in einem tp-artikel wird heute anhand der ereignisse vom 11.09.2001 nochmals etwas deutlich gemacht, dessen bedeutung für das gesamte menschliche leben im allgemeinen und für den umgang mit bzw. die prävention von destruktiven konfliktmustern im speziellen dringend weiterer verbreitung bedarf:
(...)"Nach einer Studie von Neurobiologen der University Cornell und der University of Stanford können Traumata, die normalerweise durch die Bedrohung des Lebens von dem Betroffenen selbst oder anderen ausgelöst und intensive Gefühle der Angst, des Schreckens oder der Hilflosigkeit bewirken, das Gehirn nachhaltig verändern. Das geschieht nicht nur bei Menschen, bei denen psychische Folgen wie eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert werden können, sondern diese Veränderungen sind auch bei Menschen durch Brainscans nachweisbar, die völlig unbelastet wirken, aber dennoch bei bestimmten emotionalen Stimuli überreagieren."(...)
das ist hinsichtlich der neurophysiologischen traumainduzierten veränderungen zwar grundsätzlich nichts neues, alarmierend und aufschlußreich sind jedoch die durch die studie verstärkten indizien dafür, dass ein trauma auch nicht direkt betroffene in ihren wahrnehmungs- und selbstregulationsfähigkeiten negativ beeinflussen kann. was daraus für schlußfolgerungen zu ziehen sind, wird im artikel komprimiert so zusammengefasst:
(...)"Erstaunlich ist, dass sich das erfahrene Trauma mehr oder weniger im Alltag verdeckt neurobiologisch eingetragen hat und weiterhin, wenn auch mit der Zeit schwächer werdend, auf bestimmte, aber unspezifische Stimuli emotionale Reaktionen verursacht, die sich auf das Verhalten auswirken und nicht kontrolliert werden können. Die Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass auch andere Stresserlebnisse sich derart niederschlagen können. Interessant wäre es, solche Studien in Ländern wie derzeit Afghanistan, Irak, Somalia oder auch Sudan durchzuführen, in denen viele Menschen, auch wenn sie nicht direkt Opfer oder Täter sind, mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert werden und in ständiger Unsicherheit leben. Leiden Kämpfer und Opfer eher an posttraumatischen Belastungsstörungen, so graben sich durch Kriege und Bürgerkriege, durch die alltägliche erlebte Gefahr und Gewalt verursachte Ängste buchstäblich in die Gehirne ein und können so Nationen noch viele Jahre nach einem Ende der Auseinandersetzungen beeinflussen, auch wenn eine Situation nichts mit dem Ursprungstrauma direkt zu tun hat."
und gerade letzteres ist tatsächlich nichts anderes als eine beschreibung dessen, was sich in der realität ständig beobachten lässt - aktuell und relativ offen bspw. in tschetschenien, im gaza-streifen, in israel (siehe auch hier); die speziell benannte verzögerte wirkung jedoch ist in vielen südamerikanischen ländern (mit erfahrungen von diktaturen/bürgerkriegen) zu beobachten, und nicht zuletzt auch ein thema unseres lebens in diesem land hier.
das kriege (als ein traumatisierender extrempol destruktiven menschlichen verhaltens) selbst dann noch als ein verbrechen angesehen werden können, wenn sie tatsächlich zur selbstverteidigung und aus einer art notwehr heraus aufgenötigt werden, wird durch derartiges wissen eher untermauert. damit werden aber ein weiteres mal unsere heutigen gesellschaftlichen strukturen und institutionen als das kenntlich, was sie schon lange sind: überholt und schlicht nicht den nötigen grundbedingungen für ein gesundes menschliches leben entsprechend. und dazu muss noch nicht einmal das monster krieg herangezogen werden, dazu reicht bereits schon ein blick auf unsere alltägliche art der angst-ökonomie. und unser sog. rechtswesen aka justiz hat bzw. will von all dem natürlich noch nicht mal einen begriff haben (es geht hier u.a. um permanente körperverletzung) - was aber auch kein wunder ist, ist ihre funktion doch letztlich nicht die erreichung von möglichst viel gerechtigkeit und menschlich zu nennenden lebensverhältnissen, sondern der schutz bestimmter partial-interessen wie zb. der wahnvorstellung "eigentum" (ein nachdrückliches aktuelles beispiel gerade auch bei tp). aber das ist eine andere baustelle.
für den moment nur ein kurzes vorbeischauen - obwohl - oder gerade - weil die realität derzeit mal wieder in vielfältigster hinsicht unakzeptabel ist - als stichwort mag da g8 ausreichen.
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in eigener sache: ich freue mich sehr, das dieses blog ab sofort nicht mehr von mir alleine betreut wird - sansculotte und wednesday haben sich dankenswerterweise dazu bereit erklärt, hier als moderatorInnen tätig zu sein - was mir, der sich in diesen wochen mit etlichen widrigkeiten im real life herumzuschlagen hat, doch einiges erleichtert. von mir wird also bis auf weiteres nur sporadisch hier etwas neues kommen. aber wie schon früher gesagt, betrachte ich immer noch viele beiträge in gewisser weise als zeitlos, was ich primär an den themen festmache - und verweise besonders die neuen leserInnen hier daher ebenso zum wiederholten male auf den index.
dazu gibt´s jetzt auch eine höchst überfällige erweiterung der blogliste: aureliane aka wildwuchs ist ab sofort mit dabei.
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in älteren beiträgen spielt der gedanke der menschlichen, psychophysischen selbstregulation eine besondere rolle - und ein projekt, welches diesen gedanken für mich in einer besonderen art und weise bis heute repräsentiert, ist die von a.s.neill begründete schule summerhill, zu der es aktuell einen spon-artikel gibt, der neben der anscheinend inzwischen unvermeidlichen bezugnahme auf neoliberalistische wahnvorstellungen - "Was für Menschen entlässt dieses britische Internat in die moderne Welt - Romantiker oder Global Player?" - doch auch einiges zur bemerkenswerten praxis von summerhill vermittelt:
(...)"14 Uhr, Vollversammlung im Gutshaus. 50 Kinder sitzen in der Halle, auf Treppenstufen und Fensterbrettern, aneinandergekuschelt, konzentriert. Sie stimmen ab, ob die Besucher teilnehmen dürfen. Sie dürfen. Tertius, der blonde Knirps, ist Vorsitzender und ruft die Fälle auf: Wer wann übers Wochenende weg darf, wer wie viel Milch bekommt. Dann wird verhandelt, ob ein Junge sein Holzgewehr mit sich herumtragen darf, obwohl das ein paar Kindern Angst macht. Sie melden sich, argumentieren geübt, lachen viel. Die Kinder beschließen eigene Gesetze, es ist der Höhepunkt jeder Woche, ein hartes Stück Arbeit. Sie lernen, Demokratie zu produzieren, nicht nur zu konsumieren. Sie haben eine Stimme, Rechte, aber auch Pflichten. Wer stiehlt, lärmt oder nervt, bekommt keinen Pudding oder wäscht ab."(...)
selbstregulation - mit allem darunter sollten wir uns als menschen nicht (mehr) zufriedengeben. ich kann mir kaum eine größere herausforderung vorstellen - selbst-verwirklichung im wahrsten und besten sinne - und nicht im sinne der diversen kapitalistischen institutionen, die mit dem fake "individualität" lediglich die verkaufszahlen von in aller regel schädlichen und überflüssigen produkten in die höhe schrauben wollen.
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nur - "nur" - sind für selbstregulation bestimmte psychophysische voraussetzungen nötig, die nicht als grundsätzlich vorhandene option begriffen werden können - u.a. die nötigen fähigkeiten für soziales leben. und immer noch wird das am nachdrücklichsten von autistischen menschen demonstriert - temple grandin wird für stammleserInnen dieses blogs hier kein unbekannter name sein - nun gibt es ein relativ aktuelles interview mit ihr, in dem sie zum wiederholten male in ihrer ganz eigenen variante einige typische eigenschaften dieser - krankheit? seinsweise? - namens (asperger-)autismus deutlich macht:
(...)"Als Forscherin haben Sie Dutzende von Fachartikeln verfasst, und Sie wissen viel über Ihr Fachgebiet. Wie aber fühlen Sie?
Mein Hauptgefühl ist Furcht. Das hat erst aufgehört, seit ich mit 21 Jahren begann, Antidepressiva zu nehmen. Die Medikamente haben mein Leben verändert. Vorher war es etwa so, als müssten Sie in einem Büro voller Schlangen arbeiten.
Wissen Sie den Grund für Ihre Angst?
Das ist ein biologischer Defekt in meinem Nervensystem.
Kennen Sie Gefühlsabstufungen?
Ich musste erst lernen, Gefühle zu mässigen. Wenn ich ängstlich werde, werde ich sehr ängstlich. Wenn ich mich in einem Kinofilm amüsierte, habe ich schon so laut gelacht, dass sich die anderen Zuschauer nach mir umdrehten.
Und Ihr Spektrum an Gefühlen?
Ich kann wütend sein, ängstlich, traurig und glücklich. Komplexe Gefühle aber sind mir fremd. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie eine Frau einen Mann lieben kann, obwohl er sie schlägt. Oder Liebe und Eifersucht zur gleichen Zeit zu empfinden, das kapiere ich nicht. Meine Gefühle sind simpel, wie die eines Hundes.
Das kann ja auch ganz praktisch sein.
Der Vorteil ist, dass mir zum Beispiel unterschwelliger Zorn fremd ist. Meine Gefühle sind nur im Jetzt, deshalb bin ich nicht nachtragend. Manche Menschen verbringen so viel Zeit damit, mit ihrem Freund zu streiten. So etwas mache ich schlicht nicht. Auch diese romantischen, gefühlsduseligen Filme – das ist mir zu langweilig. Ich gehe lieber mit jemandem aus und rede mit ihm über das Verhalten von Tieren. Das ist so viel interessanter.
Sozialen Ereignissen oder gefühlvollen Situationen gewinnen Sie nichts ab?
