Mittwoch, 16. November 2005

notiz: pauschalurteile (nicht nur eine antwort @morgaine)

in den kommentaren zum gestrigen beitrag über das grundeinkommen wirft eine kommentatorin einige fragen auf, die imo grundsätzliche bedeutung haben, weshalb ich sie dann auch in einem eigenen beitrag thematisieren möchte.

"Leider fällt mir hier manchmal auf, dass doch sehr pauschale Urteile gesprochen werden über "Die Politiker" bzw. "Die politische Klasse" beispielsweise.

nun, da ist etwas dran. pauschalurteile sind so eine sache, oft genug nah verwandt mit schlichten vorurteilen. allerdings ist meine beobachtung die, dass selbst in den reaktionärsten vorurteilen immer ein fitzelchen realer wahrnehmung steckt, wenn auch meist bis zur völligen unkenntlichkeit verzerrt. vielleicht stimmen Sie mir zu, wenn ich auch vorurteile als primär abstrakte konstrukte des objektivistischen bewusstseins ansehe. welches gerne mit schablonen arbeitet, und nichtsdestotrotz auf reale (körper-)wahrnehmungen zurückgreifen muss (eine andere basis hat diese art des bewusstseins nicht, schon gar keine immaterielle).

das sog. "gesunde volksempfinden" wäre dafür ein beispiel, auch dafür, wie sich individuelle wahrnehmungsreduktionen kollektiv in form ganzer regelrechter und gemeinsam geteilter wahngebilde manifestieren können. wahngebilde - im medizinisch-psychiatrischen bereich (zu) eng definiert als psychotische wahrnehmung - lassen sich als produktionen des objektivistischen bewusstseins verstehen, die im eigenen erleben nicht (mehr) auf die eigene körperwahrnehmung bezogen werden können, sich einer person quasi als anscheinend rein virtuell-immaterielle phänomene darstellen und in der folge auch wie solche empfunden und behandelt werden - als ob sie eine eigene qualität hätten. (als metaphernhaftes beispiel dafür ließe sich vielleicht eine person annehmen, die z.b. die simulation eines videospiels für bare realität nimmt, und dazu ganz zwangsweise die materielle realität in form der nötigen hardware, der energieversorgung sowie die eigene körperliche basis aller wahrnehmung aus eben dieser ausschliessen muss, um die simulation ernsthaft als real empfinden zu können. das sich die menschliche wahrnehmung auch in solche zustände regelrecht tricksen lässt, wie es z.b. jeder gute zauberkünstler praktiziert, ist dabei eine eigene geschichte).

trotzdem sind diese produktionen immer auf das bezogen, was im körper an wahrnehmungen gespeichert bzw. aktuell registriert wird - wir können schlicht keinerlei abstraktionen, visionen, träume etc. in einem völligen vakuum produzieren - all das, wie auch die psyche insgesamt, hat eine materielle basis.

ich habe diesen kleinen, sehr gerafften abschnitt zu den grundlagen von abstrakten produktionen des bewusstseins deswegen angeführt, um deutlich zu machen, wie ich vorurteile begreife - das beispiel des eleminatorischen antisemitismus der nazis als echte wahnproduktion zeigt das imo besonders deutlich - "die juden", wie sie von den nazis beschrieben worden sind, waren eine rein imaginäre produktion, in der allerdings ein paar reale wahrnehmungen (ich nehme an, dass Sie die geschichte des antisemitismus einerseits und die gesellschaftlichen stellungen und positionen von jüdischen menschen andererseits gut genug kennen, um zu verstehen, was ich meine) als basis, aber bis zur karikatur verzerrt, vorhanden waren.

und so sind auch heute bei den beliebten urteilen über "die politiker" (oder meinetwegen auch "die kapitalisten") solche prozesse beteiligt - die frage ist allerdings, wieviel reales dabei als basis tatsächlich vorhanden ist, weil bestimmte, anscheinend zu pauschale urteile eben auch eine primär realistische wahrnehmung widerspiegeln können. nun ist hier im blog inzwischen genügend material gesammelt, um breits ein bestimmtes gefühl - auch das ist eine wahrnehmungsform - gegenüber der sog. politischen klasse entwickeln zu können, welches sich argumentativ unterstützen lässt. aber am plausibelsten sind natürlich immer noch nahwahrnehmungen der entsprechenden personen, und das gibt mir die gelegenheit, auf ein weiteres buch bzw. einen autor hinzuweisen, der aufgrund seines berufes genügend gelegenheiten zu solchen wahrnehmungen hatte. und das urteil des spiegel-journalisten jürgen leinemann ist regelrecht vernichtend:

DIE ZEIT: Herr Leinemann, wenn Sie sich am Sonntagabend die Politiker bei Christiansen anschauen, was sehen Sie da?

Jürgen Leinemann: Wenn ich es sehe – es ist nur noch sehr selten –, sehe ich ein ziemliches Elend. Es ist die schiere Langeweile. Ich habe das Gefühl, ich kenne jeden Satz, jede Bewegung, jeden Gesichtsausdruck. Die Art, wie der eine den anderen unterbricht, wie er sich in den Vordergrund spielt. Ich kenne alles. Ganz selten bin ich schlauer als vorher.

ZEIT: Ist dieses Bild stellvertretend für die politische Klasse in unserem Land?

Leinemann: Es ist symptomatisch für das öffentliche Bild dieser Klasse. In Wirklichkeit ist es etwas differenzierter.

ZEIT: Die Darstellung der Politiker ist langweiliger, als sie eigentlich sind?

