetisch lesen, man kann sie philologisch und philosophisch lesen, aber natürlich auch politisch.

Wieso politisch?

Der Melancholiker ist der Widerständige. Er ist ein unruhiger Geist, er begnügt sich nicht." (...)


das fasst eigentlich in kurzform bereits alles wichtige zusammen, was es aus meiner sicht zur melancholie zu sagen gibt - und vor allem die abgrenzung zur depression, als klinisch relevantes phänomen, ist durchaus wichtig in einer zeit, da selbst gesunde prozesse von trauer und melancholie - gesund im sinne einer durchaus emotional vernünftigen reaktion auf und eines verarbeitungsversuches von schwer erträgliche(n) realitäten - oft genug gefahr laufen, im negativen sinne von professionellen, die sich offensichtlich mit ihrer eigenen trauer mehr als schwertun, pathologisiert zu werden.

und im gegensatz zur depression, die sich funktional in ihren offenen formen oft genug bis hin zur totalen agonie innerhalb eines lebens steigern kann, ist die melancholie etwas durchaus lebendiges.

(...) "Wie wird man Melancholiker?

Vor allem über die Beobachtung der Welt, beispielsweise das Konsumieren der Medien. Das bedeutet: tägliche Konfrontation mit dem Grauen. Zeitung lesen heißt, an den Rand des Abgrunds treten.

Aber es gibt doch manchmal auch Freudiges zu vermelden.

Ja, aber am Ende läuft es doch hinaus auf das Problem des Nicht-Fertig-Werdens mit jenen Grausamkeiten und Dummheiten, die die Welt zu regieren scheinen.

Was also tun?

Da wird es schwierig. Der Melancholiker ist ja einer, der ein gestörtes Verhältnis zur Tat hat. Der Melancholiker schätzt die Unermesslichkeit des Wissens. Die aber verhindert die Tat, weil dazu immer die Entscheidung nötig ist, das Urteil, jetzt genug zu wissen." (...)


wie schön :-) - mit der letzten antwort wird mein seit langem schwelender verdacht bestärkt, dass weite teile besonders der marxistisch (in allen formen) orientierten linken größtenteils verkappte melancholikerInnen sind - gerade dann, wenn auf "die noch nicht ausreifend gereiften gesellschaftlichen widersprüche" als begründung zum nichtstun verwiesen wird. aber auch dann, wenn quasi fix und fertige "lösungen", gar "pläne" gefordert werden, deren inhalt unbescheidenermaßen nichts geringeres als eine art kompletter instant-alternativentwurf für eine neue gesellschaft sein soll, dürfte sich hinter dieser nicht nur unmöglich umzusetzenden, sondern auch real in ihrer maßlosigkeit lähmenden forderung oft genug jene resigniert-müde bis trotzig abwinkende bittersweetness verbergen, die hierzulande natürlich noch zusätzlich jene aspekte enthält, die fuest weiter oben bezgl. der "niemals endenden" trauerarbeit angesprochen hat (ein aspekt übrigens, den ich anders sehe - eine trauerarbeit, die "niemals" zu enden scheint, hat durchaus pathologische qualitäten und verweist auf steckengebliebenes).

als literaturfreak verweist fuest dann im weiteren verlauf auf sozusagen ästhetische auswege - oder genauer: geistige tricks - für den umgang mit der grundsätzlichen melancholie, bei denen zumindest ich ihm nicht unbedingt folgen möchte. sicher, musik und literatur können zustände erhellen, ausdrücken, anders erfahrbar machen - aber sie können sie nicht verändern. und das ist letztlich - für mich - ein implizite aufforderung, die auch in der melancholie steckt - "du hast keine chance, aber nutze sie".

zur frage, wie er denn einen melancholischen anfall im gefolge einer (persönlichen) krise literarisch "behandeln" würde, gibt er eine vielsagende antwort:

(...) "Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Linderung oder die homöopathische Herangehensweise, über die wir Sie zunächst in den Zustand einer Heilskrise versetzen. Dazu würde ich Ihnen etwa die Aphorismen von Emile Cioran verschreiben unter der Überschrift: "Vom Nachteil geboren zu sein". Da stehen so Sachen wie: "Atmen ist Unzucht". Oder: Man hätte uns ersparen sollen, einen Körper herumzuschleppen, die Last des Ichs reicht vollkommen aus." (...)

auch wenn ich finde, dass "atmen ist unzucht" als aussage durchaus etwas hat - letztlich ist diese ästhetisierte, also im weitesten sinne "geistige", herangehensweise dann eine sehr versteckte art des "mehr desselben", also mehr von dem, was die misere erst auslöst. das ist das logische ergebnis der verherrlichung des "geistigen" in der westlichen kultur, die dann solche sätze wie den letzten erst hervorbringt. das gilt zwar als kunst, ist aber letztlich eine getreue wiederspiegelung des grundsätzlichen objektivistischen wahns innerhalb dieser kultur, in der weiterhin größtenteils und hartnäckig ignoriert wird, dass das umjubelte "ich" westlicher ausprägung eine durch und durch körperliche angelegenheit ist, deren lästige ausprägungen erst durch bestimmte störungen innerhalb der psychophysis entstehen. und diese aufzulösen bzw. zu verändern, ist sicher auch kunst, aber mit einem ganz anderen verständnis vom menschlichen sein.

aber nun endlich zu den zwergen:

(...) "Ich bin Jahrgang 1967, das ist die Generation Golf. Ich finde es gut, dass bei dieser Generation bis heute, obwohl sie jetzt an die Macht geht, bislang, toi, toi, toi, keine Helden dabei sind. Und damit das auch so bleibt, schlage ich vor: Werdet, die ihr seid, werdet Zwerge!

Ist das nicht ein Rückzug?

Nein, ein Auszug. Die Zwerge, das sind in den Mythen die Ausgewanderten. Die Zwerge sind diejenigen, die weggegangen sind, weil die Menschen zu laut waren, zu habgierig, zu hässlich und zu tölpelhaft. Und es sind die, die unterirdisch wühlen, an den Wurzeln graben. Die wahren Radikalen."




*

sehr spannende ansätze zur zwergenhaftigkeit in
spanien:

(...) "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagt ein älterer Mann und setzt sich zu den anderen auf den Boden. Rund 600 Menschen aller Altersgruppen waren am Samstag pünktlich um 12 Uhr auf einem Platz in Lavapiés, dem Herzen des alten Madrid, zur "Volksversammlung" gekommen. Keinen Kilometer entfernt hatten sich weitere 500 Menschen eingefunden. Noch ein Stück weiter 600, im Arbeiterviertel Vallecas weit über 1.000.

Die Liste umfasst 140 Stadtteile, Vororte und Dörfer der Region. "Die Bewegung ist in den Stadtteilen angekommen", stellt eine Sprecherin im Protestcamp auf dem zentralen Platz Puerta del Sol zufrieden fest. (...)

Seit der Platz im Herzen Madrids vor zwei Wochen nach einer Großdemonstration unter dem Motto "Echte Demokratie Jetzt!" besetzt wurde, arbeitet die junge Frau in der "Kommission Ausweitung". Jetzt sitzt sie vor dem Computer und trägt die Früchte ihres Engagements ein. "30 Stadtteile haben ihre Daten bisher übermittelt. Insgesamt waren dort 15.000 Menschen", sagt sie. 25.000 bis 30.000 oder mehr könnten es am Ende gewesen sein. "Nicht bei einer Demonstration, sondern um zu diskutieren und zu planen, wie es weitergeht", sagt einer ihrer Kollegen." (...)


behalten Sie das einfach mal im hinterkopf, wenn spanien in den nächsten tagen medial nur noch im zusammenhang mit gurken genannt wird.

ebenfalls sind in griechenland nicht nur seit tagen plätze besetzt, sondern es finden auch tag für tag bzw. abend für abend große
massendemonstrationen statt, von denen unsere von und für domestizierte gartenzwerge gemachten medien nur wiederwillig notiz nehmen - dabei sind zusehends nicht nur in spanien und griechenland wild werdende zwerge unterwegs. auch in paris gab es gestern auf dem platz vor der bastille eine erste große demonstration von ca. 5000 menschen, die sich ebenso wie etliche in italien und portugal anschicken, ihre mögliche zwergenhaftigkeit zu entdecken.

gesammelte infos gibt´s neben den üblichen verdächtigen namens twitter und facebook ( mit dem ich allerdings größte bauchschmerzen habe), auf einer neuen seite mit dem schönen namen
europeanrevolution.

und das passende wort zum montag zum weitgehenden und fast schon beleidigten linken und linksradikalen schweigen zu all dem, was sich da inzwischen auf vielen europäischen plätzen abspielt, klaue ich heute aus einer
kommentarspalte bei indymedia:

"Ich habe nicht erst seit den Antideutschen den Eindruck, dass die Marginalisierung weiter Teile der Linken nicht einer geschlossenen völkischen Geisteshaltung der Bevölkerung zuzuschreiben ist, vielmehr wird die eigene Marginalität mit einer Exklusivität verwechselt und daher angestrebt. Der Rest: Normalos, Bürgerliche, Wohlfühl-Ökos, Masse....

