Montag, 18. Oktober 2010

notiz: krisennews spezial - die lage in frankreich eskaliert [3. update, 24.10.]

ergänzung und fortsetzung zu den anmerkungen über die vielen widerstandsformen und brennpunkte im europäischen herbst, und gleichzeitig auch wegen der zumindest bis zur stunde auffällig, aber sicher nicht zufällig deckelnden berichterstattung ein weiteres spezial mit nur einem thema.

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womöglich sehen wir in diesen tagen nach allerhand vorgeplänkeln in frankreich die erste ernsthafte und immer grundsätzlicher werdende auseinandersetzung zwischen einem kapitalistischen regime und großen teilen der bevölkerung in der krise, und das auch noch in einem westlichen kernstaat. was sich letzte woche schon andeutete und eigentlich erst morgen in vollem ausmaß sichtbar werden sollte (mehr oder weniger ein faktischer generalstreik, der da laufen soll), ist bereits heute flächendeckend
eskaliert- ein überblick zu den brennpunkten, und zwar nur das, was überhaupt den mainstream erreicht:

(...) "Nach fast einwöchigen Dauerprotesten gegen die Rentenreform wird in Frankreich der Sprit knapp. Etwa 1500 Tankstellen können wegen blockierter Raffinerien und Treibstoffdepots kein Benzin und Diesel mehr verkaufen. (...) Die Regierung setzte einen Krisenstab ein, um die Energieversorgung des Landes zu sichern. In zwei Departements riefen die Behörden Autofahrer dazu auf, unnötige Fahrten ab sofort zu vermeiden. (...)

Die Beteiligung der Lastwagenfahrer an den Protesten hat die bestehenden Engpässe bei der Benzinversorgung noch verschärft. Es kam zu ersten Bummelstreiks auf Autobahnen rund um die Großstädte Lyon und Rennes: Lastwagenfahrer fuhren mit Kleinlastern auf allen Spuren absichtlich langsam und behinderten so den Verkehr.

Begleitet wurden die Aktionen durch schwere Jugendkrawalle mit brennenden Autos und zerbrochenen Schaufenstern in diversen Städten des Landes. Die Polizei setzte Tränengas ein und nahm rund 200 Randalierer fest.

Unter dem Druck der Streiks sah sich Frankreich zur Einschränkung des Flugverkehrs gezwungen. Die Luftfahrtbehörde forderte die Fluggesellschaften auf, am Dienstag die Hälfte ihrer Frankreich-Flüge zu streichen. (...)

Die Proteste haben mittlerweile auch die Energieversorger erreicht. Die Belegschaft des nordfranzösischen Atomkraftwerks Flamanville stimmte für einen 48-stündigen Ausstand (...)

Weiterhin gestört ist auch der Bahnverkehr. Etwa jeder zweite innerfranzösische Schnellzug (TGV) ist ausgefallen." (...)


es darf getrost davon ausgegangen werden, dass die beabsichtigte renten"reform" zwar als auslösendes moment eine hauptrolle spielt, innerhalb der sich auf dem weg vom protest zum widerstand befindlichen vielfältigen bewegungen aber auch durchaus grundsätzliche widersprüche zum gesamten system motivierend sind. für wirklich fundierte hintergrundinformationen empfehle ich für alle, die nicht wirklich der sprache mächtig sind (falls Sie französisch sprechen, sind bspw. die verschiedenen indymedia-france-seiten als primärquelle brauchbar) das
spezial vom labournet. da lassen sich dann solche wichtigen und interessanten hintergrundinfos wie die von bernard schmid in seinem aktuellen text von heute finden:

(...) "Begleitet wurden die Protestzüge auf den Straßen von Streiks sowohl in öffentlichen Diensten als auch in Teilen der Privatwirtschaft. Seit dem 12./13. Oktober wird nun zum unbefristeten Streik in einigen Sektoren aufgerufen, wo „harte Kerne“ ihn aus Eigeninitiative tragen können – denn die Führungen der gewerkschaftlichen Dachverbände lassen ihrer Basis zwar freie Hand, wo sie in den unbefristeten Streik eintreten möchten, tun aber auch aktiv nichts für einen unbefristeten Streik. (De facto passen den obersten Führungsspitzen der Gewerkschaftsdachverbände härtere Konfrontationsformen zwar nicht in den Kram. Aber vor allem bei der CGT, dem stärksten Dachverband, ist der Druck von radikaleren Teilen der Basis sehr stark, und die Führung hat beschlossen, ihnen die Zügel locker-, doch gleichzeitig ihnen selbst die Initiative zu überlassen.) Die Energieversorgungsunternehmen und Teile der Metallindustrie waren ebenso betroffen wie der Eisenbahnverkehr, der seit Tagen beeinträchtigt, wenn auch nicht völlig lahmgelegt ist." (...)

das bedeutet nach meinem verständnis nichts anderes, als das wir aktuell das wirken einer ansatzweise autonomen organisierung von teilen der lohnarbeitenden klasse(n) zu sehen bekommen. ebenfalls ist die zunehmende beteiligung von schülerInnen und ansatzweise studentInnen bemerkenswert - ein bündnis aus den gerade benannten gruppen auf den straßen stellt seit dem
mai 1968 einen der alpträume für jede französische regierung dar, und man darf mit aller wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich der frisch gebildete krisenstab keineswegs nur mit fragen der treibstoffversorgung beschäftigt.

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wie geht es weiter? kann ich persönlich überhaupt nicht einschätzen, weil in so einer angespannten situation stündlich bspw. durch polizeiübergriffe jederzeit weitere eskalationsmomente ausgelöst werden können. es scheint aber ein paar zeitfenster zu geben; einmal wäre da die für mittwoch terminierte formale abstimmung zur "reform", zum anderen die am wochenende beginnenden einwöchigen herbstferien für die dortigen schulen. aus verschiedenen äusserungen ist zu schließen, das insbesondere die wachsende beteiligung vieler jugendlicher an den protesten innerhalb des apparats für unbehagen sorgt und darauf gesetzt wird, dass die ferien da quasi de-eskalierend wirken. das finde ich allerdings nicht zwangsläufig - es bedeutet auch mehr zeit für schülerInnen zum nachdenken, informieren und aktiv sein. viel dürfte jetzt davon abhängen, was innerhalb der nächsten beiden tage passiert. und klar sollte auch sein, dass es sich hier um eine echte kraftprobe mit signalwirkung für ganz europa handelt - bekommt die regierung diese sog. "reform" durch, werden wir nicht nur hierzulande die üblen folgen zu spüren bekommen. und deshalb ist es eigentlich dringend an der zeit darüber nachzudenken, wie die nachbarInnen unterstützt werden können - als blogger und bloggerinnen ist dabei die informationsverbreitung das mindeste, aber primär sehe ich hier an erster stelle die gewerkschaften gefordert.

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edit am 19.10.: ich werde so richtig erst ab donnerstag wieder genügend zeit und raum haben - darum heute nur abermals der verweis auf das
labournet mit dem "tagesbericht" von bernard schmid. das ist bisher die zumindest mir bekannte beste, weil informativste, deutschsprachige berichterstattung.

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edit am 21.10.: die mediale berichterstattung ist für diesen anlaß - soziale proteste und unruhen in einer landesweiten dimension - weiterhin deutlich zurückgenommen, und an vielen stellen von ihrer tendenz her paternalistisch bis deutlich negativ. und es ist durchaus ärgerlich, dass sich bspw. auf einem medium wie indymedia bis zur stunde noch keinerlei übersetzungen von den französischen schwesterseiten finden, ganz im gegensatz zu früheren analogen ereignissen bspw. in griechenland. so bleibt zumindest für alle nicht französischsprechenden bis zur stunde nichts weiter übrig, als auf die "offiziellen" darstellungen der presseagenturen und vereinzelter journalistInnen zurückzugreifen. eine art
zusammenfassung der bisherigen heutigen situation findet sich in der taz. dort fand sich gestern auch unter dem bemerkenswerten titel "Der Staat ist autistisch" ein einigermaßen lesenswertes interview mit einer historikerin, die im letzten absatz folgendes sagt:

(...) "Sind Sie überrascht vom Ausmaß und der Eskalation der jetzigen Proteste gegen die Rentenreform?

Nein, keineswegs. Die Altersversicherung der Sécurité Sociale gilt als eine der großen Errungenschaften, die die Franzosen und Französinnen verteidigen wollen. Sie halten umso mehr daran fest, als sie als erkämpfte Errungenschaft gilt.

Es gibt dazu einen Slogan in den Demonstrationen, der besagt: "Wir haben gekämpft, um die Rente zu erobern, wir werden kämpfen, um sie zu verteidigen." Hinzu kommen auch noch die Provokationen der Staatsführung. Wenn der Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagt, er bemerke die Streiks gar nicht, oder wenn ein Premierminister erklärt, es sei nicht die Straße, die regiere, fühlen sich die Bürger bei der herrschenden Spannung dadurch noch mehr herausgefordert. Wir leben in einem Land, in dem die sozialen Kämpfe maßgeblich das kollektive Bewusstsein geprägt haben."


der letzte satz ist ein volltreffer, aber so richtig erst dann, wenn man sich nochmals die v.a. von lloyd deMause herausgearbeiteten
eigenarten und unterschiede im historischen umgang mit kindern hierzulande und in frankreich deutlich macht. es geht nicht darum, das nachbarland diesbezgl. zu glorifizieren, dazu gibt es keinen anlaß. aber die psychohistorie liefert schon eindeutige hinweise auf eine fundamentale basis, aufgrund derer die erwähnten sozialen kämpfe überhaupt erst möglich wurden.

als bisher größere ausnahme im mainstream kann ansonsten auch der standard aus wien gelten, der seit tagen eine zumindest weitgehend informative
schwerpunktberichterstattung produziert. aus diesem schwerpunkt sei besonders auf einen beitrag verwiesen, der sich besonders mit rolle und motivationen der sich stark engagierenden schülerInnen beschäftigt: "Einfach stillsitzen können wir nicht".

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edit am 24.10.: was sich selbst bei einem nur flüchtigen blick von außen bereits in den letzten wochen andeutete, wird mehr und mehr untermauert: die sog. rentenreform ist bzw. war nur ein anlaß für etwas grundsätzlicheres. auch nach dem nehmen einer weiteren "parlamentarischen hürde" für das gesetzespaket gehen die
streiks und proteste weiter. in dieser woche wird dabei sichtbar werden, wie die bisherige beteiligung von schülerInnen und jugendlichen generell einzuschätzen ist - bleibt diese im großen und ganzen konstant, wäre das ein unübersehbares signal.

aber auch von seiten der arbeiterInnen ebenso wie von den - bei weitem nicht so wirkungsmächtigen wie hierzulande immer gern und falsch suggeriert - gewerkschaften ist die weiterführung der proteste ein deutliches signal. letzten donnerstag kam es auf einem übergreifendem gewerkschaftstreffen zu folgenden
ergebnissen:

(...) "Entgegen einer verbreiteten Erwartung ist die Einheit der ,Intersyndicale', d.h. des Bündnisses von acht französischen Richtungs-Gewerkschaftszusammenschlüssen gegen die drohende „Reform“ des Rentensystems, am gestrigen Donnerstag nicht geplatzt.

Am Nachmittag trat die ,Intersyndicale' am Sitz der CFDT, im 19. Pariser Bezirk, zusammen. Zu ihren Mitgliedern zählen die fünf „klassischen“ Gewerkschafts-Dachverbände (CGT: „postkommunistisch“, CFDT: an der Spitze rechtssozialdemokratisch, FO: verbalradikal-populistisch-schillernd, CFTC: Christenheinis, CGC: höhere Angestellte), der „moderate“ lockere Zusammenschluss von Berufsgruppengewerkschaften UNSA, die linke Union syndicale Solidaires (zu ihr zählen u.a. die Basisgewerkschaften SUD) und die FSU (Zusammenschluss von Gewerkschaften v.a. im Bildungssektor).

In breiten Beobachterkreisen war angenommen worden, die Einheit dieses Kartells werde an diesem Donnerstag zerspringen. Denn es hatte sich im Vorfeld angedeutet, die „moderateren“ Organisationen könnten das Bündnis wahrscheinlich verlassen, nachdem der Senat (das „Oberhaus“ des französischen Parlaments) der Rentenreform ebenfalls zugestimmt haben würde - nach der Nationalversammlung oder dem „Unterhaus“, welches die Renten„reform“ bereits am 15. September verabschiedete. Aus den Reihen der CFDT oder der UNSA etwa verlautete, wenn erst einmal beide Parlamentskammern der „Reform“ zugestimmt hätten, dann gelte es, „die Demokratie zu respektieren“ - und auf einen Wechsel auf Regierungsebene im Wahljahr 2012 zu hoffen bzw. zu setzen. (...)

Und dann kam es, wider vielfaches Erwarten, doch noch anders. Selbst die CGC (in deren Reihen eher Wähler der bürgerlichen Rechten denn Sympathisanten der Linken anzutreffen sind) blieb auch nach dem gestrigen Treffen in der ,Intersyndicale'. Und die CFDT sowie die anderen Gewerkschaftsverbände und -zusammenschlüsse einigten sich auf zwei neue „Aktionstage“ gegen die Renten„reform“: Am Donnerstag, den 28. Juni und am Samstag, 06. November soll es erneut zu Arbeitsniederlegungen (jenseits der ohnehin im Streik stehenden Sektoren) und Demonstrationen kommen." (...)


das ist durchaus bemerkenswert und könnte vielleicht in die richtung interpretiert werden, dass es sich einerseits die gewerkschaftsführungen plus ihre bürokratie angesichts der weiter vorhandenen massenmobilisierung nicht noch mehr mit "ihrer" klientel verscherzen wollen, während andererseits die ganze struktur des konflikts eben spätestens jetzt deutlich darauf hinweist, dass es sich um eine grundsätzliche konfrontation mit der regierung handelt und die gewerkschaftsspitzen verstanden haben, dass eine niederlage zum jetzigen zeitpunkt möglicherweise parallelen zum schicksal ihrer kollegen im großbritannien der 1980er unter thatcher aufweisen könnte - sarkozy würde eine faktische zerschlagung der gewerkschaftlichen restbestände unter garantie liebend gerne verantworten.

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die große frage ist natürlich, was nach der endgültigen formalen verabschiedung der "reform" passiert. bisher gab es kaum übersetzte meinungen und kommentare aus den gewerkschaftsfernen und autonom agierenden beteiligten gruppen zu hören; inzwischen ist ein
Communiqué aus den Straßen von Paris aufgetaucht, angeblich geschrieben von aktivistInnen selbst - auszüge:

"Seit mehreren Tagen erblühen überall die vielfältigsten Initiativen: Blockaden von Gymnasien, Bahnhöfen, Raffinierien, Autobahnen; Besetzungen von öffentlichen Gebäuden, Arbeitsplätzen, Einkaufszentren; gezieltes Kappen der Elektrizitätsversorgung, Plünderungen von Wahlkampfbüros und Rathäusern...