Leinemann: Ja, die Darsteller schauen immer aufs Publikum: Was wollen die Leute von uns? Was erwarten sie? Was müssen wir jetzt bringen? Wie hätten sie mich gern? Was die Kommunikation in unserem Land so schwierig macht, sind die Barrieren der Erwartung. Die Zuschauer, die Medien, die Politiker, alle erwarten was. Und alle haben Angst, die Erwartungen nicht zu erfüllen.

ZEIT: Was unterscheidet die heutige Fernsehrepublik von früheren Zeiten?

Leinemann: Heute ist das Publikum ganz dicht an den Politikern – die werden in Nahaufnahme gezeigt, aber sie sehen das Publikum nicht. Sie bekommen keine direkten Reaktionen. Sie versuchen es zwar mit Umfragen, aber das nützt nicht viel.

ZEIT: Sie zitieren in Ihrem Buch den früheren hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner mit dem Satz: Fehlende Menschenkenntnis ist eine der wichtigsten Führungsvoraussetzungen in der Politik. Stimmt das wirklich?

Leinemann: Ich denke, das stimmt. Fehlende Menschenkenntnis, verweigertes Einfühlungsvermögen ist ein Selbstschutz. Man ist selbst am wichtigsten. An den anderen zählt nur, ob sie nützen oder schaden. Für Feinde und Rivalen, für Menschen, die genauso machtgeil sind wie sie und ihnen gefährlich werden könnten, haben Politiker aber einen ganz feinen Blick. Da sehen sie jede Regung.

ZEIT: Sie beschreiben die Welt der Politiker als dramatisch wirklichkeitsleer. Die Politiker bezeichnen Sie als Süchtige.

Leinemann: Die beiden Begriffe hängen für mich zusammen. Sucht signalisiert, dass Entscheidendes im Leben fehlt. Dafür schaffen Drogen Ersatz. Die Wirklichkeit wird als unerfüllt und beängstigend erlebt, also hellt sich der Mensch diese Wirklichkeit künstlich auf – ob nun mittels chemischer Substanzen oder stimulierender Aktivitäten. Wenn sie von sich reden, benutzen viele Politiker den Begriff Sucht ja selbst gerne, aber mehr als harmloses Bild für eine peinliche Besessenheit. Auch Selbstzweifel lassen sich eben gut vermarkten.

ZEIT: Wonach sind Politiker süchtig, was ist es, das sie süchtig macht?

Leinemann: Vor allem die öffentliche Aufmerksamkeit. Mikrofone, Blitzlichter, Fernsehkameras – die eigene Dauerpräsenz in den Medien. Je weiter man kommt, desto höher die Dosis. Das gilt auch für die Faszination der Macht. Jede Tür wird aufgerissen, jede Fahrkarte wird dir besorgt. Die Umwelt dienert. Und wer oben angelangt ist, führt ein scheinbares Königsleben. Gepanzerte Limousine, Luftwaffenjet, Luxussuite. Aber zu welchem Zweck? Sie wollen die Welt verbessern, aber der Handlungsspielraum ist eng. Also müssen sie erst einmal ihre Wiederwahl sichern. So verselbstständigt sich der Betrieb. Die Betäubung beginnt schon ganz banal mit der Arbeit, die nicht öffentlich stattfindet: 16- bis 18-Stunden-Tage, 90-Stunden-Wochen. Das reicht bald, um nicht mehr zur Besinnung zu kommen.

ZEIT: An was mangelt es Politikern?

Leinemann: Vielen an einer konkreten Vorstellung von einem besseren Leben, einer besseren Gesellschaft, den meisten an Lebenserfahrung, allen an Muße. Der Politikbetrieb tötet alles, was ein normales Leben erfüllt: Beziehung und Familie, intensive Freundschaften, Kunst und Literatur, Hobbys. Alles dreht sich um Politik – die der Politiker irgendwann mit der Wirklichkeit verwechselt, so wie sich selbst mit seiner öffentlichen Rolle. Wer von Drogen und von Sucht redet, redet also zugleich von Realitätsverlust. Das ist natürlich umso schwerwiegender, wenn es sich um die Leute handelt, die damit beauftragt sind, einen guten Teil dieser Realität zu organisieren.


das buch Höhenrausch von ihm steht ebenfalls auf der liste zu beschaffender lektüre weit oben. nun müssten Sie bei seinen imo sehr deutlichen worten ebenfalls mit ihrer warnung vor pauschalen urteilen kommen, denn sein fazit - welches dazu noch auf realen und nahen begegnungen beruht - fällt ähnlich aus wie das, was ich mir (und auch andere) bereits seit längerer zeit über die verfassung unserer sog. eliten, von denen die "politische klasse" einen teil darstellt, gebildet habe. und wenn ich behaupte, dass es ganz bestimmte psychophysische voraussetzungen braucht, um innerhalb dieser eliten nach "oben" zu gelangen (wenige ausnahmen bestätigen die regel), so mag das für Sie wie ein pauschalurteil klingen, welches für mich allerdings begründet ist. und zwar realistisch begründet.