Diese Borniertheit zeigt, dass die bestehende linksradikale Praxis ein Anachronismus geworden ist. Klar, was ich von so mancher(m) Demokratie jetzt-AktivistIn zu hören bekomme, klingt mitunter naiv. Einig bin ich mit ihnen aber, dass die bestehenden Verhältnisse (so) unerträglich geworden sind, dass man nicht einmal mehr von einer bürgerlichen Demokratie sprechen kann.

Es ist eine liquid modernity, es wird (hoffentlich) keine geschlossenen Weltbilder mehr geben. Entweder wir gehen Bündnisse ein und ertragen die mitunter auch skurrile Vielfalt und Vielstimmigkeit oder wir beobachten von unserem exklusiven, besserwisserischen Standpunkt aus. Wenn es scheitert, werden die Rechtspopulisten durchmaschieren, die Foghs, Le Pens, Orbans, Wilders, Straches, Sarrazins und ihr menschenverachtendes Pack." (...)


strike! auch für "die" linke gilt die aufforderung der überschrift.

Sonntag, 8. Mai 2011

kontext 74: kriegsenkel

passend zum heutigen datum - vor 66 jahren endete der zweite weltkrieg formal; in anderer hinsicht ist er noch lange nicht beendet - bin ich über das obige wort gestolpert, und zwar im zusammenhang mit diesem mir bisher unbekannten gleichnamigen forum:

"Das Forum Kriegsenkel bietet Interessierten und Betroffenen die Möglichkeit, sich auszutauschen und sich über die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges bis in die dritte Generation zu informieren.
Die Generation der circa zwischen 1960 und 1975 geborenen ist nach dem Krieg in Gesellschaften aufgewachsen, die versuchten, den Krieg hinter sich zu lassen, oft mit wirtschaftlichem Ehrgeiz oder auch durch Emigration. (...)

Doch hinter den Fassaden der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Neuorientierungen, der „heilen Welten“, war und ist die Generation der Kriegsenkel umso subtiler von den Wirkungen des Nationalsozialismus und des Krieges betroffen: Denn faschistische Gewalt, Traumata, Ängste, Minderwertigkeitskomplexe und Aggressionen wurden nach dem Krieg weitestgehend dort ausgelebt und weitergereicht, wo die Öffentlichkeit keinen Zutritt hatte: In der Familie.

Über Jahrzehnte wurden und werden familiäre Verstrickungen während der Zeit des Nationalsozialismus tabuisiert und über Kriegserlebnisse geschwiegen. Ein ganzes Kapitel deutscher Familiengeschichte wurde somit auf Jahrzehnte verdrängt. Nicht selten leidet die Kriegsenkel-Generation dadurch an immer wiederkehrenden Blockaden, diffusen Ängsten, dem Gefühl der Heimatlosigkeit, bleiernen Schuldgefühlen oder depressiven Verstimmungen, ohne sich erklären zu können, wo die Probleme ihren Ursprung haben können." (...)


einige der dortigen bisher veröffentlichten
lebensgeschichten haben in mir spontane beklemmungen ausgelöst - ich kenne viel zu viel von dem, was da steht, selbst.

aber für den moment möchte ich mich mit dem hinweis auf dieses forum begnügen, und gleichzeitig nochmals auf die älteren beiträge hier verweisen, die sich ausführlich mit dem thema beschäftigen: das wären einmal die traumageschichte(n) zur (pseudo-)diagnose
"vegetative dystonie", zum anderen die längere mail einer frau, die ebenso wie ich der "dritten generation" angehört und entsprechende biographische erfahrungen machen musste.

Mittwoch, 23. März 2011

kontext 73: der objektivistische wahn in aktion

es reicht, nur diesen einen satz eines kommentars in der "zeit" zu zitieren:

(...) "Dabei heißt das Gebot der Stunde, kühl und nüchtern zu analysieren und sich nicht von Emotionen und Ängsten leiten zu lassen." (...)

= objektivistischer wahn.

(und mir persönlich reicht dieser eine satz auch - würde ich mir den ganzen kommentar vorknöpfen, so würde ich eine nicht druckreife sammlung bösester beschimpfungen und flüche produzieren. das, was da zu lesen ist, kann als verkappter suizid- und gleichzeitig mordwunsch bezeichnet werden, es ist eine derartige propaganda, dass mir die spucke wegbleibt. es erreicht (strukturell!) auch schon mühelos das level der mentalität von endsiegüberzeugten nazis ca. ende 1944.)

und das in den gleichen stunden, in denen die immer noch unvollständigen informationen aus japan immer
böser werden:

(...) "Die IAEA gibt an, dass hohe Werte von Beta-Gamma-Kontaminationen zwischen 16 und 58 km Entfernung vom AKW gefunden wurden. Die Werte liegen zwischen 200.000 und 900.000 Becquerel (Bq) pro Quadratmeter. Die IAEA kann nicht ausschließen, dass solche hohen Werte auch in größeren Entfernungen auftreten. (...)

Zur Bewertung liegt ein Blick zurück auf die Situation nach Tschernobyl nahe. Hot spots wurden von den russischen Behörden damals als lokal begrenzte Kontaminationen von mehr als 555.000 Becquerel pro Quadratmeter definiert. Das ist die Größenordnung, die in Japan zwischen 16 und 58 km von der IAEA gemessen wurde. Die Ausdehnung dieser Zone in Japan ist vergleichbar mit der Sperrzone westlich von Tschernobyl.

Wir haben es jetzt mit dem SuperGau zu tun. Die Vergleiche mit Tschernobyl werden ernst. Weitere Evakuierungsmaßnahmen sind dringend erforderlich. Es wird vor weiterer Bagatellisierung der Kontamination des Meeres gewarnt. " (...)


heute nachmittag gab es dazu noch die information (von "tepco" selbst, die nur das zugeben, was auf keinen fall verheimlicht werden kann), dass über einen kilometer außerhalb der reaktoren
neutronenstrahlung gemessen wurde, was auf die freisetzung von plutonium und/oder uran hindeutet. währenddessen sind die konzentrationen radioaktiven jods im trinkwasser von tokio so hoch, dass babys und kleinkinder nach regierungsanordnung damit nicht mehr in berührung kommen dürfen. ich versuche mir das schon die ganze zeit vorzustellen, wie eltern mit einer solchen situation umgehen - eltern, die zudem wie auch kinderlose gesagt bekommen, dass für erwachsene der konsum "unbedenklich sei"...

"sachlich bleiben", my ass. etwa so: "bitte stellen Sie sich ruhig und gesittet für Ihre vernichtung an", oder was?!? es ist eher an der zeit, endgültig stinksauer zu werden.

Montag, 28. Februar 2011

kontext 72: "wahnsinnige liebe" und die borderline-gesellschaft

ein presseartikel, über den ich eher zufällig gestolpert bin: Wahnsinnige Liebe - droht eine Borderline-Gesellschaft? ich sehe da einerseits ein paar rote fäden zu den themen des gestrigen beitrags zum "freiherrn"; aber natürlich wissen stammleserInnen, dass der begriff der "borderline-gesellschaft" sich schon seit einigen jahren, wenn nicht jahrzehnten, immer mal wieder unheilverkündend irgendwo manifestiert. der artikel bietet nun einmal anhand einer fallgeschichte den versuch, einige der bekannteren symtome der bps nachvollziehbar zu machen, zum anderen werden begleitend einige der aktuelleren forschungsergebnisse und ansätze zum umgang (nicht nur) mit borderline dargestellt. und da findet sich nun ein absatz, der mich gestern hellwach gemacht hat, als ich ihn das erstemal las:

(...) "Nach neuesten Erkenntnissen verschwimmen die Grenzen zwischen den bisher bekannten Persönlichkeitsstörungen. "Dies liegt daran, dass wir inzwischen sehr viel differenziertere Diagnosen stellen können", sagt der Hamburger Psychiater Dr. Birger Dulz, 58 Jahre, Chefarzt der Fachabteilung für Persönlichkeitsstörungen in der Asklepios-Klinik Nord in Ochsenzoll. "Wir stellen immer häufiger fest, dass praktisch kein Betroffener jeweils nur eine einzige Störung aufweist, sondern dass es zwischen Soziopathen, Narzissten oder Borderlinern eine Vielzahl von Überschneidungen in den signifikanten Verhaltensmustern gibt."

na endlich, bin ich geneigt auszurufen - schon immer war die "reine le(e)hre" der diagnostischen kataloge icd und dsm - letzteres als primär psychiatrische klassifikation mehr als erstere in ihrer betonung der strengen trennung zwischen den verschiedenen diagnosen gerade aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen mehr oder weniger realitätswidrig, weil kaum jemand bspw. irgendwann irgendwo jemanden gesehen hätte, der / die als "borderline in reinform" hätte gelten können. nein, gerade im psychiatrischen bereich sind differenzierungen nicht grundlos und zufällig so schwierig vorzunehmen, und kaum jemand der betroffenen rennt mit nur einer einzigen diagnose durch die welt. was aber bemerkenswert ist, auch wenn sich die tendenz bereits vor jahren abzeichnete - nicht nur das borderline-buch von mertz, sondern auch das "handbuch der bl-störungen", an dem dulz übrigens als einer der bekanntesten hiesigen theoretiker und praktiker beteiligt war, beschäftigten sich jeweils speziell mit dem komplex "antisozialität" (beide siehe literaturliste) - , was also bemerkenswert ist, ist das eingeständnis, dass sich in der realität narzisstische und borderline-ps tatsächlich in vielen (nicht allen!) fällen in ihren symptomen und ihrer jeweiligen individuellen prägung kaum bis gar nicht von der antisozialen ps unterscheiden lassen, bzw. teils fließend ineinander übergehen zu scheinen.