Ich bin ein Sonderling. Ich bin nicht interessiert an komplexen sozial-emotionalen Dingen. Alles soziale, das ich mache, ist, als würde ich Theater spielen."(...)
ich bitte nochmals zu beachten, dass ich das klassische autistische spektrum als eine art paradigma für die gesamten antisozialen optionen der menschlichen existenz ansehe, und in dem punkt folge ich weitgehend der argumentation des hier oft erwähnten j. erik mertz. was im umkehrschluß nun nicht bedeutet, dass "klassisch" autistische menschen jetzt automatisch als schlimmste antisoziale anzusehen seien - eher verweist die art und funktion ihrer einschränkungen auf strukturen, die - eher unerkannt - bei vielen, oberflächlich "normalen" menschen gerade in den sog. führungseliten weiter verbreitet sein dürften, als uns allen lieb sein kann.
(...)"Viele Menschen halten autistische Menschen für nicht erreichbar. Sie sind das beste Beispiel, dass dies nicht immer stimmt.
Man muss sich im Klaren sein, dass Autismus ein Kontinuum ist. Es reicht von Menschen mit schwerer Behinderung, die nicht sprechen können, bis hin zu brillanten Wissenschaftlern wie Einstein. Gäbe es die Autismus-Gene nicht, hätten wir wohl viel weniger kreative Wissenschaftler und Künstler. Ich schätze, dass bis zu 25 Prozent der Leute, die in Computerfirmen arbeiten, milde Formen des Autismus haben. Was meinen Sie, wer den ersten Steinspeer hervorbrachte? Das waren nicht die sozial veranlagten Typen. Das war irgendein Asperger-Autist, der in der Ecke der Höhle sass und stundenlang versuchte, einen Stein auf einem Stecken zu befestigen."(...)
das problem dabei ist nur, dass diese art "kreativität" - kombiniert mit desinteresse an "komplexen sozial-emotionalen dingen (sic!)" - womöglich in vielen mörderischen prozessen eine nicht unwesentliche rolle spielt.
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zum schluß zwei kleine fragen, mit denen Sie sich ganz gut das wochenende durch beschäftigen können:
1. was ist der unterschied zwischen schutzgeld und dem staatlichen eintreiben von steuern bzw. dem privaten eintreiben von miete, strom- und wassergebühren etc.?
2. denken Sie einmal genauer über die begriffe "arbeitgeber" und "arbeitnehmer" nach, wenn Sie´s nicht eh schon getan haben. nehmen Sie sie einmal wortwörtlich - das ergebnis war zumindest für mich schon beschämend verblüffend - und bezeichnend.
...gibt´s im fraktallog. die kotztüte müssen Sie sich hingegen woanders besorgen.
"Junge politische Menschen setzen ein Zeichen vor und in dem Bundestag. Die Betitelung der Aktivisten als „Humankapital“, das Verstreuen von Geld und das Entrollen von Bannern mit Sprüchen wie „Die Wünsche der Wirtschaft sind unantastbar“ sollen verdeutlichen, dass der Bundestag lediglich das Ausführungsorgan der großen Unternehmen ist und keine freiheitliche, demokratische Institution darstellt. Dieses Bild wird dadurch verstärkt, dass auf dem Dach des Reichstags der Schriftzug „Dem deutschen Volke“ durch das Banner „Der deutschen Wirtschaft“ ersetzt wird. Ziel dieser Aktion ist es, einen Diskurs anzustoßen, der die Scheindemokratie kritisch hinterfragt und mit Vehemenz gesellschaftspolitische Veränderungen durchsetzt. Wir fühlen uns durch die Größe der Probleme zu dieser Aktion genötigt.
Wir üben harte und tiefgreifende Kritik am bestehenden politischen System."
weiterlesen.
während also diejenigen, die aus was für gründen auch immer nicht (mehr) fitmobilflexibelleistungsfähigpositivdenkend sind bzw. sein können, die leerstelle der ihnen geklauten würde teils noch in den arten ihres todes manifestieren, und dabei auch noch auf grauenhafte weise die alles kontaminierende systemlogik der verdinglichung und totalen verachtung aller authentischen menschlichen subjektivität demonstrieren, fangen diejenigen, die anscheinend auf der "sonnenseite" stehen und diese position meist auch noch mit schärfer werdender rücksichtslosigkeit verteidigen, zunehmend vor angst zu schlottern an:
(...)Vor einiger Zeit hat das Team um den Medizinsoziologen Johannes Siegrist von der Universität Düsseldorf zwei Studien veröffentlicht, die den Zusammenhang zwischen bedrohlichen Veränderungen im Erwerbsleben, körperlichen Beschwerden und Angst empirisch erhärten. In Kooperation mit belgischen Kollegen fanden die Düsseldorfer Forscher bei anfangs gesunden Beschäftigten, die von sich verschärfenden Arbeitsbelastungen und Arbeitsplatzunsicherheit betroffen waren, bereits nach einem Jahr dreimal so häufig ausgeprägte Angstzustände wie bei Arbeitnehmern, die davon verschont geblieben waren.
Siegrists Erhebungen und diejenigen seiner Kollegen bestätigen die Vermutung, dass Angst im Verbund mit Depression zur vierthäufigsten Todesursache in westlichen Industriestaaten gehört und laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2020 nach den kardiovaskulären Ursachen zur zweithäufigsten aufsteigen wird. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass Angst zu einer festen gesellschaftlichen Konstante geworden ist.(...)
Legt man als Maßstab von Krankheit aber die Angststörung an, lassen sich die Auswirkungen des globalisierten Wirtschaftens in fast allen westlichen Industriestaaten feststellen. Auch japanische Untersuchungen bestätigten kürzlich deutsche Befunde, wonach Arbeitnehmer, die Angst vor Entlassung haben, viermal so häufig depressive Störungen aufweisen wie jene Arbeitnehmer, die diese Angst nicht haben. Herzfrequenz und systolischer Blutdruck waren während des gesamten Arbeitstages, teilweise auch während der Nacht und am Wochenende, signifikant erhöht. In starkem Maße wurde das Stresshormon Kortisol ausgeschieden, was auf permanente Gefahrenbewältigung hinweist – auf eine existenzielle Erschütterung und Verunsicherung, die zur Angst wird, zur Angst vor der Angst, schließlich zur Angststörung, der Angst vor dem sofortigen Sterben."(...)
(streichen Sie bitte spätestens an dieser stelle das wort "psychisch", falls Ihnen das gerade im kopf herumgeht, womöglich noch mit dem wörtchen "nur" als begleiter. es geht hier auch immer um sehr körperliche, also psychophysische vorgänge, was sich gerade am phänomen der angst bestens nachvollziehen lässt.)
ich finde, der letzte absatz oben lässt sich auch so zusammenfassen: speziell das herrschende wirtschaftssystem ist eine einzige permanente körperverletzung, von den zerstörungen auch nichtmenschlichen lebens mal ganz abgesehen. und seine produkte werden übrigens idiotischerweise zu einem immer größer werdenden teil dafür eingesetzt, mit den folgen dieser destruktivität noch einigermaßen fertig zu werden, bzw. sie zu kompensieren (durch konsum). darauf beruhen inzwischen ganze branchen, wie natürlich die pharma-, tabak- und alkoholindustrie, touristik und unterhaltungsmedien...um nur die offensichtlichsten zu nennen.
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fragen:
(...)"Hat sie, die Angst, denn wirklich zugenommen? Ließe sich nicht einwenden, dass jetzt eben genauer hingesehen, gedeutet und deswegen logischerweise eine Steigerung des Drucks sowie eine Zunahme der Störungen festgestellt werde? Kann der Einzelne dieser Tage vielleicht viel weniger ertragen als vor 100, vor 50, vor 30 Jahren der Bauer auf dem Feld im Angesicht von Missernten und Seuchen? Kurzum – sind die Wohlstandsindividualisten von heute womöglich allzu verweichlicht?
Oder ist – im Gegenteil – die Versagensangst mittlerweile so groß, weil der Einzelne in pluralisierten Gesellschaften für alles selbst verantwortlich ist, weil persönliche Identität sich größtenteils nur noch über die Arbeit und den Job definiert und Siegen in einer Gewinnerkultur zum Imperativ geworden ist, während gleichzeitig alle Gewissheiten und Sicherheiten zerfallen?"(...)
während die erste variante der "verweichlichung" sich tatsächlich bei law-and-order-fanatikern sowie den hemmungslosen propagandisten der herrschenden zustände als allein zulässige einiger beliebtheit erfreut - am deutlichsten wird dieser nicht-umgang mit angst bis heute noch immer von offenen nazis demonstriert, dürfte die zweite antwort zumindest einen großen teil der realität korrekt erfassen.
(...)"Durch die Verlagerung der Arbeitsorganisation vom körperlichen auf den psychomentalen Bereich hat sich auch das Krankheitsbild verlagert. Die ersten medizinischen Langzeitstudien, die seit Beginn der 1990er Jahre insbesondere in Finnland, Schweden und Großbritannien das Verhältnis zwischen Stress und Gesundheit untersuchen, kommen nach ihren Auswertungen jetzt zu eindeutigen Ergebnissen: Die Auswirkungen des Arbeitsalltags auf die psychische Gesundheit des Einzelnen sind enorm. In den vergangenen 20 Jahren haben Begriffe wie Flexibilität, Mobilität und lebenslanges Lernen Karriere gemacht; die berechenbare Biografie wurde zum Märchen aus einer versunkenen Welt und die Unberechenbarkeit zu einer mentalen Dauerbedrohung.
