assoziation: "der kommende aufstand" - zum inhalt (1)

(hier geht´s zur einführung.)

*

ich kann diese knapp
hundert seiten hier natürlich nicht von anfang bis ende kommentieren, sondern werde mir ein paar meiner meinung nach besonders interessante abschnitte heraussuchen. und es dürfte nicht zufällig sein, dass sich das unsichtbare komitee gleich zum beginn des eigentlichen textes im ersten kreis die - westlich geprägten - aktuellen formen der ICH-struktur vorknöpft. auf den seiten 15 bis 18:

»I AM WHAT I AM.« Das ist die letzte Opfergabe des Marketing an die Welt, das letzte Entwicklungsstadium der Werbung, und vor, weit vor all den Mahnungen, anders zu sein, man selbst zu sein, und Pepsi zu trinken. Jahrzehnte von Konzepten, um dort anzukommen, bei der reinen Tautologie. ICH = ICH. Er rennt auf einem Laufband vor dem Spiegel in seinem Fitnesscenter. Sie fährt am Steuer ihres Smart von der Arbeit nach Hause zurück. Werden sie sich treffen?

»ICH BIN WAS ICH BIN.« Mein Körper gehört mir. Ich bin Ich, Du bist Du und es geht schlecht. Die Personalisierung der Masse. Die Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens, der Arbeit, des Unglücks. Diffuse Schizophrenie. Schleichende Depression. Atomisierung in feine paranoide Partikel. Hysterisierung des Kontakts. Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl einer Leere. Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr trockne ich aus. Je mehr ich hinter mir herlaufe, desto erschöpfter bin ich. Ich betreibe, du betreibst, wir betreiben unser Ich wie einen geschäftigen Schalter. Wir sind die Vertreter unserer selbst geworden – dieser seltsame Handel, die Garanten einer Personalisierung, die letzten Endes einer Amputation ähnelt. In mehr oder weniger versteckter Unbeholfenheit schaffen wir es zum Bankrott.

Bis es soweit ist, verwalte ich, kriege ich es hin. Die Suche nach sich selbst, mein Blog, meine Wohnung, der letzte angesagte Scheiß, die
Pärchengeschichten, die Affairen... was es an Prothesen braucht, um ein Ich
zusammenzuhalten! Wäre »die Gesellschaft« nicht zu dieser definitiven
Abstraktion geworden, würde sie die ganzen existentiellen Krücken
bezeichnen, die mir gereicht werden, damit ich mich weiterschleppen
kann, die ganzen Abhängigkeiten, die ich um den Preis meiner Identität
eingegangen bin. Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit.

Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern."


es sind solche sätze wie dieser - "Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr trockne ich aus" -, die ich in der einführung gemeint habe (und die vermutlich bei den zitierten feuilletonisten zu geistigen zuckungen geführt haben). aber wie sieht´s nun mit dem zitierten befund aus? nicht zum erstenmal wird hier von links das attackiert, was unter dem begriff "identität" mehr oder weniger unser aller bürgerliche haut geworden ist:

"Die allgegenwärtige Anordnung, »jemand zu sein«, erhält den pathologischen Zustand, der diese Gesellschaft notwendig macht. Die
Anordnung, stark zu sein, erzeugt die Schwäche, durch die sie sich erhält,
so dass alles einen therapeutischen Aspekt zu bekommen scheint, sogar arbeiten, sogar lieben. All die »Wie geht‘s?«, die jeden Tag ausgetauscht
werden, lassen ans Fiebermessen denken, wodurch die einen den anderen die Patientengesellschaft aufzwingen. Gesellschaftlichkeit besteht heute aus tausend kleinen Nischen, aus tausend kleinen Unterschlüpfen, in denen man sich warm hält. Wo es immer besser ist als draußen in der großen Kälte. Wo alles falsch ist, weil alles nur ein Vorwand ist, um sich aufzuwärmen. Wo nichts entstehen kann, weil man dort taub wird beim gemeinsamen Schlottern. Diese Gesellschaft wird bald nur noch durch die Spannung zwischen allen sozialen Atomen in Richtung einer illusorischen Heilung zusammengehalten. Sie ist ein Werk, das seine Kraft aus einem gigantischen Staudamm von Tränen zieht, der ständig kurz vor dem Überlaufen ist.

