ich kann wirklich nicht sagen, dass es besonderen spaß macht zu sehen, wenn die eigenen gedanken und befürchtungen durch die realität nicht nur grundsätzlich bestätigt, sondern noch in einer vielzahl von ereignissen getoppt werden. ich hatte zu beginn dieses blogs mal geschrieben, dass ich auch die tägliche nachrichtenlage nutzen würde, um einige thesen und beschreibungen hier deutlicher zu machen. das hat mich selbst zu einer systematischeren betrachtung primär der netzlandschaft gebracht (andere medien sind mir z.zt. nur mit verzögerung oder eingeschränkt zugänglich, wobei ich persönlich das nicht als großes manko betrachte – fernsehen in großen abständen z.b. macht mich ob der dargebotenen inhalte zunehmend sprachlos). aber auch so sammelt sich schon viel mehr an alarmzeichen verschiedenster art an, als ich hier verarbeiten kann. so liegen z.b. noch einige aufschlußreiche prozeßberichte der letzten zeit „auf halde“, in denen psychiatrische gutachten eine hauptrolle spielen, oder besser: dort thematisierte störungsbilder, die auch hier immer wieder thema sind. dazu biographische fragmente bzw. profile etlicher sog. personen des öffentlichen lebens, die ebenfalls einer näheren betrachtung bedürften. aber nicht nur zeit- und geldfragen gerade, sondern auch schlicht ein zumindest zeitweise notwendiger innerer abstand zu den themenbereichen hier sorgen dafür, dass etliches liegenbleibt. so kommen dann gerade nur die „größten klopper“ an die reihe.
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zu denen zweifelsfrei dieser hier gehört:
“Mit einem Eklat scheidet Wolfgang Clement (SPD) aus dem Amt des Bundeswirtschaftsministers. In einem von ihm abgesegneten Report über "Abzocke im Sozialstaat" werden Menschen mit Parasiten verglichen.“
ein in staatlichem auftrag und mit staatlicher billigung erstellter „report“, dessen grundlagen offensichtlich so aussehen:
“Jedenfalls gebe es keine Belege für die unter anderem von der Bild-Zeitung gerne aufgegriffene Unterstellung ("Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer"), das Land müsse sich mit allen Mitteln gegen massenhafte Abzocke zur Wehr setzen. "Wir haben dazu keinerlei Zahlen", sagte ein BA-Sprecher der Frankfurter Rundschau. Rätselhaft bleibt den Experten der Behörde deshalb auch, wie Clement zu der Annahme kommt, zehn Prozent aller Empfänger von Arbeitslosengeld II würden den Staat betrügen.“
klartext: ruhig mal mit dreck schmeißen, irgendwas wird schon hängenbleiben. in diesem fall bleibt aber etwas ganz besonderes im bewußtsein kleben:
“Während Deutsche mit immerhin geänderten Vor- und Zunamen vorgestellt werden, genügt denVerfassern des Textes bei einem Libanesen die Nennung des Vornamens Ibrahim. Zahlen über das Ausmaß des angeblichen Missbrauchs, eine seriöse, wissenschaftliche Erhebung oder zumindest überprüfbare Quellen bleibt die anekdotische Aneinanderreihung einzelner Fälle von "Abzocke" dagegen schuldig.
So wird in dem von einer Journalistin in Zusammenarbeit mit der Pressestelle entworfenen Text suggeriert, Menschen, die zu Unrecht Sozialleistungen bezögen, seien schlimmer noch als Parasiten: "Biologen verwenden für ,Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben' übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten." Auch wenn es natürlich "völlig unstatthaft" sei, "Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen", wird darauf verwiesen, dass Sozialbetrug "besonders verwerflich sei", weil "nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert".
der eigene, zuerst gezogene vergleich mit parasiten wird im nachhinein als „unstatthaft“ erklärt. aber erst dann, wenn diese bereits an der grenzlinie zwischen faschistoid und faschistisch gelegenen bilder und metaphern bereits unter zuhilfenahme wissenschaftlicher rhetorik verbraten worden sind (vom im obigen absatz ebenfalls thematisierten rassismus erst gar nicht zu reden.) immerhin, waren die nazis noch auf das ideologische konstrukt des „anlagebedingten asozialen volksschädlings“ fixiert, so ist es unter den heutigen bedingungen extremer vereinzelung das ebenso ideologische (bildungsbürgerliche) konstrukt des „freien willens“, welches aber zum gleichen schluß führt: alles parasiten.
ich hoffe dabei, dass ich die leserInnen hier nicht extra darauf hinweisen muss, in welchem historischen kontext eine derartige sprache in diesem land steht? es ist die sprache der vernichtung, die als vorbedingung immer erst die ausgrenzung und entmenschlichung aka verdinglichung der zielgruppe(n) hat. insekten sind uns fremd genug, dass wir sie, wenn sie nicht ein ästhetisch ansprechendes aussehen wie z.b. schmetterlinge oder marienkäfer besitzen, umstandlos als objekte behandeln, in vielen fällen als schädliche objekte = schädlinge. schädlinge aber werden bekämpft und ausgerottet.
und der begriff „parasit“ enthält dazu noch die codierung „heimtückisch“ – parasiten sind still und leise, blutsaugend, schmarotzend und wurmartig. so die assoziationen zu diesem begriff, von denen ich denke, dass sie repräsentativ sind.
wer aber begriffe aus der insektenkunde und schädlingsbekämpfung ins soziale menschliche leben einführt, stellt sich selbst in den erwähnten historischen kontext und beweist damit nebenbei auch zum wiederholten male, wie pseudo die sog. „bewältigung“ des nationalsozialismus in diesem land tatsächlich gewesen ist – eine als-ob-auseinandersetzung. nun wäre das als einzelfall (zumindest in der veröffentlichten meinung – das sog. „gesunde volksempfinden“ arbeitet seit eh und je mit derlei rhetorik) zwar schlimm genug und scharf zu kritisieren – wenn sich aber in eben dieser veröffentlichten meinung solche bilder häufen, dann ist es eventuell angebracht, sich genauer gedanken zu machen und vielleicht auch einen ähnlichen blick wie der im letzten beitrag vorgestellte lloyd deMause zu wagen, der solche bilder und metaphern als typisch für kollektiv bedeutsame gesellschaftliche tiefenströmungen ansieht. ich bin bei einer unvollständigen und schnellen durchsicht von pressestimmen sowohl schockiert als auch überrascht darüber, wie wenig erstens die ungeheuerlichkeit der dargestellten metaphernwelt in einer staatlichen veröffentlichung in deutschland thema ist, zweitens aber zieht kaum jemand einen naheliegenden vergleich – was war da noch vor ein paar monaten?
“Der Münchner Historiker Michael Wolffsohn hat die Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering mit der antijüdischen Hetze der Nazis verglichen. In der Rheinischen Post wirft Wolffsohn dem SPD-Chef vor, Unternehmer mit Tieren gleichzusetzen.
Bei Müntefering schwinge mit, dass diese „als Plage vernichtet, ausgerottet werden müssen“. Weiter erklärt der Professor an der Bundeswehrhochschule in München: „Heute nennt man diese „Plage“„Heuschrecken“, damals „Ratten“ oder „Judenschweine“.
nun, auch wenn ich mit den sonstigen politischen ansichten von wolffsohn ansonsten nicht konform gehe: in diesem punkt gebe ich ihm recht. münteferings heuschreckenmetapher für kapitalisten (und zwar nur bestimmte personen, er meinte niemals den kapitalismus als system) entstammt als bild ebenso dem faschistischen arsenal (jüdischer „raffender“ kapitalist vs. „ehrlich schaffender arischer unternehmer“ wie das jetzt aktuelle des parasiten für scheinbare oder tatsächliche „sozialbetrüger“ (wie sich das dann ohne jegliche differenzierungen und abschwächungen in der veröffentlichten meinung spiegelt, war in der skandalösen „bild“-schlagzeile vor ein paar tagen zu lesen („die üblen tricks der hartz-IV-schmarotzer“). damals jedoch wurde sehr schnell und sofort die herkunft des bildes thematisiert, und zwar von einflußreichen medien und personen. dieser aspekt ist heute, zumindest bisher, nicht vorhanden (und wie die mittlerweile in dieser sache gestellte strafanzeige wg. volksverhetzung verlaufen wird, ist zumindest erahnbar: ohne spuren im sand...).
“In "Bild am Sonntag" – wo auch sonst? – hatte der SPD-Vorsitzende die internationalen Finanzinvestoren gegeißelt: "Sie fallen wie Heuschreckenschwärme über die Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter." Darf man so reden?
"Wenn Müntefering ein solches Bild benutzt, muss er wissen, dass solche Bilder eine große Macht entwickelt haben und dass politische Bewegungen wie der Nationalsozialismus, aber auch andere populistische Bewegungen, solche Bilder benutzt haben, weil man damit Emotionen hoch peitschen kann", sagt Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun. Im Moment zeige der Film "Speer und Er" – "über den man historisch sagen kann, was man will" – sehr schön, wie die Nationalsozialisten es verstanden, Ästhetik und Metaphern einzusetzen. Sie wussten um die Macht dieser Metaphern, so von Braun. "Das geht natürlich auch im umgekehrten Sinn. Auch die negativen Bilder haben eine solche politische Macht. Man muss sehr vorsichtig mit solchen Bildern umgehen."
„Christina von Braun kann Wolffsohn "nicht ganz zustimmen, wenn er sagt, das sei ein antisemitisches Bild, weil das antisemitische Bild ist eigentlich das Bild vom Polypen, vom Blutsauger oder aber auch das Bild vom Infektionsherd, den Bakterien, die der Jude angeblich repräsentiert. Das Bild der Heuschrecke ist im antisemitischen Kontext nicht so präsent. Dennoch ist es natürlich ein Bild der Plage, was an den Genozid erinnert, etwas, das ausgerottet werden muss."
(quelle: „kulturzeit“)
tatsächlich ist das bild der heuschrecke im antisemitischen kontext weniger verbreitet, als es wolffsohn suggerierte – was den verdacht einer instrumentalisierung des antisemitismusvorwurfs in diesem falle nahelegt (aber münteferings worte keinesfalls besser macht). aber wie sieht es eigentlich aus mit antisemitismus und parasiten und schmarotzern?
“In nationalsozialistischen Texten finden sich häufig biologische Metaphern, beispielweise wenn vom Volkskörper die Rede ist, der durch Parasiten, Bakterien, Schmarotzer (meist werden damit Juden bezeichnet) erkrankt, weswegen hygienische Maßnahmen erforderlich werden, welche die Gesundheit des Volkskörpers garantieren. Auch Rasse (mit seinen Ableitungen) muss in diesem Zusammenhang als biologisch-zoologischer Begriff nochmals erwähnt werden. Außerordentlich prägnant ist zudem folgende Stelle in „Mein Kampf“: „[Der Jude] ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab [...]“ (aus: HITLER, A.: Mein Kampf, 1. Band. München 193312, 334). Eine solche dehumanisierende Darstellung von Mitmenschen war ein erster Schritt auf dem Weg nach Auschwitz.“
“Eine solche dehumanisierende Darstellung von Mitmenschen war ein erster Schritt auf dem Weg nach Auschwitz.“
dachten Sie wirklich und ernsthaft, diese geschichte wäre tatsächlich vorbei? nicht, so lange in diesem land und in der sog. westlich.europäischen „hochkultur“ (die tatsächlich eine kultur der plünderung und ausrottung darstellt) das, was in diesem blog als objektwahrnehmung versucht wird zu analysieren, den primären wahrnehmungsmodus einer zu großen zahl von menschen ausmacht.
in deutschland hat dieser modus offensichtlich dazu aus zumindest mir etwas rätselhaften gründen besonders unangenehme und zerstörerische eigenschaften – es ist wahrscheinlich angebracht, die oben beschriebenen realitäten als verschiedene ausdrucksvariationen der wahrnehmung zu begreifen, die hier bereits als holland umschauen:
“Die Zahlen sprechen eine skandalöse Sprache: Nicht nur, dass die Praxis der Sterbehilfe einer staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen bleibt – vielmehr wird bei einem beträchtlichen Teil der Fälle die rechtliche Zulässigkeitsbarriere, aber auch der Patientenwille missachtet. Es wird rechtswidrig getötet oder ermordet.
Ethisch und rechtlich wird in den Niederlanden kein Unterschied zwischen aktivem Töten und assistiertem Suizid getroffen. Danach bleibt ein Arzt straffrei, wenn er die vom Gesetz vorgeschriebenen so genannten Sorgfaltskriterien einhält. Grundvoraussetzungen für die Gewährung von Euthanasie sind: freiwilliges Verlangen nach Tötung bei Vorliegen eines unerträglichen und unheilbaren Leidens. Dagegen ist die Tötung durch den Arzt ohne ausdrückliche Bitte des Patienten per definitionem keine Euthanasie und wird nach holländischem Strafrecht wie Totschlag oder Mord geahndet.