In allen Städten intensivieren diese Aktion das Kräfteverhältnis und zeigen, wie zahlreich diejenigen sind, die sich nicht mehr zufrieden geben mit den Aktionsformen und Parolen, die ihnen von der Führung der Gewerkschaften aufgezwungen werden. In der Pariser Region, inmitten der Blockaden der Schulen und Bahnhöfe, der Streiks in den Grundschulen, der Streikposten der ArbeiterInnen vor den Fabriken, finden branchenübergreifende Versammlungen statt, bilden sich Kollektive des Kampfes, um zu versuchen, die Isolation und die vom Staat forcierte Trennung in den öffentlichen und den privaten Sektor zu zerstören. Ihr Ausgangspunkt: Selbstorganisierung als Antwort auf die Notwendigkeit, uns unsere Kämpfe wieder anzueignen, ohne Vermittlung derer, die vorgeben, im Namen der ArbeiterInnen zu sprechen. Unter uns sind viele, die sich nicht in den traditionellen Formen des Streiks am Arbeitsplatz organisieren und die dennoch zur allgemeinen Bewegung beitragen wollen, die Wirtschaft zu blockieren. Denn diese Bewegung ist auch eine Gelegenheit, über die spezielle Rentenproblematik hinaus zu gehen, die Frage der Arbeit zu stellen, gemeinsam eine Kritik der Ausbeutung zu entwickeln und aufzubauen." (...)


das unterstreicht meinen oben erwähnten persönlichen eindruck von der dimension des protestes und erinnert nicht zufällig auch an die griechische sozialrevolte vom winter 2008. und genausowenig, wie griechenland seitdem wirklich "befriedet" ist - auch wenn es medial so vermittelt wird -. ist in frankreich absehbar, wohin das ganze noch führen wird und kann. nicht zuletzt dürfte das auch davon beeinflusst werden, was in anderen ländern passiert.

zum heutigen schluß ein hinweis auf eine wie üblich eindrucksvolle galerie zu den streiks und demonstrationen bei
boston.com.

Sonntag, 17. Oktober 2010

kontext 70: das interview mit temple grandin in der "sz"...

... lässt sich ganz gut als ergänzung zu den passagen zu ihr lesen, die hier stehen. die "süddeutsche" führt in das interview u.a. mit folgenden worten ein:

(...) "Grandin ist Autistin. Und sie ist ein sogenannter Savant, sie hat eine Inselbegabung, wie man sagt. Ihre Insel sind die Tiere, in die sie sich hineinfühlen kann wie niemand sonst. Grandin ist Professorin für Tierwissenschaften an der Colorado State University. Vor allem aber berät sie Viehzuchtbetriebe. Inzwischen laufen die Hälfte aller Rinder in den USA durch Zuchtanlagen und Schlachthöfe, die Grandin entworfen hat; manche nennen sie deshalb »Cow Killer«. Grandin hat nichts gegen das Schlachten, aber sie will, dass die Tiere keine Schmerzen leiden. (...) Das Time Magazine zählte Temple Grandin im April zu den 100 einflussreichsten Menschen weltweit" (...)

etliches, was im interview gesagt, ist so ähnlich oder ausführlicher auch schon im oben eingangs verlinkten blogbeitrag zu lesen. trotzdem zitiere ich im folgenden ein paar passagen, weil sie deutlicher machen können, was ich mit dem u.a. durch die url fundamental mit dem blog verbundenen begriff "autismuskritik" eigentlich verbinde.

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(...) "Wissenschaftler streiten sich bis heute, was Autismus eigentlich ist.

Stellen Sie sich mein Gehirn wie einen riesigen Bürokomplex vor. Normalerweise sitzen da oben ein Vorstandsvorsitzender und sein Team, darunter Abteilungen für Finanzen, Buchhaltung, Personal, Recht und so weiter. All diese Abteilungen kommunizieren ständig miteinander über E-Mail, Telefon, Fax, Konferenzen. In meinem Kopf sind einige dieser Kabel nicht angeschlossen. Die autistische Hirnrinde ist oft stark überwachsen, das kann man mit einem Kabelsalat vergleichen, in dem es dann zu Kurzschlüssen kommt. Dass es so viele verschiedene Arten von Autismus gibt, liegt daran, dass immer andere Abteilungen angeschlossen sind."


die metapher eines bürokomplexes für das menschliche gehirn mag zwar auf den ersten blick einleuchtend erscheinen, ist aber bei näherer betrachtung der bisher bekannten vorgänge im hirn vor allem eines - unterkomplex. fehlende oder defekte neuronale verbindungen sind vielleicht in besonderen und spezifischen einzelfällen mit nicht angeschlossenen kabeln zu vergleichen, aber da das ganze gehirn eher als hochgradig und mehrdimensional vernetztes gebilde mit gewissen redundanzen und kompensatorischen fähigkeiten zu verstehen ist, gilt hier durchaus der satz: das ganze ist mehr als die summe seiner teile.

"Was bedeutet das bei Ihnen?

Einige Dinge kann ich einfach nicht besonders gut. Die Grafikabteilung in meinem Gehirn ist zum Beispiel überbeschäftigt, die Abteilung für Sozialverhalten aber unterentwickelt. Ich musste erst lernen, mit Menschen umzugehen.

Wie haben Sie das geschafft?

Indem ich beobachte, wie andere Menschen miteinander umgehen, sie wie mit einem Videorekorder im Gehirn aufzeichne und dann bei Bedarf das richtige Verhalten abspiele. Worte sind wie eine Fremdsprache für mich. Ich übersetze alles, was ich höre und lese, in Bilder und in Farbfilme mit Ton. Mit Menschen umzugehen ist für mich wie eine Rolle in einem Drehbuch. Je mehr Filme ich in meiner Gehirnbibliothek gespeichert habe, desto normaler verhalte ich mich."


wie auch in späteren abschnitten des interviews immer wieder deutlich wird, stützt sich grandin nicht nur in bezug auf ihre konstruktion bzw. simulation dessen, was sie als soziales leben wahrnimmt, auf denjenigen modus des menschlichen bewusstseins, den ich in anlehnung an das modell von j. erik mertz als
objektivistisch bezeichne - in jedem menschen vorhanden und nicht per se krankhaft / pathologisch, kann er unter bestimmten umständen jedoch entgleiten und sich in einer monopolposition "aufblähen". dies vor allem dann, wenn elementare wahrnehmungsfähigkeiten geschädigt oder komplett ausgefallen sind. eine andere variante des gemeinten ist in der hier vorhandenen fallgeschichte einer frau nachzulesen, die aufgrund eines schadens ihrer propriozeptiven wahrnehmung ebenfalls dazu gezwungen ist, die ausgefallenen funktionen quasi konstruktivistisch zu ersetzen und verlorene fundamentale bewegungsabläufe per bewusster simulation zu kompensieren. das macht die frau in diesem falle nicht zu einer autistin (weil es sich hier speziell um eine eingegrenzte wahrnehmungsfunktion handelt) , zeigt jedoch ganz gut das prinzip auf, welches bei den meisten varianten des autismus eine rolle spielen dürfte. und ebenfalls zeigt die geschichte auch den blinden fleck im selbstverständnis bei grandin: sie focussiert sich regelmässig aufs gehirn, obwohl letzteres nur einen teil des gesamten körpers darstellt, und auch das autistische geschehen lässt sich nur ganzkörperlich verstehen.

"Sie sagen, Autismus sei eine Art Zwischenstation auf dem Weg vom Tier zum Menschen. Wie meinen Sie das?

Autistische Inselbegabte können sich zum Beispiel optische Details perfekt einprägen, etwa wenn sie mit einem Hubschrauber über ein Gebiet fliegen – wie Zugvögel. Andere haben ein unfehlbares Gedächtnis – wie ein Hund. Manche Savants haben einen IQ wie geistig Behinderte, aber sie können Dinge tun, die normale Menschen nicht können – wie sehr sie es auch versuchen. Ich kann zum Beispiel ganze Zuchtanlagen in meinem Kopf probelaufen lassen, in dreidimensionalen Bildern. Andere brauchen dafür teure Animationen und kriegen es dann doch nicht so gut hin."(...)


gerade die savants (= inselbegabte) zeigen eindrucksvoll das kompensatorische prinzip auf: bestimmte objektivistische fähigkeiten (umfassende datensammlungen, perfekte konstruktionsentwürfe etc.) versuchen verlorengegangene ganzheitlich-körperliche wahrnehmungsprozesse zu ersetzen. wobei ich dieses prinzip eher für einen fluch denn einen segen halte, obwohl man das als bewundernswert kreativen versuch unserer körperpsyche ansehen könnte, auch unter widrigen bedingungen das eigene überleben funktional zu organisieren. aber der preis dafür ist ein hoher.

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(...) "Sie können denken und fühlen wie ein Tier. Und trotzdem verbringen Sie Ihr Leben damit, Schlachthäuser zu entwerfen oder die Hühnerfabriken von McDonalds zu kontrollieren.

Manchmal weine ich den ganzen Weg vom Schlachthof bis zum Flughafen. Als ich das erste Mal eine Hühnerfarm besucht habe, war es Aaaaaaaahhhh! Viele Hühner hatten gebrochene Flügel, die Arbeiter haben sie einfach an einem Flügel gepackt und herumgeworfen. Die alten Legehennen, die schon kaum mehr Eier legen konnten, waren ganz kahl, manche wurden einfach in den Müll geworfen. "Was glauben Sie, was Ihre Kunden sagen würden, wenn sie das hier sähen?" habe ich den Direktor gefragt. Heute haben weniger als fünf Prozent der Hühner gebrochene Flügel.

Sind Sie Vegetarierin?

Nein.

Haben Sie einmal daran gedacht, Tierärztin zu werden statt Schlachthof-Designerin?

Sie können ein System ablehnen, damit gewinnen Sie aber nichts. Oder sie arbeiten an dem System und machen es besser. Wir müssen diesen Tieren ein anständiges Leben bieten. Viele Leute vergessen, dass die Wildnis auch ziemlich hart ist. Ein Hirsch, dem ein Löwe die Eingeweide herausreißt, stirbt sehr brutal. Ein moderner Schlachthof bedeutet in vieler Hinsicht einen einfacheren Tod. Meine Schlachthäuser sind so konstruiert, dass die Tiere nicht wissen, was mit ihnen passiert. Da gibt es keine Angst, keine Panik." (...)


bei ihren aussagen zu ihrem eigentümlichen beruf fühle ich mich regelmässig eigenartig berührt, und zwar eher unangenehm berührt - das eine wäre das gesamte thema des menschlichen fleischkonsums, der - und das dürfte inzwischen schwer zu bestreiten sein - insgesamt eher negative folgen für die menschliche spezies nach sich zieht. grandin focussiert sich jedoch ausschließlich auf die art des todes innerhalb der industriellen fleischproduktion - ihre absicht dabei kann man zwar aus einer beschränkten perspektive als löbliches unterfangen sehen, andererseits schimmert in ihrer zitierten frage an den direktor oben auch durch, dass sie sich über die geschäftsschädigenden aspekte des umgangs mit den tieren durchaus im klaren ist und das als hebel verwendet.

ich will ihr nicht ihre geschilderte reaktion auf den schmerz der tiere absprechen, halte ich es jedoch - ebenso wie im falle ihrer in einem nicht zitierten teil angesprochenen wut - für sehr wahrscheinlich, dass die geschilderten emotionen nicht eins zu eins in einen nichtautistischen kontext übersetzt werden dürfen. und zwar deshalb nicht, weil eine umfassende autistische existenz, wie sie temple grandin verkörpert, mit einer funktionell qualitativ anderen "psycho-logik" einhergeht als bei den "NTs" ("neurologisch typischen"; autistischer begriff für nichtautistische menschen). unter anderem an diesem punkt liegt auch die quelle für eine verständnisschwierigkeit, die in der vergangenheit hier schon zu auseinandersetzungen mit sich selbst als autistisch definierenden kommentatoren geführt hat: und zwar benutze ich den begriff autismus hier im blog in einem erweiterten sinne, um bestimmte funktionsgleichheiten deutlich zu machen, die sich sowohl bei den klassisch autistischen zuständen wie auch beim spektrum der persönlichkeitsstörungen bis hin zur strukturellen soziopathie finden lassen. und letztere ist es vor allem, auf die die autismuskritik zielt. bei der soziopathie - es fehlt immer noch ein umfassender überblick, obwohl sich etliche beiträge bereits mit verschiedenen aspekten dieser fatalsten aller psychophysischen störungen beschäftigt haben, suchen Sie im index unter sozio- / psychopathie bzw. als-ob-persönlichkeiten - finden sich ebenfalls die thematisierten konstrukte und simulationen objektivistischer herkunft sowie eine weitgehende bis totale unfähigkeit zu authentischen beziehungen. trotzdem gibt es einige qualitative unterschiede zum klassisch autistischen spektrum wie auch zu den restlichen persönlichkeitsstörungen, aber aufgrund des bereiches der störungen eben auch gemeinsame merkmale bis hin zu fliessenden grenzen in einigen punkten.

jedenfalls muten für mich persönlich ihre motivationen bei ihrem beruf sehr zwiespältig an - eine seltsame art des mitempfindens, welches im tod keinerlei problem sieht. und ihren vergleich mit den durchaus aus menschlicher sicht brutal anmutenden vorgängen in der freien natur halte ich für unzulässig, weil es innerhalb der menschlichen sphäre eben auch - zumindest theoretisch - wahlmöglichkeiten gibt, die sowohl raubtiere als auch ihre opfer nicht haben.

zum punkt "umarmungsmaschine":

(...) "Wie sieht die aus?

Die erste habe ich aus Sperrholzplatten zusammengeschraubt, meine jetzige ist ein Luxusmodell mit Schaumkissen. Ich krieche auf allen vieren in die Maschine, mit den Zehen kann ich den Druck steuern. Da bleibe ich eine halbe Stunde drin, danach bin ich den ganzen Tag entspannter. Meine Lehrer und meine Mutter wollten sie mir wegnehmen, weil sie dachten, ich spinne. Aber ich war so süchtig nach diesem Gefühl – ich wollte sie um nichts in der Welt wieder hergeben.

Heute gehört eine solche Stimulierung bei autistischen Kindern zur Therapie, auch bei hyper-nervösen Tieren wie Pferden.

Als ich jünger war, wollte ich ganz starken Druck, fast so sehr, dass es wehtat. Dann ging es immer sanfter und sanfter. Die Maschine macht mich zu einem netteren Menschen – ohne sie wäre ich ein harter, kalter Fels.

Sie meinen, sie hilft Ihnen, menschlich wärmer zu sein?

Ich brauchte diese körperliche Erfahrung, um Zuneigung empfinden zu können." (...)


dazu jetzt eine anmerkung von mertz:

(...) "Eine Maschine kann als mechanistisch totes und anonymes Objekt die (inter-)personale Erfahrung von Umarmung, Gehaltenwerden, Liebe, behaglichem Kontakt, Geborgenheit und körperlicher Zuwendung in keiner Weise und unter gar keinen Umständen erzeugen. Diese Gefühle, die durch eine Maschine erzeugt wurden, lassen sich zwar ohne weiteres auf Menschen `übertragen´ (T. Grandin), haben aber mit den (... ) Erfahrungen, die mit (...) lebendig (!) körperlicher Zuwendung assoziiert sind, absolut nichts zu tun. Der Autorin unterläuft hier ein typisch autistischer Fehler:

Die Fundamentalkategorien des Lebendigen und des absolut Nichtlebendigen bzw. mechanistisch Toten, des Subjektiven und des Objektiven, des Personalen und des Anonymen werden in einen Topf geworfen. Die Erfahrung mit mechanistisch toten und anonymen Objekten kann keine personale Erfahrung generieren." (...)

(j. e. mertz, "borderline...", siehe literaturliste, s. 208/209)


so ist es. wer das nicht glaubt, möge es selbst ausprobieren. was grandin hier beschreibt, ist die objektivistisch konstruierte (in doppelter hinsicht, einmal als maschine und einmal innerhalb ihrer wahrnehmung) simulation von zuneigung - das die maschine auf dieser ebene auch prinzipiell austauschbar ist (wenn sie kaputt geht, lässt sich eine andere bauen), macht den unterschied zur authentischen menschlichen nähe nochmals deutlich. und der interviewerin scheint auch nicht der widerspruch zwischen grandins diesbezgl. aussagen und ihren später folgenden aufgefallen zu sein, wo es um reale zwischenmenschliche, auch körperliche kontakte, geht - die sind für grandin eher unerträglich und lösen fluchtreflexe und u.u. auch wut aus.