"Daher hat sich seit einiger Zeit der übergeordnete Begriff der "Antisozialen Persönlichkeitsstörung" (APS) durchgesetzt. Die am häufigsten vorkommenden Symptome sind eine enorme Wandlungsfähigkeit, pathologisches Lügen sowie fehlendes Mitgefühl und Reue. Antisoziale Menschen sind zumeist sehr impulsiv, gelten sogar als "gerissen" und sind häufig nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Das APS-Syndrom ist durch die Missachtung sozialer Verpflichtungen gekennzeichnet. Oft weisen die Erkrankten auch eine geringe Frustrationstoleranz sowie eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten auf."

ich frage mich beim ersten satz nur, ob der autor dieses artikels da etwas falsch verstanden hat, oder ob das tatsächlich eine neue praxis darstellen sollte? die antisoziale ps ist in den katalogen schon lange enthalten, und - klar ich bin hier aus gründen redundant - nicht automatisch gleichzusetzen mit der "echten", strukturellen soziopathie, auch wenn die oben geschilderten symptome bei letzterer überwiegend auch zu finden sind. aber wenn hier jemand aktuell im psychiatrischen bereich beschäftigte/r mitliest, würde mich eine antwort auf die frage sehr interessieren. werden borderline und narzisstische ps aktuelle wirklich öfter als antisoziale ps geführt?

dann kommt so ein satz, wo ich einfach nur mal wieder mit dem kopf schütteln kann, weil ich mich frage, wie autor und verantwortliche redaktion die einen direkt anspringende sinnwidrigkeit der folgenden aussage kommentarlos durchgehen lassen können:

"Sie sind in der Regel zwar bindungsunfähig, aber dennoch in der Lage, ständig neue Beziehungen einzugehen." (...)

wenn der erste teil stimmt - wofür es viele gründe gibt, das als realität anzunehmen, muss der zweite teil in der form falsch sein. meine korrektur dürfte nicht groß überraschen:

"...aber dennoch in der lage, ständig neue beziehungssimulationen einzugehen."

bekanntlich einer der themenschwerpunkte hier im blog von beginn an, interessierte stöbern bitte im
index (ja, der muss dringend aktualisiert werden, aber es lässt sich zu den fraglichen themen trotzdem etliches finden).

ist´s nur wieder die übliche zu beobachtende scheu, ausdruck von nichtwissen oder zurückschrecken vor den gewaltigen konsequenzen, die es hätte, sich die existenz von großen oder gar allen teilen ihres lebens simulierenden menschen einzugestehen, die zu solchen sätzen wie dem zitierten führt? mertz war bisher der einzige mir bekannte autor, der zumindest fragmentarisch den versuch unternahm, diesen komplex mal näher zu untersuchen. und er erntete bekanntlich bis heute dröhnendes schweigen von der scientific community.

es folgt im artikel weiter eine zwangsweise grob verkürzte charakterisierung der jeweiligen ätiologie der drei persönlichkeitsstörungen, wobei sich da dann bei der antisozialen ps ein deutlicher sachlicher fehler finden lässt:

(...) "Bei Patienten mit klassischen APS-Symptomen vermutet man dagegen inzwischen auch biopsychologische Gründe für die Erkrankung, denn die Betroffenen weisen überproportional oft einen erhöhten Anteil langsamer Gehirnwellen (Alpha-Wellen) auf. Darüber hinaus besitzen sie stärkere Hautwiderstände sowie eine geringere zentral- und periphernervöse Erregung. Das "antisoziale Verhaltensmuster" könnte daher Ausdruck ihrer Suche nach Aufregung sein, um die Aktivität im zentralen und vegetativen Nervensystem zu stimulieren." (...)

der fehler liegt darin, bezgl. narzisstischer und borderline-ps "biopsychologische" (etwas unglückliche wortwahl) gründe nicht zu erwähnen - tatsächlich sind alle beziehungskrankheiten, von denen die drei hier thematisierten zu den fatalsten gehören, nur psychophysisch zu verstehen. auch nix neues, aber in - eigentlich ganz brauchbaren - populistischen artikeln wie diesem ärgern mich solche fehler sehr.

es geht weiter mit der richtigen schilderung der mangelhaften versorgung in den zuständigen psychiatrischen bereichen, um dann am ende tatsächlich die täter-opfer-dialektik zwar nicht direkt zu benennen, aber immerhin zu umkreisen:

(...) "Doch können kranke Menschen (...) wirklich "Täter" sein?" (...)

die frage gehört vom kopf auf die füsse gestellt: gibt es bei verbrechen innerhalb der menschlichen sozialität (und auch bei destruktiven aktionen gewisser art gegen nichtmenschliches leben) wie z.b. vertrauensbrüchen, ausbeutung, mobbing bis hin zu angriffen direkt gegen körperliche gesundheit und leben täter, die überwiegend nicht als krank gelten müssen? meine persönliche antwort ist an vielen stellen im blog nachzulesen.

am ende dann noch eine frage, die wie angedeutet in den 1990ern und in der ersten hälfte des vergangenen jahrzehnts öfter als heute gestellt wurde:

(...) "Leben wir im Bewusstsein von rund zehn Millionen psychisch Kranken in Deutschland bereits in einer "Borderline-Gesellschaft"? Spiegelt das "bruchstückhafte Gefühl der Borderline-Persönlichkeit von Identität und Stabilität" (Jerold J. Kreisman) möglicherweise die Zerschlagung beständiger Werte in unserer Gesellschaft wider?" (...)

wer darauf eine antwort haben will, setzt sich am besten einfach mal in irgendeiner einkaufszone in einer großstadt ein paar stunden hin und beobachtet nur die mitmenschen - wie sie sich bewegen, was sie für mimiken zeigen, etc.

und stellt sich danach die frage, was er oder sie denn als "beständige werte" ansieht. denn deren defintion ist mit entscheidend dafür, was für antworten am ende herauskommen.

Sonntag, 14. November 2010

kontext 71: der aufruf "zur psychosozialen lage in deutschland"

das erste, was ich gestern dachte, als ich von der existenz dieses aufrufes erfuhr, war "besser spät als nie". ich habe so eine art öffentlicher stellungnahme schon seit jahren erwartet und für überfällig gehalten. denn egal, ob es sich um suizide und andere durch antisoziale staatliche politik produzierte todesfälle unter hartz-IV-betroffenen handelt oder die zu beobachtenden vereinsamungsprozesse in so ziemlich allen "westlich" orientierten gesellschaften; ob es sich um die spätestens dieses jahr restlos kenntlich gewordenen gewaltstrukturen in totalen institutionen dreht oder aber die schlagzeilenträchtigen spitzen von familiärer gewalt gegen kinder; von all dem sonstigen, was ich hier im blog sonst so bezgl. psychophysischer störungen gesammelt habe, gar nicht zu reden - es ist immer nur die spitze eines eisbergs, dessen großer unter wasser treibender teil immer noch von schweigen und nichtwissen(wollen) geprägt ist.

ich hätte ja darauf getippt, dass so ein aufruf zunächst explizit aus der psychotraumatologie kommen würde, weil sich hier zumindest seit jahren belege dafür finden, dass international vielen in diesem bereich tätigen zumindest die gesellschaftliche bedingtheit so ziemlich aller relevanten traumatischen störungen immer mehr bewußt ist. aber klar ist auch, dass eigentlich alle im psychosozialen bereich aktiven mit den folgen einer situation konfrontiert sind, die ich vor jahren einmal
so beschrieben hatte:

"bei einer, na sagen wir mal ansteckenden seuche in derartigen dimensionen würden wir schon längst im medizinischen katastrophen- und ausnahmezustand leben. faktisch und real ist dieser zustand längst vorhanden, allerdings hervorgerufen durch unsere eigene "lebens"weise."

von daher ist die jetzige initiative bzw. ihre quelle nicht unbedingt verwunderlich.

*

21 chefärzte (es sind tatsächlich alles männer) von psychosomatischen fachkliniken quer durchs land haben also folgenden
aufruf formuliert und unterschrieben:

"Wir sind Fachleute, die Verantwortung für die Behandlung seelischer Erkrankungen und den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft tragen.

Wir möchten unsere tiefe Erschütterung über die psychosoziale Lage unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen.

In unseren Tätigkeitsfeldern erfahren wir die persönlichen Schicksale der Menschen, die hin­ter den Statistiken stehen.

Seelische Erkrankungen und psychosoziale Probleme sind häufig und nehmen in allen In­dustrienationen ständig zu.

