notizen
als ergänzung zu diesem beitrag hier können heute ein paar artikel in der aktuellen taz gelesen werden, so z.b. dieser:
"Sofort nach seiner knappen Wahlniederlage forderte Silvio Berlusconi nicht nur eine Überprüfung von 43.000 umstrittenen Stimmzetteln in Italien, sondern gleich dazu die komplette Neuauszählung der von den Auslandsitalienern abgegebenen Stimmen; da nämlich habe es "gravierende Unregelmäßigkeiten" gegeben.
Die Forderung überrascht schon deshalb, weil die gesamte Abstimmungsprozedur in den Händen des Innenministeriums der Regierung Berlusconi lag. Sie überrascht aber auch vor einem ganz anderen Hintergrund: Nicht immer, nicht überall ist Berlusconis Blick auf mögliche "gravierende Unregelmäßigkeiten" so kritisch - zum Beispiel nicht in Sizilien. Die Insel bildet seit Berlusconis Einstieg in die Politik 1994 das wichtigste Stimmbecken für seine Partei Forza Italia und für seine Koalition. Viele der Abgeordneten und der Senatoren aus seinem Lager haben Ermittlungsverfahren oder Prozesse laufen - wegen Mafiaverstrickungen. Doch kein einziger musste sein Mandat niederlegen oder wenigstens bis zur Aufklärung der Vorwürfe ruhen lassen. Im Gegenteil: Alle wurden wieder als Kandidaten aufgestellt, meist dazu noch auf sicheren Listenplätzen, um ihnen die Wiederwahl zu garantieren.
Berlusconi selbst musste sich über die Jahre in Palermo fünf Ermittlungsverfahren gefallen lassen, wegen Unterstützung einer mafiösen Vereinigung und wegen Geldwäsche; allerdings wurden alle diese Verfahren eingestellt. Auch die Staatsanwaltschaften von Florenz und Caltanissetta ermittelten: Sie verdächtigten Berlusconi gar, einer der Hintermänner jener blutigen Anschläge der Mafia von 1992/93 in Palermo, Mailand und Florenz gewesen zu sein, die die Staatsanwälte Giovanni Falcone, Paolo Borsellino und zahlreiche andere das Leben kosteten. Auch diese Ermittlungen wurden schließlich eingestellt, weil innerhalb der vom Gesetz für ein Ermittlungsverfahren vorgesehenen Fristen keine hinreichenden Beweise für eine Anklageerhebung gefunden wurden."(...)
ich denke nicht, dass ich das noch groß kommentieren muss. eher sollten wir uns erstens deutlich machen, dass sehr viele informationen dafür sprechen, dass diese zustände keineswegs nur in italien so herrschen, und zweitens - noch wichtiger - die frage stellen: warum lassen wir derartige gestalten faktisch über unser leben bestimmen? es gibt zweifelsohne einen starken eigenanteil bei den beherrschten, wenn antisoziale/soziopathen immer wieder in zentrale macht- und führungspositionen gelangen können. mögliche gründe dafür sind in der vergangenheit hier schon mehrmals angerissen worden, v.a. im kontext der psychohistorie von deMause. aber es wird von tag zu tag dringlicher, nicht nur die gründe für die eigenen verstrickungen wahrzunehmen, sondern endlich auch praktikable konzepte zu schaffen, um die völlig unakzeptblen realitäten nachdrücklich zu verändern. das ist schlicht eine überlebensfrage.
und wenn´s nur das wäre...ab mitte der woche wird sich das glücklicherweise wieder ändern, und dann plane ich hier - aber dazu später mehr.
"zeitung", bzw. diverse online-versionen verschiedener blätter, sind aber das angemessene stichwort - natürlich gehen mir nicht nur viele interessante artikel und news und durch die lappen, weil ein einigermaßen repräsentativer überblick zu einem oder mehreren themenbereichen eigentlich nur in einem entsprechenden beruflichen kontext möglich ist ( so jedenfalls meine eigene erfahrung), sondern selbst dann, wenn ich im kontext dieses blog immer wieder mal gezielter recherchiere, ist es meistens rein vom umfang her unmöglich, alles anfallende so zu behandeln, wie ich es mir eigentlich wünschen würde. ein teil kann ich hier durchaus bearbeiten (einige beispiele dafür finden sich z.b. in den beiträgen der letzten zwei wochen), aber andere - und imo ebenso interessante und wichtige informationen - bleiben schlicht und einfach liegen. was mich ebenso schlicht und einfach stört und unzufrieden macht, aber es wird mir wohl vorläufig nichts anderes übrigbleiben, als dem sich darin manifestierenden hang zum perfektionismus mal wieder den kampf anzusagen.und am besten fange ich auf der stelle damit an, denn es stört mich auch, wenn artikel (aus meiner sicht) wichtige themen aufgreifen und zu (aus meiner sicht) falschen oder sogar verheerenden schlüssen kommen. und trotzdem bzw. gerade deswegen möchte ich Ihnen die folgenden fundstücke nicht vorenthalten, wobei ich sehr wahrscheinlich bei gelegenheit die dort angesprochenen themen nochmals aufgreifen werde.
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die pläne der französischen regierung zum sehr frühen screening von vermeintlichen oder tatsächlichen antisozialen persönlichkeiten wurden hier neulich schon mal vorgestellt. heute hat nun die faz dieses vorhaben mit einem seltsam ambivalenten grundtenor aufgegriffen: der artikel "Aggressive Embryos" wendet sich einerseits mehr oder weniger deutlich gegen die französischen pläne -
(...)"Ausdrücklich genannt wird dabei eine Studie des Institut national de la santé et de la recherche medicale (Inserm) aus dem letzten Herbst, bei deren Lektüre es einem kalt über den Rücken läuft. Ihr Titel lautet „Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen” und ist auf der Internetseite des Instituts abrufbar. Es geht darum, wie bereits im frühkindlichen Alter bis zu drei Jahren oder gar schon vorgeburtlich bei einem Embryo latente Gewaltbereitschaft diagnostiziert werden kann.
Risikofälle schon vom embryonalen Stadium an verfolgen
In eisigem Wissenschaftsjargon wird dort beschrieben, wie in diesem Frühstadium bei Mäusen und Ratten im Labor aggressive Veranlagungen festgestellt werden konnten. Der Bericht unterscheidet zwischen eigentlicher „Verhaltensstörung” (trouble des conduites) und „Störung aus Auflehnung” (trouble oppositionnel): Das sei zwar nicht ganz dasselbe, gehe aber oft zusammen, heißt es beim Inserm. Die Experten wollen sich aber nicht mit bloßen Forschungsergebnissen begnügen. Sie empfehlen in ihrer Studie, schon vom embryonalen Stadium an in besonderen Risikofällen - sehr junge Mütter, Eltern aus dem Drogenmilieu, kriminelle oder psychiatrische Vorbelastungen in der Familie - die Entwicklung eines Embryos oder eines Kleinkindes klinisch und psychologisch genau zu verfolgen.(...)"
um dann am ende mit dem evergreen vom (psychoanalytisch untermauerten) biest in uns allen aufzuwarten:
(...)"Diese Obsession für Normverhalten und Sicherheit, die nicht mehr mit Subjekten, sondern nur noch mit Bevölkerungssektoren rechne, sei jedoch sehr demokratisch, sagt der Psychoanalytiker Gerard Wajcman. In jedem von uns schlummere ein Biest, jeder sei potentiell gewalttätig, also gehe auch am besten jeder mit einem ständig aktualisierten klinischen Führungszeugnis durchs Leben.(...)"
das meint der analytiker womöglich kritisch - ohne sich jedoch offensichtlich darüber im klaren zu sein oder es zugeben zu wollen, dass gerade die orthodoxe pa dieses bild von der "bestie", dem "tier" im menschen (psychoanalytisch als es bezeichnet) ordentlich gefördert und in einem gewissen sinn in den heute vorliegenden bildern davon auch erst konstruiert hat.
ich hatte es ja schon im ersten beitrag zum thema anklingen lassen, dass ich aus gründen, die hier im blog inzwischen zur genüge nachzulesen sind, dem grundgedanken einer frühen erkennung und auch prävention von schwerwiegenden beziehungskrankheiten nicht total verschlossen gegenüberstehe. ich möchte jedoch jede assoziation in richtung eugenik bzw. dem, was einmal auch psychiatrisch unter "rassenhygiene" verstanden worden ist, zurückweisen - mir geht es um die hier zur genüge dokumentierten fatalen individuellen und kollektiven folgen dieser beziehungskrankheiten, deren ursprung sich für mich hauptsächlich in den heutigen sozialen und teils unerträglichen bedingungen unseres lebens verorten lässt. das heißt dann auch, dass die erwähnte prävention für mich auch sachlich nur sinn macht, wenn gleichzeitig diese bedingungen zur disposition gestellt werden. von daher sage ich zu den ideen aus frankreich: eine im grunde richtungsweisende idee wird von den falschen leuten mit falschen begründungen zur falschen zeit in einem falschen kontext und mit zielsetzungen vertreten, die einer befreienden gesamtgesellschaftlichen wirkung konträr entgegenstehen. hier geht es um soziale selektion in einer kapitalistischen gesellschaft. und das ist nichts, was irgendjemand mit einem minimum an sozialer empathie unterstützen kann.