»I AM WHAT I AM.« Niemals hatte eine Herrschaft ein unverdächtigeres
Motto gefunden. Das Erhalten des Ich in einem Zustand permanenten
Halb-Verfalls, chronischer Halb-Ohnmacht ist das bestgehütete
Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte,
selbstkritische, virtuelle Ich ist im Wesentlichen dieses unendlich
anpassbare Subjekt, das von einer Produktion gefordert wird, die auf
Innovation beruht, auf dem beschleunigten Veralten der Technologien, dem stetigen Umbruch der sozialen Normen und der verallgemeinerten Flexibilität. Es ist gleichzeitig der gefräßigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, welches sich mit einem Maximum an Energie und Gier auf das kleinste Projekt stürzt, um später wieder in
seinen larvenartigen Originalzustand zurückzukehren.

»DAS, WAS ICH BIN«, ja und? Von Kindheit an durchdrungen von
Flüssen von Milch, Gerüchen, Geschichten, Klängen, Affektionen, Reimen,
Substanzen, Gesten, Ideen, Eindrücken, Blicken, Gesängen und Fressen. Was ich bin? Von allen Seiten gebunden an Orte, Leiden, Ahnen, Freunde, Liebschaften, Ereignisse, Sprachen, Erinnerungen, an Dinge aller Art, die mit aller Offenkundigkeit nicht Ich sind. Alles, was mich an die Welt bindet, alle Verbindungen, die mich ausmachen, alle Kräfte, die mir innewohnen, verstricken sich nicht zu einer Identität, die zur Schau zu stellen wir aufgefordert werden, sondern zu einer Existenz: einzigartig, gemeinschaftlich, lebendig, aus der stellenweise, im Moment, dieses Wesen aufsteigt, das »ich« sagt. Unser Gefühl der Inkonsistenz ist nur eine Auswirkung dieses dummen Glaubens an die Permanenz des Ich, und der wenigen Sorgfalt, die wir dem entgegenbringen, was uns ausmacht.

Es macht schwindelig, das »I AM WHAT I AM« von Reebok an einem
Wolkenkratzer von Schanghai thronen zu sehen. Das Abendland rückt
überall vor wie sein bevorzugtes trojanisches Pferd, diese tödliche Antinomie
zwischen dem Ich und der Welt, dem Individuum und der Gruppe, der Verbundenheit und der Freiheit. Die Freiheit ist nicht die Geste, uns von unseren Verbundenheiten loszulösen, sondern die praktische Fähigkeit, auf sie einzuwirken, sich in ihnen zu bewegen, sie zu erschaffen oder zu durchtrennen. Die Familie existiert nur für denjenigen als Familie, das heißt als Hölle, der darauf verzichtet hat, ihre Mechanismen zu verderben, die uns schwachsinnig machen, oder der nicht weiß wie. Die Freiheit sich loszureißen war schon immer das Gespenst der Freiheit. Wir entledigen uns nicht von dem, was uns fesselt, ohne gleichzeitig das zu verlieren, worauf sich unsere Kräfte ausüben könnten.

»I AM WHAT I AM«, also, keine bloße Lüge, keine bloße Werbekampagne,
sondern ein Feldzug, ein Kriegsschrei, gerichtet gegen alles, was es zwischen den Wesen gibt, gegen alles, was ununterscheidbar zirkuliert, alles, was sie unsichtbar miteinander verbindet, alles, was die perfekte Verwüstung hindert, gegen alles, was bewirkt, dass wir existieren und dass die Welt nicht überall wie eine Autobahn aussieht, wie ein Vergnügungspark oder eine Trabantenstadt: pure Langeweile, ohne Leidenschaft und wohl geordnet, leerer Raum, eiskalt, nur noch durchquert von registrierten Körpern, automobilen Molekülen und idealen Waren. Frankreich ist nicht das Vaterland der Anxiolytika, das Paradies der Antidepressiva und das Mekka der Neurose, ohne gleichzeitig Europameister der Stundenproduktivität zu sein. Die Krankheit, die Müdigkeit, die Depression können als individuelle Symptome dessen wahrgenommen werden, was geheilt werden muss. Sie arbeiten also am Erhalt der existierenden Ordnung, an meiner folgsamen Anpassung an dumme Normen, an der Modernisierung meiner Krücken. Sie umfassen die Selektion der opportunen, konformen und produktiven Neigungen in mir, von jenen, die brav zu betrauern sind. »Man muss sich verändern können, weißt du.« Werden sie aber als Fakten angenommen, können meine Störungen auch zur Zerschlagung der Hypothese des Ich führen.