Der Beruf hat für das seelische und körperliche Wohlergehen des Einzelnen heute eine immense Bedeutung, weil er drei elementare Existenzbedürfnisse befriedigt: das Selbstwertgefühl, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und das Gefühl von Zugehörigkeit. Wenn diese grundlegenden Bedürfnisse nun durch Radikalisierung des Wettbewerbs, durch Konkurrenzkämpfe, Verlagerung der Produktion ins Ausland, Lohndruck, Kostendämpfung, Stellenabbau, zunehmende Rationalisierung und Mobbing bedroht sind, pathologisiert sich die permanente Verunsicherung zur Angst. Jeder siebte Angstpatient stirbt von eigener Hand."(...)
in etwas anderen worten steht das auch schon im update des letzten beitrages, wobei der dort angesprochene aspekt der traumatisierung hier nur z.t. erfasst wird: "...pathologisiert sich die permanente verunsicherung zur angst." ich begreife das als eine art vorstufe des traumas, welches hier in seiner vollen wirkung vermutlich nur durch die noch vorhandene einbettung in die destruktive struktur paradoxerweise gebremst wird - die arbeitswelt, egal wie real zerstörerisch sie sich im einzelnen schon auswirken mag, bekommt dann sozusagen die funktion des letzten rettungsankers. allerdings eines sehr fatalen rettungsankers.
(...)"Das Verhältnis zwischen Leistungsfähigkeit, den eigenen Ansprüchen und jenen, die von außen an einen herangetragen werden, ist stark gestört. Der gute Stress nimmt ab, der schlechte zu. Unter Bedingungen erhöhter Konkurrenz mehren sich zwischenmenschliche Spannungen, die Solidarität in Belegschaften wird geschwächt.
Folgen des sogenannten Downsizings, der permanenten Konfrontation des einzelnen Mitarbeiters mit Personalabbau und angedrohtem Personalabbau, sind, wie finnische Wissenschaftler nachgewiesen haben, erhöhte Arbeitsunfähigkeitsraten und eine signifikant erhöhte Sterblichkeit an koronaren Herzkrankheiten. Mit dem Anstieg der Stressbelastung am Arbeitsplatz steigt die Herz-Kreislauf-Mortalität um das 2,4-Fache an, Risikofaktoren wie Rauchen oder Alkohol bereits herausgerechnet. Weniger Menschen müssen mehr Arbeit verrichten. Jene, die keine Arbeit haben, fühlen sich unterfordert, jene, die arbeiten dürfen, überlastet. Psychische Konsequenzen hat es für beide."(...)
wie gesagt: permanente körperverletzung - zum einen, zum anderen, aber damit zusammenhängend, ist hier als größere dimension ebenfalls wie in so vielen anderen bereichen der aspekt der allgemeinen zerstörung der beziehungsfähigkeiten zu beachten.
und es trifft zunehmend jene, die bisher noch - zumindest materiell - von den herrschenden zuständen profitiert haben. was - perverserweise, wie ich betone - vielleicht sogar einen hoffnungsvollen aspekt enthalten könnte: wenn diese gruppen nämlich zum innehalten gezwungen werden:
(...)"Auffällig ist, dass die Angststörungen vermehrt die höher Qualifizierten treffen. Erhebungen in der Vergangenheit haben zwar gezeigt, dass diejenigen, die in sozial benachteiligten Schichten aufwachsen, ein niedrigeres Bildungsniveau und ein geringes Haushaltseinkommen haben, doppelt so häufig krankmachenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind wie Arbeitnehmer aus mittleren und höheren Schichten. Jetzt aber sind auch arbeitslose Akademiker in den Dreißigern keine Seltenheit mehr.
Angstambulanzen und Kliniken werden bevölkert von jungen Elektroingenieuren, die bei Kommunikationsunternehmen wegrationalisiert und Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt fachfremd als Hartz-IV-Berater eingesetzt wurden; von Technikern, die die Anforderungen ständiger Mobilität und Flexibilität, die Ortswechsel und Fernbeziehung nicht ertragen können – oder eben von erfahrenen Bauleitern wie jenem in Bayern, der nach 30 Jahren Betriebszugehörigkeit mit dem Wechsel vom Senior- zum Junior-Chef den Sympathiebonus eingebüßt hatte, weil der Sohn plötzlich rationalisierte, wo der Vater das menschliche Miteinander in den Mittelpunkt gestellt hatte."(...)
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der prozeß der psychophysischen verelendung läuft inzwischen auch in den "zivilisierten" zonen des planeten in gigantischen dimensionen ab:
"127 Millionen Menschen in Europa, mehr als ein Viertel der Bevölkerung, leiden an den zwölf häufigsten psychischen Erkrankungen, ein Drittel davon unter Ängsten und Panikattacken. Die jährlichen Behandlungskosten der psychischen und psychosomatischen Krankheiten in den europäischen Ländern schätzt das European Brain Council auf 386 Milliarden Euro. In Deutschland ist nach einer Statistik der DAK die Rate der »Arbeitsausfalltage infolge von Angststörungen« von 2000 bis 2005 um 27 Prozent gestiegen; bei Depressionen liegt im gleichen Zeitraum eine Zunahme um 42 Prozent vor. Insgesamt gehen fast zehn Prozent der Krankschreibungen in Deutschland auf psychische Erkrankungen zurück."(...)
ich hatte es schon früher öfter mal in diesem blog geschrieben: bei einer, na sagen wir mal ansteckenden seuche in derartigen dimensionen würden wir schon längst im medizinischen katastrophen- und ausnahmezustand leben. faktisch und real ist dieser zustand längst vorhanden, allerdings hervorgerufen durch unsere eigene "lebens"weise.
(...)" Meist sind Angstpatienten sehr jung. Die soziale Phobie tritt in der Pubertät auf, mit 15, die generalisierte Angststörung zwischen 30 und 35. Jeder zweite Sozialphobiker ist alkoholabhängig, bei mehrfach erhöhtem Suizidrisiko. Die Leistungsfähigkeit von Menschen mit generalisierter Angststörung ist halbiert, ein großer Teil von ihnen erkrankt zudem noch an einer Depression. Vor übersteigertem Leistungswillen fällt die Leistungsfähigkeit in sich zusammen.
Dreitausend Angstpatienten hat der biologische Psychiater Borwin Bandelow von der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen in seinem Leben bisher gesehen. Er finde es bedenklich, sagt er, hätte ein Mensch keine Angst."(...)
yo. letzteres ist ein starker hinweis auf eine funktionelle oder strukturelle soziopathische persönlichkeit.
(...)"Der Zusammenhang zwischen Evolution und Angst ist auch hirnphysiologisch evident. Einer der ältesten Hirnteile, der Mandelkern, Amygdala genannt, ist als Teil des limbischen Systems die neurologische Schaltzentrale der Auslösung von Ängsten. Wie im Fall fast aller psychischen Krankheiten sieht Bandelow auch Angst als zu 40 Prozent vererbt an, was er aus eigenen Studien mit ein- wie zweieiigen Zwillingen und aus der Evolutionsgeschichte ableitet. Wer Verwandte ersten Grades mit einer Angststörung habe, dessen Risiko sei um ein 4,25-Faches erhöht, ebenfalls eine Angststörung zu entwickeln.
Niemand ist gefeit, jeder Mensch kann eine Angstkrankheit entwickeln, und jeder Vierte hat im Laufe seines Lebens einmal eine Angststörung. »Angst ist ein biologisches Phänomen«, sagt Bandelow, »sie ist kulturunabhängig.« Zur Störung wird die biologisch sinnvolle Angstreaktion erst, wenn sie unverhältnismäßig wird, wenn sie Leid verursacht und ohne adäquaten Grund auftritt, wenn die Reaktion dem Anlass entsprechend unangemessen heftig ist, wenn sie nicht kontrolliert oder akzeptiert wird."(...)
hier möchte ich wiedersprechen: die "kulturunabhängigkeit" ist zwar in dem sinne gegeben, dass die angst bei menschen aller kulturen vorhanden ist und sich auch in gleichen bzw- ähnlichen erlebbaren formen äussert - aber bereits die art und weise des umgangs und der bewältigung ist meiner meinung nach nicht mehr kulturunabhängig zu verstehen.
und ich sehe auch nicht, dass ängste heute mehrheitlich "ohne adäquate gründe" auftreten würden - das lässt sich vielleicht bei den klassischen phobien wie zb. spinnenangst so sehen, keinesfalls aber bei den ängsten, die bspw. durch die ökonomischen verhältnisse produziert werden.
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ich lasse hier gerade die einzelbeispiele von betroffenen, die im artikel erwähnt werden, außen vor. beim lesen werden Sie aber vielleicht feststellen, dass sehr viele querverbindungen zu anderen psychophysischen auffälligkeiten teils offen oder unausgesprochen deutlich werden - neben der alexithymie taucht ein wohlbekannter begriff aus der welt der sog. "eliten" auf:
(...)"Oft sind Angstpatienten Narzissten, wobei nicht alle Narzissten eine Angststörung haben. Sozialphobiker wie Sabrina haben Angst vor der Bewertung durch andere Menschen, weil sie gerade durch deren Bewertung nach sozialer Anerkennung streben. Deshalb arbeiten sie hart an sich, setzen sich unter Leistungsdruck, sind perfektionistisch und extrem arbeitswillig. Sie kennen kein Jammern, verbeißen sich in ihren Job. Keine Frage, dass sie beim Arbeitgeber beliebt sind. Sie bereiten sich besser vor als nötig. Sie haben Erfolg und dennoch ständig Angst, es könnte auffliegen, dass sie nichts können."
und es ließe sich auch der schluß ziehen, dass mindestens sekundäre als-ob-zustände gefördert werden:
"Therapeuten und Ärzte sind sich sicher, dass die Zahl der sozialen Phobien in naher Zukunft wachsen wird. Im Arbeitsalltag wird vom Einzelnen erwartet, dass er sich in Teams integriert, dass er Vorträge hält, an der Flip-Chart steht, wie selbstverständlich dem Druck standhält, die eigene Kompetenz und das eigene Ich permanent unter Beweis zu stellen. Wer weiß, dass er zur Selbstdarstellung nicht geboren ist, wird allein durch die allgemeine Erwartungshaltung bereits Angst vor dem Scheitern haben."(...)