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in der printausgabe der faz findet sich unter dem obigen artikel ein anderer, der - ohne das das weiter thematisiert wird - vielfältige inhaltliche berührungspunkte mit dem beitrag über frankreich aufweist. "Ungeborene Verbrecher" behandelt eine seit längerer zeit in den usa laufende diskussion darüber, ob es einen nachweislichen zusammenhang zwischen der legalisierung der abtreibung und dem rückgang der offiziellen kriminalitätsrate gibt:
(...)"Wesentliche Ursache für den Rückgang der Straftaten um rund dreißig Prozent und den Rückgang der Morde um sogar rund vierzig Prozent sei die Tatsache, daß der Oberste Gerichtshof 1973 ein Recht auf Abtreibung anerkannt habe. „Dies dürfte zur Verminderung der Gesamtkriminalität beigetragen haben”, legten die beiden Professoren in ihrem Aufsatz „The Impact of Legalized Abortion on Crime” dar, der im „Quarterly Journal of Economics” erschien. Rund 30 Milliarden Dollar im Jahr ließen sich dadurch einsparen.
Heikle ethnische Implikation
Wären unter den Menschen, die dank liberalem Abtreibungsrecht nicht geboren werden, überproportional viele geborene Verbrecher? Donohue und Levitt stützen sich auf Befunde, nach denen zum großen Teil Kinder abgetrieben werden, die sonst in instabilen und finanziell schlecht abgesicherten Familien aufwachsen würden - und damit in einem gesellschaftlichen Umfeld, das eng mit der Entwicklung kriminellen Verhaltens verbunden sei.
Heikel ist diese These unter anderem wegen ihrer ethnischen Implikationen: Denn sowohl der Anteil der verurteilten Straftäter als auch der Anteil von Frauen, die abtreiben lassen, ist unter Schwarzen besonders hoch. Wenn sich Levitts und Donohues Ansicht von der kriminalitätssenkenden Wirkung der Schwangerschaftsabbrüche durchsetze, würden sich noch mehr schwarze, sozial schwache Frauen für Abtreibungen entscheiden, mahnte damals zum Beispiel eine christliche Vereinigung.(...)"
diese auseinandersetzung möchte ich in zukunft auf jeden fall nochmals aufgreifen - stichwort pränatales geschehen. für den moment nur soviel: als ich davon das erstemal gehört habe, erschien mir das augenblicklich einleuchtend - es existieren aus mehreren europäischen staaten langzeitstudien zum schicksal sog. ungewollter kinder, wobei das wort "ungewollt" sehr oft auch als synonym für ungeliebt zu lesen ist. ist es so überraschend zu erfahren, dass die betreffenden studien mehr oder weniger alle die gleichen ergebnisse dokumentieren? das nämlich diese kinder teils bereits sehr früh nach den aktuellen gesellschaftlichen kriterien in verschiedenster hinsicht auffällig oder das werden, was justiziell als "kriminell" bezeichnet wird? ich würde schon sagen, dass etliche dieser eigentlich als zutiefst unglücklich zu begreifenden menschen diese empathische wahrnehmung durch ihr teils krasses antisoziales verhalten stark relativieren. das sollte aber nicht die frage nach der letztlichen verantwortlichkeit vom tisch wischen, deren möglichst korrekte beantwortung in meinen augen ungeheuer wichtig ist. purer sprengstoff, weil es hier letztlich um existenzielle fragen im kontext mütterbilder - vorstellungen von kindheit - mutter-kindverhältnisse und deren soziale einbindung geht. die abtreibungsfrage ist davon nur ein teil, allerdings bereits für sich auch schon so brisant, dass jede äusserung egal welcher richtung dazu sofort ordentlich polarisiert. ich glaube allerdings, dass ein sich verbreitendes wissen um die existenzielle wichtigkeit der pränatalen phase für das menschliche leben einiges davon aufheben kann. ein projekt für die nahe zukunft hier im blog.
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ebenso wie eine ausführliche beschäftigung mit dem begriff trauma, und spezieller mit der geschichte und den politisch-sozialen implikationen der diagnose posttraumatische belastungsstörung. dieses diagnostische modell wie auch der traumabegriff spielen hier im blog immer wieder eine starke und meist untergründige rolle, ohne dass sie bisher direkt angesprochen worden wären - wobei gerade die geschichte der ptbs-diagnose eine deutlich politische ist, und leider auch und gerade von der "linken" mehrheitlich völlig in ihren konsequenzen unterschätzt wird. auch das ein zukunftsprojekt hier, wobei ich für eine frühere diskussion an anderen orten etliches material sozusagen fertig vorrätig habe, bisher aber noch nicht zu einer nötigen überarbeitung gekommen bin. für den moment möchte ich nur auf einen teilberich des themas hinweisen, dessen dimensionen allerdings schon wieder beachtlich sind - kriegstraumata, migration und asylgesetzgebung - und ein beleg dafür, dass sich nicht alle heutigen angehörigen der psychiatrischen medizin der unheilvollen tradition ihrer disziplin zurechnen lassen - ein artikel im "deutschen ärzteblatt" thematisiert ein ekelhaftes gerichtsurteil - gegen einen psychiater (gefunden übrigens beim stöbern im blog von che):
"Ein Berliner Arzt wurde verurteilt, weil er Flüchtlingen ohne angemessene Untersuchung Kriegstraumata attestiert haben soll. Die Verteidigung sieht den Prozess politisch motiviert.
(...)
Zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte der Richter den Arzt Dr. B., wenn auch zur Bewährung. Seine ebenfalls angeklagte Ehefrau, die auch Ärztin ist, sprach er frei.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Berliner Psychiater in den Neunzigerjahren bei etlichen Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne ausreichende Untersuchungen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) attestiert hat. Diese Zeugnisse dienten den Migranten zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Bei Frau B. konnte das Gericht nicht zweifelsfrei feststellen, ob sich die Allgemeinärztin ebenfalls eines Vergehens schuldig gemacht hat.(..)"
wer von Ihnen auch nur ein bisschen über traumata im kriegskontext, staatlichen rassismus sowie die gnadenlose asylpolitik des deutschen staates informiert ist, kann sich zu diesem urteil selbst einen reim machen. ich werde dieses spezielle thema im zukünftigen schwerpunkt "trauma/ptbs" nochmal genauer beleuchten.
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da ich hier wieder mal am ankündigen bin (ist manchmal ja auch schon schiefgegangen, aber an dieser stelle kann ich mich dann auch andlich mal bei meinen leserInnen für Ihre geduld bedanken): ich hoffe, bis zum ende der woche hier den basisbeitrag zum thema "als-ob"-persönlichkeiten online gestellt zu haben. und ich kann Ihnen ein thema versprechen, was Ihnen vermutlich genauso viel zu knabbern geben wird wie mir.
edit am 14.04: der mensch denkt...und alles mögliche kommt dazwischen, so z.b. gerade eine schwerere erkältung, die mir die lust am schreiben gründlich vermiest. ein großteil des beitrags ist bereits fertig, aber er schlägt sozusagen nach allen seiten hin aus, und ich habe immer wieder schwierigkeiten, ihn einzufangen. und nun schluß mit der metaphernreiterei. wenn alles klappt, sollte er am nächsten wochenende erscheinen.
da hatte ich im letzten beitrag einen prozeßbericht erwähnt, der von seinen inhalten durchaus nicht alleine dasteht - und bin nun über eine kurze meldung gestolpert, die auch einen prozeß thematisiert - und hier spielt eine diagnose eine rolle, der ich in einem solchen kontext allerdings noch nicht begegnet bin:
(...) "Der Angeklagte wurde gestern vor der Jugendkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Bleiben soll er jedoch in der Klinik. Denn der Gutachter attestierte eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung: das Asperger Syndrom, eine seltene Form des Autismus.