*

dann haben Sie mir noch diesen link hinterlassen, bei dem ich vermutlich richtig in der annahme gehe, dass sowohl autor wie auch thesen des buches von Ihnen als positiv im weitesten sinne empfunden werden? nun, wenn ich aussagen wie die folgende

"Hengsbach hält die kapitalistische Marktwirtschaft für das vergleichsweise erfolgversprechendste Wirtschaftsmodell."

sehe und dazu noch den vom autor selbst im titel verwendeten ausdruck "faktor mensch" (derartige begrifflichkeiten sind ein sehr deutlicher hinweis auf wahrnehmungsarten, und in diesem fall ein besonders widerwärtiger), dann reicht das tatsächlich für mich aus, um ganz pauschal zu einem urteil zu kommen: wissen Sie, welche rolle die kirchlich-institutionelle militärseelsorge in den vergangenen kriegen spielte? eine ähnliche, wie sie die sog. kirchliche sozialethik, auf die Sie sich ja beziehen, spielt: fromme bemäntelung von knallharten machtstrukturen, im extrem von mord und totschlag. ich habe durchaus in gewissen maßen respekt vor z.b. der südamerikanischen befreiungstheologie, halte aber die institutionalisierten christlichen religionen in europa in weiten teilen für regelrechte büttel der macht, deren unheilvolles wirken über jahrhunderte sie in jeder hinsicht disqualifiziert. auch hier mag es, besonders unter den "einfachen" gläubigen, menschen mit anderen motiven und anderem handeln geben - aber solange sie z.b. figuren wie den derzeitigen opus-dei-freundlichen papst bejubeln, diskreditiert sie das in meinen augen auf das schärfste. von daher also kann ich Ihnen in der angenommenen positiven bewertung von diesem buch nicht folgen.

Dienstag, 15. November 2005

assoziation: das "bedingungslose grundeinkommen" und seine psychophysischen hindernisse

ich bin immer noch innerlich sehr beschäftigt mit den neulich hier vorgestellten thesen von lloyd deMause und ihren möglichen konsequenzen in ganz verschiedenen richtungen. eine davon möchte ich im folgenden näher vorstellen.

*

die idee eines bedingungslosen grundeinkommens oder „bürgergelds“ (wobei es für das letztere auch konzepte gibt, die nicht mit dem gedanken des ersteren gleichzusetzen sind), taucht immer mal wieder am rande des medialen mainstreams auf und wurde vor ein paar wochen von einer eher unerwarteten seite etwas breiter popularisiert: der chef der „dm“-drogeriemarktkette, götz werner, ein angehöriger der ökonomischen – und damit auch gesellschaftlichen – elite also, finanzierte auf eigene rechnung eine halbseitige anzeige in der “zeit“, um für das bedingungslose grundeinkommen zu werben. dazu betreibt er eine eigene homepage zum thema, auf der u.a. die sätze zu lesen sind:

"Deutschland geht es ausgezeichnet! Wir haben noch nie so viel Wohlstand produziert wie heute. Unsere Wirtschaft hat jedoch nicht die primäre Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen, sondern die Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen – und das möglichst wirtschaftlich, mit möglichst geringem Verbrauch von Ressourcen, also auch der äußerst knappen Ressource menschlicher Arbeits- und Lebenszeit!“

womit er etwas anspricht – die tatsächliche ökonomische lage im land, besonders die gewinne und profitraten für große unternehmen – was aus so einer ecke eh bereits ungewöhnlich ist und noch ungewöhnlicher wird durch seine in einem interessanten interview geäusserten ansichten zur schaffung von arbeitsplätzen (fetisch und mantra zugleich!), was nicht aufgabe eines unternehmers sei, und seine schon gar nicht. erfrischende wahrheiten also, die innerhalb der täglichen medienproduktion aus dreisten lügen, puren behauptungen und unverstellter manipulationsabsicht sofort wie ein emotionaler peak auffallen.

sicher sind seine motive dabei nicht von purem altruismus bestimmt, aber darum soll es jetzt nicht gehen. und ebensowenig ist es hier meine absicht, die ökonomische umsetzbarkeit eines solchen projektes zu diskutieren – die halte ich nach allem, was darüber bisher öffentlich bekannt ist, für gegeben (wen diese diskussionen näher interessieren, sei z.b. ans archiv grundeinkommen verwiesen.)

nein, nicht nur mir ist etwas anderes aufgefallen: in den debatten zu diesem thema kommt auffallend häufig und sehr schnell die rede auf den „egoismus“, die angebliche wolfsnatur des menschen sowie die ansicht, dass ohne einen materiellen zwang doch niemand mehr arbeiten würden wolle und alles zusammenbrechen würde.

ich halte diese ansichten für den ausdruck von ganz bestimmten mentalen oder, präziser formuliert, psychophysischen zuständen bei denjenigen, die sie äussern – das gilt natürlich auch für diejenigen mit konträren ansichten. in den diskussionen auf der oben verlinkten website von g. werner lässt sich meiner meinung die existenz unterschiedlicher psychoklassen im sinne von deMause – gruppen von menschen, die ähnliche kindheitserfahrungen gemacht haben und im extremfall durch gewalt diverser art mehr oder weniger determiniert/eng begrenzt sind in dem, was sie an neuem, „fremden“ und überhaupt lebendigen tolerieren können ohne gefahr für ihr inneres gleichgewicht – sehr deutlich beobachten und macht auch schlagartig die hinter derartigen, als angeblich rational-politisch angesehenen diskussionen stehende struktur klar. verschiedene diskussionsbeiträge können das deutlich machen:

„Das *bedingungslose Grundeinkommen*(BGE) geht aus von und orientiert sich an den Bedürfnissen der Menschen. An einer Welt der Genügsamkeit,des Genug-seins. Und schenkt Frauen wie Männern die Wahl,sich - angstfrei - zu fragen:
Was will ich wirklich, wirklich ? Mit meinem Leben. Anfangen! Den Ausgang zu suchen. Aus der Unmündigkeit.“


es ist dabei gerade die frage, ob das wirklich angstfrei geschehen kann – sehr gerafft komprimiert: bei bestimmten erlebnissen in der eigenen biographie kann die folge von ständiger und chronischer anspannung des zentralen nervensystems mit damit verbundener angst bis hin zu paranoiden zuständen auftreten. um diese angst in schach zu halten und derart ein, wenn auch fragiles, inneres gleichgewicht aufrechterhalten zu können, muss die jeweilige persönlichkeit eine gewisse rigidität und starrheit entwickeln, was unvermeidlich mit wahrnehmungsverengungen gekoppelt ist. und alles, was die ursprünglich angstauslösenden momente wieder aktualisieren könnte – bei kindern sind das z.b. eigene wachstums- und unabhängigkeitsimpulse, die von den eltern nicht toleriert werden (können) – wird innerhalb einer solche persönlichkeitsstruktur als bedrohung empfunden. und möglicherweise aktiv bekämpft werden. übersetzen Sie diesen prozess einmal auf die sog. politische ebene.

“Die psychologischen und mentalen Hürden bei vielen Menschen sind ungeheuer, kommt das ganze doch einem Systemumbruch gleich, gegen den die Wende in der DDR wie ein Spaziergang erscheint.“

korrekt. das haupthindernis ist hier deutlich ausgesprochen. ebenso wie im nächsten statement:

“Leider befürchte ich, dass auf dem Weg zum Grundeinkommen noch ein paar tiefsitzende (z.T. religiös fundamentierte) Konditionierungen zu überwinden sind, insbesondere: "Was?! Ich arbeite hart und die Faulenzer sollen auch noch Geld kriegen?" An die Kosten des ganzen Kontroll- und Überwachungsapparates, mit denen wir Menschen zur Arbeit "anreizen" wollen, denkt kaum wirklich jemand.“

der bezug auf religiöse „konditionierungen“ ist hier interessant. ebenso ist hier der offensichtliche ökonomische wahnsinn der heutigen verhältnisse angesprochen – unsere sog. rationale ökonomie ist bei näherer betrachtung, was ihre versteckten kosten und ihre tatsächliche uneffektivität anbelangt, alles andere als vernünftig.

ein evergreen jeder „rechten“ „politik“:

“Alle Hochkulturen, angefangen im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, haben sich nur als Reaktion auf Not, Herausforderung, Bedrohung entwickelt und nicht durch Nichtstun und Müßiggang.
Der Evolution liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Kampf, Wettbewerb, Überleben.
Der Denkfehler von Herrn Werner liegt m.E. in der Annahme, dass die Menschen die frei sind von Arbeit und versorgt, im p o s i t i v e n Sinn Initiative entwickeln.“


„natürlicher“ kampf, auslese, überlebenmüssen führt automatisch zu einem „du musst“ in form von zwanghaftigkeit. abgesehen davon, dass in solchen a-sozialen vorstellungen bereits behauptungen über die menschliche geschichte und die menschlichen eigenschaften drinstecken, die höchst fragwürdig sind und möglicherweise eher durch die eigenen erfahrungen derjenigen erklärt werden können als durch als determiniert gedachte tatsächliche menschliche möglichkeiten und gegebenheiten – abgesehen davon also ist hier die vorstellung interessant, dass ein mensch ohne materiellen zwang sofort zu einem initiativlosen etwas werden würde. ein anderer kommentar darauf:

„Was mich immer wieder verblüfft, ist die Vorstellung,daß auf der faulen Haut liegen als ein begehrenswerter oder beneidenswerter Zustand angesehen wird.Ich kenne niemanden,der Nichtstun auf Dauer als befriedigend empfindet.“

das „nichtstun“ im sinne von purer faulheit kann eigentlich nur jemand als echte alternative empfinden, der/die noch nie die erfahrung von tatsächlich erfüllender arbeit – ohne zwang, leistungsstress, suchtcharakter und in eigener verantwortung – gemacht hat. die propagandisten der zwangs(lohn)arbeit im wortwörtlichen sinne scheinen hier ihre eigenen geheimen wünsche – nämlich selbst in der anderen unterstellten, halluzinierten art „faul“ sein zu dürfen – lediglich auf andere zu übertragen. erstaunlich immer wieder die spontanen vorstellungen vieler leute bei der frage, was sie mit einem unverhofften lottogewinn machen würden: nichtstun am strand, in der sonne aalend – was ja manchmal ganz nett sein kann, aber tatsächlich so ein leben dreißig, vierzig, fünfzig jahre lang? ganz schön stumpf. könnte es eher sein, das diejenigen, die derartiges von sich geben, niemals selbst einen entwicklungsstand erreicht haben, in dem sie „arbeit“ anders denn als inneren/äusseren zwang empfunden haben?

es geht auch anders:

“Ich arbeite gerne. Es spornt mich an mit anderen Menschen etwas zu schaffen. Es schreckt mich aber zunehmend ab mich "prostituieren" zu müssen. Ein Grundeinkommen würde Mut machen nicht alle korrupten und unsauberen Methoden der Auftraggeber und der Vorgesetzten mittragen zu müssen. Heute höre ich den folgenden Satz fast täglich :" Wenn Du es nicht machst, dann macht es eben ein anderer". Ein Grundeinkommen könnte die Unabhängigkeit und die Würde eines engagierten Mitarbeiters schützen und somit langfristig zu einem besseren Miteinander als zu grenzenloser Konkurrenz beitragen.“

und damit ist eher ein weiteres hindernis benannt. warum? weil es indizien dafür gibt, anzunehmen, dass unsere derzeitigen hierarchischen strukturen bestimmten persönlichkeitsstrukturen (bzw. –defekten) zu einem großen teil sowohl entspringen als auch eine bedürfniserfüllung für die betroffenen darstellen. anders: die realistische möglichkeit muss in betracht gezogen werden, dass ein großteil an heute existierenden gesellschaftlichen strukturen nicht tatsächlich ausdruck von rational-emotionalen, sondern irrational-emotionalen bedürfnissen darstellt. eine bühne zum idealen ausagieren eigener persönlichkeitsdefekte, wie es z.b. hier beschrieben wird. das legen die thesen von deMause, aber nicht nur von ihm, nahe. und das wäre weit jenseits aller „politik“, wie sie hier immer als „rational“ und „notwendig“ verkauft wird (notwendig höchstens in der wahrnehmung der gestörten protagonistInnen.)

das würde aber auch bedeuten, dass von dieser seite aus jeder tatsächlichen verbesserung der sozialen situation enormer widerstand entgegengesetzt werden würde – was ja auch regelmässig passiert. die „unsauberen methoden“, die korruption und die grenzenlose konkurrenz stellen keine beklagenswerten nebeneffekte dieses systems dar, nein, sie erfüllen direkt pathologische bedürfnisse bzw. stellen einen ausdruck dieser bedürfnisse dar.

“Leider hat sich in den Köpfen der Politiker, ob es nun Merkel, Clement Müntefering, oder Stoiber ist, manifestiert, dass den Armen( z.b Sozialschwache oder Arbeitslose) nicht nur kein Geld zusteht, sondern diese es verdienen unterzugehen. In Ihren Köpfen herrscht noch die Meinung: "Wer faul ist, verdient zu hungern" Wer arbeitslos ist, bekommt nur keine Arbeit weil er zu faul ist.
Deshalb auch der erneute Vorschlag, Hartz IV, weiter zu kürzen. Diesen Politikern sind die Armen ein Dorn im Auge, die es am besten verdienen würden, zu sterben.
Nun sollen diese ihnen auch noch, ein Bügergeld zukommen lassen. Unvorstellbar.“


dass die „parasiten“ es verdienen, unterzugehen, müssen wir wohl als realistische option in der psychophysischen struktur gerade unserer sog. „eliten“ annehmen. allerdings: wer wählt sich quer durch die vergangenheit bis heute diese eliten wieder und wieder und lässt dann stellvertretend die „bild“-zeitung endlose beschwerdelitaneien ablassen? wer duldet dieses treiben nicht nur, sondern nickt auch meistens beifällig zu klar antisozialen bis mörderischen „maßnahmen“ und sieht sich bei alldem noch als „realistisch“ und „nüchtern denkend“ an? wer klatscht dem gerede vom harten durchgreifen gegen die „schmarotzer“ beifall, ist unterwürfig-kriecherisch im angesicht angemaßter autorität und verächtlich-brutal bei vermeintlicher schwäche?

wilhelm reich hat einmal sinngemäß hinsichtlich der mehrheit der deutschen bevölkerung im nationalsozialismus gesagt, die deutschen wären keinesfalls verführt worden, sie hätten sich im gegenteil hitler und die nazis gewünscht. nicht aus „genetischen“ gründen, aber schon aus nachvollziehbaren ursachen heraus, die ich bei deMause hinsichtlich der nur noch in großen teilen als folter zu bezeichnenden art des umgangs mit den allermeisten deutschen kindern der vergangenheit heraus durchaus plausibel beschrieben finde.
im spruch „jedes volk bekommt die regierung, die es verdient“, steckt eine ganze menge wahrheit. aber anders, als gedacht.

ein weiterer kommentar stellt sehr interessante fragen:

“Macht es den Menschen aus, dass er als Anreiz "Zwangreiz" braucht? Nimmt uns ein Grundeinkommen einen notwendigen Anteil an Armen weg?

"... in einem freien Volke, wo die Sklaverei verboten ist, [besteht] der sicherste Reichtum in einer großen Menge schwer arbeitender Armer. Denn ... ohne sie [würde] es keinen Lebensgenuß geben, und kein Erzeugnis irgendeines Landes hätte mehr einen Wert. Um die Gesellschaft glücklich und die Leute selbst unter den niedrigsten Verhältnissen zufrieden zu machen, ist es notwendig, daß ein beträchtlicher Teil davon sowohl unwissend wie auch arm sei. Kenntnisse vergrößern und vervielfachen unsere Bedürfnisse, und je weniger Dinge ein Mensch begehrt, um so leichter kann er zufriedengestellt werden."
Bernard de Mandeville, 1714

Bildung, die uns über Arbeit nachdenken lässt, ist also mindestens genauso gefährlich, wie ein Grundeinkommen, das den "Anreiz" schwächt, an die Arbeit zu gehen. Ist das so?

Die Diskussion über ein Grundeinkommen ist schon deswegen wichtig, weil den Menschen dadurch ihre Menschenbilder klarer werden.“


was im letzten absatz steht, ist eine option. nicht mehr und nicht weniger, was keinesfalls heissen soll, sie nicht umsetzen zu versuchen. aber in diesem zitat von de mandeville (der name sagt mir nichts weiter), ist imo etwas beschrieben, was bis heute gültig ist: das bedürfnis eines mehr oder weniger großen teils einer bevölkerung nach hierarchien und zwang – „alle sollen gleich leiden“, so die rede von den einen, während ein anderer typ von defekt eher das bedürfnis produziert, selbst auf andere herunterzuschauen und sich als gnadenlos überlegen vorkommen zu dürfen.

und darüber genauer nachzudenken, ist tatsächlich eines der gefährlichsten dinge, die Sie unter den heutigen umständen überhaupt tun können. es kann Ihnen den boden unter den füßen wegziehen...stellen Sie sich vor, was wäre denn, wenn „der mensch“ gar nicht schlecht und böse wäre, sondern in zu vielen fällen schlecht und böse gemacht worden ist? oh graus, dann müssten leute wie der folgende kommentator ja gründlich beginnen, sich selbst besser kennenzulernen, am ende sich gar selbst – lieben lernen? und womöglich beginnen, die eigenen eltern zu kritisieren.