(...) "Sie leben allein auf einer Ranch in Colorado. Haben Sie sich nie verliebt?

Nein. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Warum nicht?

Bis heute verstehe ich nicht wirklich, was persönliche Beziehungen bedeuten. Ich bin Single geblieben, weil es mir hilft, diese vielen komplizierten sozialen Situationen zu vermeiden, mit denen ich überfordert bin. Mir fehlt einfach der Zugang. Ein Sonnenuntergang berührt mich nicht in der Weise, wie er andere berührt, ich kann nur intellektuell erschließen, dass er schön ist." (...)


"intellektuell erschließen" = objektivistisch (re-)konstruieren. und die fehlende berührung ist die zwangsläufige folge weitgehend lahmgelegter fundamentaler subjektiver wahrnehmungsfähigkeiten. gerade solche prozesse laufen auch bei soziopathen nach allem, was wir heute wissen können, in sehr ähnlicher, wenn nicht funktional gleicher weise ab.

(...) "Sind Sie traurig, weil das in Ihrem Leben fehlt?

Ich habe andere Dinge, die sonst niemand hat. Zum Beispiel kann ich Probleme lösen. Die Menschheit braucht auch Menschen, die Probleme lösen." (...)


interessante aussage am schluß - lässt sich auch auf diesbezgl. gedanken hinsichtlich der möglichen evolutionären rolle von soziopathen übetragen, stichworte "krieger" und grenzverletzer, in freundlicherer art: grenzenverschieber. ansonsten fallen mir dazu noch die folgenden gedanken zum thema
autismus und evolution ein. die frage bleibt aber, ob bestimmte probleme nicht erst durch grundsätzlich autistische modi erzeugt werden, gerade im sozialen bereich. meine antworttendenz dazu dürfte klar sein.

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abschließend noch das folgende: temple grandin dürfte durchaus - von ihren simulativen fähigkeiten bzw. dem grad ihrer inneren organisierung her - nicht repräsentativ für die gesamtheit aller autistischen menschen sein, bei denen es - wie sie selbst sagt - sehr viele variationen, allerdings sozusagen immer des gleichen themas, gibt. als paradigmatisch können aber durchaus die sichtbaren funktionalen grundlagen und -züge ihrer kompensatorischen selbst- und fremdwahrnehmung gelten, auch wenn sich diese nur selten derart hoch funktionell organisiert bei anderen autistInnen finden lassen. und in diesem sinne ist sie dann doch als repräsentativ anzusehen.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

notiz: krisennews spezial - herbst in europa [2] [update]

(zum ersten teil)

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etliches ist in den tagen seit dem ersten beitrag passiert bzw. passiert weiterhin, weshalb ich den unvollständigen rundblick auch erweitere. zunächst aber noch einmal kurz zu den ereignissen in stuttgart - in einem ansonsten eher "zeit"gemäßen (das ist nicht positiv gemeint) artikel fand sich vor einigen tagen ein interessantes merkel-zitat, welches die denkweise(n) seitens landes- und bundesregierung durchaus in einem
größeren rahmen nachvollziehbar macht. da heisst es nämlich:

(...) "Vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie sagte sie vorvergangene Woche: »Wenn dieses Projekt nicht realisiert würde, würde das dazu führen, dass wir als nicht mehr verlässlich gelten. Wenn ich als Bundeskanzlerin dann auf europäischer Ebene sage: ›Weil bei uns so viel protestiert wurde, können wir leider das, was wir versprochen haben, nicht mehr einhalten‹, dann kommt morgen mein griechischer Kollege und sagt: ›Weil bei uns so viel protestiert wurde, kann ich die Stabilitätskultur nicht mehr einhalten.‹« (...)

das spricht für sich selbst, aber es spricht auch von einigen tieferen "elitären" ängsten - so abfällig es aus dieser ecke auch immer wieder vom "druck der straße" tönt, dem "man" keinesfalls nachgeben dürfe und wolle, so deutlich wird doch auch gleichzeitig die besorgnis, irgendwann vor einer situation zu stehen, die die verteufelten und gleichzeitigen "freunde im ungeiste", die untergegangenen "eliten" in den als-ob-sozialistischen staaten, schon hinter sich haben. könnte sein, dass letztere irgendwann im historischen vergleich sogar noch als "humaner" dastehen werden... bis auf die chinesische variante sind die panzer und alles andere damals bekanntlich nicht groß zum einsatz gekommen. auf derlei rücksichtnahme würde ich bei den kapitalistischen regimes nicht unbedingt setzen.

zu stuttgart direkt sei ansonsten aktuell auf die vielen inzwischen existierenden seiten / blogs direkt "aus der bewegung" verwiesen - stellvertretend empfehle ich
bei abriss aufstand.

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und ebenfalls möchte ich zu einem im ersten teil angesprochenen thema eine empfehlung loswerden - da hatte ich im kontext der frühen 1980er-jahre auch die startbahn west in frankfurt erwähnt, und tatsächlich scheinen mir sowohl von der breite des widerstands als auch hinsichtlich des späteren zusammenbruches desselben einige parallelen zu existieren (ohne, dass ich hier rumunken möchte - es gibt ebenfalls ein paar deutliche unterschiede, nicht zuletzt die inzwischen doch um einiges andere gesamtpolitische situation). jedenfalls dürfte es für alle interessierten durchaus nützlich sein, sich die vergangenheit in dieser hinsicht nochmals - oder für jüngere: erstmals - vor augen zu führen. und ich kenne bis heute keine fundiertere zusammenfassung und bewertung "von unten" als diejenige, die die "revolutionären zellen (rz)" mitte der 80er verfasst haben - nachzulesen dankenswerterweise auch online im (vergriffenen) buch
die früchte des zorns. das ist generell eine sehr interessante lektüre, weil sich daraus einiges sowohl über geschichte und konflikte innerhalb der "alten brd" lernen lässt, aber eben auch gleiches über die verschiedenen facetten der damaligen linken bis linksradikalen strömungen bis hin zu ihren bewaffneten fraktionen der so called stadtguerilla ("huh! terroristen").

jedenfalls haben die rz tatsächlich eine darstellung der anti-startbahn-bewegung verfasst, die das nachdenken lohnt. vor allem, wie seitens staat und parteien unter unterstützung einiger "führender" köpfe der bürgerinitiativen einerseits versucht wurde, "friedlich" und "militant" zu spalten, um andererseits die ersteren wieder ins traute systemische heim zurückzuführen und die letzteren wie gewohnt repressiv zu behandeln. ähnlich wie schon vorher in gorleben und später in wackersdorf gab es bei diesem vorhaben allerdings etliche probleme, die ähnlich wie aktuell in stuttgart daher kamen, dass eine größere zahl "unbescholtener bürgerInnen" in den "genuß" staatlich repressiver aufmerksamkeiten in form von knüppeln, gas und wasserwerfern kamen, was deren bild von den "chaoten" dann doch mindestens zeitweise ins wanken brachte. und auch die aktivitäten vor ort / in der region waren zahlenmässig durchaus mit den heutigen aktionen vergleichbar; ein paar auzüge aus der von den rz zusammengestellten
chronik:

(...) "5.10. 81: Nach Auslösung der Alarmkette wird das bereits im November 80 gerodete und für die Untertunnelung der Okrifteler Straße (über die die Startbahn hinwegführt) benötigte 7- Hektar- Gelände von mehreren tausend Leuten besetzt. (...)

11.10.81: Der "blutige Sonntag": Nach einer Demonstration von über 10.000 zum Mitte der Woche geräumten Gelände mit anschließendem Gottesdienst und Anbuddeln der inzwischen aufgestellten Mauer, bekommen die BGS- Einheiten Knüppel frei. Unterschiedslos wird auf alles geschlagen, was sich bewegt, ob jung oder alt, Mann , Frau oder Kind. (...)

2.-5.11.81: An diesem und in den folgenden Tagen erlebt die Region eine noch nie dagewesene Mobilisierung, deren Zentren der Wald und die Frankfurter City sind. Hinzu kommen Solidaritätsdemos und - aktionen in der ganzen BRD, ja selbst in Rom.

* in Darmstadt demonstrieren bspw. täglich bis zu 5.000 pro Demo, in Frankfurt bis zu 10.000
* in den Wald strömen - über den ganzen Tag verteilt - bis zu 18.000 Menschen
* Schulstreiks und Bahnhofsblockaden in Frankfurt, Rüsselsheim, Groß- Gerau und Darmstadt (...)

4.11.81: Ruhe gab es auch am Mittwoch (erst recht) nicht. Schon mittags zogen fast 3.000 Leute von der Uni vor den Frankfurter Römer. Aus Sachsenhausen kamen ein paar hundert streikender Schüler dazu. Die Ereignisse der letzten Nacht wurden besprochen, eine kurze Kaffeepause eingelegt, um am Nachmittag dann durch die Innenstadt zum Hessischen Rundfunk zu ziehen. Über 10.000 Demonstranten wollten dort eine Live- Diskussion zwischen Startbahngegnern und der Politikerriege Börner, Gries, Dregger erreichen. Ein paar hundert von ihnen ignorierten die locker verschlossenen Glastüren und hielten das Hauptgebäude des HR für eine halbe Stunde besetzt (...)

6.11.81: Um 4 Uhr früh beginnen die Bullen das - am 3.11.begonnene - 2. Hüttendorf zu räumen. Noch während die Räumung im Gange ist, detoniert - wegen der Rodung des Waldes durch österreichische Holzfäller - vor dem österreichischen Generalkonsulat in Frankfurt eine Bombe (RZ); im Westend brennt die Filiale der Stadtsparkasse aus. Vormittags demonstrieren "einige tausend Schüler" (FR) sowohl in Rüsselsheim als auch in Frankfurt. Nachmittags und abends in Frankfurt 15.000 (mit anschließendem ersten Open- Air- Konzert auf der Hauptwache), 3.000 in Offenbach, mehrere Hundert in Heusenstamm, Neu- Isenburg, Langen und Bad Nauheim. In Friedberg wird das Büro des SPD- Unterbezirks Wetterau besetzt, in Kassel besetzen 300 Leute das Redaktionsgebäude der "Hessisch- Niedersächsischen Allgemeinen". Die Gewerkschaft der Polizei verteilt ein Flugblatt unter dem Titel "Wir haben die Schnauze voll" und kündigt eine eigene Demonstration für den Dezember an. Der südhessische SPD- Vorsitzende und stellvertretende Landesvorsitzende Görlach schlägt eine "Dialogpause" spätestens für den Zeitpunkt vor, zu dem der Antrag für das Volksbegehren vor dem hessischen Staatsgerichtshof verhandelt werde. (...)

14.11.81: In Wiesbaden findet die - seit Monaten terminierte - Abgabe der Unterschriftenlisten für das Volksbegehren im Rahmen einer Massendemonstration statt, an der zwischen 120.000 und 150.000 Menschen teilnehmen. Diese Demonstration spiegelt das gesamte Protestpotential der Startbahn- Bewegung wieder (Kirche, Gewerkschaften, Naturschutzverbände, Parteijugend etc.)" (...)


lesen Sie nicht nur die ganze chronik, sondern auch alle anderen abschnitte des kapitels - so eine geschichtsstunde ist und war in den schulen dieses landes nie vorgesehen. sichtbar wird einerseits die im vergleich zu heute viel selbstverständliche einbettung auch militanter aktionen diversester art , die allerdings auch niemals konfliktfrei war. andererseits muten einige der unter dem datum des sechsten november aufgezählten ereignisse sehr aktuell an - die "gewerkschaft der polizei" beschwerte sich damals schon über "überlastung", und ebenfalls hat der so called "dialog" zwischen staat und gegnern bereits damals alle züge eines als-ob-spektakels aufgewiesen. und ebenfalls könnte das von den rz im text intensiv dargestellte verhalten von einigen "bewegungsfunktionären" heute ein noch größeres problem werden, zumal die aktuelle massive präsenz "der grünen (partei)" damals so nicht gegeben war, aber für systemfreundliche befriedungsversuche einen guten nährboden bietet. vor dem hintergrund gilt nicht nur im traumakontext, sondern auch für oppositionelle bewegungen der folgende satz weiterhin:

wer die vergangenheit nicht begreift, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

mal sehen, wie lernfähig wir heutigen sind.

*

zum letzteren gehört auch durchaus, sich nicht nur wahrnehmungsmässig auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor der eigenen haustür passiert. europaweit sind in diesem herbst viele zeichen dessen zu sehen, was sich spätestens seit dem herbst 2008 ankündigt: es gibt jeden tag deutlicher werdende und teils extrem widersprüchliche risse im system zu betrachten, von land zu land und region zu region unterschiedlich geprägt und geformt. lässt sich hierzulande berechtigt festhalten, dass die in ihrer massivität durchaus weitgehend unerwarteten proteste in stuttgart auch eine gewisse fundamentale, aber bisher meist sprachlose verärgerung zumindest bei teilen der aktivistInnen wiederspiegeln, so haben in anderen ländern die fühl- und sichtbaren folgen v.a. der ökonomischen krise schon ein ganz anderes level erreicht - in den krisennews der jahre seit 2008 habe ich einiges davon schon aufgegriffen, und mir scheint, als kämen sozusagen prozesse der gärung immer stärker ins rollen. ebenfalls werden aber auch durchgängig staatliche strategien sichtbar, die in ganz europa ähnlich anmuten - zuletzt sind immer die behelmten masken der staatsgewalt zu sehen, die zusehends den ganzen apparat aus kollabierender ökonomie und martialisch drohender staatlicher herrschaft repräsentieren, und zwar zusehends auch für immer mehr "normalbürgerInnen".

vielleicht ist der generalstreik in spanien vom 29. september medial hierzulande auch durch die tags darauf folgende polizeiliche eskalation in stuttgart ziemlich durchgerutscht, vielleicht gilt aber inzwischen auch für viele europäische mainstreammedien die parole "den ball flach halten"? in spanien sind an diesem tag jedenfalls gleich mehrfach ziemlich interessante dinge geschehen; angefangen von der doch erstaunlich breiten beteiligung von bis zu 10 millionen menschen, über riesige massendemonstrationen bis hin zu staatlichen reaktionen wie solchen im folgenden beschrieben, an denen möglicherweise deutlicher wird, wie sich die "eliten" den zukünftigen
umgang mit widerstand aus der bevölkerung vorstellen:

(...) "Gegen Streikende setzte die Polizei zum Teil scharfe Munition ein. So zeigten die Gewerkschaften sieben leere Patronenhülsen auf einer Pressekonferenz vor. Nach Angaben der Polizei hätten die Polizisten die Schüsse vor der EADS-Fabrik in "einer Situation maximaler Anspannung" abgefeuert, berichtet die Cadena Ser, die der Regierung nahe steht. (...)