Das führte dazu, dass der junge Mann im Februar 2005 auf eine damals 19-Jährige mit einem 20 Zentimeter langen Küchenmesser einstach. Als Grund dafür nannte er später „Hass auf Menschen“, er habe einfach irgendjemanden umbringen wollen. Die Polizei sprach von einer „Zeitbombe für Neumarkt“. Die junge Frau überlebte den Angriff.
Richter Helmut von Ciriacy ging gestern von einer verminderten Schuldfähigkeit des 18-Jährigen aus. Die Therapie ist zeitlich unbegrenzt."
leider ist der informationsgehalt dieser meldung recht unbefriedigend - es wäre sehr interessant, näheres zum gutachten und zur begründung dieser diagnose zu erfahren. die oben stehende kausale ableitung von der "seltenen form des autismus" (eine imo durchaus unzutreffende behauptung) hin zur tat könnte sich auf aussagen im gutachten beziehen - aber das muss eben vorläufig eine spekulation bleiben. ebenso wie mein spontaner gedanke, dass andere gutachten möglicherweise eine borderlinestörung oder antisoziale ps attestiert hätten. ich verspüre ein ähnliches erstaunen wie bspw. bei der in den kommentaren hier dokumentierten geschichte vom (asperger-)autistischen frontmann einer band. das könnte womöglich daran liegen, dass auch meine spontanen assoziationen zum autismus immer noch vom typischen bild des (kanner-)autistischen kindes mit extremen verhaltensauffälligkeiten bestimmt sind. obwohl im basisbeitrag autismus ja schon deutlich anklingt, dass dieses bild eben nur für einen kleinen und wahrscheinlich nicht repräsentativen teil der betroffenen des autistischen spektrums zutrifft.
als weitere assoziation kam mir vor dem hintergrund der beschreibung der völlig willkürlichen opferauswahl und des - hm, motivs ebenso schnell das wort "amok" in den kopf. nun ist dieses wort inzwischen medial mit einer bedeutung aufgeladen, die sich vom ursprung des begriffs recht weit entfernt hat (die berüchtigten "schulmassaker" der letzten jahre wie zb. in erfurt erfüllen einige der gleich aufgeführten kriterien nicht; so war zb. in den meisten fällen durchaus eine gezielte planung/vorbereitung der täter zu verzeichnen) - ein "echter" amokzustand zeichnet sich meines wissens durch mehrere einmalige eigenschaften aus: er entsteht a) anscheinend aus dem "nichts" heraus, also sehr plötzlich; ist b) an ein begrenztes zeitfenster (das können auch nur ein paar minuten sein) gebunden; stellt c) einen extremen psychophysischen zustand mit teils deutlich verifizierbaren veränderungen zb. des muskeltonus im gesamten körper (unwillkürliche extreme anspannung) und stark herabgesetzter schmerzempfindlichkeit dar; und wird d) in der regel von einer nachfolgenden amnesie beim amoklaufenden begleitet - d.h., die erinnerung an die taten im amokzustand sind wie ausgelöscht und nicht bewusst zugänglich. all diese phänomene zusammengenommen haben dazu geführt, dass amokereignisse in teilen der psychiatrischen forschung inzwischen im weitesten sinne den dissoziativen zuständen zugerechnet werden (eine sehr ausführliche und empfehlenswerte darstellung des amoks aus psychiatrischer sicht findet sich hier .)
vor dem hintergrund von in diesem blog diskutierten möglichen strukturellen zusammenhängen etlicher psychiatrischer diagnosen gibt es also durchaus einige ebenso mögliche links, die zb. von dissoziativen zuständen hin zum autismus führen (vielleicht lesen Sie dazu auch nochmal die selbstbeschreibungen von temple grandin im autismusbeitrag). aber wie gesagt: die informationen sind schlicht zu spärlich, um zu der obigen tat etwas mehr sagen zu können. auch muss es vorläufig spekulation bleiben, ob sich hier womöglich eine art paradigmenwechsel in der "professionellen" wahrnehmung autistischer zustände abzeichnet. wir werden sehen, ob das ein einzelfall bleibt.
einige leserInnen werden vielleicht denken "was hat er eigentlich, passt doch gut in sein konzept?" nun, falls überhaupt von "konzept" die rede sein kann, so bin ich über derartige entwicklungen/ereignisse keinesfalls irgendwie glücklich - im gegenteil bestärken sie sehr ungute gefühle bei der betrachtung der aktuellen sozialen zustände.
ein letztes wort noch zum kommentar der mutter eines autistischen kindes unter der meldung: die argumentation, dass es auf den "charakter" ankäme und nicht auf einen eventuellen autistischen zustand, geht so ziemlich an allem vorbei, was wir heute über menschliche seinszustände wissen können - auch wenn die vermutlichen ängste der mutter vor stigmatisierungen in folge solcher berichte verständlich sind, so ist es doch imo absolut unzulässig, von vorneherein jede möglichkeit einer verbindung zwischen derartigem destruktiven verhalten und störungen des autistischen spektrums kategorisch auszuschliessen. autismus als paradigmatisches modell für eine generelle und allumfassende beziehungsunfähigkeit betrachtet, schliesst antisoziale aktionen solchen grades ganz sicher nicht aus - eher trifft das gegenteil zu. vor allem, wenn sich die "aspergervariante" mit einer grundsätzlich autistischen struktur mehr und mehr als sozial simulativ kompatibel innerhalb von gesellschaften mit großflächigen sozialen zerfallsprozessen erweisen sollte. schon wilhelm reich hat imo ganz treffend erkannt, dass das, was bis heute als "charakter" in unseren vorstellungen herumgeistert, prinzipiell nichts anderes darstellt als ein set von eigenschaften und verhaltensweisen, die ein mensch unter widrigen sozialen und gewalttätigen bedingungen herausbildet, und die als überlebenshiilfe dienen - anders: sog. charakterliche eigenschaften sind in ihrer mehrzahl als ausdruck von verzerrungen/störungen zu betrachten - und keinesfalls als manifestation eines authentischen / beziehungs- und liebesfähigen selbst.
so ist ein artikel in der aktuellen printausgabe der zeitschrift konkret überschrieben, der online leider nicht verfügbar ist. inhaltlich werden die auch hier oft thematisierten fälle von kindsmord/infantizid in der letzten zeit genauer hinsichtlich ihrer entstehungsbedingungen beleuchtet. ich habe den artikel bisher nur überfliegen können, möchte ihn aber trotzdem schon einmal empfehlen. wednesday hat im nettblog einen auszug zur verfügung gestellt - danke!
dr. pannwitz, der mit dem eiskalten blick, wandelt augenscheinlich auch nach seiner zeit in auschwitz in vielerlei manifestationen munter durch die heutigen realitäten, die für die mehrheit aller menschen auf diesem planeten bereits mörderisch sind, und für die absolute minderheit der davon mehr oder weniger profitierenden der "zivilisierten regionen" immer bedrohlicher werden. aktuell hat sich der unheilvolle blick von pannwitz in der person des "unternehmers" in sachen babynahrung, claus hipp, festgesetzt:
"Mit Äußerungen zur medizinischen Versorgung Älterer hat der Unternehmer Claus Hipp für große Empörung gesorgt.
Hipp fürchtet, dass man im Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung darüber nachdenken müsse, ab welchem Alter die medizinische Versorgung nicht mehr zu leisten sei: „Wann man die Menschen lieber sterben lässt, weil sie die Wirtschaft belasten.“
nein, neu ist das nicht. neu ist jedoch die offenheit, mit der offen faschistische und sozialdarwinistische ideologien der totalen verdinglichung von menschen vorgetragen werden - alles im angeblichen interesse der "allgemeinheit" und gar der "generationengerechtigkeit". hier wird klipp und klar so von "nutzlosen existenzen" geschwafelt, dass der gröfaz seine irre freude dran hätte.
bemerkenswert und deprimierend auch einige der angeblich "kritischen" reaktionen auf die antisozialen ausfälle von hipp:
"Im Gegenteil müsse das Potenzial der älter werdenden Bürger ökonomisch effektiv genutzt werden, „anstatt uns ihrer zu entledigen, weil sie zu teuer werden“.
das ist nicht nur keine kritik, das ist vorgezogener gehorsam - die wirklich nur noch im klinischen sinne als wahnsinn zu begreifende logik der verdinglichung unter reinen nützlichkeitserwägungen wird hier nicht ganz selbstverständlich und grundsätzlich als wahnsinn abgelehnt, sondern im kern akzeptiert und lediglich darum gebettelt, doch etwas zurückhaltender und modifizierter zu selektieren - wohin die logik des "ökonomisch effektiv nutzen" unweigerlich(!) führt, ist auf dem meldebogen der nazi-psychiatrie zu sehen, der im oben unter "nutzlose existenz" verlinkten beitrag dokumentiert ist. und wohin ein derartig ausser rand und band geratenes soziopathisches/antisoziales fühlen und denken führen kann, ist aus der geschichte bekannt - zu gasschwaden und massengräbern.
in einer solch perversen welt können dann natürlich auch fernsehshows wie die hier dargestellte auf fette quoten hoffen:
»Ich habe 50 Jahre gearbeitet, war praktisch nie krank und möchte jetzt meinen Lebensabend genießen und meine Enkel aufwachsen sehen«, schildert der sympathische ältere Herr dem Saalpublikum. Im grellen Licht des Spotlights bewirbt er sich um eine Dialyse, denn seine Nieren wollen nicht mehr so recht. Doch er hat Konkurrenz: Ein zweiter Spot beleuchtet eine knapp 40jährige alleinerziehende Mutter, die ebenfalls eine Dialyse braucht.