Ein „aussichtsloser Zustand“ wird nach medizinischen Kriterien festgestellt und bedeutet, dass sich der Zustand des Patienten nicht mehr bessern kann. Doch „unerträgliches Leiden“ lässt sich nur schwer objektivieren, da der Arzt keinen Zugang zum subjektiven Empfinden des Patienten hat und sich auf dessen Aussagen verlassen muss. Auch psychisches Leid wird als „unerträgliches Leiden“ akzeptiert. Hier ist es besonders schwierig, festzustellen, ob eine Bitte um Sterbehilfe „freiwillig und nach reichlicher Überlegung“ erfolgt ist oder überhaupt erfolgen kann, wenn der Patient psychisch krank und sein Leiden nicht primär organischer Natur ist.“
ich hatte vor ein paar jahren mal die gelegenheit, den vortrag eines niederländischen psychiaters (und kritikers der euthanasiepraxis) zu den entsprechenden entwicklungen in seinem land zu hören, der das oben skizzierte im kern bestätigt und detailliert ausgeführt hat. nicht, das ich das problem von tatsächlich unheilbaren und schmerzhaften krankheiten und die grenzen einer schmerzlindernden behandlung ignorieren würde – aber das geht am eigentlichen problem vorbei. die praxis in den niederlanden ist faktisch so, dass Sie bereits bei erfolgreicher glaubhaftmachung einer länger andauernden schweren depression ärzte finden können, die das als „nicht mehr lebenswert“ und „erlösungsbedürftig“ deklarieren. und an stellen wie dieser wird vielleicht auch der bezug zur insektendebatte deutlich: schlimmstenfalls wird ein bspw. durch die stigmatisierung depressiv gewordener „hartz-IV“-empfänger unter solchen umständen und medizinisch-juristischen möglichkeiten freiwilllig in seine euthanisierung einwilligen! dazu: armut fördert krankheit. und auch von diesem punkt aus stellt sich angesichts der ständigen kostendebatte im gesundheitswesen schnell wie von selbst eine verbindung her: wenn in der allgemeinen wahrnehmung eh schon nicht mehr als ganz menschlich wahrgenommene personen („parasiten“) ohne große materielle ressourcen und ohne chance auf zugänge zum sog. „arbeitsmarkt“ (wo sie schlicht nicht mehr gebraucht werden) dann durch ihre lebensumstände schneller und ernsthafter krank werden, was wäre dann aus sozusagen betriebswirtschaftlicher (aka verdinglichender wahrnehmung) sicht die vernünftigste „lösung“? eben: die endlösung.
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tja. bei diesen szenarien bleiben mir nur noch eine anmerkung und eine frage.
erstens: bei solchen „demokratischen kräften“ brauchen wir keine npd mehr im parlament.
zweitens: wann wird es zeit, die koffer zu packen?
...so heißt es in einem absatz des jüngst veröffentlichten potsdamer manifestes 2005 , auf das ich durch wednesday aufmerksam wurde (an dieser stelle danke dafür ;-). dieses manifest , u.a. initiert und unterschrieben von hans-peter duerr , lässt sich als allgemeine anmerkung zur globalen misere lesen. dem meisten kann ich weitgehend zustimmen, allerdings würde ich mir eine genauere analyse einiger wichtiger punkte wünschen. auszüge:
“Wir erleben eine Eskalation von struktureller Gewalt mit politischen und vor allem wirtschaftlichen Komponenten. Geopolitische, soziokulturell wie ökonomische Machtstrategien, die unbegrenzte Expansion globalisierter Marktwirtschaft und ihrer Produktivitätszwänge bedrohen und zerstören die räumliche und stoffliche Begrenztheit unserer Erde. Die zerstörerischen Auswirkungen einer hemmungslosen und unreflektierten Zivilisation im Zusammenleben der Völker, in den Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Natur und, nicht zuletzt, in den einzelnen Menschen sind offenkundig.“
beispiele für die erscheinungsformen und auswirkungen struktureller gewalt sind hier im blog mittlerweile bereits massiert gesammelt. schauen Sie nur einmal bspw. unter „notizen“ nach.
“Diese vielfältigen Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind und die uns zu überfordern drohen, sind Ausdruck einer geistigen Krise im Verhältnis von uns Menschen zu unserer lebendigen Welt. Sie sind Symptome tiefer liegenden Ursachen, die wir bisher versäumten zu hinterfragen und aufzudecken. Sie hängen eng mit unserem weltweit favorisierten materialistisch-mechanistischen Weltbild und seiner Vorgeschichte zusammen.“
aber hallo. und wer die beiträge hier aufmerksam gelesen hat, besonders zum autismus , hat möglicherweise bereits eine ahnung davon, was sich unter „tiefer liegenden Ursachen“ zumindest meiner meinung nach verbergen könnte. ansonsten wird hier irgendwann auch zukünftig isaac newton als ein wesentlicher „begründer“ des mechanistischen weltbildes thema sein, speziell seine nicht allzu bekannte biographie, die ich sehr aufschlußreich finde.
„Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken.“ Wenn wir diese Forderung radikal ernst nehmen, müssen wir neue oder ungewohnte Wege des Lernens beschreiten. Aus neuer Sicht stellt sich die Welt, die Wirklichkeit, nicht mehr als ein theoretisch geschlossenes System heraus. Dies führt zu einer eingeprägten Unschärfe, die aus der fundamentalen Unauftrennbarkeit resultiert und in einer prinzipiellen Beschränkung des ‚Wissbaren’ zum Ausdruck kommt. Wir sind dadurch gezwungen über die Wirklichkeit, streng genommen, nur in Gleichnissen sprechen zu können. Es gibt prinzipiell nicht mehr auf alle Fragen, die wir aus unserer menschlichen Sicht glauben stellen zu können, Antworten, da diese ins Leere stoßen. Der einzelne Mensch, wie alles Andere auch, bleibt prinzipiell nie isoliert. Er wird im allverbundenen Gemeinsamen in seiner nur scheinbaren Kleinheit zugleich unendlich vielfältig einbezogen und bedeutsam.“
hier würde ich ergänzen wollen: nicht nur neu denken, sondern auch neu – oder vielleicht überhaupt erst - fühlen lernen ist die parole der stunde. und möglicherweise ist sogar bereits die trennung von beidem ein hinweis auf pathologische prozesse solcher art, wie sie dieses blog thematisiert. das ohne gesunde emotionale basis jedenfalls kein vernünftiges denken im menschlichen sinne möglich ist, lässt sich mittlerweile vielfältig belegen.
“In all unserem Handeln wirkt die Vielzahl von Einflüssen und Impulsen anderer Menschen und unserer Geobiosphäre mit, und nicht nur über die durch unsere Sinne vermittelte Brücke materiell-energetischer Wechselwirkungen, sondern auch direkt über die allen gemeinsame immaterielle potenzielle Verbundenheit.“
mit anderen worten: die menschliche welt ist ganz elementar eine beziehungswelt. in der es diverse beziehungskrankheiten gibt.
“Das materialistisch-deterministische Weltbild der klassischen Physik wurde mit seinen starren Vorstellungen und reduktiven Denkweisen zur vorgeblich wissenschaftlich legitimierten Ideologie für große Bereiche des wissenschaftlichen und politisch-strategischen Denkens. Die fortschreitende Gleichschaltung aller Wert- und Wohlstandsvorstellungen, Konsumgewohnheiten und Wirtschaftsstrategien nach dem Muster einer westlich-nordamerikanisch-europäischen Wissensgesellschaft wird weiterhin noch über ein Denken legitimiert, welches auf Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Fundamente für eine rationale ‚Objektivierbarkeit’ der Wirklichkeit argumentiert. Wo Konflikte auftreten, wird ein Mangel an Verfügungswissen konstatiert, das nachgeliefert werden muss. Nach den Grundlagen der Orientierung wird wenig gefragt, obwohl es Anlass genug dazu gibt.“
ein denken, dessen ergebnisse ich ebenso hier im blog, in gestalt der software und des computers, die ich gerade nutze sowie auch in meinen analyseversuchen selbst verwende, was sich imo bis zu einem bestimmten grad nicht vermeiden lässt. zumindest nicht in diesem medium. anders sieht´s im sogenannten real life aus, wo z.b. künstlerische produktionen jeglicher art wahrscheinlich die gleiche kritik, mit der ich mich hier auf „klassische“ weise beschäftige, sehr viel vielfältiger ausdrücken könnten. anders: sie könnte mehr wahrnehmungskanäle „fluten“, als es das internet aufgrund seiner virtuellen und entkörperlichten struktur zulässt. autismuskritik, um mal bei diesem wort zu bleiben, muss sich folglich auch selbst in der eigenen form einer bestimmten art von rationalem denken kritisieren. („Ein Paradox, ein Paradox, ein wunderschönes Paradox!“ hieß es dazu einmal ganz passend in einem roman von robert anton wilson, wenn mich meine erinnerung gerade nicht total täuschen sollte. aber ich halte paradoxien sowieso für ein ganz zentrales merkmal des menschlichen lebens).
“Die Quantenphysik – und nicht nur sie – fordert uns auf, unser Denken in starren Strukturen grundsätzlich so zu emanzipieren, dass flexible Beziehungen an deren Stelle treten können. Auflockerung und sanfte Auflösung monostruktureller, zentralistischer Konstruktionen, die bevorzugte Ausdrucksformen des materialistisch-mechanistischen Weltbildes sind, werden möglich. Die Vernichtung aller anderen Werte durch den Mechanismus der Märkte, wo machtförmige Stärke absoluten Vorrang fordert vor Entfaltung und Gerechtigkeit, verliert endgültig ihre liberale Legitimation. Im neuen Denken verbindet sich die Fülle unserer Wahrnehmungsvermögen und geistigen Bewegungen; bewußte wie unbewußte Motive für menschliches Denken und Handeln werden gleichermaßen anerkannt. Damit zeichnet sich eine neue evolutionäre Ebene ab, in der eine komplexe, nicht fragmentierte Wirklichkeitswahrnehmung, so etwas wie ‚Ahnung’, das Fundament unseres Denkens, Fühlens und Handelns bildet.“
klingt ja fast wie der in den 1980er jahren viel zitierte physiker fritjof capra, dessen „wendezeit“ ich auch noch zuhause herumstehen habe. und bei dessen namen mein guter freund a., selbst physiker, immer eine leichte krise bekam – von wegen unzulässiger analogschlüsse und so von der ebene der mikrowelt der quanten auf unsere lebenswelt. (@a.: falls du dieses manifest mal liest, würde ich sehr gerne deine meinung dazu hören, gerade was die rückführungen auf die quantenphysik angeht.)
aber im letzten satz oben steht etwas sehr spannendes: „nicht fragmentierte Wirklichkeitswahrnehmung“. hatte ich schon mal erwähnt, dass fragmentierte wirklichkeitswahrnehmung mit fug und recht als ein sehr wesentliches kennzeichen gerade derjenigen psychophysischen störungen angesehen werden darf, die unter dem begriff „beziehungskrankheiten“ summiert werden können? und „ahnung“ darf hier imo ruhig durch „intuition“ ersetzt werden, was ich treffender finde.
“Wir müssen verengte und mechanistische Strategiemuster, Reduktionen, Mittelwertsbildungen fallen lassen und sie ersetzen durch Beweglichkeit, Offenheit und Empathie, um neue offen gestaltbare Schöpfungs- und Handlungsräume zu ermöglichen.“
ohja. aber empathie wie auch geistige und emotionale beweglichkeit/offenheit fallen nicht vom himmel, sozusagen – dazu gleich mehr unten.
“Wenn wir die eskalierenden Probleme betrachten, welche heute die Menschheit belasten, so sind sie im überwiegenden Maße eine Folge extremer Machtballungen und wirtschaftlicher Ungleichheit, dirigiert und forciert von einem lebensfeindlichen finanziellen Netzwerk, das, anstatt das Beziehungsgefüge zwischen den Menschen zu Gunsten der Menschen zu stärken, zum ‚unersättlichen’ Selbstzweck verkommen ist.“
hier möchte ich fragen: ist es wirklich selbstzweck? und wenn ja, in welchem sinne? selbstzweck wörtlich genommen, kann ja auch bedeuten, dass es sich um ein überlebensinteresse handelt, welches eigenschaften hervorbringt, die z.b. vielleicht durch zwanghafte kontrolle von welt und mitmenschen das eigene überleben partiell möglich, ein tatsächlich menschliches leben jedoch durch ihre auswirkungen mittel- und langfristig unmöglich machen.
“Ein neues, doch uns wohl vertrautes Menschenbild wird sichtbar, das von empathischen Menschen ausgeht..“
und hier muss ich einhaken: wie schon gesagt fällt empathie erstens nicht vom himmel, lässt sich zweitens als menschliche wahrnehmungsoption begreifen, die drittens geschädigt sein oder auch ganz ausfallen kann – letzteres eben z.b. bei den krankheiten, die unter dem label „autismus“ geführt werden (und bei einigen als solchen definierten persönlichkeitsstörungen ebenso). es spricht einiges dafür, davon auszugehen, dass unter unseren heutigen lebenbedingungen empathische fähigkeiten eher hinderlich sind – wenn Sie sich die bedingungen einer konkurrenz- bzw. sog. leistungsgesellschaft einmal vor augen führen. und dazu noch dieses: empathie basiert auf körperlich-materiellen grundlagen, jedenfalls nachdem, was wir heute wissen können. einmal wären da die bereits schon öfter genannten spiegelneurone, zum anderen aber auch das hier:
“Wie kann man sich in die Empfindungswelt anderer Personen versetzen? Bisher nahm man an, dass bei diesem Vorgang in unserem Gehirn eine Art Simulation abläuft, sobald wir eine handelnde Person beobachten. Demzufolge sollte die Handlung der beobachteten Person gewissermaßen innerlich imitiert werden. Ein internationales Forscherteam konnte nun hingegen zeigen, dass wir Handlungen anderer Personen offenbar auf der Basis unseres eigenen "Handlungsinventars" nachvollziehen.
Der eigene Geist und der eigene Körper liefern uns also die Grundlage, um zu verstehen, was andere Menschen gerade tun, fühlen oder denken, berichten die Forscher um Simone Bosbach vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München. „
ich finde ja, dass dieser ansatz das konzept der spiegelneuronen (mit deren maßgeblicher hilfe die erwähnte „simulation“ ablaufen soll) eher unterstützt bzw. ergänzt – die hier thematisierten körperlichen erfahrungen werden im gehirn zu einer vollen gestalt „simuliert“ (ein etwas unglücklicher begriff, weil er sogleich assoziationen zu „fake“ und „täuschung“ hervorruft – aber vielleicht sollte mensch sich klarmachen, dass es hier um eine prozeßbeschreibung geht).
aber woran machen sich die betrffenden körperlichen erfahrungen denn nun fest, was für eine basis besitzen sie? ein anderes wort taucht wieder einmal auf, eines, welches auch schon öfter im blog hier eine rolle gespielt hat und weitgehend unbekannt ist – obgleich wir ohne die damit bezeicheten fähigkeiten nur sehr eingeschränkt lebensfähig sind:
“Beide Patienten berichten, dass sie vor allem zu Beginn ihrer Erkrankung das Gefühl hatten, ihren Körper gänzlich "verloren" zu haben. Zwar haben sie mittlerweile wieder gelernt, einfache Körperbewegungen auszuführen - dabei sind sie jedoch darauf angewiesen, ihren Körper zu sehen.
