assoziation: nicht wirklich fröhliche gedanken an einem dämmernden frühlingssonntagabend

"klassische" gefühle von innerer leere überkommen mich heute immer wieder, habe mich scheint´s zu sehr den zuständen gewidmet. und das bedeutet ja keinesfalls bzw. noch nicht mal überwiegend die distanziert-objektivistische betrachtung, sondern die zustände gehen an die nieren - irgendwie eine treffende metapher - und bringen die neuronen in hirn und nervensystem/-en (nicht das enterische vergessen) ihrerseits in zustände, die sich dann als bedrückende und belastende emotionen und gedanken manifestieren. aber schreiben kann ja zumindest manchmal therapeutische wirkung entfalten - nun denn.

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als fortsetzung meiner kleinen letztjährigen reihe mit dem versuch, die
folgen der (ökonomischen) krise hierzulande etwas mehr zu fassen zu bekommen, kann ich ganz persönlich feststellen, dass ich die von mir heimlich befürchteten auswirkungen gerade im sozialen bereich mehr und mehr auch in meinem umfeld wahrnehme - es ist deutlich die tendenz vorhanden, sich auf die "allerprivatesten" dinge, umstände, situationen und orte zurückzuziehen. "politik" (als sammelbegriff für alles "öffentliche") wird zusehends gar nicht mehr oder aber nur noch mit kurzen zynismen kommentiert und wahrgenommen. der wunsch, eine zusehends unbegreiflichere und vor allem auch bedrohlichere welt einfach mittels türzuschlagen "draußen" stehen zu lassen, ist ja verständlich (und ich setze das - immerhin inzwischen meist sehr bewusst - selbst ein, um die nötigen ruhepausen zu finden). andererseits: was sagt es über die zustände unserer welt aus, wenn "wir" uns zunehmend defensiv verhalten, zurückziehen und die einzige "utopie" noch darin besteht, "privat" möglichst angenehm über die runden zu kommen?

mal abgesehen davon, dass letzteres gar nicht funktionieren kann ("die welt" wird beizeiten alle scheinbar fest verschlossenen türen schlicht eintreten und aus den angeln heben), erzählt das beobachtete für mich auch laut und deutlich von allgemeiner überforderung. ein burn-out bzw. das, was sich hinter dieser diagnose alles verbergen kann, ist nichts, was alleine am (lohn-)arbeitsplatz entsteht - es ist eine frage aller lebensbereiche und ein symptom für eine umfassende dysfunktionalität - zunächst im weiteren und nahen sozialen beziehungsgeflecht, dann bzw. parallel zwangsläufig auch individuell psychophysisch.

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es ist eine gefährliche situation, wenn sich solche zustände nicht nur vereinzelt manifestieren, sondern als quasi symptomatisch für die verfassung ganzer gesellschaften wahrgenommen und auch hingenommen werden. dieses letztere nun lässt sich mit einigem recht als ausdruck auch von umfassenden legitimations- und letztlich sinnkrisen betrachten - medial wird sich diesen alarmzeichen dann am beispiel eines
nachbarlandes zb. so genährt:

(...) "In Frankreich kriecht gelbe Galle durchs Land. Das Volk misstraut allem und jedem: dem Staat, den Parteien, den Medien. Den Kirchen sowieso. Erst recht den Unternehmen. Und untereinander hegen viele Franzosen ebenfalls Argwohn. Nur ein Fünftel von ihnen glaubt noch, man könne sich gemeinhin auf Mitmenschen verlassen." (...)

mal alle berechtigten fragen nach der plausibilität und repräsentativen aussagekraft von studien wie solchen, auf denen das zitierte beruht, aussen vor gelassen: ist das nicht eigentlich genau das, was - nicht nur in frankreich - zu erwarten ist? alle genannten institutionen erscheinen zunehmend hohl, wenn nicht gleich als ausdruck organisierter zweifelhafter zwecke bis offener kriminalität, vor allem im antisozialen sinne gemeint. nur keine missverständnisse: als sympathisant des anarchistischen gedankens habe ich keine probleme damit, dass sich mehr und mehr systemtragende institutionen und ihre repräsentanten zusehends selbst unmöglich machen und teils regelrecht demontieren (banken und kirchen sind dafür nur sehr auffallende beispiele) - ich finde das eigentlich eine höchst überfällige und sehr begrüssenswerte entwicklung.

das problem: es ist weit und breit nichts wahrzunehmen, was das entstehende vakuum wirkungsvoll und vor allem positiv füllen könnte. sprich: selbstbestimmte und selbstregulierende kollektive entwicklungen zur beantwortung der wichtigsten gesellschaftlichen probleme, beruhend auf authentischer individualität. selbst wenn ich mich an meinen eigenen, in der vergangenheit hier mehrfach geäusserten verdacht klammere, dass wirklich neue politische entwicklungen sich unter umständen in formen vollziehen werden, die historisch bisher unbekannt waren und von daher vielleicht auch nur schwer wahrzunehmen sind, so bleibt doch der eindruck einer allumfassenden defensiven und abwehrenden grundhaltung, und zwar ganz pauschal "der welt" gegenüber, hartnäckig in meinem kopf sitzen.

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wenn ich denn die grundstimmung vieler zeitgenossen unserer epoche in ein paar worten zusammenfassen sollte, würde ich etwas in der art von passiv-gleichgültiges, gleichzeitig latent aggressives misstrauen wählen - zusammen mit der eingangs schon erwähnten allgemeinen tendenz zum rückzug in scheinbar private refugien bietet das ein bild, welches ich bei einem einzelnen menschen als ausdruck einer larvierten depression bezeichnen würde - "larviert" meint hier eine besondere form von versteckt, besser halb-versteckt oder noch nicht voll ausgeschlüpft, weil die depression zwar schon wahrnehmbar ist, aber der betroffene noch zu gleichgültigem funktionieren in der lage ist, wozu auch oberflächliches "spasshaben", meist unter einfluss verschiedenster psychoaktiver substanzen, gehören kann. die kurzfristige "begeisterung" für inhaltlich entleerte und oberflächliche events aller art, die immer wieder neu medial produziert wird, steht dabei für die pseudokollektiven formen des letzteren und bildet dabei gleichfalls nur die andere seite der medaille von dem, was in der letzten zeit hierzulande seitens der selbsternannten "eliten" an plumpen und altbewährten ressentiments wahlweise gegen "die griechen", "die moslems", "die arbeitsscheue hartz-IV-unterschicht" oder sonstwen versucht wird zu schüren - der versuch, die durchaus wahrnehmbaren destruktiven aggressionen wiederum in formen von gegenseitiger aufhetzung konstruierter pseudokollektive zu steuern und zu kontrollieren. aber auch hier ist mein eindruck der einer bestimmten wahllosigkeit - auch, wenn dahinter alte und traditionelle versuche der fragmentierung zwecks machterhaltung stehen, so glaube ich nicht, dass das so funktioniert wie in der unheilvollen vergangenheit - zumindest nicht in den bekannten formen.