Das Publikum der britischen »Life and Death Game Show«, der Spielshow »Leben und Tod«, braucht nur wenige Sekunden, um sich zu entscheiden. Der Spot über dem alten Herrn wird ausgeknipst; die Mehrheit hat sich gegen seine Behandlung und damit für seinen Tod entschieden. Doch auch die alleinerziehende Mutter kann sich nicht lange freuen. In der zweiten Spielrunde verliert sie gegen eine Kandidatin, die das Budget für sich und einige Dutzend andere beansprucht, um eine Hüftoperation zu erhalten, die sie von unerträglichen Schmerzen befreien und wieder arbeitsfähig machen würde.
Diese Inszenierung des britischen Fernsehens sollte die Öffentlichkeit vor einigen Jahren mit dem Gedanken vertraut machen, daß das Gesundheitssystem rationiert werden muß. Großbritannien stellt inzwischen in der Tat nicht mehr jede Therapie für alle zur Verfügung: Menschen über 60 erhalten keine Dialyse mehr - man läßt sie sterben, es sei denn, sie zahlen selbst."
es ist mafiazeit , es ist soziopathenzeit, es ist tittytainmentzeit, es ist mal wieder zeit für opfer, kriege und "endlösungen":
(...)"Sass möchte die gesetzliche Krankenversicherung umbauen zu einer Basisversicherung für gesundheitliche Grundrisiken, wobei ergänzende medizinische Leistungen entsprechend dem eigenen Risikoprofil über private Zusatzversicherungen abzudecken wären. Gleicher Zugang aller zu intensiven und kostspieligen Therapien sei nicht finanzierbar, und eine Entscheidung müsse sich notgedrungen über konventionelle moralische Argumente hinwegsetzen. Notfalls müsse man die Betroffenen einfach sterben lassen. Viefhues stellt am Beispiel schwerbehinderter Neugeborener die Frage, ob ein solches Kind »lebensunterstützende Therapien bis zum bitteren Ende verlangen und dabei personelle, instrumentelle und monetäre Ressourcen der Gesellschaft aufbrauchen« könne, die unter Umständen auch »anderweitig bitter benötigt werden«. Und der Dortmunder Gesundheitsökonom Walter Krämer rechnet vor, daß Aids ein »unverhältnismäßig hohes Maß an Ressourcen« beanspruche. Er kann sich durchaus vorstellen, das lebensverlängernde Medikament AZT aus dem Leistungskatalog der Kassen zu streichen.
Solche Äußerungen und die in Bonn verordneten Streichungen machen angst. Aber spätestens dann, wenn die Experten mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung einfordern und behaupten, daß das jetzige System Menschen begünstige, die sich unverantwortlich verhielten, schlägt die Stimmung um. An diesem Punkt beginnt auf vielen Veranstaltungen, in denen über die Gesundheitskosten debattiert wird, eine Diskussion, in der sich Referenten und Zuhörerschaft mit Vorschlägen überbieten, wie man Menschen, die sich nicht »gesundheitskonform« betragen, möglichst effizient abstrafen kann. Warum noch eine neue Leber für einen Alkoholiker, eine Herzoperation für starke Raucher, langwierige Rehabilitation für den verunglückten Raser, lebenslange Pflege für das behinderte Kind, dessen Mutter sich nicht zur Abtreibung entschließen konnte?
Solche Fragen klingen verführerisch einfach. Aber wer sich auf solche Rationierung einläßt, wird sehr bald erleben, daß auch er selbst nicht ungeschoren davonkommt. Denn dann herrscht Krieg: Ein Krieg der Alten gegen die Jungen, der Raucher gegen die Trinker, der Dicken gegen die Dünnen - ein Krieg gegen anscheinend überbordende Interessen von Pflegebedürftigen und Behinderten, ein Krieg, in dem das Gesundheitswesen selektieren muß - ähnlich wie der Arzt auf dem Schlachtfeld oder während einer Katastrophe eine Selektion betreiben soll (»Triage«), um angesichts knapper Ressourcen zuerst die Patienten mit den besten Überlebenschancen zu versorgen. Wolf Wolfensberger, Professor an der New Yorker Syracuse-Universität und ein großer alter Vorkämpfer für die Rechte behinderter Menschen, spricht angesichts dieser Entsolidarisierungstendenzen bereits davon, daß sich manche Bevölkerungsgruppen - Behinderte, Alte und Benachteiligte - in Lebensgefahr befänden."(...)
oder anders: in einer notwehrsituation. der text stammt übrigens aus dem jahr 1996 und hat mit der prophezeiung des offenen krieges aller gegen aller nicht so falsch gelegen.
"Zu starke Worte? Die Kriterien sind brutal. Die britische Regierung etwa rationiert nach dem sogenannten »Humankapitalansatz«, wonach der Mensch nur noch soviel wert ist, wie er erwirtschaften kann. Kinder sind danach im Schnitt 2,5 Millionen Mark wert, Rentner überhaupt nichts, weil sie nichts mehr produzieren. Dann gibt es die sogenannte »RosserMatrix«, ein einfaches Schema, nach dem die Lebensqualität bewertet wird. Auch sie wird in Großbritannien verwertet, um den Sinn medizinischer Behandlungen einzuschätzen. Eine Operation, die auf Dauer ein schmerzfreies Leben ohne Behinderung ermöglicht, hat die besten Chancen, finanziert zu werden; wer bettlägerig bleiben oder gar auf Dauer starke Schmerzen haben wird, bleibt besser unversorgt.(...)"
und wohin das führt, habe ich oben schon beschrieben - die aktualisierte version in der sog. westlichen "zivilisation" sieht dann vorläufig u.a. so aus:
(...)" Im US-Bundesstaat Oregon wurde von den Behörden daher eine Liste vorbereitet, auf der die Krankheiten verzeichnet sind, deren Behandlung der Staat demnächst noch übernehmen will. Nicht behandelt wiirde der Liste zufolge etwa ein Aids-Patient mit einer Lebenserwartung unter einem halben Jahr, aber auch bestimmte Bandscheibenschäden. Höchste Priorität hat die Behandlung offener Wunden, dann folgen Säuglingsversorgung, Prävention und Empfängnisverhütung, schließlich Infektionskrankheiten, Karies und Migräne. Dialyse, Transplantationen, kostspielige Medikamente, aber auch die Wiederbelebung oder künstliche Ernährung von Alten sind nicht vorgesehen, weil sie nur für eine geringe Verbesserung der Lebensqualität sorgen.
Vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade in Oregon die Tötung auf Verlangen erstmals legalisiert wurde. Paul Menzel, ein einflußreicher amerikanischer Gesundheitsökonom, zählt im Schlußkapitel seines Buches »Strong Medicine« (Starke Medizin) die Kosten auf, die für die Versorgung todgeweihter alter Patienten aufgewendet werden und gipfelt in der Schlußfolgerung: »Zu sterben, um öffentliche Mittel zu sparen, kann die moralische Pflicht eines Staatsbürgers sein«
beim letzten satz fällt mir nur noch eines zu ein: fein - dann sollten diverse politikerInnen, wirtschaftsbosse, militärs, medienleute, waffenhändler...mal mit gutem beispiel vorangehen. wieviele kosten sich wohl durch die unschädlichmachung des wahrhaft "parasitären" und antisozialen teils der bevölkerung, der sich selbst in völliger verkennung der realität als "unverzichtbare elite" begreift, einsparen ließen? vom durch sie verursachten und dann wegfallenden menschlichen leid zu reden, ist bei jenen ja eh aussichtslos - was nicht quantifiziert werden kann, existiert für leute mit gewissen wahrnehmungsdefekten faktisch nicht.