was nichts anderes bedeutet, als das in diesem szenario tatsächlich extrem simulationsfähige menschen die besten karten haben, und für diese eine art positiver selektion stattfindet - hier steht buchstäblich alles auf dem kopf!
ich möchte Ihnen den artikel insgesamt trotz des abschließenden hochjubelns von verhaltenstherapeutischen maßnahmen - die in vielen fällen lediglich eine, wenn auch wirksame, symptombekämpfung darstellen - und der fehlenden reflexion über die interaktion zwischen sozialen verhältnissen und genen empfehlen, und schließe mit einem gut bekannten aspekt, der gleichzeitig bereits den weg in eine welt weist, die zwar nicht angstfrei sein wird, aber in der wir die angst reiten - und nicht umgekehrt:
(...)»Einer der größten Angststressoren ist das Schwinden der Solidarität«, sagt Jürgen Margraf, Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie in Basel, wo immer er auftritt. Sogleich fügt er an: »Der wichtigste Schutzfaktor gegen Angst sind stabile soziale Bindungen.«(...)
strike!
in diesen tagen ist in denjenigen medien (incl. blogs), die sich überhaupt mit dem hungertod eines jungen, erwerbslosen und wahrscheinlich depressiven mannes in speyer beschäftigen, immer wieder davon zu lesen, dass das der "erste tote" durch die sog. "hartz-IV-reformen" oder treffender: die offen antisoziale politik eines kapitalistischen regimes - gewesen sei.
das ist natürlich völlig unzutreffend, alleine schon deswegen, weil auch vor "hartz-IV" in diesem land durch und an den folgen kapitalistisch-antisozialer "politik" bereits gelitten und gestorben wurde.
nach einer kleinen recherche bin ich einerseits sprachlos, was schon alles so ohne größere mediale aufmerksamkeit - damit ist gemeint: nachfragender journalismus, der sich nicht alleine auf eine mehr oder weniger ausführliche zitierung der örtlichen polizeiberichte beschränkt, was bei den nachfolgenden artikeln oft genug der fall ist - geschehen ist; und andererseits koche ich vor wut - wir sind auf dem besten wege, in diesem land die verdammte gleichgültigkeit und feigheit unserer vorfahren im klassischen sinne zu re-inszenieren.
die folgende zusammenstellung ist mit sicherheit unvollständig - weite verbreitung und inhaltliche ergänzungen sind ausdrücklich erwünscht! ich selber werde momentan nicht zu einer weiteren und nötigen - kommentierung kommen, andererseits spricht die liste auch schon für sich selbst.
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november 2004:
"Ein Mann hat sich im baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen vor der regionalen Arbeitsagentur selbst getötet. Er fuhr nach Angaben der Polizei am späten Dienstagabend mit seinem Auto gegen den Haupteingang des Gebäudes. Das Fahrzeug explodierte. Die Arbeitsagentur selbst blieb unbeschädigt, weil sich deren Räume im oberen Stockwerk des Hauses befinden.
Nach ersten Erkenntnissen hatte der Mann eine Gasflasche auf dem Beifahrersitz deponiert und den Gashahn geöffnet. Er verbrannte bis zur Unkenntlichkeit. Die Polizeidirektion Ludwigsburg geht davon aus, dass es sich bei dem Selbstmörder um einen 51 Jahre alten gelernten Fernmeldehandwerker aus Sachsenheim handelte.
Finanzielle Probleme
Er war seit einiger Zeit arbeitslos. Seit Ende Oktober habe ihm die Arbeitsagentur kein Geld mehr ausgezahlt, weil es Unklarheiten darüber gegeben habe, ob dem Mann überhaupt Arbeitslosengeld zustehe, hieß es.
Der geschiedene 51-Jährige wäre jedoch laut ersten Ermittlungen noch nicht unter die Hartz-IV-Regelungen gefallen. Als weiteres Motiv kommen laut der Polizei finanzielle Schwierigkeiten des Mannes in Frage."
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januar 2005:
"Offenbar weil er von der Arbeitsmarktreform Hartz IV betroffen war, hat ein arbeitsloser Mann im nordrhein-westfälischen Höxter Selbstmord begangen. Die Polizei bestätigte am Freitag, daß sich der 54jährige im Keller eines Hauses erhängt hatte. Bei ihm habe ein Papier mit der Aufschrift "Harz IV" gelegen. Die Zeitung "Junge Welt", die mit Angehörigen des Opfers sprach, berichtet, daß der langzeitarbeitslose Familienvater in eine verzweifelte Lage gekommen war."
(mehr dazu auch hier).
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januar 2005:
(...)"Timo Müller erfährt erst Wochen später vom Selbstmord seiner Nachbarn, aus einem Zeitungsartikel, der im Hausflur hängt. »Lieber tot als arm«, steht dort in dicken Buchstaben, die Zeitung zitiert aus einem Abschiedsbrief. »Wir krebsen durchs Leben und spulen monoton einen Tag nach dem anderen ab«, haben beide geschrieben. Und dann noch die Sozialreformen. Monika und Michael Stahl, die ersten Opfer von Hartz IV? Das Gesetz ist da gerade einen Monat alt.(...)
Das Paar hat die Wohnung am Ende nicht mehr oft verlassen. Monika nur, um zu ihrer Arbeit in einer Speditionsfirma zu fahren. Und Michael, um Billie, den Bullterrier, spazieren zu führen. Stahl war seit Jahren arbeitslos. Ausgegangen sind er und seine Frau selten. Zu teuer. Meist verbrachten sie ihre Abende vor dem Fernseher, zu zweit, allein. Die Stahls hielten Distanz. Ihr Heim wurde zum Rückzugsort, in das immer bedrohlichere Nachrichten von außen drangen. Seit Anfang des Jahres sorgten sie sich um ihre Wohnung. Die neuen Regeln von Hartz IV: 84 Quadratmeter – zu groß für ein Paar ohne Kinder, 60 seien »angemessen«. »Angemessen« bedeutete Unsicherheit. Der Abschiedsbrief, den sie an die Cousinen und Kollegen geschickt haben, zeigt: Sie haben sich vieles ausgemalt. Wie es wäre, Wohnung, Auto und Arbeit zu verlieren. Es muss ein Leben im Konjunktiv gewesen sein, ständig das Schlimmste erwartend. Die Cousine erinnert sich, wie leer die Wohnung bei ihrem letzten Besuch wirkte, eine Woche vor dem Tod der beiden. Monika Stahl hatte gesagt, sie miste aus. Hätte sie nachfragen sollen?(...)
Timo Müller hatte Michael Stahl noch ein paar Mal mit dem Hund auf der Straße gesehen. Er wirkte nicht besonders glücklich, hielt den Kopf eingezogen, bewegte sich langsam. Seine Frau war immer auf Arbeit. Das Paar schien allmählich unsichtbar zu werden, vor den Augen von Familie, Kollegen, Nachbarn zu verschwinden. »Unauffällig« ist das Wort, was am häufigsten im Zusammenhang mit ihnen fällt."(...)
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aus der berliner zeitung vom 18.06.2006 stammt via ostblog die folgende meldung:
"Selbstmord vor den Augen des Gerichtsvollziehers
FRANKFURT (ODER). Die Fassade des fünfgeschossigen Hauses in der Valentina-Tereschkowa-Straße in Frankfurt (Oder) ziert ein tristes Grau. Es wird nicht mehr viel gemacht an dem Gebäude, das in naher Zukunft abgerissen werden soll. Vor etwa acht Wochen wurden die Mieter des Blocks von dem Abriss in Kenntnis gesetzt, Ausweichwohnungen angeboten. Doch einer erhielt keine Offerte: Tim S. Denn dem 34-Jährigen drohte wegen Mietschulden die Zwangsräumung.
Als der Gerichtsvollzieher am Mittwoch vor seiner Tür stand, stürzte sich der arbeitslose Mann aus dem Fenster seiner im fünften Stock gelegenen Wohnung. Tim S. starb auf den Gehwegplatten. Im Juni vorigen Jahres soll er es versäumt haben, einen neuen Arbeitslosengeld-Antrag zu stellen. Danach konnte er einige Monate seine Miete nicht mehr bezahlen. Sein Selbstmord wirft viele Fragen auf.
Es war kurz nach 8.30 Uhr, als der Gerichtsvollzieher, eine Angestellte des Hauseigentümers, der Wohnungswirtschaft Frankfurt (Oder), und ein Mann vom Schlüsseldienst an der Hauseingangstür bei Tim S. klingelten. Der junge Mann war zu Hause. Er öffnete aber nicht, sondern soll der Gruppe den Schlüssel aus dem Fenster vor die Füße geworfen haben. Als der Gerichtsvollzieher kurz darauf die Wohnungstür öffnete, saß Tim S. auf der Fensterbank und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen. Daraufhin verließ der Gerichtsvollzieher die Wohnung und telefonierte im Treppenhaus mit der Polizei. Der Mann vom Schlüsseldienst wechselte bereits das Schloss aus, als er bemerkte, dass Tim S. nicht mehr auf dem Fensterbrett saß. Er hatte in seiner Verzweiflung seine Drohung wahr gemacht."(...)
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mai 2006:
"Kurz vor der Zwangsräumung seiner Wohnung hat sich ein 62-jähriger Architekt das Leben genommen.
Die Polizei war gestern mit dem Sondereinsatzkommando im Gärtnerplatzviertel angerückt, weil bekannt war, dass der Mann als Jäger Waffen im Haus hatte. Als die Beamten in die Wohnung eindrangen, war der Mann bereits tot.(...)
Vor zwei Jahren musste er das Haus in der Corneliusstraße verkaufen. Der 62-Jährige sowie seine Frau waren noch in der 200-Quadratmeter-Wohnung unter dem Dach gemeldet.
„Er konnte seine Miete nicht mehr bezahlen“, sagt Polizeisprecher Markus Dengler. Deshalb habe der neue Eigentümer, eine Münchner Spenglerei, die Zwangsräumung durchgesetzt.(...)