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die da heissen: nationalismus, rassismus, sexismus und alle varianten von sozialdarwinistischen bis eugenischen ideologischen konstrukten. sicher schwirren von diesen ladenhütern machtstützender ideologien an allen ecken und enden fragmente durch die gegend; sicher sind auch die seit jahrzehnten unübersehbaren modernisierungsversuche - "wie mache ich diesen alten dreck kompatibel zum modernen zeitgeist?" - teils von mehr oder weniger großem erfolg gekrönt - und trotzdem bleibt vor allem der eindruck einer großen gleichgültigkeit, die sich wie mehltau auf das ganze gesellschaftliche leben gesenkt hat.

und so ist auch die überschrift
wie in alten zeiten des blogs, welches dankenswerterweise das folgende zeitzeugnis dokumentiert hat -

tote soldaten


- rein oberflächlich betrachtet zwar treffend (wenn man sich in den entsprechenden archiven die todesanzeigen der jahre 1939 - 45 in deutschen zeitungen betrachtet, so gibt es da nur ein paar variationen derart, dass damals von "stolzer trauer" und "für führer und vaterland" die rede war), aber bei genauerem hinsehen mutet den versuchen der erzeugung von so etwas wie nationalistischer, gar militaristischer ernsthafter bzw. erhabener (kriegs-)unterstützung (von begeisterung gar nicht zu reden), und sei´s in form von "nationaler trauer und betroffenheit", doch eher etwas absurdes an - das allermeiste wirkt inszeniert, wie show, fake und simulation. leer.

was ja nun gerade in diesem kontext nicht das schlechteste ist - die gemetzel im namen solch fiktionaler konstrukte wie "nation" u.a. bilden bekanntlich zu einem großen teil die historie der spezies. heute aber scheint es so zu sein, dass die wirkungen des totalitären kapitalismus - vereinzelung bzw. all die (verkäuflichen) formen der pseudoindividualität, allgemeine fragmentierung, beschleunigung etc. - zusammen mit seinen massenmedialen vermittlungsebenen bestimmte, pathologische psychophysische und in der vergangenheit verbreitete menschliche strukturen mitsamt ihren spezifischen fiktionalen kompensationsversuchen alá "nation", "gott" etc. ebenfalls unterminiert bzw. durch noch zu bestimmendes anderes abgelöst haben (hier dürfte übrigens eine motivation jener "echten", d.h. reaktionären, konservativen liegen, die sich selbst nicht mehr in der aktuellen kapitalistischen variante wohlfühlen und teils schon verzweifelt versuchen, die "alten werte" wie familiensinn, "patriotismus" usw. mit allen zugehörigen sog. tugenden - disziplin, formale höflichkeit etc. - neu zu definieren und zu füllen.)

dieser gerade zwangsweise sehr grob skizzierte vorgang haut also reale und fiktionale, "alte" kompensatorische ebenen der kollektiven und individuellen sinngebung gleichzeitig zu klump. wobei letztere seitens der "eliten" regelmässig wiederzubeleben versucht werden, was aber offensichtlich nicht so recht gelingen will - wenn, dann (ausser für die ganz gestörten) nur noch als unglaubwürdige farce. der große rest bleibt gleichgültig oder konsumiert bspw. den "neuen patriotismus" anlässlich von irgendwelchen sportevents ähnlich wie eine tv-show.

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ich hoffe, dass Sie mir ungefähr folgen können - ich versuche gerade, etwas genauer zu fassen zu bekommen, was mir seit langem als vager und diffuser eindruck immer wieder durch meine wahrnehmung geistert. bei der frage an mich selbst, wie ich das umrissene denn nun selbst finde und was das womöglich für konsequenzen hat, bin ich sehr zwiegespalten. einmal finde ich, dass bereits deutlich zu sehen ist, in welche richtung eine gesellschaft driftet, die von solchen tendenzen wie dargestellt bestimmt wird - bereits öfter thema hier, ist das stichwort wieder einmal
mafiasierung - bandenbildung:


(...) "Doch der wirklich gefährliche Teil der Mafia ist unsichtbar, vor allem in Ländern, in denen sie investiert. Nehmen Sie die sizilianische Mafia. Hochintelligente, bürgerliche Verbrecher: Ärzte, Mittelständler oder Juristen, die immer erfolgreicher gesellschaftliche Schlüsselpositionen besetzen und ihre Kinder auf die Universität schicken. Oder schauen wir auf die russische Mafia, die in einem kapitalistischen System stark geworden ist, das nach unseren Schätzungen heute zu 70 Prozent vom organisierten Verbrechen betroffen ist und nun große Teile der Weltwirtschaft beeinflusst. (...)

SZ: Wie muss man sich diese wirtschaftliche Betätigung vorstellen?

Scarpinato: Wie eine Tumorzelle, die wächst und streut. Diese kriminelle Zelle erwirbt ein Hotel oder ein Restaurant; dort werden fünf, sechs Menschen platziert, die das Geschäft im Sinne dieser Clans nutzen und ausbauen. Natürlich darf man das nicht kleinreden, wenn die 'Ndrangheta in Bochum eine Pizzeria eröffnet, aber es ist ein Entwicklung, die sich durch Ermittler gut kontrollieren lässt. Im Vergleich zu unseren wirklichen Problemen ist es ein Witz.

SZ: Was ist das eigentliche Problem?

Scarpinato: Wir müssen aufhören, so zu tun, als beschränke sich die Mafia auf wenige Krisenregionen. Es geht um ganze Staaten, die unterwandert werden. Indem die Mafia dort Verbündete an zentralen Stellen platziert. Das kann der Vertreter einer Schweizer Bank, ein Politiker oder ein Mailänder Spitzenanwalt sein. Ein Schulterschluss zwischen traditioneller Mafia und Funktionären. Und derzeit entwickelt sich die organisierte Kriminalität zu komplexen kriminellen Großsystemen, die undurchschaubar werden.

SZ: Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Einige deutsche Ermittler halten das auch für Panikmache.