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von ex-bundeskanzlern und ihrem reinen gewissen (schröder ist in nicht nur in diesem fall ein würdiger vertreter seiner zunft) sowie durchdrehenden schülerInnen und verzweifelnden lehrerInnen will ich erst gar nicht reden - wer die symptome für den rapiden zerfall unseres sozialen lebens sehen will, hat schon seit längerer zeit eher mühe, einen informationsoverkill zu vermeiden. aber eine aktuelle meldung zu einer resolution der lndesärztekammer in hessen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, weil sie nahtlos an die obigen themen anschliesst:
"Ihre Sorge über die Zunahme psychischer Leiden hat die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen in einer Resolution „Gesundheit und soziale Lage“ ausgedrückt. „Zukunftsängste, Arbeitslosigkeit, Armut, wachsende Vereinzelung und das Auseinanderbrechen von Familien lösen immer häufiger Suchtprobleme und psychische Erkrankungen aus, die in vielen Fällen zu Berufs- und Erwerbsunfähigkeit führen“, erklärten die Delegierten am 25. März in Bad Nauheim."
na, bei den heutigen realitäten ist psychisches leiden im "klassischen" sinne vermutlich inzwischen fast die einzig angemessene reaktion - verdächtig sind eher die, die dümmlich-grinsend vor sich hinfunktionieren und alles so total megatoll finden - Sie erinnern sich, die zwei qualitativ unterschiedlichen psychotischen zustände...
aber auch hier die frage: warum sollen ausgerechnet "berufs- und erwerbsunfähigkeit" das größte problem darstellen? doch nur in den toten und kalten augen derjenigen, die sich als klone des dr. pannwitz definieren lassen.
einen gedanken für mitlesende mütter und väter zum schluß vielleicht noch: ich finde ja, dass die beachtung der marken beim kauf von babynahrung aus verschiedensten gründen sinn macht.
...bereits im kinderalter kommt anscheinend in (staatliche) mode - nachdem großbritannien bereits diesbezgl. pläne hegt (im verlinkten beitrag unten zu finden), möchte frankreich nun nach einem telepolis-bericht ein ähnliches projekt starten:
"Das Gesetzesprojekt stützt sich auf eine Expertise des ansonsten hoch angesehenen nationalen Gesundheitsforschungsinstitut INSERM, in der Pädagogen, Psychologen und Jugendrichter Orwellsche Anklänge orten. Unter dem Titel "Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen" empfiehlt diese Expertise "Ungehorsam und Gefühlskälte" bei den lieben Kleinen sobald als möglich dingfest zu machen, um einer eventuellen kriminellen Karriere zuvorkommen zu können. Mit der Schaffung eines "Betragensheftes" (carnet de comportement) ab der Geburt will der Innenminister nun sämtliche französische Kinder unter ständige professionelle Beobachtung stellen, um so frühzeitig "abartige, kindliche Verhaltensweisen" ausmachen zu können. Laut dem Innenminister entwickelten sich nämlich kindliche Störenfriede häufig zu jugendlichen Straftätern.
`Studien zeigen auf, dass eine Mehrheit von Erwachsenen, die eine antisoziale Persönlichkeit aufweisen, bereits frühzeitig verhaltenauffällig wurden. Umgekehrt betrachtet, entwickelt etwa die Hälfte der Jugendlichen, die Verhaltenstörungen erkennen lassen, eine antisoziale Persönlichkeit im Erwachsenenalter.´"
nun, in den ersten beiträgen hier neulich direkt zum themenbereich soziopathie/antisoziale persönlichkeit(sstörung) habe ich bereits versucht, einerseits auf die gefahr der instrumentalisierten benutzung dieser diagnostischen modelle im interesse von machtinteressen hinzuweisen (wohin das führen kann, zeigt die geschichte des wortes "asozial" in nazideutschland), um andererseits auch das problem der realen existenz von menschen zu thematisieren, denen mit allem recht antisoziale verhaltensweisen attestiert werden dürfen, selbst bei berücksichtigung der gesellschaftlichen bedingtheit der jeweiligen definitionen dessen, was als antisozial betrachtet wird. bei der betrachtung der französischen definition, die sich augenscheinlich an den kriterien der icd-10 für die dissoziale ps orientiert, konnte ich aber wieder einmal sofort auftretende assoziationen feststellen - als merkmale werden da genannt:
"Gefühlskälte, Tendenz zur Manipulation, Zynismus, Aggressivität, Ungehorsamkeit, mangelnde emotionale Selbstkontrolle, Impulsivität, Hyperaktivität und Indizien einer niedrigen Moral."
ist das nicht eher als anforderungsprofil innerhalb einer stellenausschreibung für sog. "führungspersönlichkeiten" zu begreifen, von denen eine weitere auch hier näher beschrieben wird? ich bin schon länger der meinung: ja.
der "ungehorsam" hingegen weist nicht nur bei betrachtung der aktuellen innenpolitischen französischen situation darauf hin, dass die verantwortlichen regierungskreise sich selbst natürlich keineswegs als untersuchungsbedürftig begreifen - wie denn auch, vertreten sie in ihrer wahrnehmung doch die normalität. und ungehorsame untertanen sind dann in dieser logik natürlich nicht normal. das alte elend also mit der begrifflichkeit "antisozial": die definitionsmacht ist entscheidend.
und die sollten wir den herren in den feinen anzügen in unserem ganz eigenen interesse keinesfalls kampflos überlassen. als mindestforderungen vielleicht das: a) erarbeitung von kriterien für die dissoziale ps, bei denen einerseits die gesellschaftliche bedingtheit berücksichtigt wird, andererseits auch das simulationstalent von soziopathischen persönlichkeiten; b)wenn schon screenings (die ich persönlich in bestimmten fällen für sinnvoll halte, allerdings nur unter veränderten bedingungen), dann unter einbeziehung aller angehörigen der politischen und wirtschaftlichen "eliten". bekanntlich dürften sich gerade dort überproportional viele leute mit schweren psychophysischen störungen befinden. ich bin auf eine diskussion dazu gespannt.
...dieses thema wurde vor ein paar tagen in der taz aufgegriffen - und der folgende artikel enthält einige aspekte, die sowohl hinsichtlich psychiatriekritischer ansätze als auch bezogen auf den umgang mit den folgen sozialer (traumatisierender) gewalt von bedeutung sind.
"Lange Zeit war die Elektroschocktherapie verpönt. Wenn Psychotherapie und Medikamente nicht mehr weiterhelfen, greifen Psychiater seit einigen Jahren trotzdem wieder zunehmend zu den Elektroschockgeräten. Die Methode ist nicht unumstritten
Kontaktcreme wird auf die rechte Schläfe und den Scheitel des Patienten aufgebracht. Der Arzt hält die "Paddle" fest. Durch einen Knopfdruck werden Stromstöße verabreicht. Acht Sekunden lang. Die Muskulatur der rechten Wange zuckt. Ansonsten reagiert der Patient nicht. Er ist in Vollnarkose. Zusätzlich wurde ihm ein Muskelrelaxan injiziert. So findet der nun folgende epileptische Anfall nur im Gehirn statt - und im rechten Fuß. Das Bein wurde abgebunden, damit die Muskelkrämpfe sichtbar und messbar sind. Der Fuß bewegt sich ruckartig. Das Gesicht aber ist inzwischen entspannt. 28 Sekunden dauert der Anfall. Der Arzt ist zufrieden. So weit der Lehrfilm für Medizinstudenten.
Elektrokonvulsionstherapie ist der Name für diese Prozedur. Gängiger ist der Begriff Elektrokrampftherapie (EKT). Früher sagte man Elektroschock."
entwickelt wurde die methode 1937 von zwei italienischen ärzten, ugo cerletti und lucio bini. dabei wurden sie von einem bizarren gedanken geleitet: da es sich um eine "heilmethode" gegen diejenigen psychotischen formen handeln sollte, die damals (und bis heute) unter dem namen "schizophrenie" firmieren (die probleme rund um diese diagnostische konstruktion lasse ich einmal aussen vor), und innerhalb der psychiatrischen institutionen die beobachtung gemacht wurde, dass sowohl bei diagnostizierten schizophrenen als auch epileptischen patientInnen faktisch niemals beide krankheitsbilder zugleich auftraten, verfielen cerletti und bini auf die idee, quasi den "teufel mit beelzebub auszutreiben" - tatsächlich ist es ein epileptischer anfall, der mit dem schock ausgelöst wird.