In der Dunkelheit würden die Patienten dagegen vollständig die Kontrolle über ihren Körper verlieren, weil sie nicht mehr in der Lage sind, mit Hilfe der Sinneszellen in den Gelenken und Muskeln beispielsweise die Position ihrer Arme und Beine relativ zum Körper zu bestimmen.
Wie man den Körper wahrnimmt
Gesunde Menschen können dies dagegen dank der Eigenwahrnehmung ihres Körpers (so genannte propriozeptive Rückmeldungen) problemlos. Die Eigenwahrnehmung vermittelt unserem Gehirn außerdem, wann und in welchem Umfang sich Muskeln zusammenziehen oder strecken und in welchem Ausmaß sich Gelenke beugen oder strecken. Erst dieser Sinn befähigt uns, bestimmte Körperhaltungen einzunehmen, Bewegungen auszuführen und ist entscheidend für das psychologische Bewusstsein, einen Körper zu haben.“
ja, die propriozeptive wahrnehmung hat sich bei mir in der letzten zeit zu einem lieblingsbegriff gemausert – vor allem deswegen, weil die reaktionen darauf immer so vorhersagbar sind: „prop-was?!??“ ich finde ja, wir wissen verdammt wenig darüber, wie wir selbst funktionieren, gerade was unsere sozialen fähigkeiten anbelangt. aber vielleicht gibt es auch gewisse tendenzen und einflüsse, die genau das verhindern (nicht im sinne einer verschwörungstheorie zu verstehen!)
das ergebnis der thematisierten studie jedenfalls wird so zusammengefasst:
“Bewegungsmuster, die im Gehirn aktiviert werden, wenn wir Handlungen einer anderen Person beobachten, enthalten auch Informationen und Wissen über die Funktionsweise unseres eigenen Körpers.
Die Bewegungsmöglichkeiten und -beschränkungen unseres eigenen Körpers sind also die Referenz, von der ausgehend wir die Handlungen anderer Personen verarbeiten und interpretieren.
Anders ausgedrückt: Was wir selbst können, verstehen wir auch bei anderen und umgekehrt, was wir selbst nicht können, verstehen wir auch bei anderen nicht. Rückmeldungen von unserem eigenen Körper tragen also offenbar zu unserem intuitiven Wissen über die Absichten anderer Personen bei.
Auf diese Weise können wir nicht nur Handlungsfolgen vorhersagen, sondern uns sogar in die andere Person "hineinversetzen". Ein solcher Mechanismus ist die Basis für Mitgefühl und Empathie und somit entscheidend für das Gelingen und Fortbestehen sozialer Beziehungen.“
ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich die autoren des „manifestes“ einmal mit diesen grundlagen genauer beschäftigen würden – auch, wenn ich die von ihnen eingeschlagene richtung für positiv halte. aber mit ein wenig psychiatrisch-neurologischem wissen könnten sie die von ihnen thematisierten entwicklungen noch einmal viel differenzierter begreifen und benennen. diesen schluß traue ich mir durchaus zu.
...zum thema psychopathen erinnert mich an einen geplanten beitrag, der z. zt. noch in arbeit ist. bis dahin können sich interessierte leserInnen noch mit der rezension beschäftigen, in der u.a. zu lesen ist:
"Die Hannibal Lectors, Dr. Jekylls und Mister Hydes sowie die Natural Born Killers sind unter uns. Und zwar nicht als einsame skurrile Wesen, wie wir sie aus der Literatur oder dem Kino kennen, sondern als scheinbar ganz normale Menschen, denen wir gelegentlich begegnen. Mindestens ein Prozent der Menschen sind Psychopathen, schreibt der Autor. Sie sind keine Ausnahmeerscheinung, allein in New York leben 100.000 von ihnen.
Offizielle Studien gibt es für diese Annahme nicht. Die Zahlen sind Schätzungen des Autors, der zu den weltweit renommiertesten Experten auf Gebiet der Psychopathen-Forschung gehört. Robert D. Hare ist Psychologe und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Phänomen.
(...)
Und mit einen zweiten Mythos räumt Autor auch gleich auf. Psychopathen sind zwar Wölfe im Schafspelz, geschickt und anpassungsfähig, besonders intelligent sind sie aber nicht. Ihr IQ liegt nicht über dem Durchschnitt.
Psychopathen, können Nachbarn sein, der Chef oder ein Kollege, der neue Bekannte oder der Versicherungsvertreter. Sie lügen und betrügen aus rein egoistischer Motivation und ohne Rücksicht auf Verluste.
Sie empfinden keine Reue, denn Psychopathen haben eine angeborene genetische Unterfunktion für emotionales Handeln, erklärt der Autor. Messungen der Hirnaktivität belegen diese Annahme. In Tests zeigen psychopathische Personen im rechten Hirnareal keinerlei Reaktion. Dieser Abschnitt ist für Gefühle und Emotionen zuständig.
(...)
Psychopathen sind nicht therapierbar, sie sind und bleiben Täter. Emotionslos und berechnend!"
drastische worte - umso notwendiger erscheint es mir, hier bald einmal eine entsprechende diskussion anzuregen. ich werde versuchen, den beitrag vorzuziehen.
beispiel 1: deutschland, ende der 1980er jahre.
"Als die Firma `Hot Pants´ beim Finanzamt Hachenburg im Westerland angemeldet wurde (Steuernummer 18/079/0175/7), trugen die Beamten in der Rubrik `Beruf/Gewerbe´ ohne erkennbare Bedenken ein: <Mädchen- und Frauenhandel>."
ich vermute stark, dass die psychophysische verfassung dieser beamten im kern jener geglichen hat, die ihr hier im "panorama"-interview dargestellter kollege aufweist. man(n) möchte hoffen, zufälle und ausnahmen?
"Auch andere rheinland-pfälzische Behörden nahmen an dem Gewerbe keinen Anstoß, die Industrie- und Handelskammer Koblenz gratulierte zur Existenzgründung und bot ihre Beratung an, die Gemeindeverwaltung Hachenburg änderte die Gewerbebezeichnung lediglich um in `Vermittlung von Frauen aus verschiedenen Ländern´."
sprachspiele, magie des schönen klangs - "entsorgungspark", "humankapital", "finaler rettungsschuß" usw. usw. die obige phrase fällt dagegen etwas an kurzer und prägnanter eleganz ab. aber der zweck heiligt die mittel.
um was es ging? "hot pants"...
"...war eine Scheinfirma, gegründet von dem Schriftsteller Klaus-Peter Wolf, der sich bei den Recherchen für seinen Roman "Traumfrau" in der Branche umsah.
(...)
"Hot Pants"-Gründer Klaus-Peter Wolf wurde von den Behörden übrigens noch 1990 als "Frauenhändler" geführt. Als der Schriftsteller seinen Roman aus dem Männer-Milieu veröffentlichte und dabei die problemlose Anmeldung des Gewerbes offenbarte, stritt die Industrie- und Handelskammer Koblenz zunächst empört ab, daß sie Menschenhändler in ihren Reihen dulde. Ende Juni 1990 erhielt Wolf von ihr aber wieder eine Rechnung - über den Jahresbeitrag 1990, mit einer Mahnung für den noch ausstehenden von 1989."
(alle zitate aus: ekkehard launer (hg.), "frauenhandel", lamuv, göttingen 1991; s. 107, 113; isbn 3-88977-254-4)
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beispiel 2 - eher aber können Sie sich, wie oben auch, unzählige beispiele
vorstellen - eine auswahl:
08.07.2005:
"Wien (APA) - Im südlichen Afrika, vor allem in Mocambique, werden Kinder getötet, um ihnen Organe zu entnehmen: Diesen Alarmruf formulierte laut Kathpress der irische Servitenpater Patrick Carroll bei der Internationalen Missions-Studientagung in Wien. Laut Carroll verschwinden in Mocambique immer wieder Kinder; später würden ihre verstümmelte Leichen aufgefunden, denen offenbar Organe entnommen wurden. (...)"
16.10.2004:
"(...)Neben dem Drogengeschäft hat sich Augenzeugen zufolge offensichtlich die Entführung von Kindern zu einem blühenden Geschäft entwickelt. Sie werden von der Straße und manchmal sogar aus ihrem Haus entführt. Wenn sie Glück haben, kommen sie mit dem Leben davon, wie in dem Fall, von dem die pakistanische Nachrichtenagentur (PNS) jüngst berichtete. Ein Vater wurde aufgefordert, 4 500 US-Dollar für seinen entführten Sohn zu zahlen. Der schriftlichen Aufforderung lag ein abgeschnittener Finger des Kindes und der Hinweis bei, daß das nächste Paket, das der Vater erhalten würde, den Kopf des Entführten enthielte – es sei denn, der Vater reagierte umgehend positiv. Was er tat, so daß er seinen Sohn nackt und unter Drogen gesetzt tatsächlich zurückbekam.
In vielen anderen Fällen dagegen werden die Entführten ermordet und sogleich systematisch ausgeschlachtet. Der von Jane Stillwater zitierte Augenzeuge sagte aus: »Es passiert dauernd, daß die Leichen junger Menschen gefunden werden, denen die Herzen, die Nieren, die Lebern und selbst die Augen fachmännisch herausgeschnitten wurden. Kein Organ wird verschwendet.« Die Autorin fragte schlußfolgernd daraus im Baltimore Chronicle: »Wie würden Sie das nennen? Recycling, Ökologie, Organic Farming? (...)"«
Sie dürfen gerne selbst weiter rercherchieren - es ist eine sprachlos machende, deprimierende angelegenheit. wobei - nach der sprachlosigkeit kommt hoffentlich irgendwann die wut.
"systematische ausschlachtung"... - wieder ein kleines experiment: stellen Sie sich´s vor, versuchen Sie es. in was für einen mentalen zustand geraten Sie dabei? was fühlen Sie?
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beispiel 3: bei näherer betrachtung sind auch die oben skizzierten beispiele genauso wie das folgende letztlich variationen ein und des gleichen themas. ein thema, das auch an so einem wunderschönen herbsttag wie heute real und aktuell ist.
was fällt Ihnen ein, wenn Sie das wort "sklaverei" hören? afrika? die us-amerikanischen südstaaten? onkel toms hütte? fragen Sie einmal in Ihrem umfeld nach den bezgl. assoziationen. ich vermute, sehr selten bis nie werden Sie dabei das zu hören bekommen:
"...ist die Sklaverei auch heute noch weit verbreitet. Die Liste ist quälend lang und enthält traditionelle Sklaverei, Leibeigenschaft, unfreie Arbeit und Zwangsarbeit, auch von Kindern, Frauen und Migranten, oft verbunden mit sexueller Ausbeutung oder häuslicher Sklavenarbeit.
Die häufigste Form der heutigen Sklaverei ist mit weitem Abstand die Schuldknechtschaft. Laut dem Zusatzübereinkommen der Vereinten Nationen über die Abschaffung von Sklaverei, Sklavenhandel und sklavereiähnlichen Einrichtungen und Praktiken aus dem Jahr 1956 wird Schuldknechtschaft so definiert: Schuldknechtschaft ist eine rechtliche Stellung oder Lage, die entsteht, wenn ein Schuldner als Sicherheit für eine Schuld seine Dienstleistungen oder die einer Person unter seiner Kontrolle (etwa eines Kindes) verpfändet, der tatsächliche (in angemessener Weise festgesetzte) Wert dieser Dienstleistung aber nicht zur Tilgung der Schuld dient, oder wenn diese Dienstleistungen nicht nach Dauer und Art begrenzt und bestimmt sind. Durch das Zusatzübereinkommen gilt auch die Schuldknechtschaft als verbotene Sklaverei.
Der Mechanismus der Schuldknechtschaft sieht in der Praxis so aus: Zur Rückzahlung eines Darlehens werden Schuldknechte zur Arbeit gezwungen - oft sieben Tage in der Woche. Sie erhalten einen sehr geringen Lohn, wovon noch Kosten für Unterkunft und Verpflegung abgezogen werden. Angeblich schlechte Arbeit wird mit weiterem Lohnabzug bestraft. Durch Wucherzinsen wächst der Schuldenberg, der nicht selten von den Eltern auf die Kinder übertragen wird. Auf diese Weise werden oft mehrere Generationen in die Schuldknechtschaft gezwängt.
Diese Praxis ist zum Beispiel in der Landwirtschaft Südasiens verbreitet. Um ein kleines Stück Land zu erwerben, verkaufen arme Familien ihre Arbeitskraft und geraten so in Schuldknechtschaft des Großgrundbesitzers.
Die moderne Variante der Schuldknechtschaft gründet auf betrügerischen Arbeitsverträgen. Sie ist in Südindien, Brasilien und einigen anderen lateinamerikanischen Staaten zu finden. Skrupellose Mittelsmänner bieten illegalen Wanderarbeitern einen Arbeitsplatz in einer weit entfernten Stadt oder in einem anderen Land an. In der Not unterschreiben sie den Vertrag. Zur Begleichung der Reisekosten nehmen sie ein Darlehen auf, das ihnen dieselben Mittelsmänner großzügig anbieten....
Weltweit geraten 700.000 Menschen pro Jahr in die Schuldknechtschaft, schätzt das VN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung. Auch die Zahlen der ILO, von Anti-Slavery International und anderen Menschenrechtsorganisationen belegen, dass solche sklavereiähnlichen Praktiken alles andere als eine Seltenheit sind. Oft sind Kinder besonders betroffen. Aus einigen Ländern Afrikas sind Praktiken wie Kinderverkauf, Zwangsarbeit oder Zwangsrekrutierung von Kindern für bewaffnete Konflikte bekannt. Weltweit organisiert ist der Handel mit Mädchen und Frauen, die in die Prostitution gezwungen werden. Er gehört zu den lukrativsten Aktivitäten der organisierten Kriminalität.