Circa 30 % der Bevölkerung leiden innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen.

Der Anteil psychischer Erkrankungen an der Arbeitsunfähigkeit nimmt seit 1980 kontinuierlich zu und beträgt inzwischen 15 – 20 %.

Der Anteil psychischer Erkrankungen an vorzeitigen Berentungen nimmt kontinuierlich zu. Sie sind inzwischen die häufigste Ursache für eine vorzeitige Berentung.

Psychische Erkrankungen und Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen nehmen kontinuierlich zu.

Psychische Störungen bei älteren Menschen sind häufig und nehmen ständig zu.

Nur die Hälfte der psychischen Erkrankungen wird richtig erkannt, der Spontanverlauf ohne Behandlung ist jedoch ungünstig: Knapp 1/3 verschlechtert sich und knapp die Hälfte zeigt keine Veränderung, chronifiziert also ohne Behandlung.

In allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten und in allen Nationen zunehmenden Wohlstands nehmen seelische Erkrankungen zu und besitzen ein besorgniser­regendes Ausmaß.

Die gesellschaftlichen Kosten der Gesundheitsschäden durch Produktivitätsausfälle, medizi­nische und therapeutische Behandlungen, Krankengeld und Rentenzahlungen sind enorm.

Eine angemessene medizinische und therapeutische Versorgung ist weltweit nicht möglich. Trotz der kontinuierlichen Zunahme an psychosozialen medizinischen Versorgungsangebo­ten ist die Versorgung auch in Deutschland angesichts der Dynamik und des Ausmaßes der seelischen Erkrankungen nur in Ansätzen möglich."


im großen und ganzen würde ich das bis hierhin unterschreiben; einmal die fragen unberücksichtigt gelassen, die sich hinsichtlich der verwendeten diagnostischen modelle gerade im psychiatrisch-psychologischen bereich stellen, zum anderen auch die damit verbundenen fragen nach der tatsächlichen anzahl von psychophysischen störungen bzw. derem konstatierten ansteigen vernachlässigend. auf jeden fall als fakt lässt sich die tatsache der - weltweit - nicht möglichen "angemessenen medizinischen und therapeutischen versorgung" ansehen.

"Die Ursache dieser Problemlage besteht nach unseren Beobachtungen in zwei gesellschaftli­chen Entwicklungen:

1. Die psychosoziale Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress, wie z. B. Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzun­gen, berufliche und persönliche Überforderungen, Konsumverführungen, usw. nimmt ste­tig zu.

2. Durch familiäre Zerfallsprozesse, berufliche Mobilität, virtuelle Beziehungen, häufige Tren­nungen und Scheidungen kommt es zu einer Reduzierung tragfähiger sozialer Beziehun­gen und dies sowohl qualitativer als auch quantitativer Art.

Die Kompetenzen zur eigenen Lebensgestaltung, zur Bewältigung psychosozialer Problem­lagen und zur Herstellung erfüllender und tragfähiger Beziehungen sind den Anforderungen und Herausforderungen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen bei vielen Menschen nicht gewachsen.

Angesichts der vorherrschenden gesellschaftlichen Orientierung an materiellen und äußeren Werten werden die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte und der Sinnverbunden­heit dramatisch unterschätzt."


das ist, so im allgemeinen gelassen formuliert, auch im großen und ganzen richtig. zu dieser ursachenforschung ist unter dem punkt
Unser Anliegen auf der seite noch folgendes zu lesen:

(...) "Wir glauben nicht, dass ein bestimmter Sektor der Gesellschaft, wie z. B. die Schule, die Familie, die Politik oder die Wirtschaft dafür verantwortlich ist, sondern dass es sich um eine allgemeine und grundlegende Entwicklung der modernen Gesellschaften handelt, die bisher nicht angemessen erkannt wird. Der Aufruf möchte dies bewusst machen und ist nicht als Provokation gemeint." (...)

daraus lässt sich auch der umkehrschluß ziehen, dass alle bereiche der gesellschaft gleichzeitig an diesem selbstproduzierten desaster beteiligt sind. andererseits: wenn im aufruftext explizit die "Bedeutung des Subjektiven" unterstrichen wird, so fehlt hier das gegenstück: die tatsächliche bedeutung des kultes der objektivität, des fetischs des quantifizierbaren, die heilige kuh der "leistung", die explosion des virtuellen und simulativen, sowie die inzwischen völlig zusammengeschrumpelte und extrem reduktionistische version der öffentlich bis zum erbrechen verlautbarten einzigen "ziele" des "offiziellen" politikbetriebs: konsum, arbeit, wohlstand, bruttosozialprodukt! und diese offiziellen (alp-)träume bezgl. sinn und inhalte menschlichen lebens sind nun ebenso wie die dazugehörige praxis in der realität untrennbar mit "der Wirtschaft" verbunden, genauer gesagt mit jener struktur, die auch als sozioökonomische matrix bezeichnet werden kann und im weitesten sinne als real gewordener ausdruck des kapitalistischen systems angesehen werden kann. das aber sollte dann auch so benannt werden.

es blieb bis heute bspw. einem konservativen leitmedium, nämlich der "faz" vorbehalten, bereits im jahre 2004 implizit die verblüffenden gemeinsamkeiten des menschenbildes, welches hinter den "hartz-reformen" steckt mit einigen zentralen charakteristika der borderline-persönlichkeitsstörung (und auch anderer beziehungskrankheiten) aufzuzeigen:

„Ökonomisch eigenverantwortlich betrachtet, zahlt es sich da für Langzeitarbeitslose und solche, die es werden können, nicht mehr aus, anders als im Augenblick und allein zu leben. (...) Alles Geld, das in einer ‚Bedarfsgemeinschaft‘ von Eltern, Kindern, Gatten oder Lebensgefährten verdient wird, geht von dem eigenen Anspruch ab. So kommen Ehen, Partnerschaften, Groß- und Kleinfamilien, Patchworkverhältnisse aller Art auf den Prüfstand (...). Das Familienmodell zahlt sich nur aus, wenn noch kleine Kinder im Spiel sind.“ (...) "Hartz IV fördert die zeitliche und räumliche Zersplitterung der Gesellschaft. Seine Zielvorstellung ist die Monade. Der Menschentypus, den Hartz IV favorisiert, ist der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht.“

ich hatte das
damals u.a. so kommentiert:

"nicht anders als im augenblick und alleine"...."zersplitterung"...."monade"...."einzelkämpfer"

was für ein typ mensch wird da gefördert? welche eigenschaften sind z.b. gefragt, wenn gefordert wird, für die rein ökonomische existenz von heute auf morgen notfalls den ort zu wechseln, unter hinnahme des verlustes aller sozialen bezüge (was übrigens durchaus als traumatisch im strengen sinne erlebt werden kann)? welche psychophysischen züge sind dafür wohl am nützlichsten?

beziehungsfähigkeit z.b. wohl kaum - die dürfte für derlei eher hinderlich sein." (...)

der heutzutage allseits - oder besser, von unseren herrschenden sog. "eliten" - geforderte flexible, mobile, sich-selbst-managende mensch, der sich das prinzip "ich-ag" zum lebensmotto macht - und (sich) inszeniert, simuliert, anpassungsfähig an alle möglichen realitäten ist - aber das alles, ohne einen tatsächlichen bezug zu diesen realitäten zu besitzen - denn das würde diese im modernen kapitalismus geforderten eigenschaften grundsätzlich sabotieren - soziale bezüge, "verwurzelung" an einem als zuhause empfundenen ort, ein lebensrhytmus nach der eigenen (körper-)zeit und anderes - all das ist letztlich und in seiner konsequenz inkompatibel mit den anforderungen (ich würde eher sagen: zumutungen), die der offizielle westliche lebensstil stellt."


*

wenn die initiatoren wie oben zitiert formulieren, dass ihr aufruf "nicht als provokation" gemeint ist, frage ich mich: warum nicht? das ist eine haltung, die sicherlich (wenn auch nicht immer und in jedem fall) einem therapeutischen setting angemessen ist, nicht jedoch einem aufruf, der aufgrund seines themas gar nicht anders als auch politisch sein kann. kurzgefasst: die psychosoziale situation einer gesellschaft spiegelt auch immer ihre grundsätzlichen strukturen wieder, ob es sich nun um politische, ökonomische, kulturelle oder sonstige handelt. und in allen bereichen lassen sich nicht erst seit gestern teils rasante verfallsprozesse beobachten, von denen der wahrscheinlich fatalste den allgemeinen verlust an fähigkeiten betrifft, die für funktionierende soziale beziehungen die vorbedingung bilden. die folgen und symptome sind dann u.a. genau das, was die ärzte in ihren kliniken und die inzwischen mehr als tausend weiteren unterzeichnerInnen des aufrufs in ihrer beruflichen praxis täglich erleben (und was sie übrigens zu einem nicht geringen teil auch selbst krank werden lässt - "burn out" ist gerade in den sog. sozialen berufen inzwischen zu einer wahren epidemie geworden).

ich finde es also durchaus einen fehler, auf die - meiner meinung nach letztlich eh unvermeidliche - klare benennung von verantwortlichkeiten und auch verantwortlichen zu verzichten und auch den zugrundeliegenden grundsätzlichen konflikten, die sich hinter der skizzierten situation verbergen, so ausweichend zu begegnen. wobei hier auch vermutlich eine rolle spielt, dass sich die position eines leitenden chefarztes einer klinik durchaus zu den "elitären" positionen rechnen lässt - von daher mag hier der satz gelten "das sein bestimmt das bewußtsein".

meine beschriebenen ansatzweisen bauchschmerzen werden beim letzten teil des aufrufs - in gewisser hinsicht nicht explizit als solche benannte forderungen, aufgelistet in neun punkten - dann noch stärker:

"Wir benötigen einen gesellschaftlichen Dialog über die Bedeutung des Subjektiven, des See­lischen, des Geistig-spirituellen, des sozialen Miteinanders und unseres Umgangs mit Problemen und Störungen in diesem Feld.