In Barcelona wurde zum Beispiel ein friedlicher Sitzstreik auseinandergeprügelt. (...) Der Sitzstreik fand vor dem Gebäude einer ehemaligen Bank statt. Es war besetzt worden, um außerhalb der großen Gewerkschaften für den Vaga General zu mobilisieren, wie Generalstreik auf Katalanisch heißt. Noch am Sonntag hatte ein Richter die Räumung abgelehnt. Ausgerechnet am Streiktag fand sich aber ein anderer Richter, der die Schnellräumung zuließ. Das endete in stundenlangen Straßenschlachten in der Innenstadt. Doch auch das verhinderte nicht, dass Hunderttausende gegen die Sparpolitik in Barcelona demonstrierten." (...)


um genauer zu sein: es waren geschätzt 400.000 alleine in barcelona. die glücklicherweise offensichtlich folgenlosen schießereien seitens der polizei - meines wissens wurde an mindestens zwei orten polizeischüsse nachgewiesen, neben barcelona auch noch in getafe, einem teil von madrid - haben generell erstaunlich wenig resonanz nach sich gezogen; mein eindruck war eher der, dass das medial deutlich unter den teppich gekehrt wurde. selbst wenn es "nur" sog. warnschüsse gewesen sein sollten: anders als bspw. bei den tödlichen schüssen von athen 2008, die bekanntlich einen längeren ausnahmezustand in griechenland nach sich zogen, ging es hier nicht primär gegen vom staat definierte "chaoten",sondern hier stand die polizei hunderttausenden streikenden gegenüber. und da lässt sich der einsatz von schußwaffen eigentlich nur als sehr deutliches signal verstehen.

impressionen von diesem tag aus barcelona, u.a. dürften einige bilder anfangs auch die oben erwähnte bankbesetzung zeigen:



es wird aber ebenfalls ganz gut deutlich, wie angespannt sich die situation in spanien bereits darstellt.

*

das folgende thema erinnert zunächst oberflächlich noch am meisten an die erwähnten frühen 80er, aber eben auch nur oberflächlich. ein kleines informatives video als einführung:



hausbesetzungen waren nicht nur hierzulande lange in der öffentlichen wahrnehmung immer auch von wahlweise dem ruch oder dem touch einer "gegen"- oder subkultur behaftet; die durchaus ständig mitschwingende brisanz von themen wie wohnungsnot, obdachlosigkeit und vor allem des mit dieser aktionform schärfer als in anderen bereichen angegriffenen fetischs "eigentum" lief unberechtigterweise immer etwas nebenher. die niederlande haben, wie im film dargestellt, hinsichtlich des umgangs mit besetzungen lange zeit eine europäische sonderrolle gespielt, ähnlich wie bei der praxis mit drogen sehr zum missfallen der meisten anderen europäischen administrationen.

wie der film aber gleichfalls deutlich macht, hat sich hinsichtlich der (immer noch vorhandenen) subkulturellen dimension des kraakens inzwischen durch die rauhen winde des 21. jahrhunderts ebenfalls etwas verschoben: inzwischen werden nicht nur in der heimlichen welthaupstadt der squatter, amsterdam, immer mehr häuser / wohnungen aus materiellen notlagen heraus besetzt. und vor dem hintergrund der restlichen sozioökonomischen entwicklungen musste die angesprochene "illegalisierung" des kraakens wie öl auf feuer wirken. der film ist vom märz, bekanntlich waren ein paar monate später die wahlen, die ebenfalls bekannt u.a. den rechten "populisten" wilders mit an die regierung brachten. von daher war die verabschiedung des benannten gesetzes zu erwarten und wurde auch durchgezogen. seit dem 1. oktober ist es in kraft, und das wochenende mit diesem datum markierte für die niederlande womöglich den beginn einer längeren phase sozialer unruhen. nicht nur in amsterdam, sondern auch in vielen kleineren städten kam es zu teils schweren auseinandersetzungen zwischen polizei und besetzerbewegung. ich habe mal eine dokumentation aus der stadt nijmegen (knapp 160.000 einwohnerInnen) ausgewählt:



ich würde die veränderte politik - unter maßgeblichen einfluß eindeutig rechter strömungen - in den niederlanden gegenüber besetzungen u.a. ebenfalls als indiz dafür ansehen, wie sich die heutigen europäischen "eliten" die zukunft vorstellen. stückchen für stückchen wird klarer, wie der kommende versuch eines autoriär bis zur grenze der diktatur formierten kapitalismus in seiner endphase aussehen wird. eigentlich überraschen kann das allerdings einmal mehr nur jene, die immer noch mittels ihren fiktionen von "demokratie" und "rechtsstaat" mithelfen, die entsprechenden simulationen aufrechtzuerhalten.

*

aber auch an vielen anderen orten sind die zeichen der unruhe wieder einmal deutlich auszumachen - ein kommentar zum ersten teil wies auf die ereignisse vom
4. oktober in island hin; die diversen französischen streikbewegungen beginnen, sich in teilen zu radikalisieren; in die reihe der länder mit generalstreiks gegen die sog. "sparprogramme" wird sich im november auch portugal einreihen; es ist nur eine frage der zeit, bis sich in irland und großbritannien ebenfalls ähnliches tun wird - und allgemein wird die situation durch ein mainstreammedium aus österreich so zusammengefasst:

"Ein fast normaler Tag im heißen europäischen Herbst 2010: In Paris wird aus Protest gegen die Pensionsreform der öffentliche Verkehr lahmgelegt, Raffinerien stehen still. In Athen verhindern unterdessen hunderte zornige Beamte, dass Touristen die Akropolis besichtigten. Ihr Job ist Einsparungen zum Opfer gefallen. Wenige Stunden zuvor hatten in Bratislava tausende Menschen gegen die Anhebung der Mehrwertsteuer protestiert. Und fast zeitgleich drohten in Prag öffentliche Angestellte mit „Dauerstreiks“: Die Regierung will ihre Löhne um zehn Prozent kürzen.

Seit Wochen protestieren zehntausende Europäer gegen die Sparmaßnahmen, die ihre zum Teil hoffnungslos verschuldeten Regierungen zur Budgetsanierung angekündigt haben. Dass die Bevölkerung immer weniger Verständnis für die Maßnahmen hat, ist augenscheinlich." (...)


*

prognosen? schwierig - nein, vermutlich nicht, obwohl nötig, "die revolution", von der im übrigen bislang auch noch zu vieles zu unklar ist und für die ihre wichtigste voraussetzung - selbstbewusste menschen - noch zu wenig vorhanden ist.. aber absehbar ist seit 2008 durchaus schon das folgende, wie ich finde: ebenso, wie die krise sich dauerhaft eingerichtet hat, aber nur noch in ihren in wellen anrollenden peaks wahrgenommen wird, so ist auch beim widerstand in vielen regionen eine ähnliche wellennatur festzustellen. und jede welle wird in vielerlei hinsicht heftiger, radikaler und auch zerstörerischer anbranden als die jeweils letzte. ich fürchte, wir werden auch hier (analog den sonstigen wegbrechenden systemfundamenten wie öl etc.) ein sich immer weiter und schneller schließendes zeitfenster erleben, bei dem es am ende dann nur noch darum gehen könnte, unter ziemlich erbärmlichen umständen irgendwie zu überleben.

*

edit am 15.10.: weil ich die heutigen
nachrichten aus frankreich sehr interessant finde und im kommentarteil doch so manches untergeht, dieses update:

(...) "Wegen der Streiks in französischen Raffinerien ist am Freitag offenbar die Benzinversorgung von Paris per Pipeline unterbrochen worden. Das verlautete aus Kreisen der Betreibergesellschaft Trapil. Das Netz der Firma verbindet Paris unter anderem mit der Hafenstadt Le Havre und mehreren Raffinerien. Nach Gewerkschaftsangaben werden aus Protest gegen die geplante Rentenreform inzwischen alle zwölf französischen Raffinerien bestreikt. Mehrere hundert Tankstellen mussten mangels Nachschub schließen." (...)

das wäre das eine, und das ist durchaus als massiver eingriff in eine tragende ökonomische infrastruktur zu sehen - ich denke, dass solche signale in den zentralen der macht durchaus verstanden werden. die große frage: wie werden staat und betroffene konzerne reagieren?

zum anderen gibt es entwicklungen, die zumindest in einem punkt den vergleich mit "stuttgart" nahelegen:

(...) "Der Schüler, der am Donnerstag bei einem Polizeieinsatz gegen eine Schulblockade bei Paris schwer verletzt wurde, sollte am Freitag operiert werden. Die Polizeidirektion von Paris verbot nach dem Unglück den Einsatz von Gummigeschoßen ("Flashballs") durch die Polizei. Nach Angaben der Bürgermeisterin des Vorortes Montreuil, Dominique Voynet (Grüne), könnte der 16-Jährige durch die Verletzung infolge der Gummikugel womöglich ein Auge verlieren. Im nordfranzösischen Caen hatte ein Student nach Angaben seines Vaters schwere Schädelverletzungen bei einer Demonstration erlitten und lag am Freitag noch im Krankenhaus. Die Familie wollte Anzeige wegen des Polizeieinsatzes erstatten."

ein bemerkenswertes verbot - wäre aufschlußreich, näheres zu dem fraglichen einsatz / der konkreten situation zu wissen (und auch näheres dazu, aus welchem milieu der schüler stammt - das montreuil, welches hier wahrscheinlich gemeint ist, lässt sich meines wissens durchaus begrenzt zu den banlieus rechnen, und ich kann mich noch nicht mal an so etwas wie bedenken hinsichtlich gummigeschossen erinnern, als in den letzten jahren immer wieder migrantische jugendliche in den vorstädten für unruhe sorgten). bezeichnend jedenfalls, dass hierzulande keine öffentlichen stimmen für eine grundsätzliche be- und einschränkung von wasserwerfereinsätzen zu hören sind - trotz ihrer möglichen sichtbar fatalen folgen.

Samstag, 9. Oktober 2010

notiz: lesetipps zum wochenende - von behavioristischen anreizen, marilyn monroe, interessierten babys und dem wachstumswahn

bevor ich mich wieder den harrenden und fälligen fortsetzungen widme (btw: sollten Sie jemals selbst als blogautorIn arbeiten, würde ich Ihnen empfehlen, nicht zuviele baustellen auf einmal aufzumachen...), hier nun ein paar kommentierte links zu interessanten texten - und wie so oft bei derartigen zusammenstellungen finde ich, dass es durchaus rote fäden gibt, die alle gleich angesprochenen themen gar nicht mal so untergründig verbinden.

*


"Neofeudaler Elitedünkel":

(...) "Wenn wie jetzt über die Höhe der Unterstützung für erwerbslose Menschen gestritten wird, hat sich seit der von Gerhard Schröder verkündeten "Agenda 2010" ein Glaubensdogma etabliert: Arbeitslose brauchten Anreize, so heißt es, damit sie wieder eine Arbeit annähmen.

Dieses Glaubendogma geht davon aus, dass Arbeitsplätze im Prinzip angeblich genügend vorhanden wären, das eigentliche Problem sei vielmehr die Lustlosigkeit der Arbeitssuchenden. Von sich heraus habe der Mensch, so die Unterstellung, auf gar nichts Lust - außer regungslos auf dem Sofa zu liegen. Erst wenn ein finanziell messbarer Anreiz vorliege, würden Gehirnzellen und Gliedmaße in Bewegung gesetzt. (...)

Dieses Menschenbild entspricht (...) jener Psychologie aus dem euphorischen Industriezeitalter, die das naturwissenschaftliche Kausalitätsgesetz umstandslos auf die Erforschung menschlichen Verhaltens zu übertragen versuchte. Sinnbild für dieses Denken ist der pawlowsche Hund, der auf einen akustischen Reiz so voraussehbar reagiert wie eine Maschine: ohne Reiz keine Reaktion.

Dieses Modell passte einst gut zum Regime der Arbeitshäuser und Besserungsanstalten, die für "umherziehendes Gesinde" eingerichtet wurden. Der Mensch sollte - mit Zuckerbrot und Peitsche - an den neuen Rhythmus der Maschine angepasst werden. Der Rückgriff auf den Verhaltensmodus von Tieren verwundert da kaum, denn die mechanische Psychologie kannte keine Seele. Zwischen der Wahrnehmung einer Information (Reiz) und dem darauf folgenden Handeln (Reaktion) fehlte die vermittelnde Persönlichkeit. Die neoklassische Ökonomie, auf der die Anreiz-These basiert, griff dieses Menschenbild auf, um zu begründen, warum der Mensch nur durch ständigen Wettbewerbsdruck zur Leistung bereit sei." (...)


interessanter text, auch wenn ich die kategorien, in denen da gegen diese erkennbar
behavioristischen strategien argumentiert wird - aufklärung, kant, bibel - für zu kurz greifend halte. den befund hinsichtlich der "neoklassik" unterschreibe ich weitgehend (siehe auch zum "institutionellen autismus" der wirtschaftswissenschaften), finde aber vor allem auffällig, wie in diesem beschriebenen menschenbild eigentlich unübersehbar vor allem eine grundsätzlich soziopathische wahrnehmung aufschimmert.

der zugrundliegende objektivistische modus kann bekanntlich bzw. wie schon früher näher erläutert in der welt weder einen immanenten sinn wahrnehmen noch generieren, in bezug auf letzteres höchstens simulationen. neben anderen konsequenzen ergibt sich daraus eine gerne übersehene, nämlich eine
existenzielle langeweile- (auch angesprochen in den basisbeiträgen zur "als-ob-persönlichkeit"). diese spezifische langeweile, basierend auf einem fundamentalen wahrnehmungsdefekt, ist es unter anderem, die echte soziopathen zu ihren teils äusserst riskanten (auch für sie selbst) aktionen motiviert - ein surrogat für jene gleichfalls existenzielle zufriedenheit (oder vielleicht besser: das glücksgefühl), welches authentisch sein könnende menschen bei ihren bewegungen in der welt verspüren können. letzteres eben auch bei erfüllender arbeit.

das "Fehlen der vermittelnden Persönlichkeit" ist dabei ein schlüsselsatz, welches sowohl hinsichtlich der behavioristischen ansätze als auch der soziopathie entscheidend ist. hier wird letztlich eine unbestreitbare eigenwahrnehmung derjenigen sichtbar, die oben benannte ansätze und daraus folgende menschenbilder vertreten, ausformulieren und in "politische" forderungen umsetzen. im vorletzten absatz des artikels wird das wie folgt ausgedrückt:

(...) "Die Manager unserer Skandalbanken bestätigen ihr Menschenbild hingegen auf zynische Weise. Ohne sechsstellige Bezüge oder millionenschwere Boni hätte ihnen womöglich der Anreiz gefehlt, mit jenen aberwitzigen Finanzluftschlössern zu handeln, mit denen sie die Welt vor zwei Jahren bis an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds brachten. Heißt das, unsere Boni-Banker sind von Natur aus faul? Würden sie ohne Spitzengehälter nur träge auf dem Sofa liegen? Zumindest gesteht diese Anreizelite damit ein, dass sie selbst kein Konzept von Arbeit besitzt, das auf der Freiheit der autonomen Persönlichkeit beruht." (...)

das "von Natur aus" halte ich in diesem fall für eine unglückliche, da falsche assoziationen aufrufende, formulierung. aber die fragen dürften generell zu bejahen sein. mit einem fehlenden konzept beruhend "auf der Freiheit der autonomen Persönlichkeit" hat das allerdings ebenfalls weniger zu tun; in ihrer eigenen wahrnehmung sind die betreffenden durchaus "frei" und eher zu sehr "autonom", macht dieser begriff im kontext doch nur sinn, wenn er für eine weitgehende beziehungslosigkeit als synonym gesetzt wird.

auffällig ist aber nicht nur in diesem fall, sondern in vielen bereichen der gesellschaftlichen organisation dieses fast komplette leugnen der menschlichen fähigkeiten der selbstorganisation und -regulierung, für die stattdessen das bekannte bild des faulen, gierigen und letztlich bösen menschen als dominierende vorstellung breit installiert ist. ich halte das u.a. wie schon früher oft genug für eine deutliche projektion seitens derjenigen, die mit diesem mist operieren; und im falle der "wirtschafts-" und sonstigen experten, die u.a. für die hartz-iv-gesetze mitverantwortlich sind, dürfte es ähnlich aussehen wie bei den bankstern beschrieben.

ein weiteres (extremes) beispiel für das gemeinte bietet unser heutiges justiz- und strafwesen, welches belegbar durchgängig die situation nur ständig verschlimmert (beispiele dazu sind in etlichen früheren blogbeiträgen zu finden) und womöglich durch diese art der behandlung mit dazu beiträgt, (funktionelle) soziopathen zu erzeugen. insgesamt geht es hier um etwas, was in einem
interview mit der autorin martha stout ("der soziopath von nebenan") wie folgt beschrieben wurde (ich greife das ganze interview zukünftig nochmal ausführlicher auf):

(...) "TR: Wie behandelt man einen Soziopathen?