Mit mindestens 27 Millionen ist die Gesamtzahl heutiger Sklaven bald so groß wie die Einwohnerzahl Kanadas und viermal größer als die der Schweiz."
bilden Sie sich ruhig weiter ein, all das hätte mit uns hier und unserem leben nichts zu tun - schließlich leben wir ja in einer aufgeklärten hochzivilisation. nicht wahr?
aber objektwahrnehmung schert sich nicht um die selbsttäuschungen, illusionen und verdrängungen, mit deren hilfe wir uns mehr oder weniger jeden tag selbst in die tasche lügen. sie ist eine neurophysiologisch basierte wahrnehmungsoption - eine option, die spätestens im sozialen bereich kein stück mehr wünschenswert erscheint.
als ich so vorhin mal nach längerer zeit wieder im lieblingsbuchladen vorbeischaute, um ein wenig zu gucken, blieb ich irgendwann wie angewurzelt und mit großen augen stehen: "weia, was ist DAS?"

ja, was ist das?
"Zwei streitbare junge Autorinnen zeigen: Die Welt, so wie sie wirklich ist, existiert nicht mehr. Inszenierung, Image und Schein sind die Leitplanken für Politik, Ökonomie und das ganz normale private Leben. Wir machen »Als-ob-Karrieren«, führen »Als-ob-Beziehungen« und schauen den Politikern jeden Sonntagabend bei ihren »Als-ob-Debatten « zu. Im gleichen Moment wird die Fälschung aber zur neuen subversiven Protestform, um das System von innen zu attackieren. Ist die »harmlose Heiapopeia-Generation« längst im Widerstand? Aus der Innenperspektive beschreiben die Autorinnen, wie die neuen Protest- und Überlebensformen in Politik und Alltag aussehen."
womit natürlich auch die thematik dieses blogs aufs engste berührt ist. aufgrund extremen finanziellen mangels gerade konnte ich es nur im laden recht oberflächlich durchsehen, um mir zumindest einen ersten eindruck zu verschaffen. und der ist sehr gemischt, wie vielleicht ein blick ins inhaltsverzeichnis etwas unzureichend deutlich macht - soweit ich überblicke, ist den autorinnen die definition des "als-ob"-begriffes, wie sie aus der psychiatrie stammt, nicht bekannt. und so können sie also folglich auch nicht die schwerwiegenden verbindungen zwischen den von ihnen immerhin wahrgenommenen fatalen entwicklungen und den hier thematisierten psychiatrisch-neurologischen störungen thematisieren. letztlich möchte ich für den moment auf den allerersten beitrag hier verweisen, und da besonders auf das dritte zitat. aber zum gerade entdeckten buch werde ich auf jeden fall versuchen, hier eine ausführliche rezension nachzutragen. und vielleicht liest es ja der eine oder die andere leserIn hier auch, und mag die persönlichen eindrücke beschreiben?
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edit am 09.10.: eine rezension findet sich hier; dazu nimmt dieser taz-artikel bezug auf das buch, und stellt zusätzlich fest:
"(...) Das Bedenkliche daran ist, dass in die Simulation politischen Handelns nur allzu gerne eingewilligt wird. Judith Mair und Silke Becker, altersmäßig der als apolitisch gescholtenen Generation Golf zugehörig, ziehen in ihrem Buch "Fake for real. Über die private und politische Taktik des So-tun-als-ob" erleichtert den Schluss, dass die Ära der "Objektivitätsapostel" mit ihren ideologischen Scheuklappen endgültig überwunden sei. Statt großen Posen in der politischen Arena empfehlen die beiden Autorinnen smartes Verhalten in der Warenwelt: "Als aktive Konsumenten sind wir zugleich immer auch konsumierende Aktivisten, die sich aus einem gut bestückten Freizeitparksortiment und Supermarkt das herauspicken, was ihrer ,politischen Gesinnung' nahe kommt."
Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis vieler Menschen in den Dreißigern, die statt von Bebel von Baudrillard gelernt haben, politische Gesinnung nur noch in Anführungszeichen denken zu können. Der Austausch von widerstreitenden Positionen, die Geltungsansprüche von Welterklärungsmodellen wird mit Kusshand den "immergleichen selbsternannten Diskurshoheiten" (Mair/Becker) überlassen. Man selbst wähnt sich in der pfiffigeren Position und verfolgt amüsiert das Politainment der Titanic-Partei und die situationistischen Einflüsse bei Guido Westerwelle.
Die schonungslose Analyse hat man drauf, klar, doch um das Eingeständnis, über die jahrelangen Dekonstruktionsarbeiten irgendwie auch seinen Politikbegriff verloren zu haben, drückt man sich noch herum. (...)"
und die fragen danach, was dekonstruktion überhaupt bedeutet, was konstruktivismus für ein umgang mit der welt ist, warum und wie eine solche "geistige haltung" überhaupt entsteht, wer ein bedürfnis danach hat (bzw. haben muss) - und was das alles mit der menschlichen wahrnehmung, ihren möglichen zuständen und störungen, zu tun hat - solche fragen werden erst gar nicht gestellt.
aber die beiden obigen rezensionen verstärken meinen ersten eindruck vom buch, wobei ich es natürlich trotzdem lesen werde, sobald es möglich ist.
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@somlu: danke für die idee/den vorschlag. vielleicht komme ich irgendwann drauf zurück.
das folgende stellt gewissermaßen einige anmerkungen dar, und zwar zu den entsprechenden kommentaren hier. natürlich ist der ausdruck in der überschrift oben als phrase nicht unproblematisch und lädt zu verschiedenen mißverständnissen geradezu ein. eines davon könnte z.b. in einer simplifizierung doch recht komplexer (wenn auch deshalb nicht unverständlicher) sozialer verhältnisse liegen. meist in der form von personalisierung, wie es z.b. am deutlichsten sehr gerne mit der person adolf hitlers als quasi alleinschuldiger/-verantwortlicher hinsichtlich nazi-deutschlands betrieben wird:
"Die Hitlerforschung laboriert seit je an einem Dilemma: Entweder wird das Phänomen Hitler aus seiner psychischen Abnormität erklärt - was die Frage offenlässt, wie ein einzelner eine so große öffentliche Wirkung haben konnte. Oder man erklärt Hitlers Aufstieg aus den sozialhistorischen Umständen seiner Zeit - wobei man dann doch nicht um die Einsicht herumkommt, daß ohne seinen pathologischen Vernichtungswillen der Massenmord nicht möglich gewesen wäre."
so beschreiben die autoren von hitler - karriere eines wahns (siehe auch literaturliste) im vorwort die sich immer noch konträr gegenüberstehenden historischen forschungsansätze aus ihrer sicht. die kluft dazwischen versuchen sie mit ihrem ansatz zu überbrücken, indem hitler einerseits mit hilfe von vielfältig vorhandenen zeitzeugenberichten und biographieforschung einerseits sozusagen nachträglich eine gründliche psychiatrische anamnese und diagnose gestellt wird, andererseits aber auch nach den quasi ankoppelungspunkten seiner persönlichen pathologie beim damaligen begeisterten publikum gefragt wird - und letztlich also auch die pathologischen strukturen innerhalb dieses publikums untersucht werden. die dabei entstehenden ergebnisse lassen sich, wie es vielleicht schon zu erwarten gewesen ist, keinesfalls in der "klassischen" psychiatrischen diagnostik unterbringen, die dann auch von den autoren um ein eigenes modell erweitert wird - sie kommen letztlich zu dem schluß, dass es sich bei hitler um einen realitätstüchtigen psychotiker, genauer um eine sonderform von schizophrenie, gehandelt hätte. und arbeiten dabei kurioserweise zentral mit dem begriffspaar "privates" vs. "öffentliches selbst", wobei das letztere bei hitler ihrer meinung nach u.a. von zügen wie paranoia und einem grandiosen narzißmus geprägt gewesen sei und das "private selbst" im laufe der zeit regelrecht "erdrückt" hätte. auch die von anderen psychiatern gestellte diagnose einer narzißtischen borderlinepersönlichkeit wird von ihnen untersucht, und paradoxerweise ist ihre ablehnung dieser diagnose vielleicht gleichzeitig richtig und falsch - richtig deswegen, weil die von ihnen dargestellte argumentation der entsprechenden diagnostik sich tatsächlich im engen orthodox-psychoanalytischen korsett bewegt und schlicht nicht überzeugend ist bzw. extrem konstruiert wirkt. und falsch aber eventuell deswegen, weil sich eine borderline-diagnose auch anders begründen lässt - und wenn statt der begriffe privat und öffentlich das paar authentisch vs. simulativ benutzt wird, kommt dabei ziemlich genau das heraus, was ein gewisser herr mertz unter zuhilfenahme der gedanken von christa rohde-dachser so beschreibt:
"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´
kleine zwischenfrage: nichtkontakt und eine zone des absoluten alleineseins - welches wort kommt Ihnen dabei in den sinn?
mertz weiter:
"Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offenischtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."
(beide zitate oben aus: j. erik mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)
mit ihrem dualistischen selbst-modell retten die autoren des hitler-buches also womöglich das eindimensionale psychosekonzept der orthodoxen psychiatrie und müssen fast zwangsläufig zur "schizophrenie"-diagnose gelangen, auch wenn sie dazu den eh schon sehr strapazierten begriff schizophrenie noch weiter inhaltlich ausdehnen müssen. tatsächlich aber wird bei dem von ihnen angehäuften material zu hitler, dessen umfang und qualität bereits alleine schon das buch lesenswert machen, eigentlich überdeutlich, dass es sich bei ihm um eine durch und durch beziehungslose persönlichkeit gehandelt hat, die allerdings selbst - in grenzen - an die authentizität der eigenen kontakte geglaubt hat. nach dem selbstmord seiner "geliebten" geli raubal im jahre 1931 soll er kommentiert haben:
"Bisher hatte ich noch Bindungen zur Welt, - offenbar hatte ich sie noch, ich wußte es gar nicht. Jetzt ist alles von mir genommen. Jetzt bin ich ganz frei, innerlich und äußerlich. Vielleicht hat es so sein sollen. Jetzt gehöre ich nur noch dem deutschen Volk und meiner Aufgabe."
(matussek, matussek, marbach "hitler - karriere eines wahns", s. 195; siehe literaturliste)
nach diesem zeitpunkt wurde von verschiedensten beobachtern eine extrem zunehmende (oder vielleicht sich völlig offenbarende?) "fremdheit und kälte gegenüber den anderen" sowie der "verlust der letzten reste zwischenmenschlicher empathie" konstatiert - eine anscheinend neue qualität der beziehungslosigkeit, die sich jedoch berechtigt anzweifeln lässt, wenn man sich das verhältnis von hitler zu geli rauball genauer betrachtet. einmal wurde sie von ihm wie eine gefangene "gehalten", wenn auch unter luxuriösen bedingungen. zum anderen aber existieren berichte von sado-masochistischen handlungen, zu denen er sie gezwungen haben soll. und auch, wenn letztere berichte mit vorsicht zu betrachten sind, so wird doch überdeutlich, dass hitler selbst hier, bei der "größten liebe seines lebens", eine mehr oder weniger völlige unfähigkeit zu einer nichthierarchischen und tatsächlich menschlichen beziehung gezeigt hat. seine anderen frauen"beziehungen", besonders die zu eva braun, zeigen das nur um so deutlicher und krasser auf, was bereits bei der angeblichen großen "liebe" deutlich wird:
"Unzweifelhaft jedoch ist die Tatsache, daß Geli von Hitler als sein Besitz angesehen wurde,..."
("hitler-....", s. 193)
ich frage mich immer, wann sich endlich herumsprechen wird, dass menschen andere menschen, die auch als menschen wahrgenommen werden, unmöglich besitzen können /wollen. diese besitzidee könnte ihre basis in einer konstellation "ich vs. mein körper" als selbstwahrnehmung haben - und hat bereits dann, wenn nämlich diese konstellation in der selbstwahrnehmung dominant ist, eine gewisse pathologische qualität (ja, ganz recht, unser westliches normalbewußtsein...). anders: "besitzen" lassen sich nur dinge - oder eben menschen, die durch eine defekte wahrnehmung in dinge verwandelt werden. was mich zu einer etwas überraschenden assoziation bezgl. sogenannter "eifersuchtsmorde" bringt, die angeblich immer durch "übergroße liebe" verursacht werden. vielleicht existieren auch hier zwei qualitativ grundsätzlich verschiedene zustände von eifersucht: einmal eine authentisch-menschliche form, die durch schmerz über zurückweisung und (getriggerte) verlustgefühle (trauer!) auch älterer herkunft gekennzeichnet ist. und zum anderen eine "als-ob-eifersucht", bei der das wort liebe völlig fehl am platze ist, und die sich eben durch die kränkung durch den verlust eines für einen selbst wertvollen objektes auszeichnet. liebe lässt los, wenn auch unter schmerzen - die immer wiederkehrenden morde jedoch lassen ganz und gar nicht los, vernichten das ding lieber, und erkennen damit auch nicht die existenz einer anderen persönlichkeit als eigene qualität an. und das ist von liebe welten entfernt, wie ich finde.
zurück zu hitler: neben der pseudobeziehung zu geli raubal, die sich mit guten gründen als pseudo bezeichnen lässt, wird von den autoren der erwähnten untersuchung primär seine mutterbeziehung als "echt" herausgestellt und das an seiner anscheinend extremen trauer bei ihrem tod festgemacht (eine mutter übrigens, die ihn "vergötterte" und ihm einen völlig unrealistischen status eines "supersohnes" gab - eine mögliche quelle einer fetten narzißtischen problematik, schon klar - allerdings stellt sich auch hier die frage, ob sich wirklich von einer beziehung im menschlichen sinne sprechen lässt. bei arno gruen ist zum verhältnis von hitler zu seiner mutter etwas ziemlich anderes zu lesen:
"Dr. Eduard Bloch, der Arzt, der 1907 Hitlers Mutter behandelt hatte, berichtete später, er habe `nie einen jungen Menschen gesehen, der vor Schmerz und Gram so namenlos unglücklich gewesen wäre wie der junge Adolf Hitler´ beim Begräbnis seiner Mutter (genau darauf beziehen sich matussek et al., anmerk. mo). Doch was steckt hinter einer solchen hysterischen Ergebenheit, die wir von vielen Konformisten kennen? (...) Rudolph Binions Analyse ist eher zuzustimmen (...). Er zog die Aufzeichnungen dieses Arztes heran, die im Hauptarchiv der NSDAP gefunden wurden, und konnte die gespaltene Natur von Hitlers `Mutterliebe´ zeigen. Hitler war zwar außerordentlich um seine sterbende Mutter besorgt, bestand jedoch auf der wirkungslosen, aber furchtbaren Jodoformbehandlung, die seine Mutter sehr quälte und ihren Tod beschleunigte."