Was die Einsätze bei Wohnungsräumungen anbelangt, „ist die Polizei sensibler geworden, nach den letzten Erfahrungen“, sagt Markus Dengler. Erst im Januar hatte eine 41-jährige Mieterin vor einer Zwangsräumung im Olympiadorf sich eine Waffe an den Kopf gesetzt und gedroht abzudrücken.
Ende März hatte in Obergiesing ein 59-Jähriger mit einem Messer auf einen Obergerichtsvollzieher eingestochen, weil dieser zuvor Wertgegenstände gepfändet hatte.
In München müssen immer mehr Mieter ihre Wohnung verlassen, weil sie nicht mehr zahlen können. Allein im vergangenen Jahr seien rund 10 000 Mieter wegen Zahlungsverzugs fristlos gekündigt worden, berichtet Rudolf Stürzer, Vorsitzender des Haus- und Grundbesitzervereins.
„Die Zahl ist dramatisch angestiegen.“ Dasselbe gelte für die Zahl der Räumungsklagen, die 2005 bei rund 3500 lag – nach Schätzungen des Amtsgerichts eine Steigerung von rund 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Täglich bis zu fünf Zwangsräumungen
Und viele Zwangsgeräumte fürchten den Absturz in die Wohnungslosigkeit. In etwa jedem dritten Fall komme es zur Zwangsräumung – vier bis fünf pro Werktag, oft mit dramatischen Begleiterscheinungen, so Stürzer: „Es kommt immer öfter vor, dass der Mieter mit Suizid droht.“
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november 2005:
"Selbstmord wegen Zwangsräumung
Schwerfen - Immer wieder stand der Gerichtsvollzieher in den vergangenen Monaten bei einer Frau (48) in Schwerfen (Eifel) vor der Tür, drohte mit Zwangsräumung. Jetzt war es soweit: Mit mehreren Umzugshelfern rückte er an. Die Frau nickte apathisch, sagte: "Warten Sie bitte einen Moment, ich will nur noch kurz ein paar persönliche Sachen holen." Während die Männer warteten, erschoss sich die Frau."
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juni 2006:
"Kurz vor der Zwangsräumung ihrer Wohnung hat sich eine Frau aus Taufkirchen bei München umgebracht und zuvor vermutlich auch ihr Kind getötet. Die Frau sei am Montagmorgen aus dem achten Stock eines Hochhauses gesprungen, nachdem eine Gerichtsvollzieherin bei ihr klingelte, sagte eine Sprecherin der Münchner Polizei.
Polizisten fanden später in der Wohnung die Leiche des dreijährigen Sohnes. Wie der Junge ums Leben kam, soll eine Obduktion zeigen."(...)
dazu auch ergänzend:
"Die 39-jährige Silvia W., die sich am Montagmorgen in Taufkirchen vor der Zwangsräumung ihrer Wohnung aus dem achten Stock gestürzt hat, hatte offenbar in den letzten Wochen alle Hilfsangebote ausgeschlagen. Sozialamt sowie Gemeinde hatten der Frau Unterstützung angeboten, zumal die alleinerziehende Mutter ihre Arbeit verloren hatte und die Miete für die Zwei-Zimmer-Wohnung nicht mehr bezahlen konnte.
"Wir haben ihr Hilfe angeboten, haben die Frau angeschrieben. Wir versuchten vergebens, sie zuhause anzutreffen, haben ihr sogar einen Zettel in den Briefkasten geworfen. Sie hat auf nichts reagiert", heißt es bei der Gemeinde Taufkirchen.
Finanzielle Hilfe hat Silvia W. nur für ihr Kind in Anspruch genommen, für die Tagesbetreuung ihres Sohnes sowie dessen Unterhalt, den der leibliche Vater nicht leistete. Am Abend vor ihrem Suizid hatte Silvia W. noch ihren dreijährigen Sohn umgebracht. Von der dramatischen Zuspitzung der Situation habe das Jugendamt jedoch keine Kenntnis gehabt, so ein Sprecher des Landratsamtes.
Der Leichnam des Buben wurde am Montag im Institut für Rechtsmedizin obduziert. Nach Angaben der Polizei hatte die Mutter ihren Sohn bereits am Sonntagabend erdrosselt. Auslöser für die Verzweiflungstat dürften nicht nur die finanzielle Misere, sondern auch massive Beziehungsprobleme gewesen sein, so die Polizei.
Job verloren, monatelang die Miete nicht bezahlt
"Die 39-Jährige hat phasenweise mit dem Vater des Kindes, einem 25-Jährigen, zusammengelebt", sagt Polizeisprecherin Eva Völkl. Offenbar sei es aber immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen seinerseits gekommen. "Die Frau hat ein Kontaktverbot gegen ihren Freund erwirkt", erzählt Völkl. Dieses sei im Januar erlassen worden und noch bis 6. Juli wirksam gewesen.
Zu dem Schwierigkeiten mit dem Mann seien finanzielle Probleme gekommen: Silvia W. hatte ihren Bürojob verloren und konnte laut Polizei seit Monaten die Miete nicht mehr bezahlen."(...)
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august 2004:
"In Burghausen erhängte sich ein arbeitsloser Mann. Als Motiv für den Selbstmord kommen finanzielle Sorgen in Betracht. Der Mann hatte sich vor einigen Tagen ausrechnen lassen, was er nach Einführung des AG 2 noch bekommen würde.
Bisher erhielt er 600 Euro vom Staat, ab Januar würden es nur noch 331 Euro sein. In seiner Hosentasche fand die Polizei einen Abschiedsbrief, aus dem zu erkennen war, wie verzweifelt er war.
Seine Lebensgefährtin ist sich sicher. Ihr Mann hat sich wegen Hartz IV umgebracht."
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aus der taz hamburg vom 19.04.2004 stammt der folgende artikel, der sich speziell mit dem hungertod einer psychisch erkrankten frau beschäftigt - auszüge:
"Tod durch Sozialhilfeentzug?
Kranke, die später verhungerte, wurde Stütze eingefroren. Amt wollte Frau zwingen, sich bei Betreuerin zu melden. SPD wirft Sozialbehörde jetzt Mitverantwortung vor
Als kurz nach dem Hungertod der siebenjährigen Jessica aus Jenfeld bekannt wurde, dass am 1. Dezember 2004 bereits eine psychisch kranke Frau in einem Farmsener Hochhaus verhungert aufgefunden worden war, warf SPD-Fraktionschef Michael Neumann CDU-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram vor, sie habe "ihre Behörde nicht im Griff". Die Senatorin wiederum ließ erklären, ihre Behörde habe mit dem Fall "nichts zu tun", denn psychisch Kranke würden durch das Amtsgericht betreut.
Der SPD-Sozialexperte Dirk Kienscherf stellte daraufhin eine kleine Anfrage an den CDU-Senat, um der Sache auf den Grund zu gehen. In der Antwort kommt nun zu Tage, dass die 40-Jährige seit dem 1. September, also drei Monate bevor ihre mumifizierte Leiche gefunden wurde, vom Sozialamt Wandsbek keine Sozialhilfe mehr ausgezahlt bekam. Denn die ihr vom Amtsgericht zugeteilte Betreuerin habe extra darum gebeten, mit der Auszahlung zu warten, bis der Kontakt wieder hergestellt sei. Laut Senatsantwort bemühte sich die Sozialarbeiterin seit Juli, ihre Klientin zu erreichen, da eine Gerichtsgutachterin klären sollte, ob die seit 1999 verfügte Betreuung noch nötig war. Als die an Schizophrenie erkrankte Frau dann am 13. August im Sozialamt erschien, habe man sie "eindringlich gebeten", sich bei ihrer Betreuerin zu melden, um die "Fortzahlung der Sozialhilfe über den 31. August hinaus sicherzustellen".
Was aber nicht geschah. Das Sozialamt nahm am 11. November wieder Kontakt zur Betreuerin auf, um zu fragen, ob das Geld gezahlt werden solle. Ob die Frau da noch lebte, ist nicht klar, da der Senat keinen Todeszeitpunkt nennen kann. Eine Woche später erstattete die Betreuerin Vermisstenanzeige, was zum Leichenfund führte. "Es gab hier also ein Zusammenspiel zwischen Betreuerin und Sozialdienststelle", schlussfolgert Kienscherf, der nun in einer neuen Anfrage klären will, ob häufiger psychisch Kranken Sozialhilfe gesperrt wird. Ferner wundert ihn, dass der Todeszeitpunkt unbekannt sein soll, was kriminaltechnisch ermittelbar wäre."(...)
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etwas heraus fällt in dieser liste ein selbstmord in haft nach verweigerung des sog. offenbarungseides:
"Eine 61-jährige Untersuchungsgefangene hat sich in der Nacht zum gestrigen Freitag in ihrer Einzelzelle erhängt. Wie von einem Sprecher der Justizbehörde mitgeteilt wurde, war Heidemarie B. gegen 6.45 Uhr beim morgendlichen Aufschluss von einer Justizvollzugsbeamtin gefunden worden. Der Anstaltsarzt sei unverzüglich herbeigerufen worden, habe aber nur noch den Tod der Frau feststellen können. Hinweise auf eine Fremdeinwirkung liegen nicht vor, ein Motiv für den Selbstmord ist nicht bekannt. Dem Behördensprecher zufolge befand B. sich zur Vollstreckung einer Erzwingungshaft seit vergangenem Montag in der Untersuchungshaftanstalt. Dort hinein gebracht hatte sie laut NDR 90,3 die Weigerung, ihre Vermögensverhältnisse offenzulegen."
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juli 2005:
"Mann wollte im Feuer sterben
Seine jahrelange Arbeitslosigkeit hatte ihn völlig zermürbt
POCKAU - Grausamer Selbstmordversuch im Erzgebirge: Thomas W. (38) setzte sich in sein Auto, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Doch er überlebte schwer verletzt, torkelte stundenlang durch den Ort. Erst dann fand ihn die Polizei - vier Kilometer vom Brandort entfernt.