Wir benötigen einen neuen Ansatz zur Prävention, der sich auf die grundlegenden Kompe­tenzen zur Lebensführung, zur Bewältigung von Veränderungen und Krisen und zur Ent­wicklung von tragfähigen und erfüllenden Beziehungen konzentriert.

Wir benötigen eine Gesundheitsbildung, Erlernen von Selbstführung und die Erfahrung von Gemeinschaft schon im Kindergarten und in der Schule, z. B. in Form eines Schulfaches "Gesundheit".

Wir benötigen eine ganzheitliche, im echten Sinne psychosomatische Medizin, die die ge­genwärtige Technologisierung und Ökonomisierung der Medizin durch eine Subjektorientie­rung und eine Beziehungsdimension ergänzt.

Wir benötigen eine Wirtschaftswelt, in der die Profit- und Leistungsorientierung ergänzt wird durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Tätigen.

Wir benötigen einen integrierenden, sinnstiftenden und soziale Bezüge erhaltenden Umgang mit dem Alter.

Wir benötigen eine das Subjektive und Persönliche respektierende, Grenzen achtende und Menschen wertschätzende Medienwelt.

Wir benötigen ein politisches Handeln, das bei seinen Entscheidungen die Auswirkungen auf das subjektive Erleben und die psychosozialen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen reflektiert und berücksichtigt.

Wir benötigen mehr Herz für die Menschen."


punkt1: ja. 2: ja mit einschränkungen, weil hier nicht klar ist, welche arten von prävention nun denn genau gemeint sind. 3: das hätte ich bereits in meiner schulzeit sinnvoll gefunden. kann grundsätzlich eine positive sache sein, wenn sie denn nicht gerade in die klauen von organisationen wie bspw. der "insm" fällt. punkt 4: ja, wobei ich mich frage: warum nur "ergänzt"?

dann aber die nummer fünf: "Wir benötigen eine Wirtschaftswelt, in der die Profit- und Leistungsorientierung ergänzt wird durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Tätigen."

das kann ich so wie da geschrieben als nichts anderes als die forderung nach quasi simulierter "humanität" am arbeitsplatz interpretieren. das ist einerseits logisch - solange die "profit- und leistungsorientierung" bzw. die dahinterliegenden systemimmanenten zwänge u.a. der profitakkumulation nicht angekratzt werden, ist eine echte verbesserung der zustände in der sog. arbeitswelt (wie auch anderswo) schlicht nicht möglich und kann demnach nur in simulierter art und weise durchgeführt werden - ein als-ob, geschuldet der illusion, als ob sich die authentischen menschlichen bedürfnisse in einer kapitalistischen ökonomie auch nur ansatzweise befriedigen lassen. andererseits karikiert das in gewisser weise den gesamten aufruf in einer unakzeptablen art und weise. klingt ein bißchen so, als hätten hier gläubige peinlich darauf geachtet, ja nicht ihre götter zu erzürnen. diesen punkt empfinde ich als echtes ärgernis.

punkt 6: ja. für sieben und acht gilt hingegen modifiziert die gleiche kritik, die ich oben geschrieben habe - "die medienwelt" zb. wird sich solange einen dreck um respekt und grenzen scheren, solange das (quantitative) kriterium "auflage / einschaltquote" für das eigene ökonomische überleben entscheidend ist. und ebenfalls ist das "politische handeln" heutzutage bereits derart korrumpiert und mit mafiösen strukturen verstrickt, dass es das im aufruf gewünschte weder erfüllen kann noch - und das ist entscheidender - überhaupt will. auch in diesem punkt ist viel über mögliche illusionen bezgl der realen gesellschaftlichen verhältnisse seitens der verfasser herauszulesen.

beim letzten punkt ließe das herz vielleicht als synonym für liebesfähigkeit begreifen, und in dieser bedeutung ein uneingeschränktes ja.

*

vielleicht ist es vor dem obigen bezeichnend, dass in der
kommentarsektion zum aufruf an vielen stellen weitergedacht und grundsätzlicher benannt wird, was eigentlich schief läuft. so im kommentar 63 zb.:

"Zuende gedacht ist das die Frage nach einer anderen Gesellschaft. (...) Menschliches Leben bedarf einer Umwelt, wir haben eine geschaffen, die den Dingen und dem Geld dient, und einigen wenigen, die davon profitieren." (...)

ausführlicher möchte ich kommentar 28 zitieren, der einiges auch von meiner kritik sowie der fälligen selbstbefragung des psychosozialen bzw. psychiatrischen bereiches auf den punkt bringt:

"Der Aufruf ist überfällig und wichtig!!! Ich bin selbst Betroffener, war 16 Jahre lang erfolgr. Manager. 1999 kam das Burn-Out. (...)

Ich habe (...) wieder zu meinen Gefühlen gefunden, welche in der Wirtschaft Fehl am Platze sind. Die wiedererlangte Sensibilität hat jedoch die Rückkehr in den Beruf vereitelt, wo Ellenbogen gefragt sind. Deshalb betrachte ich ganzheitliche psychosom. Behandlungsansätze mit einer gewissen Ambivalenz. Zwar ist dieser Ansatz aus humanistischer Sicht richtig, doch unsere Wirtschaft ist nicht human.

Ein intern. renommierter C4 Prof. f. Psych. erklärte mir, dass die Psych. vor einem Dilemma steht, und Menschen eigentlich zu eiskalten Wesen therapieren muss, wenn sie im schnelllebigen Alltag des gegenwärtigen Paradigma sozialer Atome bestehen sollen. Unsere Hirnstruktur ist jedoch dafür nicht geschaffen, weshalb unweigerlich psychosom. Erkrankungen zunehmen.

Es braucht also ein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsparadigma, welches weniger Druck auf Menschen ausübt." (...)


dem ist grundsätzlich nichts hinzuzufügen.

*

trotz aller eben dargestellten einschränkungen und kritik: ich halte diesen aufruf dennoch für wichtig, weil er mithelfen könnte, längst überfällige diskussionen zu initiieren. und darum empfehle ich auch seine weiterverbreitung.

Sonntag, 17. Oktober 2010

kontext 70: das interview mit temple grandin in der "sz"...

... lässt sich ganz gut als ergänzung zu den passagen zu ihr lesen, die hier stehen. die "süddeutsche" führt in das interview u.a. mit folgenden worten ein:

(...) "Grandin ist Autistin. Und sie ist ein sogenannter Savant, sie hat eine Inselbegabung, wie man sagt. Ihre Insel sind die Tiere, in die sie sich hineinfühlen kann wie niemand sonst. Grandin ist Professorin für Tierwissenschaften an der Colorado State University. Vor allem aber berät sie Viehzuchtbetriebe. Inzwischen laufen die Hälfte aller Rinder in den USA durch Zuchtanlagen und Schlachthöfe, die Grandin entworfen hat; manche nennen sie deshalb »Cow Killer«. Grandin hat nichts gegen das Schlachten, aber sie will, dass die Tiere keine Schmerzen leiden. (...) Das Time Magazine zählte Temple Grandin im April zu den 100 einflussreichsten Menschen weltweit" (...)

etliches, was im interview gesagt, ist so ähnlich oder ausführlicher auch schon im oben eingangs verlinkten blogbeitrag zu lesen. trotzdem zitiere ich im folgenden ein paar passagen, weil sie deutlicher machen können, was ich mit dem u.a. durch die url fundamental mit dem blog verbundenen begriff "autismuskritik" eigentlich verbinde.

*

(...) "Wissenschaftler streiten sich bis heute, was Autismus eigentlich ist.

Stellen Sie sich mein Gehirn wie einen riesigen Bürokomplex vor. Normalerweise sitzen da oben ein Vorstandsvorsitzender und sein Team, darunter Abteilungen für Finanzen, Buchhaltung, Personal, Recht und so weiter. All diese Abteilungen kommunizieren ständig miteinander über E-Mail, Telefon, Fax, Konferenzen. In meinem Kopf sind einige dieser Kabel nicht angeschlossen. Die autistische Hirnrinde ist oft stark überwachsen, das kann man mit einem Kabelsalat vergleichen, in dem es dann zu Kurzschlüssen kommt. Dass es so viele verschiedene Arten von Autismus gibt, liegt daran, dass immer andere Abteilungen angeschlossen sind."


die metapher eines bürokomplexes für das menschliche gehirn mag zwar auf den ersten blick einleuchtend erscheinen, ist aber bei näherer betrachtung der bisher bekannten vorgänge im hirn vor allem eines - unterkomplex. fehlende oder defekte neuronale verbindungen sind vielleicht in besonderen und spezifischen einzelfällen mit nicht angeschlossenen kabeln zu vergleichen, aber da das ganze gehirn eher als hochgradig und mehrdimensional vernetztes gebilde mit gewissen redundanzen und kompensatorischen fähigkeiten zu verstehen ist, gilt hier durchaus der satz: das ganze ist mehr als die summe seiner teile.