ältere schockverfahren, wie die sog. cardiazol- (ein altes herzkreislaufmedikament) und auch die insulinschocks basierten imo auf anderen ansätzen, und wurden von der ekt langsam verdrängt (wobei noch bis zu beginn der 1950er jahre in d-land insulinschocks, gerne auch in kombination mit der ekt, verabreicht worden sind.)
"Peter Nyhuis, Psychiater an der Uniklinik Essen, ist ein Befürworter dieser Therapie: "Wenn ich eine schwere Depression hätte, würde ich diese Behandlung allen anderen vorziehen." Mit der Sprache des Mediziners erklärt er, warum. Und weil er merkt, dass sein Gesprächspartner ihm nicht recht folgen kann, versucht er es noch einmal anders. "Ein Teil des menschlichen Gehirns hat in etwa die Form eines Seepferdchens. Deshalb heißt dieser Teil Hippocampus. In diesem Areal werden bei gesunden Menschen täglich 1.000 neue Zellen gebildet." Bei depressiven Menschen, so der Psychiater weiter, kämen nur maximal 100 Zellen pro Tag hinzu. Insofern sei die Depression eine hirnorganische Erkrankung. Bei Versuchen mit Ratten habe man nachgewiesen, dass nach einer Elekrokrampftherapie das Zellenwachstum im Gehirn angeregt werde. Verantwortlich hierfür seien so genannte "Botenstoffe und neurotrophe Faktoren", die in Folge des epileptischen Anfalls ausgeschüttet werden. Natürlich, ergänzt Nyhuis, seien solche Ergebnisse nur im Tierversuch zu erzielen. Schließlich müsse man das behandelte Gehirn in dünne Scheiben schneiden."
ich kann mich an psychiatrische kritiken an der ekt erinnern, die darauf hinwiesen, dass jeder epileptische anfall auch eine enorme zahl von neuronen abtötet. das zum ausgleich das zellwachstum nun wieder angeregt wird, scheint dabei eine logische folgerung zu sein. aber ich bezweifle, dass heute wirklich jemand sagen kann, ob und worin genau denn nun ein positiver effekt der ekt liegen kann. das ist das eine.
das andere ist, dass ich selbst psychiatrische krankenakten aus verschiedenen jahrzehnten einsehen konnte, in denen sowohl von den behandelnden ärzten die reaktionen der patientInnen aufgezeichnet wurden, als auch schriftliche reaktionen von patientInnen selbst dokumentiert worden sind. und dabei sieht das verhältnis dann so aus, dass eine mehrheit eher von totaler ablehnung bis zu offener massiver angst geprägt war, während es sogar teilweise dankesbriefe an die ärzte gab - ausdrücklich wegen der ekt-behandlung. eine minderheit fühlte sich also durchaus besser, wobei wir wenig bis nichts über den jeweiligen kontext wissen, in dem dieses besserfühlen letztlich stattfand. nun ist mein einblick sicher nicht im strengen sinne repräsentativ, aber eine tendenz lässt sich imo schon ableiten.
"Günther S. ist Rentner. Früher war er Elektriker. 1999 hat ihn seine Frau verlassen. Wenig später brach auch seine Tochter den Kontakt ab. Er erkrankte an einer Depression. Man versuchte es mit Psychotherapie. Auch viele Medikamente wurden in der Uniklinik in Essen ausprobiert. Nichts besserte seinen Zustand. Dann sprach ihn Dr. Nyhuis an. Die Elektrokrampftherapie könne in so einem Fall helfen. Natürlich war der ältere Herr vor der ersten Behandlung etwas nervös. Aber schon kurz, nachdem er aus der Narkose aufgewacht war, merkte er, wie sich seine Stimmung aufgehellt hatte. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, in denen er beschwerdefrei lebte. Seit einigen Wochen ist der 73-Jährige wieder stationär aufgenommen worden. Wieder eine Depression, wieder die EKT. Sechs bis zwölf Behandlungen wird er bekommen, maximal drei pro Woche.
Es sei, so Peter Nyhuis, ein natürlicher Reflex, die EKT abzulehnen. Elektrische Impulse, die an das Gehirn geleitet werden, lassen vieles assoziieren. Und früher sei diese Art der Behandlung auch völlig anders eingesetzt worden. Ohne Narkose und Beißschutz hätten sich viele Patienten verletzt. "Die krampfenden Muskeln haben sogar so viel Kraft, um Knochen zu brechen." Auch sei früher ohne klare Diagnosenstellung und sogar gegen den Willen der Patienten behandelt worden. So etwas, ergänzt der Arzt mit erregter Stimme, sei heutzutage undenkbar. Die EKT werde in Deutschland nur eingesetzt, wenn der Betroffene schriftlich einwilligt oder, wenn er hierfür zu krank ist, ein gesetzlicher Betreuer dies stellvertretend für ihn tun."
letzteres sollte ja wohl nicht nur bei der ekt, sondern generell in der medizin eine selbstverständlichkeit sein - ich meine eine generelle einwilligung auf selbstverantwortlicher und ausreichend informierter basis. ist es bekanntlich aber nicht.
"Nebenwirkungen gibt es bei der EKT natürlich, wie bei den meisten wirksamen Therapien. Etwa ein Drittel der Patienten klagen am Tag der Behandlung über Kopfschmerzen." Hier helfe ein normales Schmerzmittel. Die Hälfte der Behandelten würden unter kognitiven Störungen leiden. Die Merk- und Konzentrationsfähigkeit sei beeinträchtigt. Diese Symptome würden sich nach spätestens zwei Wochen zurückbilden."
hm.hm.hm. ich kann mich hingegen auch an andere, ältere berichte erinnern, in denen keinesfalls von einer rückbildung der symptome gesprochen werden konnte.
"Auch Wolf Müller ist Psychiater. Er ist Leiter der beiden Tageskliniken im Kreis Herford. "Elektrokrampftherapie, ja, das kommt wieder", sagt er. Besonders die jüngeren Kollegen an den Unis seien davon angetan. Er selbst habe als Assistenzarzt mit dieser Praxis gebrochen. Als er Anfang der 70er-Jahre im Landeskrankenhaus Gütersloh anfing, da gab es noch Säle mit 30 Patienten. "Morgens und abends ging der Oberarzt mit einem Wägelchen von Bett zu Bett, und jeder bekam seinen Elektroschock." Müller berichtet, dass diese Praxis Mitte der 70er-Jahre am Landeskrankenhaus Gütersloh beendet wurde, weil keine Erfolge gesehen wurden.
Natürlich, so räumt Müller ein, sei die Praxis der EKT heute eine andere. Trotzdem könne er sich mit der Methode nicht anfreunden. Er sei überzeugt, dass eine psychische Erkrankung nicht nur ein hirnorganischer Defekt sei."
wieso wird eigentlich nicht die naheliegende schlußfolgerung gezogen...
"Viele Menschen, die zu uns kommen, haben traumatische Erfahrungen hinter sich." Müller berichtet von Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren und nun unter schweren Depressionen leiden. Auf den Hippocampus, das seepferdchenförmige Gebilde im Hirn angesprochen, versucht Müller ein Lächeln. Ja, er könne sich vorstellen, dass eine Depression auch Veränderungen im Gehirn hervorruft."
...auf die der psychiater dann auch kommt - dass eben jegliche emotionalen zustände eine physische basis besitzen und hier eher von einem dialektischen wechselspiel gesprochen werden müsste? psychophysiologie. das ist jetzt kein plädoyer für eine rein physisch orientierte therapie - im gegenteil. die jeweiligen sozialen bedingungen spiegeln sich im spiel der neuronen. und müssen deshalb immer miteinbezogen werden. und gerade dieser erkenntnis verweigert sich der biologistisch orientierte psychiatrische mainstream bis heute. funktionsfähigkeit heisst immer noch das mantra. während die etablierte psychotherapie, hier gerade die "anerkannten" formen psychoanalyse und verhaltenstherapie, immer noch an der ungenügenden berücksichtigung des körpers kranken. wobei es da immerhin zumindest in der pa auch positive tendenzen gibt - vielleicht werfen Sie einmal einen blick auf die homepage von tilmann moser (linkliste), der in de. meines wissens einer der ersten war, die den körper in die pa zu integrieren versuchten.
"Wenn man gelernt hat, seine Aggressionen nicht ausdrücken zu dürfen", könne das eine chronische Vergiftung im Gehirn mit Adrenalin zur Folge haben.