Sie werden also zu Akten des Widerstandes im laufenden Krieg. Sie werden zur Rebellion und zum Energiezentrum gegen alles, was sich verschwört, uns zu normalisieren, uns zu amputieren. Es ist nicht das Ich, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzuzwingen versucht. Es sollen wohl abgegrenzte, wohl getrennte Ichs aus uns gemacht werden, zuordenbar und zählbar nach Qualitäten, kurz: kontrollierbar; während wir Kreaturen unter Kreaturen sind, Einzigartigkeiten unter unseresgleichen, lebendiges Fleisch, welches das Gewebe der Welt bildet. Entgegen dem, was uns seit der Kindheit immer wieder erzählt wird, besteht Intelligenz nicht darin, sich anpassen zu können – oder wenn das eine Intelligenz ist, dann die der Sklaven.

Unsere Unfähigkeit zur Anpassung und unsere Müdigkeit sind keine
Probleme, außer aus der Sicht dessen, was uns unterwerfen will. Vielmehr
deuten sie auf einen Ausgangspunkt, einen Verbindungspunkt für neue Komplizenschaften. Sie eröffnen den Blick auf eine noch viel verfallenere, aber unendlich viel teilbarere Landschaft als all die Trugbilder, die diese Gesellschaft von sich selbst bereithält. Wir sind nicht deprimiert, wir streiken. Wer sich weigert, sich zu verwalten, für den ist die »Depression« kein Zustand, sondern ein Übergang, ein Auf-Wiedersehen, ein Schritt zur Seite hin zur Aufkündigung einer politischen Zugehörigkeit. Davon ausgehend gibt es keine andere Schlichtung als die medikamentöse und die polizeiliche. Genau deswegen scheut sich diese Gesellschaft nicht, ihren zu lebhaften Kindern Ritalin aufzuzwingen, zu jeder Gelegenheit Laufleinen pharmazeutischer Abhängigkeiten zu flechten, und vorzugeben, schon bei Dreijährigen »Verhaltensstörungen« festzustellen. Weil die Hypothese des Ich überall Risse bekommt."


ich bin bei diesem ersten kreis durchgängig zwiegespalten, wie eigentlich bei allen aussagen von "links", die ich in den letzten jahren zu themen wie subjekt, identität und individualität so wahrgenommen habe. und anlässlich einer entsprechenden kritik von robert kurz hatte ich dazu in der vergangenheit mal die folgenden sätze
grundsätzlich formuliert:

"ich betrachte das "subjekt" im kapitalismus immer als ein als-ob-subjekt, weil es sich von seinen dominierenden psychophysischen funktionsweisen her betrachtet eher um ein schwer beschädigtes subjekt handelt, welches diese beschädigungen - die sich vor allem im gesamten bereich der sozialen beziehungen manifestieren - kompensatorisch versucht, mittels verdinglichung/objektivierung seiner selbst und auch aller anderen, genauer gesagt alles lebendigen anderen, auszugleichen - es geht also um überlebensversuche, die bei einer postulierung des subjekts als "eigentlich überflüssig" an stärke und verzweiflung nur noch zunehmen werden. die sog. subjektform, die kurz als identisch mit der "kapitalistischen daseinsform" begreift, ist aus meiner perspektive eigentlich keine authentische subjektform mehr, besser gesagt, es ist ihre totale negierung: nämlich der soziopath (unabhängig davon, unter welchen namen diese extreme manifestation der kapitalistischen normen in körperlicher gestalt nun historisch bisher aufgetreten ist). hier haben wir den meiner meinung nach einzigen tatsächlichen fall, in dem das subjekt aufgrund psychophysischer prozesse tatsächlich zu einer art objekt im totalitären, d.h. allumfassenden sinne, und damit zur kapitalistischen daseinsform, geworden ist.

es bedarf zu einer tatsächlichen emanzipation bei den meisten menschen also eher des zurückdrängens der objektivistischen, konstruktivistischen und simulativen prozesse, was ich gleichbedeutend mit gesundung begreifen würde - und zwar nicht mit einer gesundung im sinne kapitalistischer verwertungs- und leistungsfähigkeit, wie hoffentlich klar sein sollte. wir brauchen gerade mehr authentische subjektivität und auch individualität, um zur authentischen kollektivität zu kommen!"