Scarpinato: Die Probleme zeigen sich aber an vielen Stellen. Etwa in Russland, wo sich das organisierte Verbrechen mit Personen aus Politik, Wirtschaft oder Finanzwelt zusammengetan hat. Das Kapital, das global verschoben wird, ist enorm. Zudem sehen Analysten mit Sorge die Bedeutung des chinesischen und indischen Wirtschaftswachstums für das organisierte Verbrechen. Wenn sich diese Raten aufrecht erhalten lassen, haben die Chinesen in 20 Jahren dieselbe Kaufkraft wie der Westen. Das würde nicht nur bedeuten, dass China das neue Dorado des Drogenkapitalismus wird, sondern auch dass illegale Märkte die legalen an Bedeutung übertroffen haben. Alle alten Mafia-Geschichten sind nur noch Folklore." (...)


ich greife das mafia-thema hier nicht umsonst immer wieder auf, weil ich finde, dass sowohl die ausbreitung "der mafia" (als sammelbegriff für alle adäquaten globalen strukturen) als auch die zunehmende ununterscheidbarkeit zwischen "legal" und "illegal" gerade im ökonomischen und politischen bereich etwas ist, was einerseits von sehr vielen mit der materie professionell befassten konstatiert wird, andererseits aber in der möglichen bedeutung größtenteils schwer unterschätzt wird. allgemeine vereinzelung und gleichgültigkeit bei parallel laufenden deutlichen tendenzen zur totalitären verdinglichung von allem lebendigen laufen in letzter konsequenz auf verschiedenste, "regional angepasste" (suchen Sie im blog einmal nach "maras") mafiöse strukturen als extreme verfallsform des sozialen hinaus. auf dieser ebene sind alle formalen und fiktionalen normen von "moral" und "ethik" auf ihren eigentlichen gehalt reduziert - nämlich gar keinen. die angebliche "ehre" der mafiosi ist sichtbar nur noch ein ganz dünnes feigenblatt; real befinden sich in solchen strukturen nur noch lauter einzelkämpfer, die einen rücksichtslosen kampf um ihr eigenes überleben - mittels aufstieg in der jeweiligen machtpyramide - austragen. wenn man sich übrigens die antiutopie des neoliberalismus betrachtet, so lässt sich die mafia durchaus als verwirklichung des dortigen antisozialen freiheitsbegriffes verstehen - eigentum und vertrag als einzige basis jeglicher sozialität. dem kann jeder mafiosi zustimmen - "verträge" bzw. ihre gestaltung bestimmt der stärkere, und die fiktion "eigentum" wird in diesem szenario der totalen verdinglichung eh zum einzig "sinnstiftenden" element.

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man kann eine derartige gesellschaft als soziopathische dystopie betrachten, ebenfalls als eine variante von dem, was marx glaube ich als "frühe akkumulation" bezeichnet hat - eine ungebremste profit- und raubmaschine. das für ein solches szenario selbst deutlich fiktionale konstrukte und formale gesetze und normen staatlicher, religiöser oder sonstiger "traditioneller" herkunft hinderlich sind, liegt auf der hand. das mafiöse gesellschaftsideal sieht im kern eher so aus wie das, was unter "wilder westen" aus den frühen tagen der usa bekannt ist - incl. recht des stärkeren, lynchjustiz, und totaler freiheit für jegliche egozentrische anwandlung. heute hat das die form des failed state - nicht zufällig entspringen die maras den mittelamerikanischen, die piraten in ostafrika den dortigen (bürger-)kriegszonen.

ein deutlicher fehlschluß liegt für mich aber nun darin, aus dem obigen heraus eine stärkung der benannten "traditionellen" institutionen - an erster stelle die nationalstaaten - zu fordern. und das nicht nur deswegen, weil auch viele staatliche strukturen heute rund um den planeten als mafiös besetzt gelten müssen, sondern weil genau diese auf altbekannten fiktionen gebauten und angelehnten konstrukte wie staaten, nationen und institutionalisierte religionen erst überhaupt den boden für diese extremen formen der antisozialität bereitet haben. auf (philosophischen) fiktionen beruhende gesellschaftliche normen, nach objektivistischen kriterien waltende justiz und religiös begründete moralsysteme tragen allesamt die tendenz zur offenen und qualitativ soziopathischen antisozialität in sich - während sich die ersteren als historische auslaufmodelle im rahmen der zugrundliegenden traumatischen matrix (= die wirkungen der durch unsere geschichte hindurch akkumulierten individuellen und kollektiven gewalt in der spezies) betrachten lassen, stellt die offene soziopathie (und ihre potenziell antisozialen satelliten in form strukturell verwandter psychophyischer zustände) eher eine art endzustand der möglichen menschlichen entwicklung in dieser matrix dar - solche individuen sind u.a. per empathielosigkeit, unfähigkeit zur angstwahrnehmung und beziehungsunfähigkeit GANZ UND GAR NICHT ZUFÄLLIG gerade unter besonders gewalttätigen, also potenziell traumatischen sozialen bedingungen, besonders funktionsfähig. die soziopathische struktur als menschliche option scheint ein logischer, auch durchaus evolutionärer versuch zu sein, die spezies unter traumatischen bedingungen quasi über die runden zu bringen.

bedauerlicherweise lässt sich diese psychophysische mutation nur noch als "mensch neuen typs" betrachten, weil ihr so ziemlich alles fehlt - an erster stelle die liebesfähigkeit - was uns menschen als soziale wesen ausmacht. und so paradox es klingt: dazu gehört auch die fähigkeit, sich überhaupt traumatisieren lassen zu können! denn ein trauma kann nur an bestimmten bruchlinien innerhalb der psychophysis ansetzen und verwandelt dort primär vertrauen in misstrauen, (zer-)stört derart auch die allgemeine beziehungsfähigkeit, produziert rückzug in fiktionale welten, isolation - ganz allgemein gesagt, wird der objektivistische modus zur kompensation der verschütteten / verlorenen sozialen fähigkeiten extrem aktiviert und darüber der eigentlich "gesunde autismus" innerhalb unserer struktur zu einem pathologischen zustand.

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am anfang hatte ich von der großen gleichgültigkeit geschrieben, und die ist für mich ebenfalls ein immanenter ausdruck der traumatischen matrix, die unser aller leben bis heute bestimmt. und wie ich in den vergangenen beiträgen der letzten wochen zum thema der gewalt in totalen institutionen schon angemrkt hatte, ist das, was aktuell alles sichtbar geworden ist, nur als ein teil dieser matrix zu
begreifen:

(...) "Der Bundesgerichtshof freilich hat noch 1988 "eine gelegentliche Tracht Prügel" für zulässig erklärt. Die Züchtigung mit einem "stockähnlichen Gegenstand" sei, so sagten die fünf hohen Richter im genannten Fall, "nicht pauschal zu verdammen". Es müssten, so urteilten sie allen Ernstes, alle "objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens geprüft werden". Die Untaten des Kindes mussten also zur Dicke des Schlauches und der Zahl der Schläge ins Verhältnis gesetzt werden. So war es Recht - nein, nicht bis 1800, nicht bis 1900, sondern bis zur großen Rechtsänderung von 2000.