“Nach dem Niedergang des Kommunismus in seiner gelebten Form sollten wir uns als Menschen besser kennen! Schon allein der Egoismus *ich bin besser als Der* läßt ein solches Zusammenleben scheitern. Heute brauchen wir diesen Egoismus in unserem Wirtschaftsystem sogar.“

wer soetwas ernst meint und ernsthaft vertritt, muss sich, völlig unabhängig von den gründen für die entwicklung dieser einstellung, das attribut „antisozial“ gefallen lassen. und „denkfaul“ noch dazu, denn der „egoismus“ wird hier quasi wie ein naturphänomen hingenommen. was dann auch bedeuten würde, den schreiber selbst als egoistisch einzugruppieren – er steckt sich ja gleichfalls in diese schublade. so ähnlich wie der folgende, dessen kommentar ich mir für den schluß aufgehoben habe:

„Ich werde natürlich gewaltig Haue kriegen,von all den hochmögenden Damen und Herren,die sich äusserten oder Gedanken machen. Als Jesuitenzögling und gelernter Jurist,
der aber was ganz anderes macht,gerne macht,sage ich nur: diese Debatten sind gefährlich,weil sie Begehrlichkeiten weckt.Zu gross ist die Versuchung vieler,auf der faulen Haut liegen zu bleiben,Dank BGE.
Obwohl ich Katholik bin favorisiere ich eher in Sachen Lebensunterhalt den Calvinismus,oder meinetwegen die protetantische Arbeitsethik.“


einfach nur in kurzform: „die haue“ scheint als erwartung fest verankert zu sein, und das wird seine gründe haben, die allerdings sehr wahrscheinlich eher in den ganz persönlichen erfahrungen des kommentators liegen – kritik als „haue“ zu empfinden, ist bemerkenswert, allerdings recht verbreitet. dann: „gefährliche begehrlichkeiten“ und „versuchungen“ – wann, wo und von wem hat dieser mann gelernt, dass es gefährlich ist, eigenen begehrlichkeiten und fremden versuchungen nachzugeben? als „jesuitenzögling und gelernter jurist“ dann auch noch gleich in zwei institutionalisierten und organisierten produktionen (im sinne von abstrakten konstrukten, die sowohl religion als auch justiz bis heute primär darstellen) des objektivistischen bewusstseins involviert zu sein, macht das trostlose bild eines wahrhaft unfreien menschen, der seinen käfig allerdings für die einzige „freiheit“ halten muss, komplett. „unter zwängen sollst du leben“, könnte das (uneingestandene) motto solcher leute sein.

„alte psychoklassen aller länder, ihr habt nichts zu verlieren als eure ängste und wahnvorstellungen!“

in viel zu vielen fällen wird allerdings die gesamte existenz rund um diese ängste und wahngebilde herum organisiert (bzw. organisiert sich selbst). das wäre alleine für sich schon eine tragödie, hat allerdings bis heute für millionen wahrhaft tödliche folgen. und ist als womöglich primär gestaltendes element unserer sozialen verhältnisse schlicht völlig unakzeptabel.

*

einen nachtrag habe ich noch, und zwar ein zitat aus der sog. politischen klasse zur idee des grundeinkommens, das einiges deutlich macht:

Peter Glotz, ehemaliger SPD-Bundesgeschäftsführer, formulierte es für die politischen Parteien so: "Keine Partei findet das gut. Denn an der Arbeit hängt auch die Macht der Parteien und Organisationen."

dem ist nichts hinzuzufügen. machtmenschen brauchen hierarchien, ängste und zwänge.

Montag, 14. November 2005

notiz: auch im kontext zu sehen...

...sind imo erinnerungen an kriegzeiten, wie sie im gefundenen blog beschrieben werden. präzise, wie ich finde:

"Damals begann ich damit, *mich unsichtbar zu machen *, wie ich es nannte. Es war meine Methode, aus der Realität auszusteigen... so eine Art von bewusstem, freiwilligem Autismus. Psychologisch würde ich es heute als eine Strategie der Verleugnung und Verdrängung bezeichnen... eine Schutzmassnahme der Seele, um Unerträgliches ertragbar zu machen."

aber das ist ja "nur subjektiv" und nicht tatsächlich wissenschaftlich.

edit: ja, der letzte satz ist polemisch - nicht automatisch ist subjektivität (gerade bösartig gewordene; erst recht nicht ihre simulativen formen, die dann aber schon einer eigenen sphäre angehören) etwas positives, und auch längst nicht alle wissenschaftlich tätigenden würden bei der obigen erinnernden beschreibung von potenziell traumatischen ereignissen abwinken. aber als tendenz - und zwar immer noch als haupttendenz - sehe ich die realen verhältnisse in der polemik immer noch am zutreffendsten beschrieben.