das unsichtbare komitee greift aus meiner sicht einiges vom obigen auf, wenn sie bspw. schreiben: "wir sind vertreter unserer selbst geworden" - "... was es an Prothesen braucht, um ein Ich
zusammenzuhalten! Wäre »die Gesellschaft« nicht zu dieser definitiven
Abstraktion geworden, würde sie die ganzen existentiellen Krücken
bezeichnen, die mir gereicht werden, damit ich mich weiterschleppen
kann, die ganzen Abhängigkeiten, die ich um den Preis meiner Identität
eingegangen bin."
wobei sie die wichtigsten und auch destruktivsten dieser krücken vergessen haben, nämlich die identitätsprothesen der konstrukte von "nation" und "gott".

auch der begriff "virtuelles ich", der im laufe des kapitels auftaucht, bringt das von mir oben gemeinte auf den punkt. ich halte eine krititk an den konstruierten bzw. simulierten (pseudo-)identitäten, wie sie sich im gefolge der bereits in der kindheit der allermeisten vollzogenen subjektzerstörenden gewalt einnisten, nicht nur für legitim, sondern für sehr notwendig. all die konsumierbaren und käuflichen identitätssurrogate, wie sie ständig durch den medienapparat und die unterhaltungsindustrie produziert und verworfen werden, sind in ihrem wesen vampiristisch, und das durchaus im buchstäblichen sinne, weil sie die lebenskraft und -energie zu vieler absorbieren. ich sehe allerdings auch hier das gleich problem wie schon damals bei robert kurz: es wird nicht genau bzw. gar nicht unterschieden zwischen authentischer und simulierter identität, und individualität zu oft mit vereinzelung verwechselt. gerade der begriff der individualität muss den klauen der werbe- und marketingabteilungen wieder entrissen werden, weil er - zu recht - positiv besetzt ist, aber das damit eigentlich gemeinte unter den bedingungen des totalitären kapitalismus zwangsläufig nur antagonistisch, d.h. als widerspruch und im widerstand, existieren kann. "der konsument" aka "der bürger" ist kein individualist - auch bzw. gerade dann nicht, wenn er viel kapital investiert (mode, autos, dreck), um sich das einbilden zu können - und lebt auch kein authentisches subjekt aus. er ist im normalfall ein vereinzeltes und vereinsamtes etwas, welches sich mit allerlei simulierten pseudoidentitäten über die runden seiner verplanten und verwalteten existenz schleppt. im schlimmsten fall noch mit einer art von makaberer begeisterung im angesicht der eigenen existenziellen amputation.

und möglicherweise ist das hier...

Von Kindheit an durchdrungen von Flüssen von Milch, Gerüchen, Geschichten, Klängen, Affektionen, Reimen, Substanzen, Gesten, Ideen, Eindrücken, Blicken, Gesängen und Fressen. Was ich bin? Von allen Seiten gebunden an Orte, Leiden, Ahnen, Freunde, Liebschaften, Ereignisse, Sprachen, Erinnerungen, an Dinge aller Art, die mit aller Offenkundigkeit nicht Ich sind. Alles, was mich an die Welt bindet, alle Verbindungen, die mich ausmachen, alle Kräfte, die mir innewohnen, verstricken sich nicht zu einer Identität, die zur Schau zu stellen wir aufgefordert werden, sondern zu einer Existenz: einzigartig, gemeinschaftlich, lebendig, aus der stellenweise, im Moment, dieses Wesen aufsteigt, das »ich« sagt. Unser Gefühl der Inkonsistenz ist nur eine Auswirkung dieses dummen Glaubens an die Permanenz des Ich, und der wenigen Sorgfalt, die wir dem entgegenbringen, was uns ausmacht.

... jenseits der schönen sprache ein beleg für nötige und überfällige definitionen: das, was da als "existenz" beschrieben wird, würde ich als authentische identität bezeichnen, die sich u.a. genau durch das eigene bewußt-sein über die beschiebenen unauslöschlichen beziehungen in der welt auszeichnet. ich finde es einen fehler, den begriff identität einfach dem gegner zu überlassen. ebenso wie individualität berschreibt er eigentlich etwas sehr positives, was innerhalb dieses systems zu einer negativen verzerrten karikatur des ursprünglichen geworden ist. aber begriffe lassen sich, wie oben gesagt, auch zurückerkämpfen.