Ist das verdrängt - aus Scham über das Vergangene, aus Stolz über das Erreichte? Die lange Geschichte der alltäglichen Prügelei in Schule und Familie ist erst vor einer historischen Sekunde zu Ende gegangen.

Es ist bezeichnend, dass zwei Jahrtausende lang "Frau Grammatika", also die Symbolfigur für Schule und Unterricht, mit der Rute in der Hand gezeigt worden ist. Und zwei Jahrtausende lang hieß das, was heute elterliche Sorge heißt, elterliche Gewalt. Martin Luther hat sie so geschildert: "Die Mutter stäupte mich um einer geringen Nuss willen, dass das Blut hernach floss." Aber, so fügte er an, die Eltern "meinten’s herzlich gut". Diese Art von Güte ist noch nicht ausgestorben.

Das Recht des Ehemanns, die Ehefrau zu züchtigen, wurde erst 1947 offiziell aufgehoben; das Recht des Lehrherrn zur väterlichen Zucht der Lehrlinge wurde erst 1951 abgeschafft; die schulischen Körperstrafen, also die von Lehrern verabreichten Ohrfeigen, Kopfnüsse und Tatzen, wurden in der Bundesrepublik erst 1973 umfassend verboten. Erst seit 1998 sind "körperliche und seelische Misshandlungen" im Bürgerlichen Gesetzbuch für unzulässig erklärt.

Und erst seit dem Jahr 2000 steht dort der klare Satz, der Kindern ein "Recht auf gewaltfreie Erziehung" gibt. Dagegen gab es vor einem Jahrzehnt massive Widerstände. Es sei, so hieß es, dem "Kindeswohl wenig förderlich, wenn Selbstverständlichkeiten ständig wiederholt würden". Selbstverständlichkeiten? Die Eiszeit der Erziehung ist soeben erst zu Ende gegangen. Sie war eine Art Scharia im Westen. Die Misshandlungsskandale, die heute entdeckt werden, sind ihr Nachhall." (...)


mal abgesehen davon, dass die realität nicht nur für viele kinder und nicht nur in anderen regionen, sondern auch in diesem land bekanntlich immer noch so aussieht, dass es fraglich erscheint, bei den "skandalen" von heute von einem "nachhall" zu sprechen, geht bei dieser nötigen und sachlich durchaus richtigen darstellung eines völlig unter: nämlich dass die in juristische normen gegossenen veränderungen in jedem fall gegen den gesellschaftlichen mainstream und die relevanten teile der "eliten" sowieso erkämpft werden mussten - und das gilt eigentlich für alle "zivilisatorischen" errungenschaften, mit denen sich der "freie westen" bis heute zur abgrenzung und selbsterhöhung gegenüber anderen kulturen selbstgefällig schmückt. egal ob arbeiterInnenrechte, stellung der frau oder eben respekt vor kindern: jedes noch so kleinste fitzelchen positiver entwicklungen musste unter teils großen opfern den jeweiligen historischen machteliten aus den händen gezerrt werden; oft genug hiess das auch: kompromisse zu ertragen, weil die eigene macht nicht ausreichend war.

und das, was da dann letztlich alles in gesetzbücher und deklarationen gepackt wurde, ist selbstverständlich nicht davor gefeit, mit einem mal wieder ausradiert zu werden. immer noch stellen diese formen lediglich prothesen für mehr oder weniger gewünschtes soziales verhalten dar - und die notwendigkeit, mit strafandrohungen im falle des nichtbefolgens zu arbeiten, unterstreicht einmal mehr, dass die einzige - relative, aber stärkste denkbare - tatsächliche sicherung dessen, was allgemein als menschenrechte bezeichnet werden kann, nur darin liegt, die traumatische matrix und ihre per unendlich erscheinender individueller und kollektiver re-inszenierungen fortdauernde existenz in möglichst vielen menschen möglichst weitgehend aufzulösen. was dann ohne zweifel auch entsprechende gesellschaftliche konsequenzen hätte.


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ich komme nun langsam zum ende dieses nicht zufällig in der rubrik "assoziation" erscheinenden beitrags. hatte ich weiter oben - im teil zur mafia - von eigener zwiespältigkeit im angesicht der eingangs skizierten wahrnehmungen geschrieben und die mafiasierung als eine zu beobachtende entwicklung dargestellt, so fehlt noch sozusagen die andere seite: könnte es sein, dass innerhalb der erwähnten gleichgültigkeit auch eine tendenz der grundsätzlichen abwendung von den existierenden strukturen vorhanden ist, die sich in einer sozusagen ernüchterten, aber dadurch auch realistischeren einschätzung der eigenen mittel und kräfte ausdrückt? ich kann und will damit nicht meine eigenen, leider negativen eindrücke relativieren oder zurücknehmen, bin aber der meinung, dass sich sehr wohl gerade aktuell durch die thematisierung überhaupt - sowie teils durch ihre art und weise - der gewalt gegen kinder / jugendliche - auch solche tendenzen, wenn auch sozusagen im hintergrund, wahrnehmen lassen. heute leben immerhin zumindest relevante teile von ein paar generationen in den westlichen staaten, für die weder elterliche gewalt noch militärische dressur einen nicht zu hinterfragenden regelfall darstellten. starke minderheiten haben bisher historisch immer als katalysatoren positiver sozialer entwicklungen gewirkt - und je weniger eigene traumatische biographien diese mit sich schleppen müssen, umso mehr steigt die option für ähnliche prozesse.

ich bin mir aber durchaus nicht im klaren darüber, ob das nun eine realistische, wenn auch unwahrscheinliche möglichkeit ist oder aber eine art wunschdenken.
nötig wäre ersteres allemal, um die finsternis zumindest ein bißchen zu vertreiben.
jana (Gast) - 12. Apr, 11:00

realistisch

durchaus und :
diese einträge,dieser hier jetzt
sind der grund,warum ich noch
bei dir lese! :yes:

Peter (Gast) - 13. Apr, 14:58

im großen und ganz kann ich all dem beipflichten ... der heutige mensch ist ja nun einer übergroßen anzahl von widersprüchen ausgesetzt – sei es im eigenen leben als auch durch die massenmedien – ich frage mich ständig: wie viele widersprüche kann ein mensch eigentlich ertragen und wie lange? und was passiert am endpunkt? selbst wenn man wahrnehmung und denken bewusst abschaltet, zumindest unterbewusst wird man wohl doch etwas davon mitkriegen. aber statt auf verzweiflung, wut, instabilität oder gar schizophrenie scheint das ganze auf eine immer stärkere zementierung hinauszulaufen. das denken oder die daraus notwendig werdende zivilcourage scheint für viele zu den furchtbarsten dingen zu gehören, die es gibt. daher auch die "schafsmentalität", das phlegma, das überall zu spüren ist. die "unbewusste gesellschaft" nannte das auch mal jemand.

dazu kommen noch die gängigen rauschdrogen (inkl. konsumwaren und unterhaltungsmedien), die helfen, sich abzulenken.

und diskutieren will eh kaum noch jemand, da nur noch polarisiert wird und man ständig ideologische keulen übergebraten bekommt, sobald man nur ein klein wenig von der vorgegebenen denkweise abweicht.