Sonntag, 13. November 2005

notiz: "...im Moment ist es sicherer, in eine virtuelle Wirtschaft zu investieren."

die innere struktur, die eigenschaften und überhaupt die gründe für die existenz virtueller prozesse im menschlichen bewusstsein - von denen z.b. jegliche software nur ein materieller ausdruck ist - waren bisher, trotz ihrer bedeutung als quasi-"heimat" aller "als-ob"-simulationsprozesse, bisher hier nur selten thema. was auch mit der komplexität von simulativen prozessen zu tun hat, aber auch damit, dass mir bisher kaum arbeiten zur bedeutung von psychophysischen zuständen für die existenz virtueller welten bekannt sind (wenn jemand mehr weiß - ich bin für jeden hinweis dankbar).

besonders interessant finde ich dabei die schnittpunkte zwischen sog. real life und den virtuellen ebenen, wie sie ein spon-artikel heute so thematisiert:

"Insgesamt, schätzt der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova, werden in Onlinespielen derzeit legal und illegal fast 900 Millionen Dollar im Jahr mit dem Verkauf von virtuellen Objekten und Spielfiguren umgesetzt.

gerade vor dem hintergrund der letzten beiträge hier kommt mir beim betrachten solcher informationen wie oben immer wieder eine frage in den sinn: kann es sein, dass wir als spezies uns selbst durch eine jahrtausendealte "tradition" des gegenseitigen verletzens geradezu in diverse als-ob-realitäten - von denen die "klassisch" virtuellen sphären, wie sie jeder computer als simulationsmaschine ständig produziert, nur einen teil darstellen - regelrecht hereinprügeln, -foltern, -manipulieren? wenn das ausweichen bzw. die dissoziation in verschiedene als-ob-modi psychophysisch für das eigenen pure überleben als "fluchtpunkt" sinn macht, wie es sich abzuzeichnen beginnt, wäre das eine entwicklung, die jeglicher basis für tatsächlich soziales leben, wie wir es zumindest rudimentär kennen, komplett den boden unter den füßen wegziehen würde.

willkommen in der matrix.

Freitag, 11. November 2005

kontext 13: die macht des traumas

wie in der unten stehenden vorstellung des psychohistorischen ansatzes von deMause war auch in anderen beiträgen hier schon öfter die rede von psychotraumata, in der psychiatrischen diagnostik von heute als posttraumatische belastungsstörung (ptbs) oder posttraumatisches stresssyndrom (ptss) bekannt. nun ist bereits die geschichte (und auch die vorgeschichten) dieser diagnose, die v.a. auf politischen druck einerseits von verbänden us-amerikanischer vietnamveteranen , andererseits der feministischen bewegung mit ihrer thematisierung der folgen von gewalt gegen frauen und kinder erst vor ca. drei jahrzehnten in die dsm-klassifikation der us-amerikanischen psychiatrie aufgenommen wurde, ein lehrstück für sich (mehr dazu z.b. im buch "die narben der gewalt" von judith herman, siehe literaturliste). bis heute ist sie vieldiskutiert und im fluß; in letzter zeit wird v.a. ihre beschränkung auf extremereignisse (bzw. das, was als solches wahrgenommen wird) und ihre zu enge definition der möglichen traumafolgen kritisiert (mehr dazu z.b. in einem interview der aktuellen ausgabe von psychologie heute, leider bisher nicht online verfügbar). ebenso wird v.a. der zusammenhang mit verschiedenen persönlichkeitsstörungen wie borderline, der dissoziativen ps sowie in geringerem ausmaß auch der narzisstischen ps diskutiert. alle diese fragen verdienen eigentlich eigene beiträge, und zumindest einiges davon soll auch zuküftig hier im blog zu lesen sein.

bei den recherchen zum letzten beitrag jedoch ist mir wieder ein text unter die augen gekommen, der mich bereits beim ersten mal sehr beeindruckt hat, weil er imo gut nachvollziehbar deutlich macht, wie aktuelle konflikte und krisen sozusagen einem unsichtbaren drehbuch folgen, welches in den jeweiligen individuellen - und zusammengenommen dann auch kollektiven - erlebnissen der vergangenheit wurzelt. wegen der eigenart der traumatischen gedächtnisspuren in ihrer form als abgespaltene seperate neuronale netzwerke taucht auch öfter der begriff "eingefrorene zeit" auf, die dann in symptomen wie z.b. flashbacks wieder "auftaut" und die aktuelle raum-zeit-wahrnehmung der betroffenen im extremfall völlig überlagern kann. wie dieser und womöglich auch andere mechanismen einfluß auf aktuelle krisen und konflikte wie z.b. den israelisch-palästinensischen haben, ja diese durch die beteiligten psychophysischen prozesse primär überhaupt erst mit ihren destruktiv-gewalttätigen "lösungsversuchen" möglich machen, wird durch u.a. die arbeiten und ansätze des israelischen psychologen dan bar-on deutlich. auszüge:

(...) "Überlebende des Holocaust sind meist schwer traumatisiert. Das Verschweigen der erlittenen Erniedrigungen ist auch eine Strategie der Rückkehr in ein normales Leben. Im Israel der fünfziger und sechziger Jahre, einer Nation der Starken und Siegreichen, war für eine ausführliche Würdigung dieses Leids der Opfer, außerhalb der offiziellen Gedenkrituale, kein Raum. Auch für die Nazitäter war das Verschweigen ihrer Taten und das Verleugnen der Verantwortung für den Massenmord eine Grundbedingung dafür, in bürgerlicher Normalität weiterzuleben. Auch im Land der Täter war das Verdrängen Teil der offiziellen Kultur: Erst Anfang der 60iger Jahre, fast zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, wurde durch den Frankfurter Auschwitzprozess mit der öffentlichen Aufarbeitung des Holocaust begonnen. So hatte z. B. Hertha F., die 1992 in Wuppertal mit dabei war, erst im Alter von 20 Jahren durch die Verhaftung ihres Vaters und den anschließenden Prozess davon erfahren, dass als er SS-Offizier an Massenmorden in der Ukraine beteiligt war. Die Erkenntnis, einen Massenmörder zum Vater zu haben, bestimmte ihr weiteres Leben.