*

an mehreren stellen des kapitels werden ja diverse psychophysische störungen bzw. krankheiten angesprochen, und zwar in einem sinne, der mich sofort an die ferne gegenwart von linker psychiatriekritik, foucault und thesen des
sozialistischen patientenkollektivs erinnerte. mein auch hier zwiespältiges gefühl zu der, kurz auf den punkt gebrachten, definition von krankheiten bzw. analog begriffenen zuständen als quasi automatisch auch irgendwie widerständige, wenn auch unbewußte, "handlung", hatte ich vor jahren beim beginn des blogs mal so formuliert:

"eine besonders aus den linkeren teilen des politischen spektrums stammende sichtweise, die sich teils auch in der sog. antipsychiatrie manifestiert hat (...), hat sicher in bestimmten bereichen der psychiatriekritik notwendiges geleistet. aber mit der konstruktion eines bildes vom wahnsinnigen menschen als quasi heroischem outdrop, der mit seiner verrückten art ein mörderisches system ins leere laufen lässt, an die stelle berechtigt demontierter mythen letztlich nur neue gesetzt. und das könnte ein gewaltiges eigentor in der hinsicht gewesen sein, dass sich eine progressiv gemeinte linke psychiatriekritik damit unfreiwillig an der vernebelung äußerst bedrohlicher gesellschaftlicher entwicklungen beteiligt."

und wie damals auch schon gesagt: nichts gegen eine absolut nötige psychiatriekritik, aber eine depression kann durchaus viel mehr als ein schritt zur "aufkündigung der politischen zugehörigkeit" eben auch eine persönliche hölle erster klasse bedeuten, gar nicht so selten mit einem tödlichen ausgang. ich halte die entsprechenden interpretationen im aufstand keinesfalls für völlig falsch - natürlich existiert nicht nur ein zusammenhang zwischen individueller krankheit und kollektivem wahnsinn -, aber für unerfreulich verkürzend. ich sehe durchaus dispositionen und verhältnisse, in denen auch unter anderen gesellschaftlichen verhältnissen zumindest eine krankheit wie depression weiter vorkommen dürfte. und bis auf weiteres ist es einfach ein eiertanz zwischen der nötigen kritik der verhältnisse gerade bei psychophyischen störungen, und dem bewußtsein über ihre multidimensionale matrix im hintergrund. vielleicht das in bezug auf die aktuelle situation: in der heutigen lage ist es womöglich tatsächlich notwendig, die bedingtheit gerade von beziehungskrankheiten auf die ge- und beschädigte kollektive sozialität immer wieder herauszustellen, weil diese bedingtheit nun mal auf jeden fall vorhanden ist. nur sollte niemand dem irrtum verfallen, dass es diese störungen - wenn auch wahrscheinlich nicht in ihren heutigen ausprägungen und v.a. ihrer häufigkeit - unter qualitativ anderen sozialen verhältnissen gar nicht mehr geben würde.

*

soviel für den moment zum ersten kreis. die folgenden in den nächsten wochen; je nach zeit, lust und laune.
Julius (Gast) - 13. Nov, 06:46

Naja

Als ich das Buch (in der englischen Fassung) vor ein paar Jahren gelesen hatte, war ich ehrlich gesagt nicht besonders beeindruckt.

Vieles ist überwiegend Geschwafel, wobei das ein oder anderes durchaus Sinnvolle sich in dem Buch findet.

Mein Hauptkritikpunkt ist allerdings das für jemanden der sich mit der Thematik beschäftigt hat quasi nicht wirklich substanzielles in dem Buch zu finden ist (und auch nicht eine gute Zusammenfassung oder so etwas ist), während es vermutlich für jemanden der "unbedarft" an den Text herangeht schlicht größtenteils unverständlich ist.

monoma - 13. Nov, 09:19

auch naja

geschwafel? wenn sich das auf die sprache bezieht, ist das wohl eher geschmackssache. ich persönlich finde es ganz gut, dass hier zumindest mal der versuch unternommen wurde, jenseits der ebenen polittexte / sachbuch / dissertation etc. zu formulieren.