Stout: Wenn er sich tatsächlich in Therapie befindet, ist das eine eher mechanische Sache, normale Therapieformen greifen kaum. Es geht darum, das Verhalten zu kontrollieren. Soziopathen werden ganz anders motiviert als normale Menschen. Es hat etwas Erzieherisches: "Wenn Du das machst, gehst Du ins Gefängnis" oder "Das Verhalten hat diese materiellen Konsequenzen für Dich". Es geht um sehr, sehr einfache, grundlegende Dinge – A folgt auf B, wie ein Lehrer vor kleinen Kindern.

Ich habe mich einmal mit einem Mann unterhalten, der ein Programm für Menschen leitet, die wegen Alkohol am Steuer mehrfach verhaftet wurden. Ihm wurde irgendwann klar, dass sich darunter viele Soziopathen befanden. Er stellte seinen Ansatz daraufhin um: Früher versuchte er den Leuten zu erklären, dass sie anderen Menschen durch ihr Verhalten Schaden zufügen oder sie sogar töten könnten. Es stellte sich aber heraus, dass das diesen Delinquenten ziemlich egal war.

Inzwischen erzählt er seinen Kandidaten einfach die kalten, harten Fakten: Sie werden jedes Mal verhaftet, verlieren ihren Führerschein, sie werden nicht mehr mobil sein und so weiter. Das war die einzige Chance, ihr Verhalten zu ändern."


sehen Sie das (tatsächlich behavioristisch anmutende) prinzip? und schauen Sie sich mal um, wo das überall angewendet wird oder aber durchschimmert (nebenbei: in den obigen sätzen von stout steckt auch die erklärung dafür, warum appelle an "ethik & moral" großen teilen unserer "eliten" so selbstverständlich an einem ohr hinein und sofort wieder am anderen hinaus gehen. es hilft auf dieser ebene wirklich nur, ihnen die "kalten, harten fakten" für sie selbst deutlich vor augen zu halten).

wenn man sich genauer anschaut, wer in den heutigen gesellschaften die macht hat, wirksame (nicht unbedingt positive) konzepte für das miteinanderleben zu entwickeln und vor allem durchzusetzen, wird sehr schnell deutlich, dass wir es mit einer entwicklung zu tun haben könnten, die anlässlich des themas "managergehälter" vor einiger zeit bei telepolis von einem user
so umschrieben worden ist:

(...) "Scheint wohl ein kleines Problem mit unserem Anreizsystem zu geben. Wenn Skrupel Karrierekiller sind, brauchen wir uns nicht zu wundern,
wenn unsere Elite eine negative Selektion wird und sich aus immer
mehr Soziopathen zusammensetzt, die prompt anfangen, die ganze
Gesellschaft zu einem Biotop für sich und Ihresgleichen umzuformen."


und der letzte satz bringt es auf den fatalen punkt. ich behaupte, dass sich der kommentar in der "taz" letztlich um nichts anderes als eine der vielen konsequenzen der "versuchten umformung" dreht.

*

die "zeit" hat eine recht interessante rezension einer offensichtlich ebenfalls interessanten neuen sammlung mit bislang unveröffentlichten materialien von norma jeane mortenson, besser bekannt als
marilyn monroe:

»Allein!!!!!!

Ich bin allein – ich bin immer allein

egal was…«


wer das buch von mertz gelesen hat, dürfte sich an seinen abschnitt über die monroe (und romy schneider) erinnern; ebenfalls gilt "mm" schon seit längerem in vielen arbeiten der borderline-literatur als ein geradezu "paradigmatischer fall", sowohl was ihre traumatische biographie als auch ihren gesellschaftlichen "erfolg" (bei maximalem persönlichem unglück) anbelangt. zu ihren heutigen potenziellen nachfolgerinnen mehr
hier.

*

neues aus der
säuglingsforschung:

(...) "Man dachte, Babys seien nicht in der Lage, zwischen Vorstellung und Realität zu unterschieden, und Zusammenhänge verstünden sie sowieso nicht. Das ist falsch." (...)

das zeichnete sich allerdings schon länger ab, aber es schadet keinesfalls, sich immer wieder von den hartnäckigen vorstellungen von babys als "hilflosen nichtsmerkern" zu verabschieden, zumindest vom letzteren (danke an w-day für den hinweis :-)

*

zum ende ebenfalls schon bekanntes (und nicht zuletzt hier im blog schon oft thematisiertes), wieder einmal von
harald welzer:

(...) "Jetzt tritt etwas Unerwartetes auf den Plan, und das heißt Endlichkeit. Endlichkeit ist einer Kultur, die von der Fiktion unendlichen Wachstums besessen ist, unheimlich und fremd. So sehr, dass sie alle Energie darauf verwendet, die Fiktion eines Status quo zu schaffen, in dem die Gesetze der Zeit gelten, als alles noch funktioniert hat. Diese Gesetze hießen: Wachstum schafft Wohlstand, Bildung erlaubt Aufstieg, von allem gibt es für alle mehr, die Zukunft ist besser als die Gegenwart. Heute müssen sich gerade die frühindustrialisierten Länder wie Deutschland mit dem befremdlichen Gedanken anfreunden, dass ihre Zukunft vermutlich schlechter sein wird als die Gegenwart, weshalb die anderen Gesetze plötzlich auch alle nicht mehr gelten." (...)

file under "exponentielles wachstum" und "systemkrise".

*

trotz allem: ich wünsche ein schönes herbstwochenende.

gastbeitrag: henri zu "stuttgart 21"

"...Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen...."

Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, wer wach durch die Zeit schreitet, der, ja der wird irgendwann wahrnehmen, dass uns, uns allen, die beiden letzten Jahrhunderte gerade auf den Kopf fallen.

Die Exzesse jener kaum vergangenen Geschichte haben nicht nur unzählige Opfer gezeugt, nein sie haben auch in den Köpfen der Überlebenden, seien sie nun Täter oder Opfer ihre Narben in der Seele hinterlassen - bis ins vierte Glied!

Mit diesen traumatisierten, geschädigten, beschädigten, defizitären, defekten Mitmenschen müssen die Nachgeborenen nicht nur umgehen; jene gehen vor allem mit ihnen um.

Ein kurzer Blick auf das "leitende" Personal nicht nur dieser Republik, nicht nur der oder jener Corporation zeigt, dass die derart behinderten längst fast alle Entscheidungspositionen eingenommen haben. Da passte wohl Schlüssel zum Schloss. Und so haben wir es bei den aktuellen Auseinandersetzungen mit Funktionsträgern zu tun, die sich eben genau dadurch auszeichnen. Sie erfüllen eine Funktion.

Funktionäre. (Ein Funktionär ist im reinsten Wortsinne eine Reiz-Reaktionsmaschine, die von aussen gesteuert wird.)

Man schaue sich nur einmal das
Interview von Frau Slomka mit MP Mappus auf ZDF an.

Mappus ist nicht in der Lage wirklich in der ersten Person zu reden:

"man muss das sehr ernst nehmen" (die Proteste) anstatt 'wir nehmen das sehr ernst', oder

"es war unser Anliegen, den Dialog zu suchen" anstatt ' wir suchten den Dialog' etc..

(Sollten wir ihm den Besuch eines coachings zu small-talk empfehlen, wo ihm beigebracht wird, dass es besser rüberkommt, 'eigene Emotionen' nicht in der dritten Person, sondern in der Ich-Form zu formulieren?)

Bei alledem fällt Mappus' teigiger, pastöser, fast teilnahmsloser Gesichtsausdruck auf, gelegentlich eine Folge mangelnder dortiger Muskelbetätigung, wie sie auch bei Mimik-blinden vorkommt.

Dann
beschwert Rech sich über die Instrumentalisierung von Kindern, welches er den Protestierenden unterstellt.

Hier schallt es 'haltet den Dieb!'. Vermutlich unterstellt man dem Anderen zuerst das, was man selber dächte...

'KINDER' ist ja vor allem ein manipulativer Zugang zur Emotion des Publikums. Von tätschelnden Potentaten bis zu Surrogat-SurrogatInnen selbst leyenhaftester Provinzialität wird das täglich exerziert. Dieses Instrumentalisieren unterstellt er also dem Bürger. Seine Aufregung dürfte allerdings nicht Ausdruck einer moralischen Entrüstung sein, sondern eher Ausdruck des Frustes, dass da der Gegner (vermeintlich) die eigenen Kampfmittel benutzt.

'Wer hat denen das erlaubt? Das ist doch unsere Attitüde! Wo sind die denn gelistet? Was sagt das Ordnungsamt dazu?'

"Im äussersten Notfall sind dann auch Wasserwerfer.." Diesen 'äussersten Notfall' kann wohl nur ein Apparatschik wie Rech so sehen. Bestünde Gefahr dass er auffliegt? Das rauskommt, dass es in Stuttgart 'nur' um eine Bilanzverschiebung zu Gunsten des Börsenwertes der DBAG ging und geht?

Das die Provisionen alle schon geflossen sind? Das demgemäss alle Beteiligten nun in der Lieferpflicht sind? Das die unlauteren 'Gewinne' der DBAG aus dem Verkauf des Gleisvorfeldes schon längst die Bilanz des Konzerns geschönt haben - also weg sind?

Zu fragen ist auch, warum man in Stuttgart die Hilfe von Einsatzkräften aus anderen Bundesländern brauchte.

Wenn es denn 'nur' 1000 bis 2000 Demonstranten gewesen waren, wie die
Polizei selbst sagte: warum brauchte man dann externe Hundertschaften? Diese musste man schon Tage vorher bestellen. Da kann man nicht um 8:00 Uhr in Hamburg anrufen und um 16:00 sind die dann in Stuttgart im Einsatz. Das hat einen elendiglich langen Vorlauf. Und es kostet Geld. Geld, das nicht mal BW heute hat. Haben 1000 bis 2000 Demonstranten die BW-Polizei schon aus der Vorausperspektive so überfordert, dass diese Unterstützung brauchte? Können die ausser hochdeutsch auch anderes nicht? Oder ist das ganze ein widerlich hinterf... eingefädeltes Komplott?

Stellen wir uns nur mal vor, die Finanzkrise hätte dem Börsengang der DBAG nicht ein vorzeitiges Ende bereitet.

Dann wäre das Bild noch ein prägnanteres. 'Staat sichert Privatkonzern das Einfahren seiner dem Steuerbürger hinterzogenen Mittel mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols'. Das jetzt ist sozusagen nur der Plan B, eine weichgespülte Variante, derer sich die (un-)Verantwortlichen nur mit halber Kraft widmen. Daher auch deren Unverständnis über den Aufruhr. (Kinder, ihr habt ja keine Ahnung, wie es hätte auch anders kommen können..)

Sehr häufig fällt gerade bei Stuttgart 21 der Begriff 'Konservativ'. Was wird da über Werte schwadroniert, wenn Interessen gemeint sind.

Den Protagonisten wird dann Zynismus unterstellt. Zu viel der Ehre, wie ich meine. Zu befürchten ist, dass jene den Unterschied gar nicht ermessen können. So wenig wie den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend, zwischen nichts falsch gemacht und alles richtig gemacht.

Diese Einsicht macht mir Angst.

*

(zum thema gastbeiträge mehr
hier.)

neue rubrik: gastbeiträge

immer wieder erreichen mich erfreulicherweise neben den kommentaren im gästebuch auch mails mit anmerkungen, hinweisen auf interessante themen und artikel, zustimmung und kritik sowie vereinzelt auch ganzen texte. da letztere meist über einen "reinen" kommentar hinausgehen, habe ich mich jetzt dazu entschlossen, ihnen hier einen eigenen raum zu geben.

*

bedingungen? nicht viele - natürlich sollten beiträge von leserInnen hier mit den sonstigen blogschwerpunkten kompatibel sein; ebenso ist vermutlich klar, dass ich texte mit rassistischen, nationalistischen ... etc. parolen in den müll befördere. inhaltlich konträres zu bspw. meinen eigenen thesen ist ansonsten kein problem, wenn es denn argumentativ gefüllt ist. ferner sollten quellen und zitate belegbar und kenntlich gemacht sein.

ich werde inhaltlich natürlich nichts verändern, behalte mir aber jeweils eventuelle rechtschreibkorrekturen vor, v.a. wenn sie zu ansonsten zu verständnisproblemen führen können (und nein, kleinscheibung ist auch keine vorbedingung). sollten in diesem zusammenhang auch einmal größere grammatikalische umstellungen in textteilen oder sätzen nötig sein, werde ich vorher mit dem/der jeweiligen autorIn kontakt aufnehmen. deshalb sollte mindestens eine gültige mailadresse vorhanden sein; völlig anonyme zuschriften haben deshalb nur geringe bis keine chancen auf veröffentlichung.

die namenswahl - der name wird in der überschrift auftauchen - bleibt selbstverständlich den autorInnen überlassen; ob klar- oder nickname, ist mir persönlich dabei egal.

soweit kurz zu den spielregeln. sollten sich weitere notwendigkeiten ergeben oder zeigen, werde ich das an dieser stelle hinzufügen.

Montag, 4. Oktober 2010

notiz: krisennews spezial - herbst in europa (prügel in stuttgart; schüsse in barcelona; unruhen in amsterdam)[1]

ich komme derzeit nicht wirklich dazu, die reihe der krisennews so weiterlaufen zu lassen wie in den vergangenen gut zwei jahren, in denen sich über vierzig folgen ergeben haben. das hat aber keinesfalls etwas damit zu tun, dass ich "die krise" (v.a. in ihrer ausprägung als ökonomischer absturz) nun etwa für "überwunden" o.ä. halten würde - nein, neben der erkennbaren strategie des reinen zeitgewinns von elitärer seite aus sowie der ebenfalls wahrnehmbaren vertiefung auf so ziemlich allen gesellschaftlichen ebenen (in dieser hinsicht gibt es allerdings - noch - länderspezifische unterschiede im verfallsprozeß), spielt hier hauptsächlich der umstand eine rolle, dass ich versuchen will, mehr das gleichgewicht zwischen dem "eigentlichen" focus dieses blogs einerseits und der wie gering auch immer vorhandenen möglichkeit des herstellens von gegenöffentlichkeit durch die weitergabe weitgehend unterschlagener informationen andererseits zu wahren. in den ersten und spektakulären phasen der (wirtschafts-)krise ist das im nachhinein aus meiner sicht etwas ins trudeln geraten.