(arno gruen, "der wahnsinn der normalität", s. 154; siehe literaturliste)
und damit werden ausnahmslos alle von hitler bekannten und durch verschiedenste zeitzeugen dokumentierten zwischenmenschlichen verhältnisse zu fiktionalen und simulativen nichtbeziehungen. eine wandelnde katastrophe, dieser mann - aber hervorgebracht und gefördert durch ebenso katastrophale soziale verhältnisse einer kultur, die sich einbildet, eine "hochzivilisation" zu sein.
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und natürlich: die frage danach, wieweit seine anhängerschar selbst innerhalb dieser defekten realitätsform funktionierte, birgt klarerweise bis heute für uns als nachkommen der betroffenen generationen eine ziemliche brisanz, holt sie doch ein anscheinend historisches ereignis direkt auf die ebene ganz persönlicher und existenzieller fragen. und da wird´s dann eben sehr schnell ungemütlich bis bedrohlich. von daher ist aber die arbeit der autoren der betreffenden hitlerbiographie imo um so bedeutender einzuschätzen, auch wenn sie meines wissens bis heute ebensowenig größere resonanz gefunden hat wie bereits erwähnte gewisse andere arbeiten. wozu wieder mertz die klarsten worte findet, zumindest was das sichtbare versagen der sog. fachleute angeht:
"Der intelligente und simulativ geschickte Antisoziale, der zu Macht gekommen ist, wird kurzerhand per definitionem zu einem Ding der Unmöglichkeit deklariert, d.h. die Hitlers und Himmlers werden in einem sehr seltsamen Outplacingverfahren aus dem psychopathologischen Spektrum einfach ausgeschlossen und damit letztendlich in den gesunden Sektor verschoben. Als ob sich die innerhalb der wissenschaftlichen Psychopathologie operierenden Mitglieder der Funktionseliten, stellvertretend für alle anderen Mitglieder gegen jedwedes psychopathologisches Verdachtsmoment grundsätzlich verwahren wollten. Die Funktionselite wäscht sich quasi selbst rein, versucht es wenigstens, und die Wissenschaft ist dabei behilflich. Wer einigermaßen unauffällig und effizient funktioniert, insbesondere in herausgehobener Position, kann nicht wirklich, nicht ernsthaft krank sein, weil er nicht krank sein darf."
(mertz, "borderline...",s. 57)
nun werden sich vielleicht gerade bei hitler genügend stimmen finden lassen, die eine ernsthafte psychopathie noch in erwägung ziehen - der bursche war einfach in jeder hinsicht zu extrem. anders aber sieht´s dann schon mit den sog. demokratischen führern und erst recht mit bspw. angehörigen der wirtschaftlichen "eliten" aus, obwohl gerade in diesen bereichen eine echte notwendigkeit besteht, sich die handelnden protagonisten ganz genau anzuschauen.
das selbst bei einem explizit nichtpsychiatrischen blick sehr schnell einiges auffällige sichtbar wird, lässt sich z.b. bei einem bestseller der 1970er jahre, ihr da oben - wir da unten von bernt engelmann und günter wallraff, in hunderttausenfacher auflage verlegt, nachvollziehen. ging es den beiden dort ursprünglich um ein besitz- und persönlichkeitsprofil der damaligen westdeutschen gesellschaftlichen, v.a. wirtschaftlichen "eliten", so ziehen sie ziemlich am ende ihrer recherchen - bei der darstellung des damaligen skandals um den "gerling-konzern" und den bankrott der "herstatt-bank", folgendes fazit:
"Die FAZ verschweigt (in einem dokumentierten kommentar zum erwähnten skandal, anmrk. mo), daß Gerling nur ein - besonders offensichtlich gewordenes - Beispiel für die Möglichkeiten, ja Affinitäten von Machtmißbrauch und Unternehmerwillkür innerhalb der sogenannten `Freien Marktwirtschaft´ darstellt. Die vielen Hunderte und Tausende kleinen und großen Gerlings sollen weiterhin möglichst frei und hemmungslos ihrer Profitleidenschaft unkontrolliert nachgehen. Unterschlagen und verdrängt wird, daß Gerlings Verhalten geradezu symptomatisch ist für Alleinherrscher dieser Größenordnung. Alfried Krupp, der alte Flick, Quandt, Melitta-Bentz, Siemens-Clan, Oetker und wie sie alle heißen, zeigen politisch wie psychopathologisch oft ganz ähnliche Verhaltensmuster."
(engelmann/wallraff "ihr da oben - wir da unten"; rororo, reinbek 1976; s. 293; isbn 3 499 16990 8)
erstmalig 1973 erschienen, ist die damalige zeit der patriarchalischen alleinherrscher über solche bis heute - in form von aktiengesellschaften meist - existierenden markenunternehmen zwar vorbei, an der psychopath(olog)ischen grundstruktur jedoch scheint sich nicht viel geändert zu haben. das buch ist quasi von vorne bis hinten eine beschreibung schwerer psychiatrischer auffälligkeiten, bei denen die betroffenen einzig durch geld und machtposition vor jenen konsequenzen geschützt sind, die ein normalsterblicher in solchen fällen recht schnell vom sozialen umfeld zu erwarten hätte. gerling ist für derartige verhaltensweisen ein besonders eindrückliches beispiel, aber es finden sich ganze familien mit symptomatiken - beispiel der kruppclan:
- alfred krupp, der eigentliche firmengründer, "brachte das Werk wiederum (wie sein vater, anmerkg. mo) an den Rand des Bankrotts, und nur durch enorme Staatszuschüsse und -kredite konnte die <vaterländische Anstalt> gerettet werden, zum anderen starb auch er in völliger geistiger Umnachtung, nachdem er zuvor bereits (...) deutliche Symptome manisch-depressiven Irreseins gezeigt hatte."
- sein einziger sohn, fritz krupp kümmerte sich um das unternehmen überhaupt nicht, frönte stattdessen deutlich pädophilen neigungen und "endete 1902, nachdem seine <Ausschweifungen>, wie man es damals nannte, publik geworden waren, durch einen - selbstverständlich vertuschten - Selbstmord. Er starb ohne männlichen Erben; die inzwischen zum größten Stahl- und Waffenproduzenten Mitteleuropas gewachsene Firma Friedr. Krupp wurde Alleineigentum seiner Tochter Bertha, und diese heiratete 1906 den Legationsrat Gustav von Bohlen und Halbach, den Kaiser Wilhelm (...) Allerhöchstderoselbst zum Krupp beförderte (...)." gustav krupp von bohlen und halbach wurde von seinen nächsten angehörigen "taffy" genannt, und...
- ..."Taffy wurde indessen ein waschechter Krupp: Auch er zeigte früh Symptome von Geistesgestörtheit, insbesondere eine krankhafte Pedanterie, die selbst die Bewirtung von Gästen einem auf Sekunden genau eingeteilten Protokoll unterwarf. Auch lernte er Fahrpläne auswendig und machte eine Staatsaffäre daraus, wenn ein - von ihm gar nicht benutzter - D-Zug mit zwanzig Sekunden Verspätung seine Kontrollposten passierte. Später verfiel auch er in geistige Umnachtung."
(alle zitate aus engelmann/wallraff, "ihr da oben...", s. 8/9)
vielleicht sollte noch hinzugefügt werden, dass es sich bei krupp um jene firma handelt, die im ersten weltkrieg durch den verkauf von waffen an beide kriegführenden seiten stinkreich geworden ist (und etlichen deutschen soldaten durch "qualität made in germany" ein invalidenschicksal, wenn nicht den tod, "bescherte" - soldaten , die genau die "ordnung" verteidigen sollten, die eine solche firma erst hervorbrachte); und sowohl am aufstieg hitlers als auch massenhaft von späterer zwangsarbeit und wiederum krieg nocheinmal profitierte, und sehr schnell nach dem zweiten wk wieder präsent war und macht und einfluß vergrößerte. eine "erfolgsgeschichte", die stellvertretend für viele andere derartige geschichten steht.
"houston, we have a very big fuckin´ problem...!"
zufällig bin ich über diese zusammenfassung eines bloggers gestolpert, die dieser wohl zur illustration einer ganz anderen geschichte genutzt hat - und trotzdem ist da etwas sehr wichtiges gut erfaßt:
"In Krisen zeigen die meisten Menschen Abwehr- und Fluchtreaktionen, die aus der Tierwelt übernommen sind. Der Herzschlag beschleunigt sich, die Muskeln spannen sich, das Gehirn wird bis auf vegetative Funktionen abgeschaltet. Leider führt das manchmal dazu, dass wir uns in einer Krise, die weder durch Angreifen noch durch Flucht gelöst werden, absolut irrational verhandeln. Wir operieren mit einem IQ auf Höhe der Zimmertemperatur. Unter anderem werden Emotionen, die instinktiv durch Körpersprache vermittelt werden, nicht mehr erkannt. Man wird für kurze Zeit zum Autisten."
temple grandin - siehe hier - führt ihren eigenen erfolg in ihrem beruf u.a. darauf zurück, dass sie sich perfekt in tierisches bewußtsein hineinversetzen könne, da sie selbst z.t. in diesem kontext funktionieren würde.
der traumaforscher und -therapeut peter levine geht in seinem ansatz von folgendem aus:
"Es beruht auf Verhaltensbeobachtungen in der Tierwelt. Der zugrunde liegende biologische Mechanismus geht auf das Jäger-Beute-Verhalten zurück, einen ursprünglichen Reiz-Reaktions-Zyklus mit grundsätzlich drei Optionen: Flucht-, Angriff- und Totstell-Reflex.
Tiere in freier Wildbahn sind zwar häufig lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt, werden jedoch nicht nachhaltig traumatisiert, da sie über angeborene Mechanismen verfügen, die es ihnen ermöglichen, die hohe, im Überlebenskampf mobilisierte Stress-Energie wieder abzubauen. Zwar sind wir Menschen mit grundlegend gleichen Regulationsmechanismen ausgestattet, doch wird die Funktionsfähigkeit dieser instinktgeleiteten Systeme häufig durch den „rationalen“ Teil unseres Gehirns gehemmt und außer Kraft gesetzt.
Dies kann bei uns Menschen dazu führen, dass die vom Körper im Alarmzustand bereit gestellte Überlebensenergie vom Nervensystem nur unvollständig oder verzögert aufgelöst wird. Der Organismus reagiert in der Folge weiterhin auf die Bedrohung der Vergangenheit. In diesem Falle sind die in der Gegenwart zu beobachtenden Reaktionsweisen, Verhaltensmuster, Überzeugungen, Gedanken und Gefühle der Person oft noch mit den erschreckenden Erfahrungen der Vergangenheit gekoppelt."
mein eigener eindruck läuft auf ähnliches hinaus, wenn sich zum beispiel eine ständige erregung des vegetativen nervensystems, dissoziative phänomene, selbstverletzende aktionen sowie verlust an weltvertrauen insgesamt mit einer grundsätzlichen isolation als folge sowohl bei menschen mit ptbs-diagnose als auch autistInnen wiederfinden lassen. möglicherweise lässt sich über die oben thematisierte verbindung einiges besser verstehen.
und überlegen Sie einmal, wie´s eigentlich in hierarchisch strukturierten gesellschaften wie unserer mit der nur oberflächlich kontrollierten und verwalteten gewalt aussieht.
...bei der auffällig-unauffälligen "berichterstattung" über ein wahres menetekel. welches offensichtlich nicht nur hierzulande die große mehrheit nicht so recht wahrnehmen will. erinnern Sie sich an 1989? jene flüchtlinge wurden damals wahrgenommen, diese verschwinden irgendwo unter den gleichgültigen auslandsnachrichten:
"In den frühen Morgenstunden des gestrigen Montags haben erneut um die 700 Schwarzafrikaner aus Marokko den Grenzzaun gestürmt, der die spanische Enklave Melilla von Marokko trennt. An zwei Stellen gelang es ihnen, die Sperrgitter auf einer Länge von jeweils 20 Metern niederzureißen. 350 Menschen gelangten nach Melilla und damit in die EU." (...)
Vier Polizeibeamte und drei Soldaten wurden durch Steinwürfe verletzt. Über 135 Flüchtlinge zogen sich nach Angaben des spanischen Innenministeriums bei dem Durchbruch Verletzungen zu. 130 wurden ambulant verarztet. Fünf wurden ins Krankenhaus eingeliefert, vier davon wurden operiert.
(...)
In den angrenzenden marokkanischen Wäldern leben unter unwürdigsten Bedingungen tausende von schwarzafrikanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa. Imbroda beschwerte sich außerdem über die Abordnung von 500 Legionären der spanischen Armee an die Grenze. Kritiker dieser Maßnahme der spanischen Regierung befürchten, dass Soldaten nicht die geeignete Ausbildung haben, um Flüchtlinge ohne Schusswaffengebrauch zurückzuweisen."
ach ja, vielleicht denken Sie bei Ihrem nächsten urlaub mal dran?
"Vor den Kanarischen Inseln kamen unterdessen am Wochenende 19 Afrikaner beim Versuch ums Leben, mit kleinen Booten auf spanisches Gebiet zu gelangen. Ein mit 34 Flüchtlingen besetztes Boot kenterte vor der Insel Fuerteventura. Drei Insassen konnten nur noch tot geborgen werden. 14 wurden im Meer vermisst. Bei Gran Canaria kamen zwei weitere Afrikaner zu Tode."
in abwandlung eines gerade kursierenden mottos könnte es heißen: "wir sind europa" - und der rest muss leider draußenbleiben. aber vielleicht sollte das ganze realistischerweise so ausgesprochen werden: "wir sind die festung europa, eure armut ist uns scheißegal, und wir sind bis auf weiteres einverstanden mit der nutzung u.a. von steuergeldern für die ausrüstung dieser festung, damit wir unseren zusammengeplünderten wohlstand nicht teilen müssen."
ja. wir sind mittäter und -täterInnen. involviert und kompromittiert. meine übelkeit meine ich nicht nur metaphorisch, absolut nicht.