Mein Hauptkritikpunkt ist allerdings das für jemanden der sich mit der Thematik beschäftigt hat quasi nicht wirklich substanzielles in dem Buch zu finden ist (und auch nicht eine gute Zusammenfassung oder so etwas ist), während es vermutlich für jemanden der "unbedarft" an den Text herangeht schlicht größtenteils unverständlich ist.

was genau ist jetzt die thematik? die formen des ichs in der westlichen welt, der begriff der umwelt, die sog. arbeitswelt? klar ist das meiste nicht total neu, aber es sind durchaus aspekte angeführt, die ich in anderen linksradikalen texten nicht in so einer zusammenstellung - und v.a. endlich mal aufeinander in bezug gesetzt - finde.

zum letzten: ja, das ist allerdings das manko, welches ich schon in der einführung erwähnt hatte. der text setzt schon einiges voraus und verlangt auch die fähigkeit des einlassens. das sehe ich aber heute als grundproblem so ziemlich jeder etwas komplexerer textproduktion. ich bezweifle, dass sich das durch vereinfachte formen und plakative inhalte irgendwie groß beeinflussen lässt - wenn man denn nicht beim "bild"-niveau landen will.

substanzielles finde ich hingegen durchaus; ob das nun die skizzen zu den kommunen sind oder aber auch die keinesfalls neuen, aber nötigen fragen, die sich durch den dort vertretenen militanbegriff stellen. ich sag´s mal so: es sind genügend anregungen dabei, die lust aufs weiterdenken machen. und das schätze ich nicht gering ein.
kranich05 - 22. Nov, 22:58

Aus der marxistisch-leninistischen Ecke kommend,

hatte ich geschwankt, ob ich das Büchlein lesen sollte.
Daß es bei Dir diesen großen Raum einnimmt, hat den letzten Ausschlag gegeben, es doch vorzunehmen.
Es war keine Fehlinvestition.

Die Bestimmung der Situation, in der wir uns befinden, nämlich in der Katastrophe, nicht irgendwo in ihrem Vorfeld, halte ich für absolut zutreffend. Damit, logo, ist radikales Handeln Gebot der Stunde. All die Varianten, was radikales Handeln NICHT sein kann, werden rücksichtslos, treffend und stilistisch glänzend aufgeblättert. Die Hiebe gegen Parteien, Vereine, diverse Initiativen treffen. Die juristisch vorgegeben Grenzen des Widerstandes müssen verletzt werden! Das ist genau meine Einsicht geworden. Deshalb hauptsächlich habe ich das Schottern demonstrativ unterstützt.

Trotzdem - also obwohl auch ich sage: Jetzt radikal handeln! - ist wahrscheinlich meine Übereinstimmung mit dem Text viel geringer als es scheint.
Mir fehlt die Einordnung des Konzepts in eine konkrete Analyse der sozialen Kräfte. Die Massen der wirklichen Menschen existieren in diesem Konzept nicht. Meine Radikalität bestimmt sich aber immer mit dem (Seiten-)Blick auf die Massen der Menschen. Beispiel: Auf dem Weg zur Gesetzesübertretung "Schottern" lehnte ich heftigst die herbeigeführten Störungen des S-Bahn-Verkehrs in Berlin ab.

Wir müssen zum Aufstand kommen (und der Text liefert viele Anregungen, um in diese Richtung zu kommen) aber zu einem Aufstand, der bestmöglich zu einer Revolution hinführt.

Was dort über die Kommunegruppen geschrieben ist, will ich keineswegs abtun. Darin steckt viel Potential, für den Anfang, für unterwegs und bis zum Ende. Aber ein Gesellschaftskonzept ersetzt "Kommunen" im Sinne dieses Büchleins nicht.
Letzte Bemerkung. Es gibt viele taktische Einzelheiten, die ich heftig ablehne (neben vielen pfiffigen). Besonders gehört dazu die Anonymität. Diese halte ich geradezu für ein offenes Scheunentor zur Verderbnis einer solchen Bewegung.
Der Revolutionär findet seinen Schutz im Volk oder er findet ihn nicht.

Das nur auf die Schnelle.

monoma - 22. Nov, 23:48

danke für die anmerkungen. ich werde in den kommenden wochen wie angekündigt stück für stück die einzelnen kreise weiter durchgehen.

das vielleicht wichtigste hat der text aber meiner meinung schon erreicht: das alleine die vorstellung eines aufstands überhaupt öffentliche wurzeln schlagen kann - unabhängig von allen detailfragen.

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