*

nun hatte ich ja öfter schon angemerkt, dass ich damit rechne, zukünftig auch reaktionen bzw. krisenfolgen zu sehen, die aus den bisher gewohnten wahrnehmungsrastern hinsichtlich politischer aktionen herausfallen. in diesen tagen jedoch scheint mich die realität diesbezgl. lügen zu strafen - ich fühle mich jedenfalls sehr an meine eigenen ersten erfahrungen mit demonstrationen in den
frühen 1980ern erinnert:

"damals war´s nicht nur in westdeutschland unruhig, sondern ebenso in holland, großbritannien, italien, der schweiz... - hausbesetzungen, anschläge, straßenunruhen, anti-akw-proteste und die startbahn west in frankfurt prägten ebenso wie die revolution in nicaragua und der guerillakrieg in el salvador eine länderübergreifende bewegung, deren stärke in ihrer vielschichtigkeit lag, die aber gleichzeitig viele - v.a. kulturelle - momente einer klassischen jugendbewegung nicht überschreiten konnte."

der letzte satz weist schon auf einen starken unterschied zur aktuellen lage hin - von einer (dazu noch inhaltlich eindeutig "links" ge- und bestimmten) "jugendbewegung" kann aktuell keine rede sein. ein zweiter wesentlicher, und vielleicht der für die zukunft entscheidende, unterschied liegt in der allgemeinen politisch-sozialen konstallation - damals waren die verhältnisse u.a. durch die blockkonfrontation west - ost bestimmt, die gesellschaften befanden sich dadurch in einer lage mit grundsätzlich begrenzten handlungsoptionen (wie gerade bei denjenigen ländern zu sehen, die sich in diesen jahrzehnten eine oft genug befreiungsnationalistische revolution erkämpften [nicaragua wurde oben schon genannt], damit aber nicht ihren eigenen weg gehen konnten, sondern durch die realen weltweiten machtbedingungen zur wahl zwischen den blöcken gezwungen wurden - die sich selbst "blockfrei" bezeichnenden staaten in dieser zeit waren das bestenfalls und ausnahmsweise in teilen; das damalige jugoslawien und auch cuba könnten dafür als beispiele stehen), weil so ziemlich alle relevanten themen irgendwann im strom der fixierung auf die erwähnte scheinbare systemkonkurrenz wahrgenommen wurden und irgendwann immer eine grundsatzentscheidung verlangt oder aber von außen getroffen wurde - auch die erwähnte bewegung der frühen 80er wurde sehr schnell vom mainstream in ihren meisten teilen als "moskauhörig" und "unterwandert" betrachtet, ein schicksal, was sie in dieser epoche mit eigentlich allen oppositionellen strömungen teilte, sobald diese eine gewisse relevanz erreichten.

aber wie gesagt: dieser spezielle und sehr dominierende umstand ist zwischenzeitlich bekanntlich komplett weggefallen; der totalitäre kapitalismus ist als einziges übriggeblieben und tritt gerade in seine finale phase ein (über die vielfältigen gründe für dieses urteil ist in anderen beiträgen hier ausgiebig zu lesen). das aber bedeutet, dass sich auch die innerhalb dieser situation entstehenden widerstandsbewegungen sehr anders verorten und begreifen müss(t)en als bisher gewohnt, ohne damit auf die erfahrungen und lehren ihrer vorläufer zu verzichten. anhand von drei beispielen aus diesen tagen möchte ich das mal versuchen, deutlicher zu machen.

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als ich mir donnerstagnacht die szenen aus stuttgart ansah ...



... musste ich sehr schnell an die großen konflikte in der alten brd der späten 1970er (damals begann der widerstand im wendland / gorleben) sowie den 80ern - startbahn west frankfurt, waa wackersdorf - denken. nein, das was da jetzt gerade in stuttgart passiert, ist in vielerlei hinsicht weder neu noch erst- oder einmalig. die drei obigen namen stehen ebenfalls für eine massive sog. bürgerliche beteiligung, in allen drei fällen sogar für eine u.a. durch die damaligen polizeieinsätze erzeugte unterstützung der militanten fraktionen bzw. auch eigene militanz bis hin zu oma und oppi. der erste schritt für eine solche entwicklung könnte seit donnerstag durch die reaktionen von politik und polizei eingeleitet worden sein. ebenfalls nichts neues ist die staatliche gewalt gegen kinder und jugendliche - stellvertretend sei hier nur der 16jährige olaf ritzmann genannt, der 1980 von der polizei nach einer demonstration in hamburg gegen den damaligen kanzlerkandidaten franz-josef strauss vor eine u-bahn getrieben wurde (mehr zu diesem und anderen fällen von tödlicher polizeigewalt auf demonstrationen in der brd
hier). in diesem link wird auch auf zwei tote nach polizeieinsätzen in wackersdorf hingewiesen, von denen es sich in dem einen fall um eine 68jährige rentnerin handelte, die nach einem gasangriff einen herzinfarkt erlitt. es tauchen mittlerweile immer mehr berichte auf, nach denen entweder gestern oder aber bei einem früheren einsatz in sachen "s21" ebenfalls eine ältere frau eine herzattacke erlitt und auf dem weg ins krankenhaus verstarb. eindeutig verifizieren kann ich das bis zur stunde allerdings noch nicht, aber eine derartige parallelität der ereignisse würde mich zumindest nicht wundern - erst recht nicht, wenn man sich bspw. einen solchen augenzeugenbericht mit den nichtreaktionen der zuständigen institutionen in medizinischen notfällen betrachtet.

solche berichte weisen auch schon auf einen wesentlichen unterschied zu früheren zeiten hin: damals war so etwas nur in (linken) printmedien mit geringer auflage und/oder flugblättern zu lesen; massive staatliche an- und übergriffe wurden nur - meist mit zeitlicher verzögerung - von einigen politmagazinen alá "monitor" oder "panorama" aufgegriffen; vielleicht klemmten sich noch "spiegel" und die "frankfurter rundschau" dahinter. massenwirksam war das alles nur begrenzt, und so konnten die unglaublichsten dinge ohne größeres aufsehen passieren. das ist im netzzeitalter so nicht mehr möglich, und nicht zuletzt aufgrund der präsenz von handykameras, twitter und co. sind selbst im mainstream texte zu lesen, an die ich mich aus früheren zeiten so nicht erinnern kann: als beispiele sei auf diesen
kommentar bei "n-tv" verwiesen, und selbst eine explizite boulevardzeitung wie der "berliner kurier" ist am schimpfen:

"Staatsmacht völlig durchgeknallt? Bei der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens am Donnerstagabend ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten vor. Am Tag danach verschanzte sich die Politik gestern hinter Law-and-Order-Floskeln." (...)

da es wie gesagt in vergangenheit schon mehrfach ähnliche ereignisse mit allen und noch schlimmeren aspekten wie jetzt in stuttgart gab, bei denen die gleichen oder aber vorläufer der benannten medien zuverlässig und regelmässig ganz andere töne anschlugen, muss in diesem fall einiges anders sein - und das dürfte zumindest teilweise tatsächlich mit der schwierigkeit für die medien zusammenhängen, die massenhaft verbreiteten o-töne und szenen zu übergehen und so erfolgreich zu lügen und realität zu verdrehen wie in früheren zeiten. ein punkt, den die "neuen medien" trotz aller kritik durchaus für sich verbuchen können.

ein anderer punkt ist aber der, dass ähnlich wie im verlinkten "n-tv"-kommentar meistens explizit darauf hingewiesen wird, dass es sich ja bei den zielen der polizeilichen aufmerksamkeit eben nicht um "die sonstigen chaoten" bzw. den "schwarzen block" gehandelt hätte, sondern um "ganz normale bürgerInnen". implizit wird damit deutlich selektiert - die "chaoten" besitzen offensichtlich keine sog. "bürgerlichen rechte" mehr, und werden die knüppel und das gas schon irgendwie verdient haben (und ich schätze, eine nicht kleine zahl derjenigen, die da in stuttgart gerade ganz praktische lektionen in staatsbürgerkunde erhalten, dürfte eben bis zu den aktuellen erfahrungen für diese sichtweise beifall geklatscht haben). was aber fast in vergessenheit geraten ist bzw. den meisten überhaupt niemals bewusst gewesen sein dürfte: die form des "schwarzen blocks" hat sich über jahre entwickelt, und zwar als reaktion auf eben die vielfältig gemachten erfahrungen mit eben solchen polizeilichen angriffen wie jetzt auch in stuttgart. vermummung und identische klamotten verhindern eine identifizierung und damit verfolgende repression, helme und arm- sowie beinschoner dienen wie auf der anderen seite dem eigenen körperlichen schutz. der "schwarze block" ist also zunächst eine rein defensive reaktion auf staatliche gewalt (zu den durchaus vorhandenen problematischen seiten solcher blöcke mehr
hier).

die starke betonung der eigenen gewaltlosigkeit seitens der "s21"-bewegung (was das generell und warum für ein fataler irrweg sein kann, ist im ersten link ganz oben genauer nachzulesen) sowie parolen wie "wir sind das volk" oder auch das absingen der nationalhymne während polizeilicher räumungen sind in dieser form ebenfalls etwas, was in früheren konflikten ähnlicher struktur so nicht nur nicht zu beobachten gewesen ist (es ist bis jetzt keinerlei ernsthafte militante fraktion erkennbar, nicht mal in dem sinne des ursprünglichen militanzbegriffs, der zunächst primär eine bestimmte einstellung / haltung meint, und nur sehr sekundär und nicht zwangsläufig daraus folgend mögliche aktionen auch mit einem gewissen gewaltfaktor), sondern geradezu als unvorstellbar erscheint. das könnte ein hinweis darauf sein, wie sehr sich die diskurse der vergangenen beiden jahrzehnte über "nötigen patriotismus" und "unverkrampftes nationalbewusstsein" bereits gesellschaftlich festgesetzt haben. und das ist durchaus eine gefahr: bereits in der vergangenheit haben sich rechte strömungen unter dem schlagwort "heimatschutz" bereits (erfolglos) an die anti-akw-bewegung anzudocken versucht. das könnte in diesem fall aufgrund der sehr veränderten gesamtgesellschaftlichen rahmenbedingungen (zu denen nicht nur der "neue patriotismus" sondern auch bspw. sarrazin gehört), anders als in der vergangenheit laufen.

die früher erfolgte intervention von linken und linksradikalen in solchen konflikten verlief dagegen oft genug nach einem denkmuster, welches verkürzt ungefähr so aus sah: man muss "die bürger" nur ausreichend aufklären und agitieren, um ein bewusstsein für die größeren zusammenhänge (in denen solche projekte wie die startbahn, wackersdorf oder auch s21 immer eingebettet sind) zu schaffen und derart (hoffentlich) irgendwann zusammen zur revolution schreiten zu können.

das das nicht funktioniert, dürfte historisch ausreichend belegt sein. und mehr als jedes flugblatt kann ein polizeiknüppel auf dem eigenen kopf zum ausgangspunkt für eine veränderte wahrnehmung der eigenen situation und rolle in diesem staat werden - betonung auf "kann", weil eine andere - und die staatlicherseits erwünschte und beabsichtigte - reaktion durchaus in verängstigung, einschüchterung und rückzug liegen kann. eine schock-strategie im kleinen sozusagen. in beiden fällen ist es für eine emanzipatorische politik nötig, angebote zu machen, die bei den ganz eigenen erfahrungen der aktivistInnen ansetzen und keine hierarchie installieren (was den möglicherweise vorhandenen erfahrungsvorsprung in vielen bereichen weder negiert noch entwertet - die eigenen erfahrungen sollten sehr wohl vermittelt werden, aber ohne es sich dabei auf einem fiktiven hochsitz gemütlich zu machen und von oben herab rezepte zu verteilen).

das sich gesellschaftlicher widerstand regelmässig anhand von in raum und zeit sehr konkret an einem ort oder in einer region verortbaren projekten entzündet, ist nicht schwer nachvollziehbar: im gegensatz zu abstrakten (im sinne von nicht direkt sinnlich erfahrbaren) schweinereien wie bankerboni und finanzkrisen sind monströse bauwerke und herausgerissene bäume sehr konkret erfahrbar und mit vielfältigsten emotionen verbunden, gerade wenn sie im ureigenen räumlichen lebensbereich stattfinden. die real vorhandenen verbindungen einer solchen ebene mit den abstrakten strukturen dahinter wahrnehmbar zu machen (im aktuellen fall wären das bspw. der klüngel von bauwirtschaft und landespolitik, der charakter der bahn als profitorientiertes unternehmen, die von elitärer seite verwendete begriffe von "fortschritt", "wachstum" und "mobilität" sowie die verachtung, die im umgang mit großen teilen der bevölkerung hier genauso sichtbar wird wie bspw. bei "hartz-IV") und sich dementsprechend selbst immer weiter zu bilden und nötige bündnisse zu anderen gesellschaftlichen oppositionellen kräften herzustellen, ist eine aufgabe, an der sich letztlich auch der weitere weg der "s21"-bewegung abzeichnen wird. wenn sie sich auch nur teilweise auf einen derartigen entwicklungsprozeß einlassen kann, wird sie trotz der wahrscheinlichen durchsetzung des ganzen projektes (inzwischen steht sowohl für landes- als auch bundesregierung zu viel auf dem spiel) als erfolgreich zu bezeichnen sein, weil derart der schritt von der "ein-punkt-bewegung" zur nötigen fundamentalopposition für viele beteiligte zumindest in die nähe rückt.

die staatlichen reaktionen besonders ab freitag sind dabei durchaus interessant - die beteiligten beginnen gerade ein schauspiel, das nicht ganz zufällig an das spielchen nach dem love-parade-desaster in duisburg erinnert - teile der bundespolitik beschuldigen die landespolitik und umgekehrt, letztere versucht immer noch, offen erkennbare absurde schuldzuweisungen an die demonstranten weiterzuschieben. die herrschaften sind offensichtlich auf dem falschen fuß erwischt worden und aufgrund ihrer defekten realitätswahrnehmung erkennbar unfähig, sich andere realitäten jenseits ihrer fiktionen vorstellen zu können (sie haben sogar bisher schwierigkeiten, als taktisches mittel auch nur einigermaßen überzeugende simulationen von möglichkeiten bürgerlicher partizipation zu entwicklen - das ist der hauptgrund, warum ich glaube, dass dieses projekt auf jeden fall durchgesetzt werden soll, selbst um den preis des verlustes einer landesregierung. es ist eine mischung aus kalten technokraten und gleichzeitig provinziellen politk-darstellern, die ausser ihren parteikarrieren und allerlei gutdotierten pöstchen nichts substanzielles vorzuweisen und also auch keinerlei relevante persönliche perspektiven haben. solche leute können nur einen als-ob-demokratiebegriff haben, sehen das als normalität an und nehmen proteste egal welcher art zwangsweise als persönlichen angriff wahr. und so verhalten sie sich auch, was die möglichkeit eröffnet, dass sich für einige bisher "brave staatsbürgerInnen" auch hier überraschende neue einsichten in das wesen nicht nur ihrer herrschaft auftun. wäre nicht das schlechteste, bei den nächsten demonstrationen in stuttgart auch mal delegationen aus dem wendland oder wackersdorf sprechen zu lassen. die erkenntnis des "oops, das ist ja anderswo genauso [gelaufen]" ist durchaus eine wertvolle).

zur zeit halte ich die entwicklung jedenfalls noch für ziemlich offen, und es wird spannend sein zu sehen, wie sich die dortige situation entwickelt.

Samstag, 2. Oktober 2010

notiz: es gibt zwar wirklich nix zu feiern dieses wochenende, aber immerhin auf einigen tischen wirklich gutes essen...

sehr schön, das - greift gleich einen ganzen haufen an zusammenhängen nachvollziehbar auf:

(...) "Heute abend gegen 20 Uhr besuchten wir den größten Bio Supermarkt Europas; im Prenzlauer Berg (Berlin) gelegen. Die ca. 20 Personen betraten die LPG in der Kollwitzstraße und verlasen ein Flugblatt für die umstehenden, sich bewußt ernährenden Anwohner_innen. Gleichzeitig füllten, die sonst auf Discounter angewiesenen Besucher_innen, sich ihre Körbe an den „üppigen Bio-Fleisch-, Bio-Wurst-, Bio-Feinkost- und Bio-Käsetheken“ und spazierten anschließend unbehelligt aus dem „Bio-Paradies“.