Müller berichtet von einem Mann, der unter starken Depressionen litt. Erst, als jener sein Medikament nicht mehr zu Hause als Tablette einnahm, sondern die gleiche Substanz und Dosierung täglich von seinem Hausarzt gespritzt bekam, besserte sich sein Zustand. Die tägliche Zuwendung, so Müllers Vermutung, war in diesem Fall das eigentliche Medikament: "Wie viel mehr Zuwendung erfährt ein Patient, der an einer Uniklinik an einer international beachteten Studie des Chefarztes teilnimmt?" Müller, der Chefarzt, muss über seine eigene Frage schmunzeln. Dann wird er wieder ernst. Menschen, die als Kind viel Gewalt erfahren haben, hätten die tragische Fähigkeit, sich wieder in gewaltvolle Situationen zu manövrieren. "Und mit einem Stromstoß einen epileptischen Anfall zu erzeugen, hat etwas mit Gewalt zu tun."
ja. und gerade bei nicht erkannten psychotraumata ist das absolut fatal.
es gibt imo eigentlich nur eine vertretbare indikation für die ekt, und die konnte ich vor ein paar jahren den worten eines psychiaters der hiesigen klinik entnehmen, in der damals pro jahr etwa drei- bis viermal die ekt zur anwendung kam: wenn eine sehr schwere depression beginnt, sich dominierend auf die organischen funktionen auszuwirken - das kann in einzelfällen durchaus geschehen und bedeutet zunehmende funktionsstörungen mit allen potenziell bedrohlichen konsequenzen - dann kann die ekt u.u. angebracht sein. im wortwörtlichen sinne ein "wachrüttler" sozusagen. aber ich bezweifle, dass der wieder zunehmende einsatz von elektroschocks sich darauf beschränkt.
so die - vermutlich vorsichtig geschätzte - zahl in einem gerade veröffentlichten UNICEF-bericht, zu dem ich eine dpa-meldung bisher nur auf seiten von einigen webmailprovidern gefunden habe - da deren nachrichtenseiten sehr kurzlebig sind, zitiere ich das meiste:
"In Asien werden nach Schätzung des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) mehr als eine Million Kinder zur Prostitution gezwungen.
Allein in ihrem Heimatland Kambodscha würden bis zu 100.000 Minderjährige, darunter schon siebenjährige Mädchen, als Sexsklaven gehalten, sagte die Autorin Somaly Mam in Berlin. Sie war selbst als Jugendliche an ein Bordell in Phnom Penh verkauft worden und hatte dort jahrelang schlimmste Misshandlungen erlebt. Dieses Schicksal schildert sie in ihrem soeben in deutscher Sprache erschienenen Buch "Das Schweigen der Unschuld", das sie in Berlin vorstellte.
Derzeit gebe es wegen mangelnder Zusammenarbeit der Behörden praktisch kaum eine Möglichkeit, gegen Männer aus Europa vorzugehen, die Kinder in Asien missbrauchten, beklagte Heide Simonis, Vorsitzende von UNICEF Deutschland und ehemalige SPD- Ministerpräsidentin Schleswig-Holsteins. Um so wichtiger sei es, das Thema öffentlich zu machen.
1997 gründete Mam in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh die Organisation AFESIP (Handeln für Frauen in Not), die sich um die Opfer von Prostitution und Menschenhandel in Asien kümmert.(...)"
mehr zum thema und zum buch direkt bei unicef. und frau simonis sei auf das hier anfangs zitierte beispiel verwiesen, oder auch hierauf - die "mangelnde zusammenarbeit" ist imo eher als symptom zu sehen, bzw. als ausdruck eines ganz anderen problems - verdinglichung.
die taz kam heute zum internationalen frauentag mit einem special zum thema "mütter" heraus, welches mich bewogen hat, mir ausnahmsweise mal wieder die print-ausgabe zuzulegen - nunja, ich habe zwar noch längst nicht alles gelesen, aber es ist schon auffällig, wie sehr diese zeitung auf die von ihr (wahrscheinlich zu recht) vermutete klientel in form der gehobenen weißen deutschen mittelschicht mit "bewußtsein" zugeschnitten ist - in diesem speziellen fall heute auf 30 - 50jährige frauen aus eben dieser schicht mit einer art...hm, primär auf ökonomische und soziale teilhabe orientierten mittelklassefeminismus, der sich redlich bemüht, die skandalösen bis tödlichen strukturellen zustände der gesellschaft, von der diese teilhabe eingefordert wird, nicht allzusehr in den blick geraten zu lassen.
trotzdem kann ich einen artikel besonders empfehlen - countdown einer mutter
thematisiert sowohl das kulturelle konstrukt "mutterliebe" als auch die folgen, die gestörte mutter-kind-beziehungen nach sich ziehen - wenn das auch in imo unzureichender form geschieht, ist das immerhin medial mal ein anfang.
"Mutterliebe wird hoch gehängt. Hormone, die bei der Geburt ausgeschüttet werden, machen es den Müttern leicht, sich jahrelang Aufgaben zuzumuten, auf die man sonst lieber verzichtete. "Monatelang keinen erholsamen Schlaf, mindestens 3.000 Mal Windeln wechseln, seinen Körper zur Tränke machen, am Geschrei die Bedürfnisse des Kindes erkennen: Hunger, Langeweile, Angst, Müdigkeit, Schmerz", sagt eine andere Mutter, sie hat eine Dreijährige. Sie liebe ihr Kind trotzdem.
Mutterliebe ist ein idealisiertes Phänomen. "Mutterliebe, man nennt dich des Lebens Höchste! So wird denn jedem, wie schnell er auch stirbt, dennoch sein Höchstes zuteil." Dieses poetische Zitat stammt von Hebbel, 19. Jahrhundert.
Was aber, wenn "Mutterliebe" ihre Doppelbödigkeit offenbart? Was, wenn die Bedürfnisse des Kindes zu einer Zumutung werden? "Jede Mutter hasst ihr Kind irgendwann", sagt eine junge Frau, deren Vierjähriger alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie kommt gerade aus einer Erziehungsberatungsstelle. Ob sie Genaueres erzählen wolle? "Nein."
das scheint mir eine selbstverständlichkeit zu sein, dass sowohl die schwangerschaft an sich als auch die folgenden jahre immer wieder von negativen gefühlen gegenüber dem kind begleitet sein dürften - anderes zu erwarten, wäre schlicht unmenschlich. es kommt aber dabei auf das maß an - situationsbedingte ablehnung vor dem hintergrund einer grundsätzlich liebevollen einstellung ist etwas, mit dem sowohl ein embryo als auch ein kind nicht nur fertigwerden dürfte, sondern vielleicht sogar als "entwicklungshilfe" beim eigenen wachstum benötigt. ganz anders sieht es hingegen bei einer überwiegenden und dauernden ablehnung bis hin zum offenen hass aus - da können solche szenarien entstehen, wie sie hier bis zum überdruß unter dem stichwort infantizid dokumentiert worden sind.
"Warum gibt es heute viele Menschen, die sagen, meine Mutter hat mich nicht geliebt, und kaum Mütter, die sagen, dass es tatsächlich so war? Verständlich wird diese Unsicherheit, wenn das gesellschaftliche Bild der Frau berücksichtigt wird: Mit der Entwicklung hin zur Kleinfamilie ist die Mutter in Deutschland kinderliebend in der Verantwortung, trotz aller Versuche, dies auch auf den Vater zu verteilen. Religiöse, kulturelle und historische Bilder lasten schwer auf ihr.
In der Fachliteratur wird selten von "Mutterliebe" gesprochen, sagt Herma Michelsen. Es sei ein poetischer und mystisch aufgeladener Begriff. Im Vordergrund der Forschung steht die Mutter-Kind-Bindung oder auch Mutter-Kind-Interaktion. Die Ausrichtung der Forschung argumentiert aus der Sicht des Kindes. Ist die Beziehung zur Mutter nicht intakt, ist die Entwicklung des Kindes gefährdet. Seine Schwierigkeiten als Erwachsener führt die Psychologie gern auf emotionale Brüche zwischen ihm und der Mutter zurück."
wobei es eben für letzteres auch einen haufen indizien gibt.
"Wer den Selbstläufer "Mutterliebe" jedoch in Zweifel zieht, lenkt den Blick weg vom Wohl des Kindes hin auf das der Mutter. Auch sie hat eine Geschichte. Mütter, die sich als Kinder selbst ungeliebt fühlten, hätten größere Probleme, ihre Kinder anzunehmen. "Mühelos kann man den Kindern nur das geben, was man selbst bekommen hat. Alles andere muss man sich erarbeiten", bestätigt Herma Michelsen. Frauen, die in Situationen seien wie Bianca Pohl, übernehmen zweifellos die Verantwortung für das Kind. "Die Freude stellt sich aber nur langsam ein."