"Was bedeutet das bei Ihnen?

Einige Dinge kann ich einfach nicht besonders gut. Die Grafikabteilung in meinem Gehirn ist zum Beispiel überbeschäftigt, die Abteilung für Sozialverhalten aber unterentwickelt. Ich musste erst lernen, mit Menschen umzugehen.

Wie haben Sie das geschafft?

Indem ich beobachte, wie andere Menschen miteinander umgehen, sie wie mit einem Videorekorder im Gehirn aufzeichne und dann bei Bedarf das richtige Verhalten abspiele. Worte sind wie eine Fremdsprache für mich. Ich übersetze alles, was ich höre und lese, in Bilder und in Farbfilme mit Ton. Mit Menschen umzugehen ist für mich wie eine Rolle in einem Drehbuch. Je mehr Filme ich in meiner Gehirnbibliothek gespeichert habe, desto normaler verhalte ich mich."


wie auch in späteren abschnitten des interviews immer wieder deutlich wird, stützt sich grandin nicht nur in bezug auf ihre konstruktion bzw. simulation dessen, was sie als soziales leben wahrnimmt, auf denjenigen modus des menschlichen bewusstseins, den ich in anlehnung an das modell von j. erik mertz als
objektivistisch bezeichne - in jedem menschen vorhanden und nicht per se krankhaft / pathologisch, kann er unter bestimmten umständen jedoch entgleiten und sich in einer monopolposition "aufblähen". dies vor allem dann, wenn elementare wahrnehmungsfähigkeiten geschädigt oder komplett ausgefallen sind. eine andere variante des gemeinten ist in der hier vorhandenen fallgeschichte einer frau nachzulesen, die aufgrund eines schadens ihrer propriozeptiven wahrnehmung ebenfalls dazu gezwungen ist, die ausgefallenen funktionen quasi konstruktivistisch zu ersetzen und verlorene fundamentale bewegungsabläufe per bewusster simulation zu kompensieren. das macht die frau in diesem falle nicht zu einer autistin (weil es sich hier speziell um eine eingegrenzte wahrnehmungsfunktion handelt) , zeigt jedoch ganz gut das prinzip auf, welches bei den meisten varianten des autismus eine rolle spielen dürfte. und ebenfalls zeigt die geschichte auch den blinden fleck im selbstverständnis bei grandin: sie focussiert sich regelmässig aufs gehirn, obwohl letzteres nur einen teil des gesamten körpers darstellt, und auch das autistische geschehen lässt sich nur ganzkörperlich verstehen.

"Sie sagen, Autismus sei eine Art Zwischenstation auf dem Weg vom Tier zum Menschen. Wie meinen Sie das?

Autistische Inselbegabte können sich zum Beispiel optische Details perfekt einprägen, etwa wenn sie mit einem Hubschrauber über ein Gebiet fliegen – wie Zugvögel. Andere haben ein unfehlbares Gedächtnis – wie ein Hund. Manche Savants haben einen IQ wie geistig Behinderte, aber sie können Dinge tun, die normale Menschen nicht können – wie sehr sie es auch versuchen. Ich kann zum Beispiel ganze Zuchtanlagen in meinem Kopf probelaufen lassen, in dreidimensionalen Bildern. Andere brauchen dafür teure Animationen und kriegen es dann doch nicht so gut hin."(...)


gerade die savants (= inselbegabte) zeigen eindrucksvoll das kompensatorische prinzip auf: bestimmte objektivistische fähigkeiten (umfassende datensammlungen, perfekte konstruktionsentwürfe etc.) versuchen verlorengegangene ganzheitlich-körperliche wahrnehmungsprozesse zu ersetzen. wobei ich dieses prinzip eher für einen fluch denn einen segen halte, obwohl man das als bewundernswert kreativen versuch unserer körperpsyche ansehen könnte, auch unter widrigen bedingungen das eigene überleben funktional zu organisieren. aber der preis dafür ist ein hoher.

*

(...) "Sie können denken und fühlen wie ein Tier. Und trotzdem verbringen Sie Ihr Leben damit, Schlachthäuser zu entwerfen oder die Hühnerfabriken von McDonalds zu kontrollieren.

Manchmal weine ich den ganzen Weg vom Schlachthof bis zum Flughafen. Als ich das erste Mal eine Hühnerfarm besucht habe, war es Aaaaaaaahhhh! Viele Hühner hatten gebrochene Flügel, die Arbeiter haben sie einfach an einem Flügel gepackt und herumgeworfen. Die alten Legehennen, die schon kaum mehr Eier legen konnten, waren ganz kahl, manche wurden einfach in den Müll geworfen. "Was glauben Sie, was Ihre Kunden sagen würden, wenn sie das hier sähen?" habe ich den Direktor gefragt. Heute haben weniger als fünf Prozent der Hühner gebrochene Flügel.

Sind Sie Vegetarierin?

Nein.

Haben Sie einmal daran gedacht, Tierärztin zu werden statt Schlachthof-Designerin?

Sie können ein System ablehnen, damit gewinnen Sie aber nichts. Oder sie arbeiten an dem System und machen es besser. Wir müssen diesen Tieren ein anständiges Leben bieten. Viele Leute vergessen, dass die Wildnis auch ziemlich hart ist. Ein Hirsch, dem ein Löwe die Eingeweide herausreißt, stirbt sehr brutal. Ein moderner Schlachthof bedeutet in vieler Hinsicht einen einfacheren Tod. Meine Schlachthäuser sind so konstruiert, dass die Tiere nicht wissen, was mit ihnen passiert. Da gibt es keine Angst, keine Panik." (...)


bei ihren aussagen zu ihrem eigentümlichen beruf fühle ich mich regelmässig eigenartig berührt, und zwar eher unangenehm berührt - das eine wäre das gesamte thema des menschlichen fleischkonsums, der - und das dürfte inzwischen schwer zu bestreiten sein - insgesamt eher negative folgen für die menschliche spezies nach sich zieht. grandin focussiert sich jedoch ausschließlich auf die art des todes innerhalb der industriellen fleischproduktion - ihre absicht dabei kann man zwar aus einer beschränkten perspektive als löbliches unterfangen sehen, andererseits schimmert in ihrer zitierten frage an den direktor oben auch durch, dass sie sich über die geschäftsschädigenden aspekte des umgangs mit den tieren durchaus im klaren ist und das als hebel verwendet.

ich will ihr nicht ihre geschilderte reaktion auf den schmerz der tiere absprechen, halte ich es jedoch - ebenso wie im falle ihrer in einem nicht zitierten teil angesprochenen wut - für sehr wahrscheinlich, dass die geschilderten emotionen nicht eins zu eins in einen nichtautistischen kontext übersetzt werden dürfen. und zwar deshalb nicht, weil eine umfassende autistische existenz, wie sie temple grandin verkörpert, mit einer funktionell qualitativ anderen "psycho-logik" einhergeht als bei den "NTs" ("neurologisch typischen"; autistischer begriff für nichtautistische menschen). unter anderem an diesem punkt liegt auch die quelle für eine verständnisschwierigkeit, die in der vergangenheit hier schon zu auseinandersetzungen mit sich selbst als autistisch definierenden kommentatoren geführt hat: und zwar benutze ich den begriff autismus hier im blog in einem erweiterten sinne, um bestimmte funktionsgleichheiten deutlich zu machen, die sich sowohl bei den klassisch autistischen zuständen wie auch beim spektrum der persönlichkeitsstörungen bis hin zur strukturellen soziopathie finden lassen. und letztere ist es vor allem, auf die die autismuskritik zielt. bei der soziopathie - es fehlt immer noch ein umfassender überblick, obwohl sich etliche beiträge bereits mit verschiedenen aspekten dieser fatalsten aller psychophysischen störungen beschäftigt haben, suchen Sie im index unter sozio- / psychopathie bzw. als-ob-persönlichkeiten - finden sich ebenfalls die thematisierten konstrukte und simulationen objektivistischer herkunft sowie eine weitgehende bis totale unfähigkeit zu authentischen beziehungen. trotzdem gibt es einige qualitative unterschiede zum klassisch autistischen spektrum wie auch zu den restlichen persönlichkeitsstörungen, aber aufgrund des bereiches der störungen eben auch gemeinsame merkmale bis hin zu fliessenden grenzen in einigen punkten.

jedenfalls muten für mich persönlich ihre motivationen bei ihrem beruf sehr zwiespältig an - eine seltsame art des mitempfindens, welches im tod keinerlei problem sieht. und ihren vergleich mit den durchaus aus menschlicher sicht brutal anmutenden vorgängen in der freien natur halte ich für unzulässig, weil es innerhalb der menschlichen sphäre eben auch - zumindest theoretisch - wahlmöglichkeiten gibt, die sowohl raubtiere als auch ihre opfer nicht haben.

zum punkt "umarmungsmaschine":

(...) "Wie sieht die aus?