Wir lassen uns nicht mehr länger durch „Regelsätze“ und „400 Euro Jobs“ vorschreiben, was wir essen und trinken dürfen, wie wir leben und wie wir unsere Zeit gestalten. Wir nehmen uns was wir brauchen, heute, morgen und jeden Tag...


Hier der Text der verlesen wurde:

Gesunde, regionale Lebensmittel für alle!

3,49 Euro pro Person sieht Hartz IV für Essen und Trinken am Tag vor. Je 1,58 Euro für Mittagessen- und Abendessen und 78 Cent für Frühstück, Getränke inklusive. Nicht vorgesehen ist eine Flasche Wein zum Abendessen. Alkohol und Zigaretten sind nach dem neuen Entwurf von Ursula von der Leyen ganz aus dem Regelkatalog gestrichen. Sind ja auch ungesund. Stattdessen bekommen Hartz IV Berechtigte monatlich 2,99 Euro für Mineralwasser. Denn der Flüssigkeitsverlust von gerechnet 12 Liter Bier muss laut den sorgenden Ministerialbeamten ja auch ausgeglichen werden. Gesund ernähren kann mensch sich davon nicht. Regionale, biologisch angebaute Produkte, wie sie in diesem Bio-Supermarkt zu finden sind, bleiben denen vorbehalten, die es sich leisten können. Begründet wird der niedrige Regelsatz auch damit, dass der Abstand zu den geringsten Löhnen nicht so groß sein darf. Klar - erstmal wird das Land zum größten Niedriglohnsektor in Europa umgestaltet, Jobs gibt es fast nur noch über Leiharbeitsfirmen, befristet und schlecht bezahlt. Und dann muss diese Entwicklung auch noch dafür herhalten, die Hartz IV-Bezüge niedrig zu halten.

Hartz-IV-Bezieher_innen und andere Überflüssige haben also nicht die Möglichkeit, für sich und ihre Kinder gesunde, biologisch und regional angebaute Lebensmittel zu kaufen. Sie werden abgespeist mit Lidl, Aldi und CO. und wenn nach drei Wochen das Geld alle ist, können wie ja auch zur Tafel gehen. Dort landen die Reste der Lebensmittelkonzerne, die unter unwürdigen Bedingungen produzieren lassen, die Gewinne steigern durch schlechte Löhne und sich mit der Tafel auch noch den Mantel der Barmherzigkeit umhängen. Auch Biosupermärkte nutzen übrigens das System, Lebensmittel in großen Mengen produzieren zu lassen und drängen damit kleinere Läden und Einzelanbieter vom Markt. Auch in Biosupermärkten gibt es schlechte Bezahlung, fragen Sie mal in ihrem Laden nach!

Wir wollen gesunde Lebensmittel für alle! Deshalb besuchen wir heute hier diesen Supermarkt. Die Überflüssigen lassen sich nicht mehr abspeisen mit dem abgeschmackten Versprechen künftiger Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Die Überflüssigen stehen für den Teil der Menschen auf der Erde, deren Alltag seit jeher aus Erwerbslosigkeit, Armut, Hunger und Krieg besteht. Die Überflüssigen sind Menschen in den Industriestaaten, die vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen werden. Sie sind das Ziel des Klassenkampfs von oben und der aktuelle Armutskampagne in Deutschland, sie sind Erwerbslose, deren Rechte weiter beschnitten werden, sie sind Flüchtlinge, die ins Asylbewerberleistungsgesetz fallen, sie sind allein erziehende Frauen, die in Niedriglohnjobs gedrängt werden, sie sind die Alten, die ihre Winterschuhe beim Sozialamt erbetteln müssen, sie sind die Kranken, die die weiter steigenden Ausgaben für Gesundheit nicht haben. Die Überflüssigen brechen aus der 2-Raum-Couchtisch-Haltung aus und machen selbst Programm. Sie stupsen sich aufmunternd zu, während sie auf die Trutzburgen der Kapitalfundamentalisten zustürmen - denn sie haben eine ganze Welt zu gewinnen.

Geschrieben „Die Überflüssigen“, Berlin am 1.Oktober 2010!"

Montag, 27. September 2010

basis: "gender trouble" (und einiges mehr) [1]

die inhaltliche und auch sonstige entwicklung in den kommentaren zum beitrag mehr körperkontakt! hat mich dazu bewogen, einmal einige meiner grundsätzlichen positionen hinsichtlich der angesprochenen themen bzw. die umstände deutlicher zu machen, aus denen heraus ich zu diesen positionen komme. da das gleichzeitig auch "historisch" gesehen einiges mit der inhaltlichen ausrichtung dieses blogs zu tun hat, veröffentliche ich das als basis-beitrag. fast schon überflüssig zu sagen, dass ich da teils ziemlich weit ausgreifen werde...

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und mit letzterem fange ich gleich mal an, und zwar in gestalt eines zeitsprungs. bekanntlich jährt sich am kommenden wochenende zum zwanzigsten male das datum des dritten oktobers in seiner funktion als neue "nationalfeiertag" - "einheit" und so. das privileg oder eher das unglück (wie man´s nimmt), diese feierei einer kollektiven halluzination namens "nation" auszurichten, hat in diesem jahr wieder einmal die hiesige beschauliche großstadt. nach 1994 das zweitemal, und ebenso wie damals wird es diverse
proteste gegen diesen überflüssigsten feiertag von allen und das, wofür er steht, geben. im gegensatz zum ersten male betrachte ich das aktuell mit einiger (sympathisierender) distanz, aber darum soll´s jetzt gerade nicht weiter gehen. jedenfalls haben einige emsige aktivistInnen zum aktuellen anlaß vieles an damaligen linken und linksradikalen/autonomen texten und materialien hervorgeholt, u.a. ein vierseitiges flugblatt mit dem titel am dritten oktober den backlash feiern? ohne uns! (das ganze ist beim einscannen sichtlich durcheinandergeraten; die dritte seite des pdf ist eigentlich die zweite und umgekehrt).

ich erwähne das deshalb, weil ich vor 16 jahren am text nicht ganz unwesentlich beteiligt gewesen bin - also sozusagen ein kleines "outing". ja, ganz recht, Ihr blogautor war vor langer zeit einmal mehrere jahre in einer jener gruppen, die zumindest hierzulande unter dem (übrigens unzutreffenden) sammelbegriff "männergruppen" tendenziell immer gerne zielpunkte für hohn und spott von mehr oder weniger ahnungslosen zeitgenossen - gewesen sind, weil bis auf einige ausnahmen sämtliche fraktionen von dem, was sich zwischen mitte der 1980er und mitte/ende der 90er jahre in bestenfalls selbstironischer art & weise als "männerbewegung" bezeichnet hat, inzwischen ihre aktivitäten entweder eingestellt oder faktisch unsichtbar gemacht haben (ausnahmen sind hierbei einige therapeutisch bis esoterisch orientierte und inhaltlich aus meiner sicht sehr fragwürdige gruppen und "professionelle" angebote).

warum ich hinsichtlich der bezeichnung "männergruppen" oben von "unzutreffend" geschrieben habe, begründet sich darin, dass damit eine unzulässige und real niemals vorhandene homogenität suggeriert wird (ähnlich bei der rede von "dem" feminismus). historischen tatsachen wird es eher gerecht, von teils völlig inkompatiblen ansätzen und praktiken auszugehen, und wir haben damals einen nicht gerade kleinen teil unserer zeit auch damit verbracht, uns mit männern aus dem eher "grün-alternativen" milieu heftig zu streiten, weil es dort maßgeblich therapeutisch-esoterische tendenzen gab, die darauf hinaufliefen, sich eine rechtfertigung alá "ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin - du-darfst" zu konstruieren. das in faktisch demagogisch-diffamierender art und weise angewandte zerrbild des "softies" hatte den einzigen realistischen gehalt tatsächlich in dem genannten milieu, wobei dieses rollenkonstrukt ursprünglich noch aus der "ersten welle" von hauptsächlich selbsterfahrungstätigen männergruppen in den frühen 1970ern stammt, die sich durchaus als erster reflex auf die damals noch existierende feministische bewegung im westen und deren diskussionen verstehen lassen.

jedenfalls bin ich selbst irgendwann ende der 80er in die damals schon existierende gruppe gekommen und habe das als einen wichtigen teil meiner damaligen politischen arbeit begriffen. "wir" waren insgesamt recht langlebig, und das dürfte trotz einer gewissen personellen fluktuation auch zum einen damit zu tun haben, dass es trotzdem von beginn an auch eine überdauernde kontinuität bei den mitgliedern gab. zum anderen aber lag das auch daran, dass - im gegensatz zu vielen, nicht nur in der damaligen autonomen linken, verbreiteten mythen (wie sie bspw. auch
che drüben immer mal wieder gerne auspackt - stichworte "selbstkasteiung" und "moralin") - sich die konstanz vor allem über die eigenen motivationen und inhalte herstellte - ich persönlich war schon lange vorher im weitesten sinne antimilitaristisch aktiv gewesen, hatte u.a. beratung für kriegsdienstverweigerer gemacht, später selbst total (in diesem fall hieß das abbruch des "zivilen ersatzdienstes") verweigert und mich schon früh angefangen, für den nationalsozialismus zu interessieren und dabei gemerkt, dass ich besonders für die ausserordentliche destruktivität der nazis innerhalb der damals verbreiteten "klassisch" linken faschismustheorien keine befriedigenden antworten finden konnte, was mich in folge irgendwann zu theweleits "männerphantasien" brachte - ein augenöffner in der situation, der mich zu der zeit enorm prägte.

und so kam es, dass nicht nur ich in der gruppe von beginn an ziemlich selbstverständlich mit einem verständnis der begriffe wie patriarchat & sexismus arbeitete, welches auch entscheidend von unterschiedlichen feministischen ansätzen bestimmt war, aber ebenfalls von - hm, "männerspezifischen" (passt nicht ganz, aber mir fällt gerade nix anderes ein), d.h. unseren eigenen vielfältigen erfahrungen und ansichten definiert wurde. im oben vorgestellten flugblatt wird bspw. ganz gut deutlich, dass wir die begriffe patriarchat und sexismus keinesfalls etwa als synonyme verstanden / benutzt haben (was ansonsten durchaus breit auf und von allen seiten praktiziert wird), sondern dass das letztere (in strengem sinne die unterdrückung / diskriminierung aufgrund des biologischen geschlechts) zwar im ersteren enthalten ist, und zwar als ganzes, aber das sich das so nicht umgekehrt sagen lässt - ich mache es mir in diesem fall mal einfach und zitiere das entscheidende aus einem ein paar jahre alten beitrag aus einem telepolis-forum:

"(...), weil das bewußtsein über die unterschiede zwischen patriarchat (ein gesellschaftliches system, welches u.a. auf als "männlich" codierten
denk- und verhaltensweisen sowie den entsprechenden emotionalen
reaktionen beruht) einerseits und sexismus (als konkretes gewaltverhältnis bezogen auf ein soziales/biologisches geschlecht) andererseits allgemein nicht eben sonderlich ausgeprägt ist. im aktuellen patriarchat existieren frauen und männer als opfer UND täterInnen - zb. gegen andere männer/frauen, gegen kinder und alte - alle täterInnen bewegen sich jedoch in einem zutiefst mit den "werten" "klassischer männlichkeit" codierten und deformierten bezugsrahmen. sexismus ist davon nur ein teil, und bleibt bis auf weiteres aufgrund der gesellschaftlichen realitäten als konkrete benennung der männlichen gewalt gegen frauen vorbehalten." (...)


nun lässt sich als erstes anmerken, dass es "das" patriarchat ebenfalls als homogenes system so nicht gibt - weltweit lassen sich eher verschiedenste variationen beobachten, ob die extremformen wie islamistische patriarchate (zb. unter den taliban in afghanistan), die machistischen gesellschaften mittel- und südamerikas oder die historisch recht neue form, die wir hier seit ein paar jahrzehnten im westen beobachten können. zweitens wird aufmerksamen stammleserInnen wahrscheinlich schon aufgefallen sein, dass im zitat bereits das sichtbar ist, was ich hier im blog an verschiedensten beispielen als täter-opfer-dialektik (das militär als eine der "männlichsten" institutionen eignet sich dabei für die visualisierung des oben skizzierten patriarchatsbegriffes besonders, und eben nicht zufällig auch für die täter-opfer-dialektik) versucht habe aufzuzeigen. und drittens gibt es da den begriff "männlich codiert", und damit ist eine nur allzu bekannte ganze palette an attibuten assoziiert:

rationalität, vernunft, intellektualität, rhetorische brillanz, (selbst-)kontrolle, stärke, autonomie, beherrschtheit, coolness, überlegenheit, "kultur", "geistiges leben" etc.etc.

die als "weiblich" codierten gegenparts spare ich mir an dieser stelle. es stellt sich aber eigentlich sofort die frage, was denn nun genau an den obigen attributen das spezifisch "männliche" sein soll? und warum sie überhaupt mit einem geschlecht assoziiert sind. in der realität ist es durchaus so, dass erstens zweifelhaft ist, ob all diese attribute wirklich nur als positiv bezeichnet werden sollen, zweitens alles auch bei frauen vorhanden ist, und es sich drittens eindeutig um eigenschaften handelt, als deren quelle innerhalb der menschlichen psychophysischen struktur der
objektivistische modus verortet werden kann. zugespitzt: innerhalb dieser struktur ist der mann als objektives kulturwesen in einen binären gegensatz zur frau als subjektives naturwesen gestellt (in diese kategorie fallen wahrnehmungsmässig übrigens auch kinder, alte menschen, homosexuelle... alles, was nicht als "vollwertig männlich" empfunden wird im sinne der genannten attribute). ich glaube übrigens, dass diese grundlegende binäre spaltung selbst auf die tierwelt angewandt wird - bei betrachtung der enbleme und gerätenamen gerade beim militär, aber auch zb. bei rockerclubs wimmelt es nur so von stolzen adlern und falken, von tigern, pumas, panthern und leoparden, während der posende und aufmerksamkeitsheischende jungmann, der seinen kampfhund ausführt, nur schwer vorstellbar ist beim entenfüttern oder beim kuscheln mit einem kleinen kätzchen. die großen raubtiere sind es, die als "männlich" gelten - eher am rand und sozusagen eine stufe tiefer werden dann auch giftige wesen wie schlangen und skorpione als symbole der mannhaftigkeit benutzt, meiner beobachtung nach allerdings primär bei gangs aller art, die mit ihrer eigenen outlaw-version der männlichkeit arbeiten. die wiederum mit der gesellschaftlich akzeptierten mainstreamversion in ewiger konkurrenz steht (wobei es durchaus möglich ist, dass es sich bei der "outlaw"-variante um die eigentlich originäre version handelt, die dazu fließende grenzen zur offenen soziopathie aufweist).

aber zurück zur frage, wieso diese genannten - und im kern völlig willkürlich erscheinenden - zuschreibungen überhaupt existieren. ist´s eher ein ausdruck von ideologie, sind´s nur alles soziale konstruktionen, wie es besonders seit den 90ern in den postmodernen gender-diskursen heisst? oder gibt es dafür eine reale, und damit ist auch körperlich-materiell gemeint, basis?