Mitten in der Nacht klingelten die Beamten an der Haustür von W.s Familie. „Ihr Mann wollte sich das Leben nehmen“, teilten sie der Ehefrau (38) mit. Die hatte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt, dass ihr Thomas das Haus verlassen hatte. 40 Polizisten waren mit Fährtenhunden im Einsatz, suchten Wälder und Wiesen nach dem Flüchtenden ab. Jugendliche hatten ihn laufen sehen und den Notruf gewählt. Polizeisprecherin Heidi Hennig: „Vermutlich stand der Mann unter Schock.“
Der Pockauer war schon seit Jahren ohne Arbeit, litt sehr darunter. Seine Frau, selbst arbeitslose Kindergärtnerin, gestern zur Morgenpost: „Dass er so verzweifelt war, hätte ich nicht gedacht.“ Thomas W. liegt jetzt in einer Spezialklinik in Halle. Mehr als 70 Prozent seiner Haut sind verbrannt."
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februar 2005:
"Einen Tag nach der Zwangsräumung seiner Wohnung in Potsdam-Babelsberg ist ein 41-jähriger Mann erfroren. Wie die Polizei am Donnerstag mitteilte, entdeckten Spaziergänger den leblosen Mann am Mittwoch gegen 8.30 Uhr im Park Babelsberg. Andreas H. lag etwa 50 Meter vom Hauptweg entfernt hinter einer Böschung auf einem Teppich. Neben ihm wurden ein Rucksack und mehrere Bierflaschen gefunden. Ein Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus.
Erste Ermittlungen ergaben, dass Andreas H. erst einen Tag zuvor auf Beschluss des Amtsgerichts seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Tuchmacherstraße verlassen musste. Andreas H. lebte dort seit 1986. Seine Frau starb vor sechs Jahren an Krebs. Seit 2001 soll H. keine Miete und keine Betriebskosten mehr gezahlt haben. Daraufhin verklagte ihn der Wohnungseigentümer Ende April 2004. Die Mietrückstände von Andreas H. hatten sich zu diesem Zeitpunkt auf rund 9 000 Euro angehäuft. Da der Mann in dem Verfahren keinerlei Widerspruch einlegte, erging gegen ihn im November 2004 ein so genanntes Versäumnisurteil, in dem die Zwangsräumung angeordnet wurde. Auch dagegen wehrte sich Andreas H. nicht. Am Dienstag kam dann der Gerichtsvollzieher."(...)
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edit am 24.04.: bei fast allen der dokumentierten geschichten fällt etwas besonders krass auf: die haltung des rückzugs, der apathie und letztlich gegen sich selbst gerichteten aggression bei den betroffenen. um das zu verstehen, gibt es verschiedene ansätze - einen davon bietet die relativ neue strömung der relationalen psychoanalyse:
(...)"Sie geht von einem Verständnis des Menschen als Beziehungswesen aus und bemüht sich, diese Bezogenheit des Menschen in seinen psychischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen angemessen zu begreifen. Ausgangspunkt der Intersubjektiven Psychoanalyse ist nicht mehr ein isoliertes Triebwesen wie in der klassischen Psychoanalyse, sondern ein in seiner inneren Entwicklung durch seine Beziehungserfahrungen geprägtes Kind. Von dem bedeutenden englischen Psychoanalytiker Winnicott stammt der geniale Satz "There is no such thing as a baby" — d.h. so etwas wie ein isoliertes Baby gibt es nicht, das Baby ist nur zu verstehen als Teil seiner primären Beziehungswelt"(...)
was einen wichtigen schritt darstellt, um endlich wegzukommen vom quasi autistischen menschenbild der vereinzelten monade, welches bis heute in fast allen mainstreamdiskursen dominiert.
bei den folgenden aussagen zur erwerbslosigkeit als traumatischer erfahrung ist zu berücksichtigen, dass sie in dieser totalität vor allem bei menschen zutreffen dürften, die sich voll und alternativlos dem herrschenden normen- und wertesystem mit seiner bevorzugung der eigenen identitätskonstruktion über arbeit, leistung und erfolg (mitsamt den materiellen bequemlichkeiten, die wie zur dressur eingesetzt werden) ergeben haben - und kaum bis niemals eine eigene authentische identität entwickeln konnten, die sich aus der selbstverständlichen und liebevollen annahme ihrer selbst seitens der frühesten und wichtigsten bezugspersonen hätte ergeben können und sollen. mit dieser wichtigen voraussetzung im hinterkopf gelesen, bietet das folgende durchaus eine plausible erklärung für die auffällige und tödliche apathie an:
(...)"Die Konzepte der Relationalen Psychoanalyse geben uns damit auch einen unseres kritischen Maßstab an die Hand. Von der Notwendigkeit einer guten frühen intersubjektiven Erfahrungswelt des Kindes für dessen persönliche Entwicklung führt eine Grundlinie zur Notwendigkeit einer psychisch konstruktiven Gestaltung sozioökonomischer Großstrukturen für alle Gesellschaftsmitglieder. Die Großstrukturen müssen sich an den zentralen Lebensbedürfnissen und -rechten der Menschen orientieren — vor allem am Recht auf Verwurzelung, auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und Bildung, auf demokratische Mitbestimmung — sie bieten damit die Grundlage für eine autonome Existenzgestaltung und Lebensplanung.
Das Trauma Arbeitslosigkeit
Mit der sozialstaatlichen Bändigung des Nachkriegskapitalismus erkämpften sich die Menschen wichtige Ansätze für psychosozial stabilisierende sozioökonomische Großstrukturen: Vollbeschäftigung, steigender Lebensstandard und die Errichtung von Strukturen, die dem Solidarprinzip und dem sozialen Ausgleich verpflichtet waren, entsprachen einer sozialen Verallgemeinerung des Sich-Kümmern um andere — dies ist auch das Reifungsprinzip der intersubjektiven Psychoanalyse.
Die Wende zum Neoliberalismus bedeutet eine krasse Veränderung hin zu einem psychodestruktiven ökonomischen und politischen Regime. Die sozialstaatliche Einbindung des Kapitalismus wird immer radikaler als Hemmnis für die ungehinderte Entfaltung der Herrschaft der Aktionäre begriffen, d.h. für die Orientierung am kurzfristigen Renditeziel und am Anstieg des Börsenkurses. Durch beschleunigte Rationalisierungsprozesse kommt es zu einer Entkoppelung von ökonomischem Erfolg und Beschäftigung, zum Wachstum ohne Arbeitsplätze. Massenarbeitslosigkeit wird nicht nur in Kauf genommen, sondern im Zuge permanenter Kostensenkungsstrategien durch Arbeitsplatzvernichtung sogar gefördert. Die Massenarbeitslosigkeit stellt die zentrale Traumatisierung durch den Neoliberalismus dar.
Die Arbeitslosigkeit als individuelle Traumatisierung führt zu desaströsen psychischen Belastungen und Schädigungen, die von Auflehnung und ohnmächtiger Wut zu depressiver Verzweiflung, Erschöpfung und zum Gefühl der Wertlosigkeit führen. Die verinnerlichten negativen Erfahrungen der psychischen Frühphase, in der das werdende Selbst sich noch nicht abgrenzen und wehren kann, werden im hilflosen Erleben der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Erwerbstätigen reaktiviert. Nicht umsonst ist eines der am schwersten zu ertragenden Gefühle der Arbeitslosen das, überflüssig zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden und daran selber schuld zu sein.
Das individuelle Trauma der Arbeitslosigkeit wird durch die neoliberalen Eliten zu einem sozialen Trauma gesteigert, vor allem vermittels der Ideologie der "freiwilligen Arbeitslosigkeit"; nach der neoliberalen Lehre kann es keine Arbeitslosigkeit geben, wenn man den Markt nur seiner Selbstregulation überlässt. Für die im Überfluss vorhandene Ware Arbeitskraft stellt sich der marktgerechte Preis automatisch her — und wenn er unter dem Existenzniveau liegt, haben ihre Besitzer eben Pech gehabt. Arbeitslosigkeit ist damit definitionsgemäß immer nur Folge eines zu hohen Preises der Ware Arbeitskraft und damit immer freiwillig. Die Ideologie der freiwilligen Arbeitslosigkeit ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer systematischer Arbeitsplatzvernichtung. Sie stellt eine Grundfigur traumatisierender Täter-Opfer-Verkehrung und Opferbeschuldigung dar. Sie bietet damit eine Legitimation ideologischer und sozialer Gewalt gegen die Opfer, die wahnhafte Züge trägt; zugleich stellt sie einen Anschlag auf deren moralische Persönlichkeit dar, der die Opfer entmenschlicht und dehumanisiert."(...)
entmenschlicht und dehumanisiert - die parasitenvergleiche seitens der herrschenden kriminellen zeigen ganz offensichtlich wirkung.
liebe leserin, lieber leser: ich fürchte, wir werden uns alle mit dem gedanken vertraut machen müssen, dass uns ein weiteres kapitel in der geschichte des kampfes gegen das bevorsteht, was letztlich auch die selektionsrampe von auschwitz hervorgebracht hat. nicht, dass es eine eins-zu-eins-wiederholung geben würde - die heutigen antisozialen haben viel raffiniertere techniken und methoden zur verfügung. das ergebnis bleibt jedoch immer gleich.
und gleich noch einen filmtipp möchte ich nachlegen: Die Hochstapler vom regisseur alexander adolph greift letztlich eines der zentralen blogthemen hier auf - die menschlichen fähigkeiten zur simulation, die existenz von als-ob-strategien sowie das psychiatrische modell der als-ob-persönlichkeit.
"Man nennt sie Hochstapler oder Millionenbetrüger. Sie selbst bezeichnen sich als Märchenerzähler. DIE HOCHSTAPLER zeigt vier Männer, die ein besonderes Wissen weitergeben: Wie man andere belügt, betrügt, manipuliert, für dumm verkauft, wie sie sich Geld, Aufmerksamkeit und Liebe erschwindelt haben – und was das Lügen mit einem anstellt.(...)