Die erste habe ich aus Sperrholzplatten zusammengeschraubt, meine jetzige ist ein Luxusmodell mit Schaumkissen. Ich krieche auf allen vieren in die Maschine, mit den Zehen kann ich den Druck steuern. Da bleibe ich eine halbe Stunde drin, danach bin ich den ganzen Tag entspannter. Meine Lehrer und meine Mutter wollten sie mir wegnehmen, weil sie dachten, ich spinne. Aber ich war so süchtig nach diesem Gefühl – ich wollte sie um nichts in der Welt wieder hergeben.

Heute gehört eine solche Stimulierung bei autistischen Kindern zur Therapie, auch bei hyper-nervösen Tieren wie Pferden.

Als ich jünger war, wollte ich ganz starken Druck, fast so sehr, dass es wehtat. Dann ging es immer sanfter und sanfter. Die Maschine macht mich zu einem netteren Menschen – ohne sie wäre ich ein harter, kalter Fels.

Sie meinen, sie hilft Ihnen, menschlich wärmer zu sein?

Ich brauchte diese körperliche Erfahrung, um Zuneigung empfinden zu können." (...)


dazu jetzt eine anmerkung von mertz:

(...) "Eine Maschine kann als mechanistisch totes und anonymes Objekt die (inter-)personale Erfahrung von Umarmung, Gehaltenwerden, Liebe, behaglichem Kontakt, Geborgenheit und körperlicher Zuwendung in keiner Weise und unter gar keinen Umständen erzeugen. Diese Gefühle, die durch eine Maschine erzeugt wurden, lassen sich zwar ohne weiteres auf Menschen `übertragen´ (T. Grandin), haben aber mit den (... ) Erfahrungen, die mit (...) lebendig (!) körperlicher Zuwendung assoziiert sind, absolut nichts zu tun. Der Autorin unterläuft hier ein typisch autistischer Fehler:

Die Fundamentalkategorien des Lebendigen und des absolut Nichtlebendigen bzw. mechanistisch Toten, des Subjektiven und des Objektiven, des Personalen und des Anonymen werden in einen Topf geworfen. Die Erfahrung mit mechanistisch toten und anonymen Objekten kann keine personale Erfahrung generieren." (...)

(j. e. mertz, "borderline...", siehe literaturliste, s. 208/209)


so ist es. wer das nicht glaubt, möge es selbst ausprobieren. was grandin hier beschreibt, ist die objektivistisch konstruierte (in doppelter hinsicht, einmal als maschine und einmal innerhalb ihrer wahrnehmung) simulation von zuneigung - das die maschine auf dieser ebene auch prinzipiell austauschbar ist (wenn sie kaputt geht, lässt sich eine andere bauen), macht den unterschied zur authentischen menschlichen nähe nochmals deutlich. und der interviewerin scheint auch nicht der widerspruch zwischen grandins diesbezgl. aussagen und ihren später folgenden aufgefallen zu sein, wo es um reale zwischenmenschliche, auch körperliche kontakte, geht - die sind für grandin eher unerträglich und lösen fluchtreflexe und u.u. auch wut aus.

(...) "Sie leben allein auf einer Ranch in Colorado. Haben Sie sich nie verliebt?

Nein. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Warum nicht?

Bis heute verstehe ich nicht wirklich, was persönliche Beziehungen bedeuten. Ich bin Single geblieben, weil es mir hilft, diese vielen komplizierten sozialen Situationen zu vermeiden, mit denen ich überfordert bin. Mir fehlt einfach der Zugang. Ein Sonnenuntergang berührt mich nicht in der Weise, wie er andere berührt, ich kann nur intellektuell erschließen, dass er schön ist." (...)


"intellektuell erschließen" = objektivistisch (re-)konstruieren. und die fehlende berührung ist die zwangsläufige folge weitgehend lahmgelegter fundamentaler subjektiver wahrnehmungsfähigkeiten. gerade solche prozesse laufen auch bei soziopathen nach allem, was wir heute wissen können, in sehr ähnlicher, wenn nicht funktional gleicher weise ab.

(...) "Sind Sie traurig, weil das in Ihrem Leben fehlt?

Ich habe andere Dinge, die sonst niemand hat. Zum Beispiel kann ich Probleme lösen. Die Menschheit braucht auch Menschen, die Probleme lösen." (...)


interessante aussage am schluß - lässt sich auch auf diesbezgl. gedanken hinsichtlich der möglichen evolutionären rolle von soziopathen übetragen, stichworte "krieger" und grenzverletzer, in freundlicherer art: grenzenverschieber. ansonsten fallen mir dazu noch die folgenden gedanken zum thema
autismus und evolution ein. die frage bleibt aber, ob bestimmte probleme nicht erst durch grundsätzlich autistische modi erzeugt werden, gerade im sozialen bereich. meine antworttendenz dazu dürfte klar sein.

*

abschließend noch das folgende: temple grandin dürfte durchaus - von ihren simulativen fähigkeiten bzw. dem grad ihrer inneren organisierung her - nicht repräsentativ für die gesamtheit aller autistischen menschen sein, bei denen es - wie sie selbst sagt - sehr viele variationen, allerdings sozusagen immer des gleichen themas, gibt. als paradigmatisch können aber durchaus die sichtbaren funktionalen grundlagen und -züge ihrer kompensatorischen selbst- und fremdwahrnehmung gelten, auch wenn sich diese nur selten derart hoch funktionell organisiert bei anderen autistInnen finden lassen. und in diesem sinne ist sie dann doch als repräsentativ anzusehen.

Montag, 20. September 2010

kontext 69: ein finsteres ereignis (und ein mieses gefühl) [2. update]

von einer beziehungstat ist aktuell seitens der polizei die rede - gemeint ist das bis zur stunde immer noch weitgehend unklare tödliche geschehen am gestrigen frühen abend:

"Eine Frau ist im baden-württembergischen Lörrach in ein Krankenhaus gestürmt und hat um sich geschossen. Vier Menschen sind tot, darunter die Täterin selbst. Vor dem Amoklauf hatte sich eine Explosion in einem Haus gegenüber der Klinik ereignet, in dem später zwei Leichen gefunden wurden." (...)

war in ersten meldungen noch von einer toten frau und einem toten kind die rede, die in dem erwähnten haus aufgefunden wurden, so ist inzwischen von einem toten mann die rede. möglicherweise also dadurch die wertung seitens der ermittler als beziehungstat. und möglicherweise (!) auch ein gedanklicher kurzschluss, wenn denn denen nicht noch mehr bekannt sein sollte - ich kann mir die gedankenkette "toter mann und kleines kind + bewaffnete, flüchtende und schießende frau = beziehungstat. anders geht´s gar nicht" lebhaft vorstellen. und ich frage mich auch, was wäre, wenn wir die geschlechter in der obigen gleichung jeweils gegeneinander ersetzen würden - wäre dann auch noch die rede von einer beziehungstat? oder würde das wort "amok" im vordergrund stehen? wobei ich selbst finde, dass eben auch die männlichen "amok"-täter in gewisser weise beziehungstäter darstellen, wenn auch in einem etwas anderen sinne als dem "klassischen".

das nur mal als erste gedanken zu einem ereignis, bei dem ich aufgrund der manifestierten destruktiven energie und besonderen umstände (explosion, eine bewaffnete frau mit einer - lt. den meisten meldungen zu dieser stunde - maschinenpistole) noch nachfolgende updates in den nächsten tagen vor mir sehe. (gut, die maschinenpistole ist zu einer kleinkalibrigen "sport"pistole geschrumpft - mit ca. 300 schuß munition und einem messer bewaffnet, ist das allerdings trotzdem als potenziell verheerende ausrüstung zu betrachten).