"Im so genannten Meda-Programm stünden für die Sicherung der Grenze zwischen Spanien und Marokko 40 Millionen Euro bereit, sagte eine Sprecherin der Brüsseler EU- Kommission am Freitag. Das Geld sei erst zum Teil ausgegeben, mit dem Rest würden weitere Verstärkungen an den Exklaven Ceuta und Melilla finanziert.(...)
Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" beklagte, Flüchtlinge, die versuchten, über Nordafrika nach Spanien und in die EU zu gelangen, würden von marokkanischen und spanischen Sicherheitskräften sowie von Kriminellen misshandelt."
so. ich muss sagen, dass es ein echter kampf gewesen ist, diesen beitrag zu verfassen - oft genug bin ich an der letzten zeit an der schieren komplexität dieses themas gescheitert und habe mich gefragt, ob es denn überhaupt möglich, eine blog-taugliche zusammenfassung unter einbeziehung der wichtigsten aspekte zu realisieren. aber z. t. ist das ärgerlicherweise auch meinem eigenen perfektionsanspruch geschuldet. inzwischen habe ich mich entschlossen, diesen anspruch - so weit es möglich ist - zu ignorieren. was hoffentlich nicht dazu führt, inhaltlich zu verkürzend zu werden - gerade bei diesem thema wünsche ich mir von den leserInnen hier aufmerksamkeit und zeit, weil sich darüber große teile der bisherigen beiträge hier womöglich erst so recht inhaltlich erschliessen.
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ich bitte gleichfalls, im folgenden zu berücksichtigen, dass ich trotz vermittlung einer allgemeinmedizinischen grundlage während meiner ausbildung, einer autodidaktischen auseinandersetzung mit diversen aspekten der psychiatrie/psychologie sowie langjähriger (klienten-)erfahrung mit verschiedensten therapieformen/therapeutischen prozessen kein ausgebildeter mediziner bin. an dieser stelle sei auf den begriff "selbstermächtigung" hingewiesen, den ich inhaltlich noch über das modell "aufgeklärter patient" hinausweisend finde. wer sich einmal näher gerade mit der psychiatrie (und auch der professionellen psychotherapie) beschäftigt, wird eine wissenschaftliche disziplin vorfinden, die sich allzuoft und allzusehr in soziale machtverhältnisse nicht nur verstrickt hat (ganz offen bei der nazi-"euthanasie" und der militärpsychiatrie, versteckter bei den sozialen wirkungen diverser krankheitsmodelle), sondern diese auch mit produziert. und sich dabei kritik genau so wie andere wissenschaftliche bereiche mittels esoterischer sprache und elitärem auftreten vom leibe hält. aber gerade, wenn es um das menschliche emotionale leben und unser gehirn geht, gilt meiner meinung in gewissen maßen das folgende auch für die psychiatrie:
"Wir sind ja alle schon das, was die Psychologie zu beschreiben und zu analysieren versucht, wir erfahren und praktizieren es alle Tage und beherrschen diesen `Gegenstand´, der wir ja sind, offenbar ganz ordentlich und haben ihn schon immer einigermaßen beherrscht, lange bevor sich eine wissenschaftliche Psychologie entwickelt hat, die das in Abrede stellt und uns weismachen möchte, sie selbst hätte diesen `Gegenstand´ neu erfunden und sei nun als Erfinder und Patentinhaber dieses fiktiven Menschen berechtigt, letztinstanzlich über diese `Sache´ zu entscheiden".
(j. e. mertz, "borderline...", s. 159; siehe literaturliste)
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der gerade und in vergangenen beiträgen schon öfter erwähnte zitierte autor wird im folgenden noch häufiger eine rolle spielen. letztlich ist es so, dass ich ohne das betreffende buch wahrscheinlich nicht auf die idee gekommen wäre, mich mit dem thema autismus näher zu beschäftigen. aber das ist doch laut titel ein buch zum thema borderline?, ließe sich fragen. ja - aber dieser zusammenhang lässt sich erst dann überhaupt diskutieren, wenn es einen begriff davon gibt, was autismus eigentlich bedeutet. es lässt sich einiges zu mertz und seinem modell anmerken, auch in mehreren punkten entschiedene kritik - trotzdem halte ich seine herausarbeitung der inneren struktur des autismus für plausibel und einleuchtend, und werde mich darauf im folgenden auch beziehen. zum buch insgesamt sei an dieser stelle noch gesagt, dass mir bisher - es ist vor gut fünf jahren erschienen und mittlerweile offensichtlich vergriffen - keinerlei fachspezifische rezension untergekommen ist. eine anfrage beim zuständigen verlag vor gut einem halben jahr ergab lediglich, dass es möglicherweise überhaupt nur drei rezensionen nach veröffentlichung gegeben hat. trotz professioneller recherchekenntnisse gelang es mir nicht, auch nur eine rezension zu gesicht zu bekommen, auch nicht nach recherchen in einer unibibliothek. wenn also hier jemand mitliest, der kenntnisse einer solchen rezension hat, würde ich um eine mitteilung bitten. einige kundenrezensionen sind bei amazon einsehbar, und spiegeln in ihrer teils krassen widersprüchlichkeit durchaus die effekte wieder, die das buch auslösen kann.
dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern. aber die methode des aussitzens ist anscheinend nicht nur in einem gesellschaftlichen bereich als problemlösung beliebt.
ich kann hier keine komplette rezension leisten, werde mich aber nicht nur bei seinen anmerkungen zum autismus, sondern auch zukünftig zu seiner meiner meinung vorhandenen unterschätzung von traumatischen prozessen sowie seinem begriff von psychopathie bzw. seiner definition des psychopathen viel auf dieses buch beziehen. im übrigen gibt es in bestimmten zentralen punkten seiner thesen inhaltliche übereinstimmungen mit anderen autoren wie z.b. arno gruen und - für mich ziemlich überraschend - mit den über zwei jahrzehnte vorher erschienenen "männerphantasien" von theweleit. alle drei stellen z.b. zwei grundsätzlich qualitativ unterschiedliche arten der psychose vor, wenn auch natürlich aus unterschiedlicher perspektive mit unterschiedlicher terminologie. wobei die eine art bekannt unter der bezeichnung "schizophrenie" ist und sich die verbreiteten klischees einer psychose - spektakuläre visionen, halluzinationen, offensichtliche realitäts"verkennung" bzw. existenz in einer eigenen realität - hauptsächlich auf diese, dazu im verhältnis recht seltene, form beschränken.
die andere art jedoch ist eventuell ein monströses problem für uns alle. und besticht dazu durch eine "objektiv" vorhandene realitätstüchtigkeit, vor allem dann, wenn diese realität sich durch hierarchien und machtverhältnisse auszeichnet. wer dazu mehr von den entsprechenden modellen theoretisch wissen möchte, sollte sich mit den entsprechenden werken der autoren direkt beschäftigen.
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mit dem thema autismus hat das alles aus folgenden gründen etwas zu tun, weil...
"...nur hier, im Kontext des Autismus, der bei weitem wichtigste Faktor der gesamten Psychopathologie, und zwar als isoliertes Ereignis, etwas deutlicher als sonst in unser Blickfeld kommt: Bei diesem wichtigsten Faktor handelt es sich um jenen zentralen Erfahrungskomplex, der unter den Schlüsselbegriffen Bindung, (authentische) Beziehung, (lebendiger) Dialog, Verstehen, Empathie oder (mit Einschränkungen) Rapport abgehandelt wird. Dieser Beziehungsfaktor tritt beim Autismus insofern als isoliertes Ereignis hervor, weil er im Sinne eines Totaldefizits oder eines Totaldefekts vollständig entfällt."
(mertz, "borderline...", s. 98)
vielleicht schauen Sie sich nocheinmal die liste in diesem beitrag an - ich hatte da geschrieben, dass sich so ziemlich alle dort aufgeführten krankheitsmodelle durch eine mehr oder weniger schwere, mehr oder weniger offensichtliche einschränkung bzw. schädigung der beziehungsfähigkeit "auszeichnen". die als solche anerkannten krankheitsbilder des autistischen spektrums definieren sich quasi darüber, aber auch die erwähnten persönlichkeitsstörungen besitzen bei näherer betrachtung einen quasi- oder pseudoautistischen anteil, wenn es um die jeweiligen beziehungsfähigkeiten geht (die ptbs und dissoziative ps nehmen eine gewisse sonderstellung ein). professionelle aus den bereichen der behindertenpädagogik z.b. oder auch aus der psychiatrie werden hier vermutlich einhaken wollen und sich gegen einen inflationären gebrauch des wortes autismus wenden. ich kenne mittlerweile die position, wie sie z.b. auch im ersten kommentar hier durchscheint, die "eigentlich" nur den kanner-autismus als "echten" autismus anerkennen will, und das ganze phänomen damit im bereich der schweren geistigen behinderung belassen möchte. es geht dabei mal wieder um definitionen, und diesen streit werden wir hier nicht klären können. ich halte es aber für berechtigt, den autismus als allgemeine menschliche - hm, möglichkeit, eben nicht am rand der gesellschaft zu belassen, sondern ihn in die mitte zu holen - und das ist für mich eine erkenntnis aus der lektüre von mertz, der den autismus als seinsoption unter bestimmten sozial produzierten bedingungen definiert. und als elementare möglichkeit eines funktionsmodus bei jedem menschen - bekannt als das objektive bewußtsein aka instrumentelle vernunft. ja, das war und ist immer noch eine echte überraschung für mich, dass sich das ideologische leitbild der westlichen kultur ("ich denke, also bin ich"), die sog. rationale vernunft, als die strukturell autistische hälfte des menschlichen seins entschlüsseln lässt, die nicht per se krankhaft ist, aber bei einem ungleichgewichtszustand als dominierendes prinzip im strengen sinn krankhaft werden kann, was offen autistische menschen selbst zeigen. und eben auch aus den selbstzeugnissen solcher menschen leitet mertz seine diesbezgl. überlegungen her.
wie gesagt, der offizielle mainstream wird dem nicht folgen wollen (was vor allem daran liegen könnte, dass erstens keine allgemein akzeptierte definition des wesens einer authentischen (oder auch: nichthierarchischen) menschlichen beziehung vorliegt; zweitens aus diesem grund zustände für "beziehungen" gehalten werden, die gar keine sind (wir betreten hier den als-ob-simulationsbereich); und drittens eben kein bewußtsein zu den ersten beiden punkten vorhanden ist, auch und gerade nicht in weiten teilen der professionellen psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen institutionen.)
"Zu den tragikomischen Absurditäten der modernen Psychopathologie zählt die Tatsache, dass dieser (authentische) Beziehungsfaktor als Defizit oder Defekt zwar unzähligen Krankheitsbildern zugrundeliegt und den Kernbereich des psychopathologischen Gesamttableaus weitgehend beherrscht, aber erst dann (und keinen Moment früher!) offiziell registriert wird und die ihm gebührende Anerkennung findet, wenn dieser Faktor ganz offensichtlich, auch mit bloßem und ungeschultem Auge erkennbar, vollständig entfällt und sich auch auf Dauer nicht mehr nachweisen lässt."
("borderline...", s. 98)
nun denn.schauen wir uns einmal das als solches definierte "offizielle" autistische spektrum genauer an.
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ich kann hier nur eine komprimierte zusammenfassung der wichtigsten aspekte geben, und empfehle zur intensiveren auseinandersetzung zum einstieg einmal das autismusdossier bei wikipedia, welches imo ganz gut den offiziellen stand wiedergibt, dann zum anderen seiten wie autismus.de, autismus-online, aspiana oder aspergia, die auch die sicht von direkt betroffenen widerspiegeln.
den kanner-autismus als "klassischen" frühkindlichen autismus und als sehr häufig als durch seine intensität in der folge definierte geistige behinderung lasse ich einmal weitgehend außen vor (ebenso den atypischen autismus), weil diese menschen zwar womöglich den autistischen extrempol in jeder hinsicht verkörpern, aber dadurch eben auch fast völlig unfähig zu selbsttändigen handlungen sind und häufig lebenslanger pflege bedürfen. möglicherweise aber sollte dieser extrempol im hinterkopf bleiben, gerade bei der beschäftigung mit den "milderen" autistischen varianten.
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und dann der bereich, der inzwischen vielleicht am relevantesten ist: der sog. asperger-autismus.
von asperger-betroffenen liegen inzwischen verschiedene selbstzeugnisse vor. am bekanntesten sind dabei die arbeiten von temple grandin , einer us-amerikanischen professorin und (asperger-)autistin, die weltweit als expertin für humane viehhaltung und -schlachtung (in den usa arbeitet die hälfte aller schlachthöfe nach von ihr ausgearbeiteten methoden - eine leistung, die ich mit sehr gemischten gefühlen betrachte) anerkannt ist. grandin hat bis heute mehrere bücher veröffentlicht, es existieren im netz interviews mit ihr (eines davon wird gleich noch genauer vorgestellt werden). ihre schilderungen gelten allgemein - auch unter betroffenen - als weitgehend zutreffende beschreibungen des autistischen lebens. eine art selbstbiographie ist in deutschland 1997 unter dem titel "ich bin die anthropologin auf dem mars" mit einem vorwort des neurologen oliver sacks veröffentlicht worden, und aus diesem buch wird auch von mertz ausgiebig zitiert. nun ist es so, dass ich originalquellen grundsätzlich bevorzuge, aber dieses buch von t. grandin so vergriffen wie sonstetwas ist - und ein angebot neulich lautete auf vierzig euro (für ein taschenbuch...) über ein antiquariat. das ist momentan schlicht und einfach nicht drin, und darum werde ich auf die von mertz zitierten passagen zurückgreifen, wobei ich immer noch davon ausgehe, das original irgendwann einmal vorliegen zu haben. ich sehe aber keinerlei gründe für die annahme, dass die zitate bei mertz nicht korrekt wiedergegeben sind. zusammen mit weiteren aussagen im erwähnten interview mit ihr ergibt sich ein nachvollziehbarer eindruck davon, was autismus in einer einigermaßen realitätstüchtigen variante - zitat oliver sacks: "Tatsächlich war Temple bei unserer ersten Begegnung...zunächst derart `normal´ (oder derart geschickt in der Simulation von Normalität), daß es mir schwerfiel zu erkennen, daß sie autistisch war." - eigentlich ausmacht, oder besser: wie er die menschliche existenz ganz grundsätzlich beeinflusst.