ich gehe ja nun bekanntlich aus (für mich selbst) guten gründen davon aus, dass so ziemlich alle relevanten aspekte unserer auch sozialen existenz geprägt, motiviert, geformt und ausgestaltet werden durch unsere materielle körperlichkeit, ihre spezifischen (biologischen) funktionsgesetze, ihre bedürfnisse und auch ihre grenzen sowie - meist in form von krankheiten - ihre immanenten möglichkeiten von fehlfunktionen und defekten. und immer dann, wenn irgendwo derart auffällige binäre spaltungen wie beschrieben auftreten (und gar als "natürlich" wahrgenommen werden), bietet das modell des objektivistischen modus dafür einen der plausibelsten erklärungsansätze, die mir bis jetzt bekannt sind. und konkret auf die obigen fragen gemünzt zitiere ich nochmal aus meinem älteren
amok-artikel:

"konstruierte identitäten, die bis heute den kern der gesellschaftlichen geschlechterstereotypen bilden, sind beliebig austausch- und natürlich auch dekonstruierbar - aber das eigentliche problem versteckt sich eher dahinter: konstruierte identitäten bilden primär krücken für diejenigen, die aufgrund psychophysischer schäden die (körperlichen) grundlagen ihrer eigenen authentischen identität entweder nicht (mehr) wahrnehmen oder aber deren grundlagen erst gar nicht entwickeln konnten. aus dieser perspektive wird deutlich, dass bspw. sebastian b. eine sehr martialische, sehr reduzierte und sehr klassische "männliche" identität eher wie ein kleidungsstück genutzt hat, um die sichtbare tatsache der unfähigkeit zum eigenen authentischen sein quasi zu maskieren. und in diesem punkt unterscheidet er sich keinesfalls von millionen menschen, die sich mit derartigen konstruktionen ebenfalls durchs leben schlagen."

das obige sollte nicht allzuschwer verständlich sein - ausgehend von der jahrhundertealten traumatischen matrix, gehörten und gehören bis heute vielfältige übergriffe bzw. verschiedenste gewaltformen zur üblichen erfahrung fast jedes kindes. das führt zu mehr oder weniger schweren schäden in den körperlich basierten selbst- und fremdwahrnehmungsfähigkeiten, was u.a. wiederum elementare gefühle der angst und unsicherheit mit sich bringt. zur kompensation dieser wahrnehmungsschäden - um überhaupt etwas orientierung zu gewinnen -, und um die existenzielle unsicherheit in einer als feindlich und kalt-fremdartig erlebten welt abzumildern, springt in verschiedenen variationen und intensitäten (im extremfall bereits
pränatal) dann der objektivistische modus ein, wird in der psychophysischen struktur dominant und generiert in dieser position all jene katastrophalen effekte, die nicht nur geschichtsbücher, sondern auch knäste und psychiatrien füllen.

in den fängen des traumas gibt es nicht allzuviele möglichkeiten: unbegriffen und ohne unterstützung bleibt man ein opfer, welches allerdings unter bestimmten bedingungen eine - hm, besondere art der eigenen homöostase erreichen kann, eine fragile pseudostabilität, die durch ausagieren kraft beziehen kann - nicht durch die auflösung des traumas (eine der schmerzhaftesten arbeiten, denen sich menschen unterziehen können). an diesem punkt wird die benannte täter-opfer-dialektik wirksam. und die kann viele facetten haben: eine der wahrscheinlichsten wichtigsten in dem zusammenhang besteht in der konstruktion von mit macht assoziierten pseudo/als-ob-identitäten. so wie oben im beispiel geschildert; "beliebt" und verbreitet sind aber vor allem die kollektiven varianten dieses trauerspiels - "nationale identität" gehört da ebenso hinein wie eben auch das, was wir uns angewohnt haben, unter "mann" und "frau" als quasi natürlich zu betrachten.

in diesem sinne - und nur in diesem - haben die konstruktivisten also recht, übersehen jedoch gleichzeitig die grundlage der objektivistisch produzierten konstruktionen - die basale schädigung der subjekte - , und ziehen ihre fatalen und desaströsen falschen schlüsse, von denen der schlimmste darin liegt, dass es überhaupt keine authentischen identitäten geben würde. aber zu speziell diesem punkt habe ich schon an anderen stellen hier ausgiebig geschrieben.

ich erinnere mich gerade vage an ein bundesweites treffen verschiedener linker und anarchistischer männergruppen, bei dem es in einer veranstaltung zum thema "faschistische männer" zu einer sehr kontroversen diskussion zwischen denjenigen, die kurz gesagt besonders mit foucault - "soziale konstruktion" - argumentierten, und mir und anderen kam, die dabei starke bauchschmerzen hatten. ich konnte den grund für letzteres sehr lange nicht genau festmachen, habe aber damals schon intuitiv für eine argumentation plädiert, die eher an wilhelm reich orientiert war - oder besser gesagt: an der reichschen untermauerung der sicht, dass beim konstruktivistischen ansatz die phänomene der körperlichen ebene und das, was sie repräsentieren (und die sind gerade bei faschistischen männern ganz gut zu sehen, angefangen von ihrer gangart und bewegungsweise) zu sehr unter den tisch fallen, und etwas ganz entscheidendes übersehen wird.

die schlußfolgerungen für mich aus dem ganzen lauten jedenfalls ungefähr so, dass tatsächlich die heute verbreiteten geschlechtlichen identitäten plus die weitaus meisten (nicht unbedingt alle) damit verbundenen zuschreibungen und angeblichen eigenschaften tatsächlich konstrukte in dem sinne darstellen, wie sie auch bspw. von den dekonstruktivistischen feministischen ansätzen der letzten jahrzehnte dargestellt wird. dissens gibt es aber an dem punkt, wo darüber hinausgehend behauptet wird, es gäbe keinerlei authentische männlich- oder weiblichkeit. diese fehlwahrnehmung verdankt sich eher der existenz der traumatischen matrix, aufgrund derer wir bis heute keinerlei realistische vorstellung (höchstens fragmentarische ahnungen) haben können, wie menschen unter sozial nicht pathologischen bedingungen sein könnten. ich glaube, männer und frauen, die sich in ihren körpern wirklich leben, spüren und wohlfühlen können, werden sich in recht unerwarteten weisen voneinander unterscheiden - aber letzteres heisst eben keinesfalls automatisch, daraus unterschiedliche wertigkeiten abzuleiten, wie es bislang die gewohnte praxis darstellt. das ist ein typisches symptom einer pathologischen sozialität.

*

tja, ich habe ja eingangs gesagt, dass ich sehr weit ausholen werde - aber das alles gehört für mich tatsächlich zu denjenigen grundlagen, auf denen ich dann im zweiten oder auch dritten teil konkret auf die ursprüngliche diskussion eingehen werde. als nächstes folgen noch eine fortsetzung zum obigen sowie speziell zum thema sexualisierte gewalt einige worte zu meinem persönlichen background diesbezüglich. wird aber alles vermutlich ein paar tage dauern.

Montag, 20. September 2010

kontext 69: ein finsteres ereignis (und ein mieses gefühl) [2. update]

von einer beziehungstat ist aktuell seitens der polizei die rede - gemeint ist das bis zur stunde immer noch weitgehend unklare tödliche geschehen am gestrigen frühen abend:

"Eine Frau ist im baden-württembergischen Lörrach in ein Krankenhaus gestürmt und hat um sich geschossen. Vier Menschen sind tot, darunter die Täterin selbst. Vor dem Amoklauf hatte sich eine Explosion in einem Haus gegenüber der Klinik ereignet, in dem später zwei Leichen gefunden wurden." (...)

war in ersten meldungen noch von einer toten frau und einem toten kind die rede, die in dem erwähnten haus aufgefunden wurden, so ist inzwischen von einem toten mann die rede. möglicherweise also dadurch die wertung seitens der ermittler als beziehungstat. und möglicherweise (!) auch ein gedanklicher kurzschluss, wenn denn denen nicht noch mehr bekannt sein sollte - ich kann mir die gedankenkette "toter mann und kleines kind + bewaffnete, flüchtende und schießende frau = beziehungstat. anders geht´s gar nicht" lebhaft vorstellen. und ich frage mich auch, was wäre, wenn wir die geschlechter in der obigen gleichung jeweils gegeneinander ersetzen würden - wäre dann auch noch die rede von einer beziehungstat? oder würde das wort "amok" im vordergrund stehen? wobei ich selbst finde, dass eben auch die männlichen "amok"-täter in gewisser weise beziehungstäter darstellen, wenn auch in einem etwas anderen sinne als dem "klassischen".

das nur mal als erste gedanken zu einem ereignis, bei dem ich aufgrund der manifestierten destruktiven energie und besonderen umstände (explosion, eine bewaffnete frau mit einer - lt. den meisten meldungen zu dieser stunde - maschinenpistole) noch nachfolgende updates in den nächsten tagen vor mir sehe. (gut, die maschinenpistole ist zu einer kleinkalibrigen "sport"pistole geschrumpft - mit ca. 300 schuß munition und einem messer bewaffnet, ist das allerdings trotzdem als potenziell verheerende ausrüstung zu betrachten).

*

und das miese gefühl? rührt eigentlich aus zwei quellen, einmal dem ereignis selbst, zum anderen aber auch hinsichtlich meiner eigenen
kassandrarufe in der vergangenheit:

(...) "5. ist amok ein "männliches" phänomen?

bis auf weiteres tatsächlich ja. zwar gibt es auch affekttaten von frauen, hauptsächlich im sog. häuslichen beziehungsbereich. aber diese besondere art der öffentlichen gewalt, schwerbewaffnet und grundsätzlich wahllos, ist bisher eine männliche domäne. ich glaube allerdings, dass es nur noch eine frage der zeit ist, bis sich das ändert: ähnlich wie bei den essstörungen, von denen seit kurzer zeit inzwischen auch zunehmend mehr und mehr männer betroffen sind, während gleichzeitig prügelnde mädchengangs deutlich machen, dass eine emanzipation, die sich in abstrakter (objektivistischer) "gleichstellung" erschöpft, keine wirkliche emanzipation darstellt. nicht frauen in polizei und bundeswehr stellen ein indiz für tatsächlichen gesellschaftlichen fortschritt dar, sondern die realisierung von verhältnissen, in denen polizei und armeen zunehmend mehr und mehr beschäftigungslos werden würden, würde so einen fortschritt bedeuten." (...)


keine wirklich schöne sache, wenn die entwicklung einer gesellschaft so vorhersagbar zu werden scheint...

eine spekulation gestatte ich mir dann doch, nachdem ich obigen absatz gerade wieder gelesen habe: vielleicht handelt es sich hier auch um etwas, was tatsächlich zunächst als beziehungstat begann und sich schnell zu einem amok(artigen) zustand entwickelte. aber wie gesagt, zu dieser stunde reine spekulation. im übrigen kann ich mich gerade an keinen derartigen fall mit einer so bewaffneten täterin hierzulande erinnern; ich hatte
hier vor einigen jahren mal einen damals medial unter "amok" vermerkten angriff einer "angetrunkenen frau" in halberstadt auf mehrere passanten / radfahrerInnen mit einem messer verzeichnet - aber sonst völlige fehlanzeige. und es wäre eine durchaus fatale und völlig überflüssige entwicklung, zukünftig neben den mokkern (zu diesem begriff siehe john brunner) auch noch verstärkt deren weibliche variante erwähnen zu müssen.

*

edit 1: die geschichte wird langsam
deutlicher:

(...) "Die mit einer Pistole bewaffnete Frau habe zunächst ihren früheren Lebensgefährten sowie ein fünf Jahre altes gemeinsames Kind getötet" (...)

weiteres vermutlich im laufe des tages.

*

edit 2: der meines wissens letzte stand von heute macht noch mehr
deutlich:

(...) "Die Amokläuferin von Lörrach ist vermutlich mit der noch frischen Trennung von ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn nicht klargekommen. Es liege nahe, „dass eine Beziehungsproblematik Auslöser für die Tat war“, sagte der der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer am Montag in Lörrach. Die von Polizisten getötete 41- jährige Sportschützin habe zuletzt „psychisch angespannt“ gewirkt. In der Klinik, in der sie einen Pfleger erschoss, hatte sie vor sechs Jahren eine Fehlgeburt. Die Rechtsanwältin Sabine R. brachte ihren Mann um, als der 44- jährige Schreiner am Sonntagabend den Sohn bei ihr in der Lörracher Innenstadt abholen wollte. Sie waren seit Juni getrennt. Der Junge lebte bei seinem Vater und war über das Wochenende zu Besuch bei seiner Mutter. Den bisherigen Ermittlungen zufolge wurde er erschlagen." (...)

ich möchte mir wirklich nicht vorstellen - obwohl es aus grundsätzlichen erwägungen nötig erscheint - welche "beziehungsproblematik" eine frau zu solch einer tat bringen kann. das sieht jedenfalls nach einer vorgenommenen tabula rasa aus - "gut bewaffnet" den ex-partner und das gemeinsame kind zu töten, die eigene umgebung in brand setzen, um dann einen biographisch aller wahrscheinlichkeit nach extrem negativ besetzten ort aufzusuchen, um dort weiter zu wüten.

wäre es bei der tat in dem büro/ der wohnung geblieben, würde die wertung "amok" so nicht getroffen werden können. die nach dem doppelmord stattgefundenen und offensichtlich tatsächlich wahllosen angriffe auf ihr unbekannte stützen jedoch zumindest oberflächlich betrachtet meine gestrige spekulation oben. und der ganze ablauf der tat erinnert ebenfalls an den im gleichen zeitraum wie "winnenden" stattfindenden amok von
alabama - hier hatte der täter damals ebenfalls zuerst opfer im engsten sozialen umfeld (familienmitglieder) heimgesucht, bevor ihm unbekannte in die schußlinie gerieten. die zukunft wird zeigen, ob dieses spezielle muster - eine sehr persönliche "abrechnung" mutiert zu einem echten amok - einen trend anzeigt.

*

was bleibt neben der immer mit solchen taten verbundenen beklemmung? ausnahmsweise nicht die "killerspiel-debatte"; ansonsten betreiben die weitaus meisten medien das übliche nach solchen ereignissen: sie fragmentieren und lösen zusammenhänge auf, damit ja niemand auf die idee kommt, weitere fragen zu stellen. und ebenfalls üblich und schon öfter gehört sind derartige
statements:

(...) "Dass so etwas bei uns hier passiert, hätte ich nicht für möglich gehalten", sagt ein älterer Mann. Hier in Lörrach, da leben sie doch in einer heilen Welt, dachten sie. Hier, wo die berühmte lila Schokolade produziert wird, wo die Schweiz und Frankreich nur einen Steinwurf entfernt sind, da gibt es keinen Hass. "Ein Amoklauf bei uns? Nein", meint eine Frau, "das kennt man doch sonst nur aus den Großstädten." (...)

beim letzten satz rutschten meine augenbrauen hoch - so, man "kennt das sonst nur aus großstädten"? die durcheinandergewürfelte liste der orte der bekannten "amok"-taten in den letzten jahren sieht hinsichtlich ihrer auf- und abgerundeten einwohnerInnenzahl mit stand vom 31.12.2009 so aus (quelle wikipedia):
  • erfurt: 203.900
  • winnenden: 27.500
  • emsdetten: 35.600
  • ansbach: 40.400
  • lörrach: 48.200
ich frage mich inzwischen ernsthaft, ob das nur ein etwas bizarrer zufall ist - von erfurt einmal abgesehen, wobei die wertung "großstadt" jenseits des formalen kriteriums für diese stadt eher nicht ernsthaft gebraucht wird. es sind jedenfalls bisher eindeutig die provinziellen kleinstädte, die offenbar das ideale milieu für derartige taten darstellen. vielleicht wäre es aus präventionsgründen sinnvoller, anstatt eines "killerspielverbotes" solche provinzstädte vorsichtshalber zu plätten...?

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