*

und das miese gefühl? rührt eigentlich aus zwei quellen, einmal dem ereignis selbst, zum anderen aber auch hinsichtlich meiner eigenen
kassandrarufe in der vergangenheit:

(...) "5. ist amok ein "männliches" phänomen?

bis auf weiteres tatsächlich ja. zwar gibt es auch affekttaten von frauen, hauptsächlich im sog. häuslichen beziehungsbereich. aber diese besondere art der öffentlichen gewalt, schwerbewaffnet und grundsätzlich wahllos, ist bisher eine männliche domäne. ich glaube allerdings, dass es nur noch eine frage der zeit ist, bis sich das ändert: ähnlich wie bei den essstörungen, von denen seit kurzer zeit inzwischen auch zunehmend mehr und mehr männer betroffen sind, während gleichzeitig prügelnde mädchengangs deutlich machen, dass eine emanzipation, die sich in abstrakter (objektivistischer) "gleichstellung" erschöpft, keine wirkliche emanzipation darstellt. nicht frauen in polizei und bundeswehr stellen ein indiz für tatsächlichen gesellschaftlichen fortschritt dar, sondern die realisierung von verhältnissen, in denen polizei und armeen zunehmend mehr und mehr beschäftigungslos werden würden, würde so einen fortschritt bedeuten." (...)


keine wirklich schöne sache, wenn die entwicklung einer gesellschaft so vorhersagbar zu werden scheint...

eine spekulation gestatte ich mir dann doch, nachdem ich obigen absatz gerade wieder gelesen habe: vielleicht handelt es sich hier auch um etwas, was tatsächlich zunächst als beziehungstat begann und sich schnell zu einem amok(artigen) zustand entwickelte. aber wie gesagt, zu dieser stunde reine spekulation. im übrigen kann ich mich gerade an keinen derartigen fall mit einer so bewaffneten täterin hierzulande erinnern; ich hatte
hier vor einigen jahren mal einen damals medial unter "amok" vermerkten angriff einer "angetrunkenen frau" in halberstadt auf mehrere passanten / radfahrerInnen mit einem messer verzeichnet - aber sonst völlige fehlanzeige. und es wäre eine durchaus fatale und völlig überflüssige entwicklung, zukünftig neben den mokkern (zu diesem begriff siehe john brunner) auch noch verstärkt deren weibliche variante erwähnen zu müssen.

*

edit 1: die geschichte wird langsam
deutlicher:

(...) "Die mit einer Pistole bewaffnete Frau habe zunächst ihren früheren Lebensgefährten sowie ein fünf Jahre altes gemeinsames Kind getötet" (...)

weiteres vermutlich im laufe des tages.

*

edit 2: der meines wissens letzte stand von heute macht noch mehr
deutlich:

(...) "Die Amokläuferin von Lörrach ist vermutlich mit der noch frischen Trennung von ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn nicht klargekommen. Es liege nahe, „dass eine Beziehungsproblematik Auslöser für die Tat war“, sagte der der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer am Montag in Lörrach. Die von Polizisten getötete 41- jährige Sportschützin habe zuletzt „psychisch angespannt“ gewirkt. In der Klinik, in der sie einen Pfleger erschoss, hatte sie vor sechs Jahren eine Fehlgeburt. Die Rechtsanwältin Sabine R. brachte ihren Mann um, als der 44- jährige Schreiner am Sonntagabend den Sohn bei ihr in der Lörracher Innenstadt abholen wollte. Sie waren seit Juni getrennt. Der Junge lebte bei seinem Vater und war über das Wochenende zu Besuch bei seiner Mutter. Den bisherigen Ermittlungen zufolge wurde er erschlagen." (...)

ich möchte mir wirklich nicht vorstellen - obwohl es aus grundsätzlichen erwägungen nötig erscheint - welche "beziehungsproblematik" eine frau zu solch einer tat bringen kann. das sieht jedenfalls nach einer vorgenommenen tabula rasa aus - "gut bewaffnet" den ex-partner und das gemeinsame kind zu töten, die eigene umgebung in brand setzen, um dann einen biographisch aller wahrscheinlichkeit nach extrem negativ besetzten ort aufzusuchen, um dort weiter zu wüten.

wäre es bei der tat in dem büro/ der wohnung geblieben, würde die wertung "amok" so nicht getroffen werden können. die nach dem doppelmord stattgefundenen und offensichtlich tatsächlich wahllosen angriffe auf ihr unbekannte stützen jedoch zumindest oberflächlich betrachtet meine gestrige spekulation oben. und der ganze ablauf der tat erinnert ebenfalls an den im gleichen zeitraum wie "winnenden" stattfindenden amok von
alabama - hier hatte der täter damals ebenfalls zuerst opfer im engsten sozialen umfeld (familienmitglieder) heimgesucht, bevor ihm unbekannte in die schußlinie gerieten. die zukunft wird zeigen, ob dieses spezielle muster - eine sehr persönliche "abrechnung" mutiert zu einem echten amok - einen trend anzeigt.

*

was bleibt neben der immer mit solchen taten verbundenen beklemmung? ausnahmsweise nicht die "killerspiel-debatte"; ansonsten betreiben die weitaus meisten medien das übliche nach solchen ereignissen: sie fragmentieren und lösen zusammenhänge auf, damit ja niemand auf die idee kommt, weitere fragen zu stellen. und ebenfalls üblich und schon öfter gehört sind derartige
statements:

(...) "Dass so etwas bei uns hier passiert, hätte ich nicht für möglich gehalten", sagt ein älterer Mann. Hier in Lörrach, da leben sie doch in einer heilen Welt, dachten sie. Hier, wo die berühmte lila Schokolade produziert wird, wo die Schweiz und Frankreich nur einen Steinwurf entfernt sind, da gibt es keinen Hass. "Ein Amoklauf bei uns? Nein", meint eine Frau, "das kennt man doch sonst nur aus den Großstädten." (...)

beim letzten satz rutschten meine augenbrauen hoch - so, man "kennt das sonst nur aus großstädten"? die durcheinandergewürfelte liste der orte der bekannten "amok"-taten in den letzten jahren sieht hinsichtlich ihrer auf- und abgerundeten einwohnerInnenzahl mit stand vom 31.12.2009 so aus (quelle wikipedia):
  • erfurt: 203.900
  • winnenden: 27.500
  • emsdetten: 35.600
  • ansbach: 40.400
  • lörrach: 48.200
ich frage mich inzwischen ernsthaft, ob das nur ein etwas bizarrer zufall ist - von erfurt einmal abgesehen, wobei die wertung "großstadt" jenseits des formalen kriteriums für diese stadt eher nicht ernsthaft gebraucht wird. es sind jedenfalls bisher eindeutig die provinziellen kleinstädte, die offenbar das ideale milieu für derartige taten darstellen. vielleicht wäre es aus präventionsgründen sinnvoller, anstatt eines "killerspielverbotes" solche provinzstädte vorsichtshalber zu plätten...?

Dienstag, 7. September 2010

kontext 68: ist "portugal" überall?

wer das, was ich hier als gedankenexperiment entworfen habe, hinsichtlich der unterstellten inneren verfassung von "eliten" zu übertrieben oder bösartig findet, darf sich gerne ausführlicher mit geschichten wie dieser beschäftigen:

(...) "Dies ist kein freudiger Tag, nicht nach all dem, was passiert ist. Aber Pedro Namora ist erleichtert. Endlich wird Recht gesprochen. Auch ihn hat seine Mutter einst in einem Kinderheim der staatlichen Wohlfahrtsorganisation Casa Pia untergebracht. In einer Institution, die mittellose, verwaiste und taubstumme Kinder schützen sollte und in der sie missbraucht wurden. Namora hat es miterlebt. (...)

In dem quälend langen Prozess berichteten sie, wie sie in dunklen Kellern vergewaltigt wurden, wie sie nachts zu abgelegenen Häusern gefahren wurden. Und wie sich die Mächtigen an ihnen, den Schwachen, vergingen.

Die Angeklagten waren Teil der portugiesischen Elite, unter ihnen der einst beliebteste Fernseh-Showmaster Portugals, Carlos Cruz, außerdem ein prominenter Arzt, ein Unternehmer, ein hochdekorierter Diplomat und früherer Unesco-Botschafter. Den Angeklagten wurden insgesamt mehr als 800 Straftaten zur Last gelegt.

"Als die Tatverdächtigen bekannt wurden, wurden aus den Opfern die Bösen", erinnert sich Namora. Aber es könne doch nicht sein, "dass jahrelang Kinder vergewaltigt werden, dass ihnen Dinge angetan werden, die Sie sich nicht vorstellen können, und dann gesagt wird, die Angeklagten sind angesehene Persönlichkeiten, wir lassen sie in Ruhe". (...)


das erinnert strukturell nicht zufällig besonders an die phase nach bekanntwerden des
"falles dutroux vor jahren in belgien, wobei es da den aller wahrscheinlichkeit nach involvierten angehörigen der "eliten" gelang, mit den gleichen mitteln, wie sie auch die mafia einsetzt, eine derartige entwicklung mit juristischen konsequenzen wie jetzt in portugal - selbst, wenn sie bezeichnend langsam vonstatten ging und die ergebnisse nicht angemessen sind, nicht sein können, und dabei noch nicht mal endgültig sind: (...) "Beobachter sagten, das Verfahren werde mit der ersten Urteilsverkündung noch längst nicht zu Ende gehen. Die Anwälte der Angeklagten würden auf jeden Fall Berufung einlegen, um irgendwann eine Verjährung der Taten geltend zu machen." - zu verhindern und selbst im dunkeln zu verbleiben. ich würde beide fälle keinesfalls als ausnahmen ansehen, dazu ist inzwischen die internationale faktenlage - man betrachte in dem zusammenhang auch die kirchen, ebenso die niedergeschlagenen ermittlungen hierzulande in sachsen - zu stabil. von daher ist das fragezeichen im titel sozusagen als rhetorisches zu betrachten.

*

ps: zum (nicht nur) von "spon" einmal mehr gedankenlos benutzten begriff "kinderschänder" nochmals der hinweis auf diese
anmerkungen.

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