"Das erste Anzeichen dafür, daß ein Baby möglicherweise autistisch ist, besteht darin, daß es sich bei Berührung versteift und sich dagegen wehrt, gehalten und gehätschelt zu werden. Es kann extrem empfindlich auf Berührungen reagieren, indem es sich entzieht oder schreit...Wenn ich gehalten wurde, kämpfte ich, um mich zu befreien, aber wenn man mich alleine in dem großen Kinderwagen ließ, machte ich selten Theater."
"Meine Mutter erkannte zum ersten Mal, daß es ein schlimmes Problem mit mir gab, als ich nicht wie das kleine Mädchen im Nachbarhaus zu sprechen begann."
(t. grandin zitiert nach mertz, s. 102/103)
in den verschiedenen "offiziellen" (asperger-)autismus-darstellungen taucht eine erstmalig bemerkte auffälligkeit häufig im zeitraum von drei bis vier jahren auf, und mertz bemerkt zu recht, dass es schon seltsam erscheint, warum die mutter oder andere bezugspersonen auf das verweigern der von babys ansonsten existenziell eingeforderten zuneigung und wärme anscheinend nicht reagieren, sondern erst dann, wenn später "objektive" leistungen in wichtigen kulturtechniken nicht oder nur spärlich vom kind erbracht werden. das lässt einige spekulationen über möglicherweise versteckte vorhandene autistische tendenzen bei den betreffenden müttern zu, würde auch zur genhypothese passen - oder zum mertz´schen ansatz der pränatalen umprogrammierung. in einer rezension eines buches über sog. "schattensyndrome" findet sich dieser absatz:
"In den achtziger Jahren fuehrten Ritvo und seine Kollegen Anne M. Brothers, B. J. Freeman und Carmen Pingree eine epidemiologische Untersuchung ueber alle autistischen Personen durch, die damals im Staat Utah lebten. Das Ziel der Untersuchung lag darin, nach Faktoren zu suchen, zum Beispiel vorgeburtlichen Einfluessen, einem Gehirntrauma usw., die als moegliche Ursachen fuer Autismus in Frage kamen, sowie das Risiko fuer Familien mit einem autistischen Kind im Hinblick auf ein zweites oder drittes Kind abzuschaetzen. Bei diesen Gespraechen mit den Eltern autistischer Kinder stiessen sie jedoch auf ein unerwartetes Ergebnis: einige dieser Eltern wirkten selber autistisch. Einige flatterten mit den Haenden, wiegten den Koerper hin und her oder gingen auf Zehenspitzen, andere waren sozial isoliert, und zwei von ihnen erklaerten offen heraus, sie seien genauso autistisch wie ihre Kinder. Wie sich herausstellte, waren sie es tatsaechlich. Unabhaengige Untersuchungen durch andere Diagnostiker bestaetigten die Diagnose des Autismus bei elf Elternteilen - bei neun Vaetern und zwei Muettern. Waehrend heute die Vorstellung eines autistischen Elternteils vielleicht nicht so aussergewoehnlich erscheint, war der Gedanke noch vor wenigen Jahren revolutionaer. Ritvo stellte danach fest: 'Wenn Sie mir vor 10 Jahren gesagt haetten, es gebe autistische Menschen, die verheiratet sind und Kinder haben, dann haette ich geantwortet: 'Sie sind verrueckt, die leben doch alle in Anstalten.' Nach der Untersuchung von Utah aenderte er jedoch seine Ansicht: 'Wie bei den meisten Krankheiten scheint es auch eine leichte Form des Autismus zu geben, die im Erwachsenenalter mit Ehe, Elternschaft, befriedigender Heterosexualitaet und beruflicher Leistung vertraeglich ist.'" (S. 238) Damit ist das Schattensyndrom des Autismus eingefuehrt, das allerdings im Grunde schon durch Asperger (1944) angelegt wurde, aber im engeren Sinne auch wiederum nicht zum Autismus gezaehlt wird. Wie schon mehrfach kritisiert, zieht sich das babylonische Begriffschaos wie ein roter Faden durch die nun gut 200 Jahre alte moderne Psychiatrie. "Zur Zeit herrscht das klassische Schattensyndrom des Autismus unbestreitbar bei Maennern vor." Sie sind eigenwillige, unkonventionelle, unangepasste, beziehungsarme Aussenseiter. "Technikertypen haben diese Eigenschaft laengst bei sich entdeckt. ... Auch die Verbindung zwischen dem Autismus und der Computerwelt ist nicht unbeachtet geblieben. Das Magazin Time brachte einmal einen Artikel, in dem Bill Gates [der Gruender der Firma Microsoft] mit der beruehmten autistischen Gelehrten Temple Grandlin verglichen wurde (zu den autistischen Eigenschaften, die ueber Gates mitgeteilt wurden, gehoerten das Wiegen des Oberkoerpers, ein staendiges Wippen, die Vermeidung des Blickkontaktes und die mangelnde soziale Faehigkeit, sich an einem Gruppengespraech zu beteiligen)." (S. 239).
(zitiert nach: Sponsel, Rudolf (DAS). Buchbesprechung - Rezension: Ratey, John J. & Johnson, Catherine (dt. 1999, orig. 1997). Das Schattensyndrom. Neurobiologie und leichte Formen psychischer Stoerungen.Rezensionen. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen;
- der ganze artikel ist zwar eine ziemliche bleiwüste, steckt aber voller interessanter informationen u.a. zum vergleich mit schizoiden persönlichkeiten, möglichen veränderungen der neurophysiologie, dem zusammenhang mit dem aufmerksamkeitsdefizitssyndrom sowie auch auffälligkeiten in den propriozeptiven und vestibulären fähigkeiten).
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"Wenn man mich alleine ließ, wurden meine Gedanken zerstückelt und ich geriet in einen hypnotischen Zustand. Ich konnte stundenlang am Strand sitzen und zusehen, wie der Sand durch meine Finger rieselte. Ich studierte die einzelnen Sandkörner, die zwischen meinen Fingern durchrannen. Jedes Sandkorn war anders, und ich war wie eine Wissenschaftlerin, die die Körner unter einem Mikroskop studierte. Während ich ihre Formen und Konturen einer genaueren Prüfung unterzog, versank ich in Trance, die mich für die Anblicke und Geräusche rund um mich unempfänglich machte...Andere Methoden, um mich gegen die Welt abzuschotten....bestanden darin, daß ich rhythmisch hin und her wippte oder mich im Kreis drehte."
(grandin zitiert nach mertz, s. 105/106)
ich denke mal, ich bin nicht alleine mit meinem eindruck, dass hier haargenau eine mögliche form dessen beschrieben wird, was als dissoziation bekannt ist - und gerade im kontext borderline, posttraumatische belastungsstörung und erst recht bei der dissoziativen ps aka multiplen persönlichkeit ein thema ist. und ebenso - in einem ganz anderen kontext - beim thema drogen und auch bei schamanistischen ritualen wiederzufinden ist. mertz geht auf das thema dissoziation unter diesem namen leider nicht ein, kommentiert aber obigen absatz wie folgt:
"Auch uns sind diese Vorgänge in gewisser Weise sehr vertraut (...) Es ist eine im Modus des objektiven Kontrollbewußtseins operierende Ichfunktion, die hier mit besonders stark verengten und fixierten Aufmerksamkeitsfenstern spielt. Wenn wir die Feinheiten eines winzigen Areals unserer Hautoberfläche sehr konzentriert studieren oder die Bewegungen einer Fliege, die gerade auf unserem Schreibtisch gelandet ist, dann operieren auch wir in diesem autistischen Modus. Der einzige Unterschied zwischen uns und dem Autisten besteht darin, daß wir auch anders können, während der Autist in diesem Modus ein Leben lang gefangen bleibt (...) Die geradezu marsianische Andersartigkeit der autistischen Erfahrungswelt beruht nicht auf dem, was der Autist tatsächlich tut und erfährt, sondern auf dem, was er nicht tun und erfahren kann. Durch diesen defektartigen Verlust verändert sich allerdings das Funktionsganze (...) Die verbleibenden Funktionen müssen die verlorene Funktion kompensieren. Im Falle des strukturellen Autismus, der durch den Totalausfall der authentischen Beziehungsoptionen charakterisiert ist (klassischer, z.B. frühkindlicher Autismus), konzentriert sich das hypertrophierende (überdimensional erweiternde, aufblähende; anm. mo) objektive Kontrollbewußtsein bevorzugt auf unbelebte Objekte."
(und jetzt folgt ein wichtiger und entscheidender satz):
"Der Realitätsbezug des Autisten ist ein ausschließlich objektiver und gegenstandsmanipulativer: Das gegenstandsmanipulative Grundschema wird später, unter dem Zwang der Verhältnisse (sozialer Druck), auf lebendige und (inter)personale Ereignisfelder projiziert und dort (inter)agiert."
(s. 106)
"gegenstandsmanipulativ" lässt sich hier wortwörtlich verstehen: eine autistische wahrnehmung ist unfähig, lebendiges zu erkennen (und diese unfähigkeit, wie in anderen beiträgen hier schon öfter angedeutet, hat eine materielle, körperliche basis - und bezieht den eigenen körper übrigens mit ein!) und kann lediglich anhand "objektiver" formaler kriterien erkennen, ob es einen z.b. einen unterschied zwischen schaufensterpuppen und lebenden menschen gibt - eindrucksvoll beschrieben in diesem forenbeitrag bei tp:
"...daß ich regelmäßig Modepuppen im Kaufhaus mit echten Menschen verwechsele...(...)"
das der betreffende auch noch als programmierer arbeitet, hat schon etwas ironisches an sich. aber zur wahrnehmung: es ist im wahrsten sinne des wortes eine dingwelt, eine welt von objekten ohne inneren zusammenhang (dieser vor allem emotional und kinästhetisch erlebbare zusammenhang beruht auf u.a. körperlich basierten wahrnehmungsfähigkeiten, wie zb. die weiter oben erwähnten propriozeptiven und vestibulären wahrnehmungen, nach neueren forschungen ist auch ein ausfall der spiegelneuronsysteme zu erkennen, eine basis für empathie), die sich hier abbildet. und damit ist ein sehr krasser und sehr qualitativer und sehr konsequenzenreicher unterschied zur gesunden bzw. vollständigen menschlichen wahrnehmung gegeben. es sind in letzter konsequenz verschiedene welten, die sich aus der radikal unterschiedlichen wahrnehmung ergeben.
"Der autistische Mensch operiert, und darauf kommt es an, ausschließlich im Modus dieses gewöhnlichen und an sich gesunden objektiven (objektivierenden) Kontrollbewußtseins. Die autistische Kontrolle zielt dabei ab auf die Herstellung einer sinnvollen Ordnung in all dem kontinierlich einströmenden Erfahrungsmaterial (der sinnlich-körperlich basierten welt, in der wir alle leben, ob wir´s letztlich wahrnehmen können oder nicht - diese welt ist materiell und objektiv vorhanden; anm. mo), das für den Betroffenen `keinen Sinn macht´. Der Autist (...) versucht außerdem, seine Erfahrungswelt (...) objektiv zu beherrschen (prognostisch und manipulativ)."
weiter mit temple grandin:
"Ich beobachte ständig...doch ich gehörte nie dazu...Noch heute findet mein ganzes Denken vom Standpunkt einer Beobachterin aus statt...Meine Bilder (Vorstellungsbilder) ähnelten denen anderer Menschen, aber ich stellte sie mir stets als Beobachterin vor. Die meisten Menschen sehen sich selbst in ihren Vorstellungen als Beteiligte (T.G. irrt hier: der intakte Mensch beherrscht beide Optionen, J.E.M.)...Mein ganzes Leben bin ich eine Beobachterin gewesen, und ich habe mich immer wie jemand gefühlt, der die Dinge von außen betrachtet...Unter Einsatz meiner Visualisierungsfähigkeit beobachte ich mich selbst aus der Distanz. Ich bezeichne das als `meinen kleinen Forscher in der Ecke´, als wäre ich ein kleiner Vogel, der mein Verhalten aus der Höhe betrachtet...Dr. Asperger bemerkte, daß sich autistische Kinder ständig selbst beobachten. Sie betrachten sich selbst als Objekt des Interesses."
(s.106/107)
"Vor kurzem besuchte ich einen Vortrag, bei dem es eine Sozialwissenschaftlerin erklärte, der Mensch denke anders als Computer. Bei der anschließenden Dinnerparty erklärte ich der Wissenschaftlerin..., daß meine Denkmuster den Arbeitsschritten eines Computers ähnelten und ich in der Lage sei, meinen Denkprozeß Schritt für Schritt zu erläutern. Ich war einigermaßen schockiert, als sie mir erklärte, daß sie unmöglich beschreiben könne, wie ihre Gedanken und Emotionen verbunden seien...Ich speichere Informationen im Kopf wie auf einer CD-ROM. Wenn ich mich an jemand erinnere, spiele ich in meiner Vorstellung ein Video von dieser Person ab...Wenn ich lese, übersetze ich die geschriebenen Wörter in Farbfilme oder speichere einfach ein Foto der geschriebenen Seite, um sie später zu lesen. Wenn ich das Material wieder abrufe, sehe ich in meiner Vorstellung eine Kopie dieser Seite...Meine Gedanken bewegen sich...von videoähnlichen, spezifischen Bildern zu allgemeinen Konzepten...ich bediene mich seit jeher der Visualisierung und der Logik, um Problem zu lösen...Normalerweise erscheinen meine Erinnerungen in strikter chronologischer Reihenfolge (...)"