Die Konsequenzen gestörter Mutter-Kind-Beziehungen sind, so geht aus der psychologischen Forschung hervor, vielschichtig. Sie reichen klassenübergreifend von Depression bis zu Gewalt. Auf beiden Seiten, der des Kindes und der Mutter. Geht es ums Kind, wird bei der Mutter gern die Schuld gesucht, geht es um sie, ist sie selbst schuld."
genau das beschriebene ist ja eben der zentrale und fatale prozeß der ständigen wiederholung/re-inszenierung traumatischer erlebnisse von müttern, die ihre kinder/töchter traumatisieren, die wiederum... ich habe hier schon früher geschrieben, dass die moralische kategorie "schuld" hier unbrauchbar und schädlich ist - verantwortlichkeit passt schon besser, wobei diese gelernt werden muss - und genau die bedingungen nicht nur dafür zu schaffen, sondern auch die notwendigen materiellen sicherungen für mütter und kinder und familien bzw. kinderbetreuende kollektive ist eine gesamtgesellschaftliche aufgabe - und zwar nicht im interesse irgendwelcher "nationaler" oder ökonomischer belange, sondern aus ganz elementaren menschlichen gründen - wozu u.a. gehört, die generationenalte spirale der gewalt endlich an einem ganz entscheidenden punkt stoppen zu können.
"Über die Konsequenz nicht erbrachter gesellschaftlicher Kinder- und Mutterliebe aber spricht niemand. Dies mag erklären, warum der einfache Weg, der Ehrlichkeit in die Mutter-Kind-Problematik brächte, ein Tabu ist. Denn wären die erlebten Defizite der Mütter öffentlich thematisierbar, würde deutlich, wie allein gelassen sie bleiben."
allerdings. neue leserInnen hier seien auf das themenvertiefende buch von lloyd deMause verwiesen.
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zum thema im weitesten sinne gehört auch dieses: fragen zu und folgen von leihmutterschaft und reproduktionsmedizin, in einem kurzen, imo recht informativen text zusammengefasst:
"Die Beziehungsaufnahme zwischen Mutter und Kind, das Bonding, das intrauterin beginnt, kann zur extremen Problemerfahrung werden, wenn das Kind nach der Geburt hergegeben werden soll."
in absehbarer zeit möchte ich hier einmal einen basisartikel zum thema "pränatale phase" veröffentlichen - dann werden möglicherweise einige thesen des obigen textes auch besser verständlich sein.
* * *
ansonsten: erinnern Sie sich noch...? ist nur ein paar monate her - und heute findet sich diese meldung irgendwo klein am rand - ob sie es überhaupt in anderen medien über die wahrnehmungsschwelle geschafft hat, ist mir nicht bekannt.
"Auf dem Weg von Mauretanien zu den Kanaren sind am Wochenende 45 Flüchtlinge ertrunken. Zwei mit insgesamt 84 Afrikanern besetzte Fischerboote seien im Atlantik gekentert, berichtete die El País gestern. Gestern drohte erneut ein Flüchtlingsboot mit 40 Passagieren zu kentern."
schlimm? eigentlich eher ein völlig unerträglicher tatbestand - aber schauen Sie sich das folgende an:
"Nach Angaben des Roten Halbmonds kamen in den vergangenen vier Monaten 1.200 bis 1.300 Menschen beim Fluchtversuch auf spanisches Territorium ums Leben."
die älteren leserInnen hier können sich vielleicht folgendes ausmalen: was wäre in diesem land losgewesen, wenn es ähnliche zahlen in einem ähnlichen zeitraum auch nur einmal an der ehemaligen grenze zur ddr gegeben hätte? eben. die von unseren westlichen gesellschaften immer wie ein popanz vor sich hergetragenen bekenntnisse zu "menschenrechten" sind nicht das papier wert, auf denen sie geschrieben werden. unter menschen werden ganz offensichtlich nur bestimmte menschen verstanden - und die sind immer noch reich und weißhäutig.
*
zum schluß noch ein lesetipp bei telepolis: soziale angst heißt das thema, und auch das zugehörige forum ist zu empfehlen - bei tp bekanntlich nicht immer die regel.
in einem vergangenen beitrag hatte ich per überschrift diese frage gestellt: ist borderline mörderischer *pop*? nun taucht aktuell online diese meldung auf:
"Einer der weltweit führenden Angstforscher, Borwin Bandelow, hat in einem Interview vielen Mega-Promis gefährliche Persönlichkeitsstörungen attestiert. Verbreitete Symptome seien Narzissmus und Borderline."
nun, das finde ich persönlich nicht allzu überraschend (auch nicht die fehlinformation, dass es sich bei borderline um ein "symptom" handeln würde - das allgemeine wissen in diesem bereich ist bekanntlich stark erweiterungsfähig) - wenn Sie sich die bisherigen beiträge hier im blog rund um die themen borderline und narzisstische ps noch einmal in erinnerung rufen, werden Sie sich vielleicht viele argumente für die these ins gedächtnis rufen können, dass gerade die simulativen und fiktiven welten von show und schauspiel eine bevorzugte anziehungskraft für menschen mit bestimmten psychophysischen strukturen besitzen - das lässt sich durchaus auch aus den eigenen wahrnehmungen dieser bereiche und der dort auftretenden protagonistInnen schließen (zumindest, wenn die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten noch irritierbar hinsichtlich durch und durch simulierter realitäten sind). und von daher halte ich die folgende, auf den ersten blick seltsame aussage des psychiaters auch nicht für so bizarr, wie´s den anschein haben könnte:
Den Vorwurf, dass die Promis, über die er urteilt, doch gar nicht auf seiner Couch gelegen hätten, lässt Bandelow nicht gelten: "Die Diagnose erfordert keinen psychiatrischen Feinsinn."
am argument, dass ein eigener, unmittelbarer wahrnehmungseindruck am sichersten relevante informationen über den (inneren) zustand eines anderen menschen geben kann, ist sicher einiges dran. bloß: wenn es mit den eigenen wahrnehmungsfähigkeiten nicht mehr weit her ist, dann können auch noch so viele objektiv stattfindende nahkontakte keinerlei wichtige informationen vermitteln. umgekehrt aber lassen sich meiner meinung nach auch aus der distanz und aus medialen und biographischen fragmenten aller art durchaus korrekte schlüsse über psychophysische zustände bei ansonsten eigentlich fremden personen treffen, wenn dabei einige voraussetzungen beachtet werden - so müssen zb. die quellen, aus denen heraus die eigenen wahrnehmungen sozusagen extrapoliert werden, sorgfältig geprüft sein - und auch die funktionsbedingt bei distanzkontakten eher abstrakteren wahrnehmungsinhalte (die dann fast immer auch vom eigenen objektivistischen modus zu mehr oder weniger sinnvollen gestalten/skulpturen konstruiert und ergänzt werden) müssen anders "gelesen" werden als bei konkreter nähe. wenn allerdings die gerade genannten veränderten voraussetzungen berücksichtigt werden, sehe ich persönlich generell bestimmte arten von "ferndiagnosen" nicht als gänzlich unmöglich an.
"Wenn Drogenabhängigkeit mit Magersucht, Aggressivität, Suizidversuchen und Depressionen kombiniert ist, ist das ein relativ klarer Fall von Borderline. Die Betroffenen haben ihre Emotionen nicht im Griff. Sie erzählen Lügengeschichten. Und obwohl sie sehr selbstbewusst auftreten, halten sie sich für den letzten Dreck."
Auch die Hinwendung vieler Promis zu den unterschiedlichsten religiösen Bewegungen rechnet Bandelow dem Borderline-Syndrom zu: "Wer unter Angst leidet, sucht sein Heil gern in der Religion. Typisch für Borderliner ist, dass sie sich Ausgefallenes suchen. Madonna hat sich der Kabbala zugewandt, Tom Cruise missioniert für Scientology."
und hinsichtlich michael jackson und klaus kinski, die ich persönlich ebenfalls beide für borderlinebetroffen halte, wäre noch das element der öffentlichen identitätskonstruktionen und -wechsel zu nennen, welches bei genauerer beobachtung bei vielen sog. stars zu bemerken ist. essstörungen und selbstverletzendes verhalten als symptome verstärken ebenso wie vielfältiger drogenabusus dann nur noch die indizienreihe.
edit: und es bleibt natürlich notwendig, immer im hinterkopf zu behalten, dass die meisten der oben von dem zitierten psychiater genannten symptome eben auch hinweise auf (post-)traumatische störungen sein können.