Mitunter mag den Zuschauer die Vorstellung überkommen, dass es virtuose Schauspieler sind, die einen dramatischen Text interpretieren. Doch diese Oberfläche bekommt langsam Risse.
Was auf den ersten Blick ein sensationeller und mitunter sehr komischer Einblick in die Welt des Verbrechens zu sein scheint – vier Protagonisten, die packend und unterhaltsam erzählen – birgt etwas ganz anderes: Ein Kammerspiel über den Mechanismus des Lügens. Über den Wunsch, nicht der zu sein, der man ist. Darüber, wie man sich über die Manipulation der Wahrnehmung anderer zu einem neuen Menschen stilisiert – bis man selbst in dieser Rolle gefangen wird und die eigene Persönlichkeit auseinander fällt. Vor allem aber handelt DIE HOCHSTAPLER von einer Gier, die in uns allen steckt – und das ist nicht die Gier nach Geld, sondern nach Anerkennung und Liebe."(...)
und bei mindestens zweien der vier dokumentierten protagonisten des als-ob finden sich sofort und ohne große umschweife hinweise auf destruktive bzw. traumatische strukturen in ihren - hm, biographien:
"Aufgewachsen in der Nähe von Bitterfeld, begann seine kriminelle Karriere mit einer Höllenfahrt durch Spezialkinderheime der DDR, deren traurigen Höhepunkt die Jugendstrafanstalt Torgau darstellte. Nach der Wende fand auf ihn Erwachsenenstrafrecht Anwendung und die Abstände zwischen den Gefängnis-Aufenthalten wurden immer kürzer.
In den spärlichen Momenten der Freiheit erfand er neue Identitäten, um sich für die Eigene „zu rechtfertigen.“ Diese selbst geschaffenen Märchenwelten entwickelten eine erstaunliche Eigendynamik."(...)
(torsten s.)
"Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, Weihnachten und Geburtstage wurden nicht gefeiert. Dafür hatten er und sein Bruder schon in frühen Jahren Kunden zu akquirieren."(...)
(peter g.)
das prä-, peri- und natürlich auch postnatale traumtische bedingungen (im weitesten sinne gemeint, also jenseits der zu engen kriterien der heutigen mainstream-trauma-definitionen) u.a. als bewältigungs- und kompensationsfunktion zu einem "aufblähen" unserer objektivistischen fähigkeiten führen können, ist nach wie vor ein these, die sehr ernst genommen werden muss - und vielleicht gerade deshalb hartnäckig beschwiegen wird. ich bin übrigens mißtrauisch bei einer aussage wie derjenigen im ersten satz zu mark z.:
"Eine behütete Kindheit hat er gehabt. In der Schule war er allseits beliebt und sie wählten ihn zum Klassensprecher. Dennoch sagt er, habe er den anderen Leuten stets etwas vorgemacht."(...)
meistens wird darunter inzwischen eine normale oder gar überdurchschnittlich gute materielle versorgung verstanden - was noch lange nichts über die qualität der sozialen beziehungen des mark z. aussagt. wer anderen stets etwas vormachen muss, sprich simulieren, ist jedenfalls weit weg von authentischen beziehungen.
(...)"Der „andere“ Mark Z. nutzte die Mittel der Empathie und verstand sich hervorragend im Lesen von körperlichen Signalen. Er schuf Situationen, in welchen ihm seine Opfer blind vertrauten. Dabei hielt er sich stets an die Regeln des „perfekten“ Verkäufers."(...)
das ist tatsächlich eine beschreibung, wie sie auch auf die in den beiträgen zur als-ob-persönlichkeit näher dargestellte virtuelle figur des tom ripley perfekt passen würde - oder auf eine antisoziale persönlichkeit, u.u. bei bestimmten hirnveränderungen auch auf einen soziopathen, im klinischen sinne.
ich denke ebenfalls, dass alle vier in dem sinne nicht repräsentativ für derartig strukturierte persönlichkeiten sind, als sie eben auf dauer nicht erfolgreich gewesen sind - nicht nur mertz, sondern auch andere praktiker / theoretiker aus psychiatrie und psychologie haben wiederholt darauf hingewiesen, an welchen bedenklichen stellen in den heutigen machthierarchien sich funktionelle oder strukturelle soziopathen finden lassen. wenn sie "gut" im simulieren und manipulieren sind, bleiben sie als die schwer gestörten personen, die sie faktisch sind, nahezu unsichtbar, d.h. lassen öffentlich nur ihre maske(n) sichtbar werden - und lassen gleichfalls nur durch die wirkungen ihres objektivistischen handelns ihre anwesenheit erahnen.
das könnte natürlich alles nicht so relativ glatt über die bühne gehen, wenn die erwähnten machthierarchien nicht selbst strukturell eine schwer objektivistische schlagseite aufweisen würden (dazu hatte ich bezgl. eines weiteren vertreters des als-ob hier mehr geschrieben).
ebenfalls wird etwas deutlich, was bereits in der diskussion zu den thesen von mertz ein punkt gewesen ist: mehr oder weniger zufällig können menschen in einem solchen modus auch gegen die herrschenden machtstrukturen aktiv werden - ich hatte damals schon das beispiel von oskar schindler angeführt, und bei torsten s. wird etwas strukturell ähnliches sichtbar:
(...)"Mit keinem Pfennig in der Tasche hat er sich als Diplomat und persönlicher Freund Joschka Fischers ausgegeben. Gern ging er luxuriös einkaufen, das meiste davon hat er wieder hergeschenkt. Nachdem er für die Darstellung des erfundenen Diplomaten eine weitere Haftstrafe verbüßt hatte, begab er sich in einen kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern und organisierte als amerikanischer Major eine Nato-Sicherheitskonferenz. Innerhalb weniger Stunden stellte er eine ganze Stadt auf den Kopf, vom Hotel, über das Krankenhaus, Einrichtungs- und Autohäuser bis hin zum Bürgermeister - so glaubhaft, dass ihn die örtliche Polizei entkommen ließ."(...)
das problem bei derlei aktionen (wenn sie eben nicht von grundsätzlich sowohl authentizitäts- als auch simulationsfähigen menschen im sinne eines bewußten widerstands ausgeführt werden) - der ich selbst aufgrund ihres inhaltes mit einer gewissen sympathie gegenüberstehe - ist nur der punkt, den ich bereits früher von mertz zitiert hatte:
"Es sind hier, um es einmal ganz unmißverständlich auszudrücken, ausschließlich situative Zufälle, nämlich die günstigen Gelegenheiten oder externalen Kontrollmechanismen der jeweiligen historischen Situation, die aus ein und derselben Als-Ob-Person beispielsweise einen weithin respektierten Moraltheologen oder einen begnadeten Folterer machen. Bei entsprechender Intelligenz und persönlichem Geschick ist auch ein völlig reibungsloser Wechsel von einem zum anderen möglich."(...)
(mertz, "borderline..."; s. 56)
mehr bleibt dem aus meiner sicht momentan nicht hinzuzufügen.
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abschließend möchte ich auf einen auszug aus einer rezension seitens des deutschen ärzteblattes hinweisen, die sich im pressespiegel zum film finden lässt:
„Die Geschichten, die die vier inhaftierten Männer in Alexander Adolphs Interviewfilm „Die Hochstapler“ aus ihrem Leben erzählen, sind unglaublich, sind ebenso aberwitzig wie tragisch. Ihre Berichte reichen von den prägenden Erlebnissen ihrer Kindheit bis zur detaillierten Darlegung der Methoden, mit denen sie zunächst die Zuneigung und später das Geld ihrer Mitmenschen erschwindelten. Unkommentiert werden die Interviews aneinander gereiht, ergänzt durch die Stimmen von Eltern, Anwälten und Opfern.
Das Ergebnis ist eine ebenso behutsame wie vielschichtige Charakterstudie, durch die zwischen den Zeilen die Pathogenese zutiefst menschlicher Sehnsüchte scheint. Dass die Erfüllung dieser Sehnsüchte im Endeffekt – von den Tätern wie von den Opfern – über die Anhäufung des Placebos Geld erreicht werden soll, wirft ein Schlaglicht auf die Prioritäten, die sich in unserer Wirtschaftsordnung verfestigt haben. Und so ist „Die Hochstapler“ gleichzeitig eine hintersinnige Gesellschaftsstudie, die unausgesprochen die Frage nach der Wertigkeit menschlicher Gefühle in einer Welt aus Renditen und Gewinnmargen stellt. Der Betrüger erscheint in dieser Welt als die Gallionsfigur einer Gesellschaft, in der Geldscheine eine größere Inspiration darstellen als die Menschen, die sie besitzen.”
und die in den letzten sätzen genannten aspekte halte ich nicht nur für sehr treffend und bezeichnend, sondern sie veranlassen mich auch auch zur besuchsempfehlung, ebenfalls ohne ihn bisher gesehen zu haben. und ich habe das gefühl, dass es sehr aufschlußreich sein könnte, diese dokumentation mit der hier gestern vorgestellten vom großen ausverkauf als zusammengehörig zu betrachten - zwei seiten der gleichen medaille, die da heißt: das system der verwertung (im kapitalistischen sinne), verdinglichung und objektivierung bzw. der in diesen übergriffen strukturell und zwangsläufig enthaltenen gewalt erzeugt sich über diverse psychophysische mechanismen die ihm kompatiblen menschen. und diejenigen menschen, die in modellen wie der als-ob-persönlichkeit beschrieben werden können, sind zu begreifen als solche sich in konkreten (pseudo-)lebensläufen manifestierenden versuche des überlebens unter grundsätzlich pathologischen und antisozialen bedingungen.
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wenn Sie den film "brazil" kennen und mögen, werden Sie sich vielleicht an den unsterblichen dialog der hauptfigur sam lowry mit dem guerilla-klempner harry tuttle erinnern:
"Aber...aber...das ist ja Scheisse!"