KL (Gast) - 14. Apr, 09:38

Versuche mich seit nun schon zehn Jahren an dem schönen Satz aus Hegels Phänomenologie des Geistes aufzurichten:

"... der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist ..."

Also, folgere ich nämlich, müssen wir die Depressionsschübe noch eine Weile ertragen und uns bereithalten.

Für die Zukunft.

Grüße,
KL

quirinus - 15. Apr, 10:26

Der Rückzug ...

... so vieler Leute um dich herum ist, soweit sie um die 40 sind, gewiß zunächst ein Altersphänomen; Stichwort: Midlife Crisis - eine Lebensphase, die mit der Pubertät vergleichbar ist. Das sage ich inzwischen aus eigener Erfahrung. Als meine bisherigen Freunde und Bekannten um die 40 waren, habe ich (ein wenig älter) an ihnen das gleiche beobachten können wie du an deinen: sie zogen sich zurück in ihr vermeintliches kleines Glück; oder auch: sie wurden im Prinzip (selbstverständlich ohne das zu merken) genauso denkfaul wie ihre mehr oder minder verhaßten Eltern und haben ihren bisherigen Freundeskreis fast komplett ausgetauscht. Auf der Strecke blieben alle, die ihnen erst eine Art Vorbild und jetzt 'plötzlich' zu unbequem waren; also auch ich. Standardvorwurf: "Du siehst immer alles so negativ."Inzwischen, 10 oder 15 Jahre später, scheinen manche gemerkt zu haben, daß sie die Welt durch eine rosa Brille betrachtet haben, und versuchen sich mir wieder sachte anzunähern.

Stichwort: Welt. Dem Muster nach verläuft die Midlife Crisis immer gleich (das war schon vor 200 Jahren so; ich habe diverse Briefwechsel aus jener Zeit komplett durchsehen müssen und diverse Biographien gelesen); doch grundsätzlich scheint sie um so heftiger zu sein, je mehr sich die jeweiligen Menschen vorgemacht und je weniger gründlich sie im Laufe ihres Lebens nachgedacht haben, und zwar völlig unabhängig von materiellen Faktoren. Im Gegenteil. Auch unter meinen Freunden und Bekannten waren (und sind z.T. immer noch) gerade diejenigen am stärksten betroffen, die materiell das meiste erreicht haben.

Des weiteren ist der Verlauf dieser Lebensphase selbstverständlich stark davon abhängig, welcher Generation man angehört und wie stark und kritiklos der jeweils Betroffene sich jeweils mit der Besonderheit seiner Generation identifiziert hat. Beispiele: der glühende Anhänger der Französischen Revolution, der 20 Jahre später zum Katholizismus konvertierte; der glühende Nazi, der nach 1945 ein lupenreiner Demokrat wurde; der rund um die Uhr politisch aktive 68er, der sich um 1980 in einen Ashram zurückzog und fortan von Politik & Gesellschaft nichts mehr wissen wollte; eine meiner Freundinnen, die während ihrer zweiten Pubertät von einer linken Grünen zu einer Frau mutierte, die nichts als Männer im Kopf zu haben scheint (wenn auch politisch korrekt: sie läßt sich ausschließlich mit sog. Losern ein); meine Nachbarin, einst chaotische Punk-, seit ihrer Midlife Crisis eher eine Putzfrau. Und so weiter. Genug, daß diesem Muster gemäß viele derjenigen, die während der 80er Jahre in der Pubertät und politisch ganz besonders aktiv waren, auf der richt'chen Seite natürlich, inzwischen wie ihre einstigen Gegner zu den sog. LOHAS zählen, sofern sie über das nötige Geld verfügen, sich und ihre Brut politisch korrekt zu ernähren und zu kleiden, also täglich mit gutem Gewissen ihr Konsumentenleben zu genießen. Und genau diese LOHAS sind, bei Lichte besehen, die spießigsten Vierziger, die es gibt, seit es die Häuslebauer nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Ich empfinde sie sogar als noch sehr viel spießiger. Denn sie sind genau diejenigen, die am lautesten danach schreien, alles zu verbieten, was nicht in ihr Weltbild paßt. Und weil sie den heutigen Zeitgeist so ganz besonders prägen, geht es heute noch verlogener zu als während der Kohl-Ära, und der Stillstand ist noch unerträglicher, weil er eben kein ausschließlich 'rechtes' Phänomen mehr ist, sondern nicht zuletzt auf das Konto von Leuten geht, die der sog. Linken angehören. Deshalb auch ist es für viele so schwer als Spießertum zu erkennen; und deshalb erinnert das heutige BRD-Spießertum so stark wie nie zuvor an dasjenige in der DDR, ja übertrifft es sogar in mancherlei Bereichen. Aber es ist eben alles so schön bunt hier ...