(s. 108)
hier werden die möglichen kompensationen des ausfalls eines entscheidenden teils der wahrnehmung sichtbar, verstanden als eher ungewöhnliche neurologische fähigkeiten wie zb.einem eidetischen (fotografischen) gedächtnis. auch synästhesie scheint bei autistischen menschen öfter vorhanden zu sein, ebenso findet sich ein link zum thema hochbegabung. all das ist - in relation - gehäuft zu beobachten, jedoch nicht zwingend - längst nicht alle als solche diagnostizierten autistischen menschen entwickeln irgendwelche besonderen fähigkeiten. wobei es eine lohnende sache ist, sich mal die biographien sog. genies innerhalb der westlichen kultur näher anzuschauen. beispiele: michelangelo, einstein (und andere), oder eben auch bill gates. zum ebenfalls "unter verdacht" stehenden isaac newton, der vielleicht als d e r repräsentant des naturwissenschaftlichen weltbildes gelten kann, plane ich einen eigenen beitrag.
in bereich der fiktiven personen gerade aus der populärkultur sind zb. mr. spock von der enterprise sowie sherlock holmes als koksende denkmaschine sehr deutlich im autistischen spektrum verortet. beim letzteren wird zudem die gerade von t. grandin thematisierte ständige beobachtung skizziert:
"Seinem kalten, präzisen, bewundernswert ausgeglichenen Geist waren alle Gefühlsregungen und besonders diese (es geht um liebe, anm. mo) fremd. Er war meiner Meinung nach die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber als Liebhaber wäre er falsch am Platz gewesen. Von den zarteren Gefühlen sprach er einzig mit Spott und Hohn."
und dann wird der in den holmes-geschichten immer als etwas tölpelhaft gezeichnete dr.watson wieder einmal durch die logischen schlußfolgerungen von holmes verblüfft, der daraufhin anmerkt:
"Du siehst, aber du beobachtest nicht. Der Unterschied ist klar. Du hast doch zum Beispiel oft die Stufen gesehen, die vom Hausflur in diese Wohnung führten?"
"Gewiß."
"Wie oft wohl?"
"Viele hundertmal, möchte ich meinen."
"Und wie viele Stufen sind es?"
"Wie viele? Keine Ahnung!"
"Eben! Du hast sie gesehen, aber nicht beobachtet. Genau, was ich sage. Ich hingegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe (...)."
(arthur conan doyle, sherlock holmes-geschichten "ein skandal in böhmen"; manesse im dtv, münchen 1994; s.7, 10/11; isbn 3-423-24006-7)
was sich als zwanghafte kontrolle eines weitgehend sozial beziehungslosen mannes interpretieren lässt, der allerdings formale sozialkontakte perfekt simulieren kann. auch von einer freundschaft mit dr. watson kann eigentlich eher nicht die rede sein, da holmes durchgängig immer in einer dominanten und überlegenen, etwas herablassenden position gezeichnet wird, was nicht unbedingt eine freundschaft im eigentlichen sinne ausmacht.
sein berühmter gegenspieler prof. moriarty hingegen lässt züge eines intelligenten psychopathen erkennen, unterscheidet sich jedoch in seinen fähigkeiten interessanterweise nicht allzusehr von holmes, letztlich ist es nur der kontext, in dem sie beide ihre kognitiven wundermaschinen einsetzen, der sie voneinander trennt und sie zu gegenspielern macht.
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sehr eindringlich sind die bemerkungen von temple grandin zum sozialen leben:
"Da ich keinerlei soziale Intuition besitze, muß ich mich in meinem Verhalten von reiner Logik leiten lassen, so als gehorchte ich einem Computerprogramm. Ich ordne die (sozialen) Regeln entsprechend ihrer logischen Bedeutung ein. Es ist ein komplexer algorithmischer Entscheidungsbaum."
und jetzt kommt wieder so ein satz, der es in sich hat:
"Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück. Wiederholt haben mir Eltern erzählt, daß ihre autistischen Kinder eine großartige Leistung vollbrachten, als sie jemand anderen darstellten. Sobald das Stück vorüber war, kehrten sie in ihre Isolation zurück...Selbst heute noch sind persönliche Beziehungen etwas, was ich nicht wirklich verstehe."
(grandin zitiert nach mertz, s. 112)
das ist deutlich genug, wie ich finde. auf der deutschsprachigen seite von autismandcomputing findet sich übrigens ein regelrechter katalog mit vorschlägen und instruktionen für autistische menschen bezgl. allgemeinen sozialverhaltens. es klingt wirklich so, als würde sich jemand auf den erstkontakt mit einer völlig fremden kultur vorbereiten. assoziationen hierzu verkneife ich mir für den moment, die bekommen später ihren platz.
dazu finden sich auffälligkeiten und probleme mit den eigenen körperlichen grenzen sowie ein exzentrisches körperschema (definition weiter unten im beitrag).
"Autistische Menschen haben manchmal Probleme mit den körperlichen Grenzen. Sie sind unfähig zu beurteilen, wo ihr Körper endet und wo der Stuhl, auf dem sie sitzen, oder das Objekt, das sie in der Hand halten, beginnt."
(grandin, s. 208)
was sich ebenso als eine folge der beschädigten bzw. ausgefallenen wahrnehmungsfähigkeiten verstehen lässt. weitere aussagen von betroffenen, die das sehr deutlich machen:
„In siebenundzwanzig Jahren hatte ich oft meine eigenen Hände berührt. Es waren einfach Fleischklumpen, Blut und Knochen, die aufgrund von Form, Position, Funktion und Aussehen etwas darstellten, was wir „Hände“ nennen. Es gab keine emotionale Bindung an sie, kein Gefühl, dass sie mir persönlich gehörten, und das Berühren von Händen hatte keine Bedeutung. Es war einfach ein Zusammenstoß von zwei derartigen Objekten im Raum.“
Donna Williams, „Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern.“, S. 185
"Daß ich ein äußeres Körpergefühl hatte, erlebte ich, indem ich sah und hörte, wo mein Körper sich befand. Mein inneres Körpergefühl war, wie alles andere, meistens mono. Wenn ich mein Bein berührte, spürte ich das entweder an meiner Hand oder an meinem Bein, aber nicht an beiden gleichzeitig. Ich nahm den ganzen Körper in Stücken wahr. Ich war ein Arm oder ein Bein oder eine Nase. Manchmal war ein Teil sehr deutlich da, doch der Teil, mit dem er verbunden war, fühlte sich so hölzern an wie ein Tischbein und genauso leblos.“
Donna Williams, Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern, S. 320
„Warum ich so gern liege, will meine Mutter wissen. Wenn ich liege, verändere ich meine Lage wenig. Dabei habe ich mein Körperbild besser im Bewußtsein, als wenn ich herumlaufe. Ich bin mit meiner Aufmerksamkeit dann weniger gefordert. Wenn ich mich bewege, muß ich immer darauf achten, wie meine Lage im Raum gerade ist. Das bereitet Mühe. Wenn ich liege, spüre ich mein Rückgrat. Das hilft mir sehr, mich mit meinem Körper zu orientieren. Ich denke wirklich oft darüber nach, was mein Leben so schwer macht, und es wird immer deutlicher, dass ich mich nicht nur schlecht spüre, sondern auch meinen Körper nicht richtig für die Orientierung im Raum gebrauchen kann.“
Dietmar Zöller, 27. 4. 97
im bereits erwähnten interview vom harvard brain mit temple grandin im jahre 2000 finden sich weitere informationen über die autistische existenz. ein paar auszüge:
"HB: Fühlst Du Dich durch die Tatsache, daß Deine mentalen Prozesse Dir sichtbarer, irgendwie mechanischer?
TG: Einige der Wissenschaftler, die an künstlicher Intelligenz arbeiten glauben, daß sie einen Computer bauen können, der das Gehirn imitiert/dupliziert. Eine Menge Leute sagen, daß sie das nicht können. Ich fühle, daß es möglich ist, weil ich sehen kann, wie eine ganze Menge meiner Denkprozesse ablaufen.
(...)
TG: Das ist genau das, wie es mir ergeht. Ich bekomme keine Informationen von Gesichtern. Wenn ich mit jemandem am Telefon rede, ist das genauso gut, als würde ich ihn sehen; dort kann ich Nuancen auffangen. Dieser ganze Augen-Kram . . .
HB: Es ist wahr, Du schaust mich nicht an.
TG: Augen machen für mich überhaupt keinen Sinn."
und zu ihrer art des denkens sagt sie:
"HB: Der andere Vergleich ist zu Software und Maschinen -- zum WWW, dem Internet, Computern.
TG: Bevor ich den Computervergleich nutzte, sprach ich immer von Photos und Filmen in meinem Kopf. Der Grund, warum ich das Internet als symbolischen Vergleich verwende ist, weil dort draußen nichts anderes ist, was meiner Art zu denken ähnlicher wäre. Die Art, wie die Seiten assoziativ verlinkt sind ist exakt die Art wie ich denke.
Ich sage Leuten, wenn Ihr wirklich verstehen wollt, wie ich denke, warum geht Ihr dann nicht einfach ins Internet und tippt das Wort "Streetcar" ein. Fangt dort an, und seht mal, wohin es Euch führt."
das verhältnis zwischen computern und autismus wird noch genauer beleuchtet werden, es gibt dort verschiedenste zusammenhänge, die schlicht verblüffend sind. und die eine eindeutig bedrohliche komponente enthalten, ebenso wie diese aussage:
"Bei autistischen Personen ist inzwischen eine starke Tendenz, zu sagen, die Welt sollte sich ihnen anpassen."
eine welt, von der gewisse qualitäten einfach nicht wahrgenommen werden können, vor allem solche, die primär sinnlicher art sind und nicht nur im sozialen leben angesiedelt sein müssen:
"Und sie überraschte mich bei unseren Spaziergängen mit ihrer offenkundigen Unfähigkeit, die einfachsten Emotionen zu empfinden. `Die Berge sind hübsch´, sagte sie, `aber sie vermitteln mir kein besonderes Gefühl, wie Sie es anscheinend empfinden...Sie betrachten den Bach, die Blumen, und ich sehe, welch große Freude Ihnen diese Dinge machen. Das kann ich nicht empfinden."
(o. sacks zitiert nach mertz, s. 111)
und es geht hier wohlgemerkt nicht um individuelle vorlieben für diese oder jene landschaft. sondern um die welt im autistischen ichmodus, dessen eigenschaften von mertz auf vielen seiten in vielen facetten analysiert werden. und deutlich wird immer wieder vor allem eines, nämlich die objektwelt, die sich daraus ergibt. alles voll mit dingen, die ständig kontrolliert und manipuliert werden müssen (.u.a. zur angstabwehr). und möglicherweise stellen verschiedene varianten dieses ichmodus auch den kern der krankheiten des spektrums dar, welches unter dem begriff persönlichkeitsstörungen ein viel umzanktes diagnostisches kriegsgebiet bildet. existenzielle ängste spielen bei den meisten ps mit einer ganz wichtigen ausnahme ("echte" psychopathen, die sich aber auch unter dem label der antisozialen ps finden, nehmen nach neuerer forschung ängste durch ihre neurophysiologische struktur bedingt überhaupt nicht wahr, was ihnen leider sehr große handlungsspielräume verschafft; und lassen sich sozusagen als untergruppe der antisozialen ps kennzeichnen. dazu wird noch ein eigener beitrag folgen) eine zentrale rolle, und möglicherweise ist auch Ihnen als leserIn der effekt bekannt, dass das objektive bewußtsein in einem gewissen sinn angstreduzierend wirken kann - benenne und analysiere etwas, und es verliert ein stück seine fremdheit und mögliche bedrohlichkeit.
aber es sollte lediglich ein - nützliches - instrument sein, und nicht die ganze existenz ausmachen und beherrschen. das nämlich hat fatale folgen:
"Der Mensch erscheint in dieser mechanistischen Perspektive als eine Art mangelhafter Robot, dem im Vergleich zu anderen Robotern vielleicht noch ein paar mechanistisch formulierte Sonderleistungen zugestanden werden, die jedoch mittelfristig auch auf maschinellem Wege erbracht werden können. (...) Kurzum, es gibt einen Unterschied zwischen lebendigen und mechanistisch toten Ereignissen. Wer diesen Unterschied nicht kennt, ist de facto sehr krank, und zwar in einem sehr strengen, objektiv-wissenschaftlichen Sinne: Die entsprechende Symptomatik findet sich beispielsweise im autistischen und psychotischen Kontext und wird im Bereich extremer Antisozialität zu einem gesellschaftlichen Problem. In all diesen Fällen ist unter anderem auch diese Unterscheidung für die Betroffenen sehr unsicher oder unmöglich geworden. Diese mangelhafte Unterscheidungsfähigkeit entwickelt spätestens dann tragische Dimensionen, wenn eine lebendiger Mensch von einem anderen Menschen wie eine Sache, wie ein totes Ding behandelt wird, ohne daß sich der Akteur selbst an dieser kategorialen Todsünde, die in der Praxis nicht selten einen tödlichen Ausgang nimmt, irgendwie stören müßte."
(mertz, s. 160)
file under pannwitzblick. und ansonsten war es bisher in der zeit der existenz dieses blogs erschreckend einfach, für das, was oben von mertz beschrieben wird, fast täglich beispiele in den medien zu finden. kindermorde , abschiebungen und happy slapping lassen grüßen. unsere sozialen, hochkomplexen und mechanistisch-bürokratisch organisierten strukturen einerseits sowie ein zeitgeist mit betonung auf "flexibilität", simulierter sozialkompetenz und ignoranz von grenzen (auch von eigenen) sowie zeit und räumen andererseits lassen sich als produktionen des erwähnten objektiv-autistischen modus begreifen - eine megamaschine, die außer rand und band geraten ist.
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insgesamt sollte jetzt bei Ihnen ein erster eindruck von ganz wesentlichen punkten des autistischen seinsmodus (ein begriff, der sowohl von betroffenen als auch von mertz benutzt wird) vorhanden sein, und ebenso eine ahnung davon, was daraus für mögliche folgen im sozialen leben entstehen können.
im zweiten teil wird es um die ursachendiskussion gehen, die vorhandene epidemiologie sowie komorbiditäten, gerade hinsichtlich ads und verschiedenen persönlichkeitsstörungen. meine persönlichen assoziationen und eindrücke aus der beschäftigung mit diesem thema werde ich vermutlich in einem dritten teil beschreiben.