(tuttle, sich ruhig eine zigarette ansteckend):
"Ganz recht, mein Junge. Wir stecken alle tief drin".
und das ist der präziseste und zusammenfassendste kommentar zu unserer welt in ihrer heutigen erbärmlichen verfassung, der mir bis dato bekannt ist. einen schönen sonntag noch.
und wieder ein filmtipp, den ich nach ansicht der bisher vorliegenden infos ohne große bedenken weitergeben möchte - nach "the corporation", "we feed the world" und anderen ähnlichen dokumentationen dürfte sich dieser film mit dem thema "privatisierung" bruchlos in die reihe der eben genannten und im besten sinne aufklärerischen und v.a. aufwühlenden arbeiten einreihen:
"Ein britischer Lokführer, eine philippinische Mutter, ein südafrikanischer Aktivist und die Bürger einer bolivianischen Stadt: Sie kämpfen bereits gegen das, was uns alle erwartet: den GROSSEN AUSVERKAUF.
„Ich habe einmal bestimmte Aspekte der Wirtschaftspolitik mit moderner Kriegsführung verglichen. In der modernen Kriegsführung versucht man zu entmenschlichen, das Mitgefühl zu beseitigen. Man wirft Bomben aus 15 000 Metern, aber man sieht nicht, wo sie landen, man sieht keine Schäden. Es ist fast wie in einem Computerspiel. Man spricht von „body counts“. Das entmenschlicht den Prozess. Genauso ist es in der Wirtschaft: Man redet über Statistiken und nicht über die Menschen hinter diesen Statistiken.“
(Joseph E. Stiglitz / Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften)
damit dürften auch weitere und neue bilder zur verfügung stehen, die zumindest einiges von den themen auch hier im blog visuell anschaulicher machen werden.
sehr interessant und vielleicht auch in naher zukunft in diesem land hier relevant finde ich die informationen über die trupps von "guerilla-elektrikern" in südafrika.
der film soll ab dem 17. mai in den kinos zu sehen sein.
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edit am 04.12.08: inzwischen ist der film online - darum keine langen worte mehr, sondern nur die empfehlung: anschauen, wenn Sie ihn bisher noch nicht gesehen haben!
so die eingangsfrage zu einer bemerkenswerten diskussion drüben bei unkreativ. hiermit empfohlen.
ein bemerkenswerter text von eduardo galeano, der vieles von denjenigen katastrophalen entwicklungen aufgreift, die keinen fühlenden und denkenden menschen heute mehr unberührt lassen können.
(...)"Das Recht auf Verschwendung, Privileg von Wenigen, sagt, die Freiheit von allen zu sein. Sag mir, wieviel du verbrauchst und ich sag dir, wieviel du wert bist. Diese Zivilisation lässt weder die Blumen, noch die Hühner, noch die Menschen schlafen. In den Treibhäusern werden die Blumen Dauerlicht unterworfen, damit sie schneller wachsen. In den Eierfabriken ist den Hühnern auch die Nacht verboten. Und die Menschen sind zur Schlaflosigkeit verurteilt, wegen der Kaufsucht und der inneren Unruhe dann bezahlen zu müssen. Diese Lebensweise ist nicht sehr gut für die Menschen, aber sie ist sehr vorteilhaft für die Pharmaindustrie."(...)
(...)„Unglückliche Leute, die leben, um sich gegeneinander abzuschätzen“, bedauert eine Frau im Viertel von Buceo in Montevideo. Der Schmerz nicht mehr das zu sein, wie früher der Tango sang, hat sich in die Schande nicht zu haben, gewandelt. Ein Mensch, der arm ist, ist ein armer Tropf. „Wenn ihr nichts habt, denkt ihr, ihr taugt nichts“, sagt ein Junge im Viertel Villa Fiorito von Buenos Aires. Und ein anderer beweist in der dominikanischen Stadt von San Francisco de Macorís: „Meine Brüder arbeiten für die Marken. Sie leben, Etiketten kaufend und leben Blut und Wasser schwitzend, um die Gebühren zu bezahlen.“
Unsichtbare Gewalt des Marktes: Die Mannigfaltigkeit ist Feindin der Wirtschaftlichkeit und die Einförmigkeit befiehlt. Die Serienproduktion, auf gigantischer Ebene, setzt überall ihre Pflichtnormen des Konsums. Diese Diktatur ist verheerender als jede Einparteiendiktatur: Sie drückt der ganzen Welt eine Lebensweise auf, die die Menschen wie Fotokopien des beispielhaften Konsumenten reproduziert."(...)
(...)"Die Experten verstehen es, Waren in Zaubereinheiten gegen die Einsamkeit zu verwandeln. Die Dinge haben menschliche Bestimmungen: Sie streicheln, begleiten, verstehen, helfen, das Parfüm küsst dich und das Auto ist der Freund, der niemals versagt. Die Kultur des Konsums machte aus der Einsamkeit den lukrativsten der Märkte. Die Öffnungen der Brust füllen sich, vollgestopft mit Dingen, oder davon träumend, es zu tun. Und die Dinge können nicht nur umarmen: Sie können auch Symbole des sozialen Aufstiegs sein, Passierscheine, um die Grenzen der Klassengesellschaft zu überwinden, Schlüssel, die verbotene Türen öffnen. Um so exklusiver, um so besser: Die Dinge wählen dich aus und retten dich aus der Massenanonymität. Die Werbung informiert nicht über das Produkt, das sie verkauft, oder seltene Male tut sie das. Das ist das wenigste. Ihre Funktion besteht in erster Linie in der Frustkompensierung und Fantasien zu nähren: In wen möchten Sie sich verwandeln, wenn Sie diese Rasierlotion kaufen?
Der Kriminologe Anthony Platt beobachtete, dass die Straftaten auf der Strasse nicht nur Folge extremer Armut sind. Sie sind auch die Frucht der individualistischen Ethik. Die gesellschaftliche Besessenheit des Erfolgs, sagt Platt, wirkt sich entscheidend auf die illegale Aneignung der Dinge aus. Ich hörte immer sagen, dass Geld nicht glücklich macht; aber jeder arme Fernsehzuschauer hat genügend Motive zu glauben, dass das Geld etwas ähnliches herstellt, dass der Unterschied eine Angelegenheit von Spezialisten ist."(...)
(...)"Jetzt, wer trifft wen? Trifft die Hoffnung die Wirklichkeit? Der Wunsch, trifft er sich mit der Welt? Und die Leute, treffen sie sich mit den Menschen? Wenn sich die menschlichen Beziehungen auf Beziehungen zwischen Dingen reduziert haben, wie viele Leute treffen sich mit den Dingen?"(...)
(...)"Die Besitzer der Welt benutzen die Erde, als ob sie ausschaltbar wäre: Eine Ware des flüchtigen Lebens, die sich ausverkauft, wie sich, von kurz nach der Geburt an, die Bilder, die das Maschinengewehr des Fernsehers schiesst, und die Moden und die Idole, die die Werbung ohne Waffenruhe auf den Markt wirft, erschöpfen. Aber in welche andere Welt werden wir umziehen? Sind wir alle dazu verpflichtet das Märchen zu glauben, Gott habe den Planeten an einige Unternehmen verkauft, weil er schlecht gelaunt entschied, das Universum zu privatisieren? Die Konsumgesellschaft ist eine Dummenfänger-Falle. Diejenigen, die das Heft in der Hand haben, täuschen vor es zu ignorieren, aber jeder, der Augen im Kopf hat, kann sehen, dass die grosse Mehrheit der Leute wenig konsumiert, sehr wenig oder notwendigerweise nichts, um die Existenz der wenigen Natur, die uns bleibt, zu garantieren. Die soziale Ungerechtigkeit ist weder ein zu korrigierender Irrtum, noch ein zu überwindender Fehler: Sie ist eine grundlegende Notwendigkeit. Es gibt keine Natur, die in der Lage ist ein Shopping-Center in der Grösse des Planeten zu ernähren."
logisch und zwangsläufig, dass die beschriebenen verhältnisse sich in die innersten strukturen der menschen regelrecht einbrennen.
logisch und zwangsläufig, dass dieser prozeß nicht ohne enorme symptome - sowohl bei einzelnen menschen als auch ganzen betroffenen kollektiven - vor sich gehen kann.
und logisch und zwangsläufig, dass der zeitpunkt rasend schnell näherrückt, an dem für jeden und jede die entscheidung fallen muss: alles, was ein menschliches - authentisches - leben ausmacht, im wortwörtlichen sinne verraten und verkaufen für eine welt der simulationen und fiktionen, die bei weitem nicht nur mit geld bezahlt werden?
"Die Kultur des Konsums machte aus der Einsamkeit den lukrativsten der Märkte." ja. und wer ein system - egal ob es sich selbst als "freiheitlich", "demokratisch" oder sonstwelchen phrasen aus der simulationsfabrik der antisozialen "eliten" bezeichnet - stützt, welches genau solche entwicklungen wie nicht nur in diesem blog thematisiert nicht nur hervorbringt, sondern noch als "alternativlos" und "einzig möglich" propagiert, und sich für diese unterstützung mit beliebigen produkten der dingwelt aushalten lässt - wer sich also für den eigenen materiellen wohlstand auf kosten von millionen und milliarden anderer lebewesen prostituiert und zum täter macht - der wird unfehlbar die konsequenzen tragen müssen. und die unausweichlichste wird diejenige sein, die in der eigenen totalen isolation bestehen wird - leerer als eine wüste.
wer freundschaft, liebe und solidarität nur noch als "soft skills" begreift, und sie als leere hüllen instrumentalisierend und simulativ im eigenen egozentrischen interesse einsetzt, verdammt sich selbst zu einer einsamkeit, die unermesslich ist. um diese einfache wahrheit wird keiner der leeren schwätzer von der herrlichkeit der westlichen "kultur" und "zivilisation" herumkommen - es sei denn, er oder sie macht sich selbst zu einem jener mutanten, die bspw. unter dem namen der als-ob-persönlichkeit laufen.