Und meine Hoffnung? Von denen, die jetzt über 40 sind, erwarte ich nichts Gutes mehr; von Einzelfällen abgesehen. Also kommt es auch heute, wie stets, auf diejenigen an, die jetzt zwischen 20 und 30 sind. Die aber sind, so wie ich es sehe, so indoktriniert wie vor ihnen hier in Westdeutschland zuletzt die Hitlerjugend. Der fiel es nach 1945 wie Schuppen von den Augen. Doch was wird mit den um 1990 Geborenen sein, die jetzt an all das glauben, was ihnen speziell seit dem 11. September 2001 erzählt wurde? In meinen Augen zeichnet sich schon länger ab, daß sie den in der Schule antrainierten Glauben an die Demokratie sowie den Glauben an die sog. Linken gründlich verlieren bzw. bereits verloren haben. Von den Nazis bzw. Neonazis wollen die meisten zum Glück auch nichts wissen, ebensowenig von der Antifa. Also wird wohl siegreich sein, was irgendwo dazwischen liegt und jetzt noch so nebulös erscheint, daß man es kaum erkennen kann. Ich befürchte, daß es nichts Gutes ist. Alles läuft auf eine Diktatur hinaus, die weder eine 'rechte' oder 'linke', aber mit Sicherheit eine (vermeintlich) ökologische sein wird. Genau deshalb auch regt sich kaum irgendwo Widerstand. Öko? Finden alle gut! Vor allem diejenigen, die jetzt so um die 40 sind und fit & gesund bleiben wollen, auch wenn viele von ihnen das nie offen zugeben würden. Aber insgeheim würden wohl die meisten gern über 100 werden. Und genau darauf spekuliert die überall präsente Pharmaindustrie mitsamt so vielen derer, die jetzt so gern das Wort Humanismus im Munde führen und mit Sicherheit schon fleißig darauf spekulieren, bald (sie könn'n es kaum erwarten!) zur E.L.I.T.E. zu gehören. Das jedoch ist ein anderes Thema.

Mögest du mit denen um dich herum nicht erleben, was ich seit Mitte der 90er Jahre mit denen um mich herum erlebt habe!
Peter (Gast) - 15. Apr, 14:20

auch was quirinus ausgeführt hat, finde ich hochinteressant – weitere bausteine zur erklärung der gesellschaft von heute. ich versuche im moment, mir aus all dem ein modell zusammenzubasteln ... vielleicht etwas überspitzt, vielleicht auch nicht: an der spitze der gesellschaft stehen anscheinend soziopathische persönlichkeiten, mafiös verstrickt, die sich auf eine breite unterstützung von autoritären charakteren verlassen können, weitere teile der bevölkerung können sie durch ihre fähigkeit zu manipulieren (insbesondere durch massenmedien) an sich binden. nur noch ein kleiner rest erkennt bewusst die widersprüche und würde sich gern emanzipieren, ist aber der übermacht ausgesetzt. eine zementierter zustand, im schlimmsten fall ein endzustand ...

quirinus - 15. Apr, 15:33

@Peter:

Komme gerade zurück aus einer honorigen Institution, die zur Zeit eine Ausstellung "gegen Rechtsextremismus" veranstaltet. Dort geriet ich mit einem Studenten ins Gespräch. Als ich ihm sagte, uns drohe eine 'unpolitische' Öko-Diktatur, meinte er: "Wenn es eine gute Diktatur ist, äh ... also eine, die einem guten Zweck dient: warum nicht? Wenn alle dahinterstehen, dann ist es ja keine Diktatur. Dann ist ja alles demokratisch. Wenn man in 4 Jahren wieder etwas anderes wählen kann ..."

Kein Kommentar, außer: daß es sich um einen Studenten des Fachs WIRTSCHAFT handelte.
monoma - 15. Apr, 21:06

im großen und ganzen...

...bzw. im kern würde ich das - mit einigen erweiterungen und modifikationen, zb. hinsichtlich der rolle der traumatischen matrix - ähnlich als eigenes fazit bezgl. der verhältnisse schreiben können:

"an der spitze der gesellschaft stehen anscheinend soziopathische persönlichkeiten, mafiös verstrickt, die sich auf eine breite unterstützung von autoritären charakteren verlassen können, weitere teile der bevölkerung können sie durch ihre fähigkeit zu manipulieren (insbesondere durch massenmedien) an sich binden."

ein alptraum im wachzustand.
Martin Grohmann (Gast) - 16. Apr, 17:40

2 wichtige Bücher

zu den angesprochenen Problemkreisen:

a) zur Aushöhlung der Demokratie und ihrer Institutionen:
Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt (edition suhrkamp)2008
Das Buch des britischen Wissenschaftlers erschien nach einem längeren Italienaufenthalt nicht zufällig zuerst auf Italienisch!

b) zum sozialen Auseinanderdriften unserer Gesellschaft:
Richard Wilkinson/Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin (Tolkemitt-Verlag bei Zweitausendeins) 2009
Die Autoren weisen minutiös den eindeutigen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit und dem Anwachsen sozialer Probleme nach. Meiner Meinung nach das Buch des Jahres.

c) über die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaft aus soziologischer Sicht:
Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa: Soziologie-Kapitalismus-Kritik. Eine Debatte, Frankfurt (suhrkamp tb wissenschaft) 2009
Die drei Soziologen diskutieren drei unterschiedliche Tendenzen des Kapitalismus: Kapitalismus als Landnahme (auch psychisch), als "Dynamisierungsspirale" und als Mobilität und Kontrolle.

Grüße

M. Grohmann

w-day (Gast) - 17. Apr, 09:35

Zwei Leseempfehlungen, dies und das.

Yurun (Gast) - 20. Apr, 00:58

Die Welt als Schnee- bzw. Vulkanaschekugel

Also ich weiß nun nicht obs dran liegt, dass ich mit Mitte 20 noch als "jung" gelte, doch die Art und Weise sich so eine Gesellschaft erklären zu wollen finde ich dann doch vor allen anderen Dingen ausgesprochen amüsant - im fröhlichen Sinne.

Habt ihr eine Vorstellung welche Vielfalt sich hinter Leben, Tun und Lassen von 80 Millionen Menschen verbirgt, oder gar erst 7 Milliarden? Also ich nicht, nicht mal im Ansatz. Freilich, auch ich kann im stillen Kämmerlein sitzen und Adorno hören:

"[...] man möchte glauben, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser Kinder behandelt werden, umso mehr Chance sei dazu [individuelle Entwicklung zum Besseren]. Aber auch hier ist vor Illusionen zu warnen, nicht nur deshalb weil Kinder die gar nicht die Grausamkeit und Härte des Lebens erfahren, dann wenn sie aus dem geschützten Elternhaus entlassen werden, erstrecht der Barbarei ausgesetzt sind."

Oder stattdessen eben Erich Fromm, Albert Camus, Niklas Luhmann, Bertolt Brecht, Henry Miller, Kurt Tocholsky, Georges Gurdjieff, Jakob Böhme, Monty Python und wie sie alle sonst noch heißen. Und da fragt man sich dann wie denn in einer bestimmten Atmosphäre, sagen wir der hier und heute, menschliches Zusammenleben auf eine neue und womöglich auch bessere Ebene katapultiert werden kann, fügt also seinen eigenen Haufen zu dem angesammelten und ständig wachsenden Berg. Aber irgendwann schüttle ich dann auch mal mit dem Kopf und sage mir: bild dir mal nichts ein Junge, Größenwahn steht dir nicht.

Unterm Strich ist die beste Tätigkeit im Großen wohl noch Engagement in einem Betriebsrat oder einer ähnlichen Sache, also etwas das konkret Menschen hilft und jenen weh tut, die doch lieber in Ruhe ihr Altersbrot mit einer fetten Rendite versüßen würden, möglichst ohne Scherereien von unten. Dabei ganz ohne romantische Schwelgerei oder gar das linksideologische Gequatsche von einer besseren Welt in einer auf ewig verschobenen Zukunft, der irgendwie immer genau jene Typen auf den Leim gehen, die die Gesellschaft nach derartigen Jugendsünden 40 Jahre später geradezu heimsuchen mit all ihrer angekommenen kapitalistischen Spießigkeit und ihrem falsch investierten Ehrgeiz es der Welt doch noch zu zeigen (insofern sie vorher nicht selbstgerecht genug waren zu Terroristen zu werden). Oder als Alternative all den verdrucksten Gestalten die meinen die Welt mit ihrer Esoterik belästigen zu müssen, weil die ihnen irgendwie mehr erklärt als die blöden skeptischen „Schulwissenschaften“ und ihnen mit den Jahren auch irgendwie langsam bange wird sie verpassen den Sinn des Lebens und müssen dann ohne ihn ins Gras beißen. Und all der Schaden durch junge Leute die all das Schafsgeblöke nachplappern, weil sie denken, es wäre was wert und - sein wir dabei ehrlich - weil sie auch nicht klüger sind.

Die Kinder der begüterten Leute mit zehnmal mehr Geld als Gehirn oder gar erst selbstbewusstem Geist landen dann vorzugsweise auf einem wohligen Internat, auf dem man den Wert einer strengen Erziehung wiederentdeckt und auch mal zuschlägt, wenn auch bisweilen (Gesetze ...) "nur" psychisch. Schließlich, so sagt ja auch Adorno wenn man ihm die Worte in Herrendenke umdreht, kommt man in dieser Welt nicht nach oben oder bleibt oben, wenn man verweichlicht. Das wusste schon der alte Preußenkönig Friedrich I. und ich denke nur darum geht es bei dieser "die Schläge waren doch gut" Semantik, freilich neben der jeweils üblichen Rationalisierung der eigenen Verkrüppelung als Geschenk Gottes. Die Erziehung der Erfolgreichen stellt somit eine erfolgreiche Erziehung dar, einer Erziehung zum Erfolg. Erfolg ist alles im Leben, also ist die Erziehung des eigenen Kinds zum Erfolg ein Liebesdienst, also muss ich das Kind züchtigen bis es "lernt". So weit zur Kinderlogik unseres vom Leben weitestgehend merkbefreiten Pseudo-Adels, der es inzwischen oft geschafft hat dem Wort Erfolg bei den wenigen nachdenklicheren Zeitgenossen den Hauch eines Schimpfworts zu geben - leider. Immerhin: sterben muss jeder, was ein paar Leute den Anderen wohl nie verzeihen werden.

Übrigens hinsichtlich Diktatur: wenn ihr Menschen sucht die daran glauben man könne leistungsfähigere Bürokratendiktaturen hinkriegen als dieses Gewurstel, dass wir überall in Europa so Demokratie nennen, dann schaut am besten in die bürokratischen Kolosse der EU. Da werden selbst auf der unteren Ebene selbstbewusste Experten im "wir können das besser" erzogen. Die kommen dann mit ihren Erfahrungen auch gerne mal in ihre Heimatländer zurück und helfen dort dann beim zeigen "wie so etwas geht". Allzu naive Zeitgenossen sprechen aber auch gleich von einer drohenden EU-Diktatur, was dann wieder reichlich amüsant in seiner Weltfremdheit ist. Deutsche sind dabei in der EU vergleichsweise eher selten, aber wir züchten solche Leute auch daheim mehr als andere. Immerhin aber eine europäische Internationale der Technokraten, wenn auch nicht ganz auf chinesischen Niveau.

Ich glaube das alles nicht, wir leben in einer Welt voller sich selbst grenzenlos überschätzender Poser, mich selbst in schwachen Momenten wie vielleicht deutlich wurde inbegriffen. Das war dabei schon immer so, aber nie hat es ihnen eine Welt so schwer gemacht wie die heutige, da müssen die meisten dieser Figuren mehr beweisen als nun mal in ihnen steckt. Bei einigen reicht es gerade mal dazu der eigenen Firma ein neues Logo zu geben und den Karren hier und da in ein paar Löcher zu versenken, weil man den Schuppen halt übernommen hat und den anderen jetzt mal so richtig beweisen muss was man alles Tolles kann. Andere drucksen herum wie ein Schirrmacher. Und wenn eine Krise kommt in der das einzige liquide Geld das noch im Umlauf ist fast vollständig aus dem organisierten Verbrechen stammt, dann hat man als höherer Banker ja gleich mit wirklichen Kollegen zu tun. Solche kolportierten Mafia-Anekdoten dabei in allen Ehren: es gibt bedrohlicheres. Zwar ist das alles nicht sonderlich schick, darf einen aber in einer Welt wie der unseren nicht wundern. Oft sind die Glanzzeiten dabei Verbrecherzeiten, Shanghai kann davon ein Lied singen. Nicht jedes Land und jede Zeit muss gleich so dumm sein sich wie wir einen Hitler anzuschaffen, so ein Du Yuesheng reicht völlig. Mehr als so bemalte Affen wie Berlusconi oder inzwischen auch Sarkozy sollten wir aber schon hinkriegen, solche Männer sind ja eine Beleidigung des guten Geschmacks und der zählt auch in der weniger feinen Gesellschaft.

monoma - 20. Apr, 22:55

interessantes posting

gefällt mir, auch wenn´s von einem mittzwanziger poser ;-) ist. gedanken dazu meinerseits aber leider erst am wochenende, vorher hab ich weder die ruhe noch die nötige zeit.
Klaudia Siegmann (Gast) - 22. Apr, 00:30

noch andere Gründe für sozialen Rückzug??

Ich denke da, wir alle

gucken Fernsehn
hören in jeder freien Minute Radio
lesen Zeitung


UND sind täglich für Stunden im Internet. Menschen zu manipulieren geht, meiner eigenen Erfahrung nach und nach meiner Beobachtung schneller und unbemerkter mit viel leichter daher kommenden Methoden, die man nicht ernst nimmt, die aber doch wirksam sind. Nach einem Bericht auf Arte, in dem ein Spezialist für Gehinrwäsche zu Techniken im Zusammenhang mit Fernsehn Machen befragt wurde, wie ich diesen so netten Mann beobachtete, wie er höfflich Fragen beantwortete und sich beim Fragenden nach dessen Familie erkundigte, wurde mir ganz anders. Seit dem gucke ich kein Fernsehn mehr. Das ist Jahre her. Mit Abstand, wenn ich auf Besuch mal die Glötze betrachte, springt mir das Absurde nur so entgegen, diese Wichtigtuereien um nix, reine Zeit Fresser. Geht mir mit Radio genauso. Nach einigen Jahren in diversen Foren erkenne ich in vielen Zeitungsartikeln ne ähnliche Haltung: nicht die "Wahrheits Suche" oder Reflektion eines Themas kommt zuerst, sondern der/die Schreiber/in mit ihrer/seiner persönlichen Haltung. Ist wie in den meisten Unterhaltungen, wo die Themen Inhalte als Träger für andere Botschaften dienen. Das macht Zeitungslesen für mich langweilig.

Bleibt noch das Internet. Zur Zeit muß ich wo hingehen, um ins Netz zu kommen. Bin also nur noch einen Bruchteil online. Irgendwie vermisse ich garnicht soooo viel. Aber die freie Zeit genieße ich, schafft den Raum zum selber-denken, zum Situationen überdenken und zum Bücherlesen. Zum Beispiel "Payback", wo erzählt wird, dass die neuronalen Veränderungen, die Viel-Surfer oft erleben, messbar geworden sind und zu Konzentrationsstörungen führen können. Auffällig sind auch die vielen Süchte rund um s Internet. Ich selber bin spät zum Nutzer von diesem und jenem im Netz geworden, hab aber meine Veränderungen auch in der kurzen Zeit bemerkt, meine anderen Motive (neben Wissens- oder Erfahrungsaustausch) hinter vielem Surfen und Kommunizieren in Foren. Ich hab den Suchtfaktor selber gespürt und frage mich seit Wochen, ob ich überhaupt wieder regelmäßig online sein möchte.

Ich hab mich auch gefragt, wieso um die digitalen Medien soviel Sucht und zeitfressen passiert. Ein Punkt kam aus dem Augentraining. Menschen erleben eine deutlich spürbare Verschlechterung ihrer Augen bei Bildschirmarbeit. Und gehen das mit Augentraining und sogenannten Rasterbrillen an. Dabei stellte man fest, dass das stetig neu aufgebaute Bildschirmbild die Augen dazu bringt, diese Micro Bewegungen einzustellen. Es gibt sonst nur eine Situation, in der ein Auge starr wird, wenn sich ein Mensch erschrickt (traumatisiert wird). Meine Vermutung ist, dass unser Gehirn bei starrem Auge die Situation (obwohl man friedlich grade in seinem Kaninchen Verein rumsurft oder sich Anregungen für s nächste Mittagessen holt) als erschreckend einschätzt und körperlich wie auf ein Dauertrauma reagiert. Und schon sind wir in den "schönsten" Prozessen. Atmung wird flacher, Körperwahrnehmung geht zurück, Gefühle werden runtergefahren und man ist in Hab-acht Stellung. Wegen nix wohlbemerkt.

Das ist zumindest anstrengend. Kein Wunder, wenn man dann ausbrennt.

Ich schreib das jetzt überspitzt. Aber ich merke deutlich, ohne viele Medien geht es mir viel besser. Vorallem hab ich so Zeit zum selber denken. Oder Nachfühlen und Situation für mich abzuschließen.

Ansonstten denke ich, wir leben in einer zweigeteilten Welt. Einerseits geht sozial und anders vieles den Bach runter. Andererseits gibt es Neues, was Destruktivität gegenhält. Z. B. auch online. Es gibt Foren zu menschlichen Themen, die Fundgruben für Lebenserfahrung und Wissen sind, kostenlos für alle erreichbar. Was man vorher in Jahren zusammensuchen mußte, kann man jetzt schon in Stunden nachlesen.

Anscheinent sind wir Menschen immer noch dabei, rauszufinden, welche Bedürfnisse wir haben und wie wir die erfüllt kriegen. Nur hat man da als Einzelner viel mehr Macht, als uns oft klar ist. Denn wer kann mich zum Fernseh Gucken zwingen?

am Thema vorbei?

freundlicher Gruß

Max Goldmann (Gast) - 22. Apr, 11:12

Ja ja, dieser Medienkonsum. Der ist wirklich ungesund. Schadet nicht nur der Haltung und den Augen, auch der Verdauung. Und wenn's mit der Verdauung nicht mehr richtig klappt, dann Gute Nacht Deutschland!
Und weil es kaum mündige Bürger in diesem Land, geschweige denn Menschen gibt, appelieren wir zu deren eigenen Schutz an die Enhaltsamkeit. Dann müssen wir uns auch über Zensur keine Gedanken mehr machen. Erst Recht nicht über Meinungmache und Maipulation. Die kann uns dann schlicht Wurscht sein. Gehen wir in den Garten, grillen wir Würstel, oder wer die nicht mag, Tofuimitate oder Stockbrot, gehen wir an den Strand oder machen wir mal wieder eine Radtour. Das ist wesentlich gesünder und macht zudem noch unglaublich viel Spaß!

Es grüßt Sie herzlich ihr

Max Goldmann
Klaudia Siegmann (Gast) - 22. Apr, 22:03

?

wie soll ich Ihre Antwort verstehen?????? Herr Max
Max Goldmann (Gast) - 23. Apr, 00:19

Werte Frau Siegmann! So wie es hier geschrieben steht! Gegen Medienkonsum hilft nur Zurückhaltung oder wenns ganz hart auf hart kommt - der totale Entzug. Daher mein Verweis auf Garten, Grillen und Radtouren, als Alternative. Man könnte mit Medien allerdings auch auf andere Art und Weise umgehen, als sie zu konsumieren. Mensch kann z.B. dann Musik hören, wenn er wirklich Musik hören will. Mensch kann außerdem dann das TV-Gerät anschalten, wenn er etwas sehen will, das ihn interessiert, ebensogut wie er es auslassen bzw. jederzeit ausschalten kann. Mit dem internet ist es nicht viel anders. Was man damit anstellt, bleibt jedem selbst überlassen. Die Verantwortung trägt jeder für sich, bzw. für seine Kinder. Sicher ist aber auch, dass die Welt nicht untergeht, wenn der Kasten, egal welcher, mal ein paar Tage aus bleibt. Auch wird man glaube ich von nicht wirklich satt, wenn man sich virtuelle Kochsendungen ansieht.

Alles Gute
ihr
Max Goldmann

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