Verdrängen und Verschweigen machen auf die Dauer krank, physisch und psychisch, was immer die kulturellen Ursachen und die gesellschaftlichen Kontexte dieser Sprachlosigkeit sind. Einer strukturellen Ähnlichkeit der Leiden von Täterkindern und Opferkindern in ihren Auswirkungen auf das Individuum war Dan Bar-On auf die Spur gekommen, nachdem er in den siebziger und achtziger Jahren in seiner therapeutischen Praxis mit den traumatisierten Holocaustopfern gearbeitet hatte, die an Spätfolgen litten. Er begann sich zu fragen, wie es wohl den Kindern der Täter ergangen sei. Da sich bisher noch niemand dafür interessiert hatte, macht Dan Bar-On dies zu seinem Forschungsthema.

Als Angehöriger einer Nation, die ihre Entstehung aus dem Holocaust definierte, war er niemals „unabhängiger Wissenschaftler" oder „objektiver Beobachter", sondern aufgrund seiner Biografie, stets als Beteiligter und Betroffener in den Forschungsprozess involviert. (...)"

"Dass der Holocaust bei den Nachkommen von Tätern und Opfern immer präsent ist, sei unvermeidlich, resümiert Dan Bar-On seine Untersuchung. Doch der negative Einfluss auf das Leben kann durch den bewussten Verarbeitungsprozess, der im TRT-Dialog stattfindet, vermindert werden. Die Folgen werden weniger bedrohlich und selbstzerstörerisch, denn durch den Dialog wird es allen Betroffenen möglich auf eine erträgliche Art damit zu leben.

Auf ihrem sechsten Treffen 1997 beschloss die TRT-Gruppe, ihrer Arbeit eine neue Qualität zu geben: Sie wollten die eigenen positiven, als heilsam erlebten Erfahrungen mit der dialogischen Aufarbeitung des eigenen Traumas, das Teil eines kollektiven Traumas ist, an Menschen weitergeben, die in aktuellen Konflikten leben. Die Hamburger Körber-Stiftung unterstützte diesen Schritt. So trafen sich im Frühsommer 1998 in Hamburg Mitglieder der TRT-Gruppe mit eingeladenen Multiplikatoren aus Ländern die jahrzehntelange Konflikte erlebt hatten: Katholiken und Protestanten aus Nordirland, Farbige und Weiße Südafrikaner und sowie Palästinenser und Israelis. Dabei erlebten die Beteiligten, welchen Unterschied es macht, ob der Dialog über einen historischen oder gegenwärtigen Konflikt geführt wird. Miriam K. erinnert sich, wie sie unbedingt an der Südafrikagruppe teilnehmen wollte, dann aber begriff, dass sie sich dem israelisch-palästinensischen Konflikt stellen musste. Das Anhören der palästinensischen Geschichten war für sie fast unerträglich: „Als der erste Palästinenser über sein Leben, seine Vergangenheit, seine aktuelle und schmerzhafte Realität in der West Bank sprach, stellte ich fest, dass ich in der Defensive war und mich peinlich berührt, geschockt und verärgert fühlte. Es fiel mir sehr schwer zu glauben, es handele sich keineswegs um eine Ausnahme und deshalb sei es unfair, so zu tun, als sei es die >Normalität< für Palästinenser. Natürlich traute ich mich nicht, diese Gedanken zu äußern."

Wieder erzählte Miriam K. ihre Geschichte als Nachkommin von Holocaustopfern, doch diesmal erlebte sie, wie die eigene Opfer-Identität zu bröckeln begann: „Als der nächste Palästinenser sprach, wand ich mich. Schon wieder war es eine Geschichte über Verfolgung, Angst und unerträgliche Erniedrigung. Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Wie war das möglich? Je mehr ich hörte, desto mehr schauderte ich. Es war mir peinlich, Jüdin zu sein. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass meine jüdischen Mitmenschen diesen Leuten solchen Schmerz und solches Grauen zufügten. Ich wollte ihre Taten verteidigen, sie als ein Bedürfnis nach Sicherheit für Israels Bestreben, sich vor Terrorismus zu schützen, begründen. Aber ich konnte mich nicht einmal mich selbst davon überzeugen, dass diese Gründe gut genug waren. Ich war erschöpft und wünschte, ich wäre woanders."
(...)
"Ein Verständnis, das zunächst äußerst fragil war und durch die Frage einer Palästinenserin, die die Realität des Holocaustes in Frage zu stellen schien, wieder zu zerbrechen drohte. Martin Bormann wurde nun mit seiner Geschichte zum glaubwürdigen Zeitzeugen: „Die Palästinenser hörten ihm offensichtlich gebannt zu. Die ganze Situation war unwirklich: Juden versuchten, Palästinenser von der Bedeutung und Wahrheit des Holocaust zu überzeugen, während der Sohn eines berühmten Nazi-Täters die Fakten aufzählte." Mehr als ein Jahr nach dem Hamburger TRT-Dialog, reflektiert Miriam K. ihre Erfahrung so: „Noch einmal war meine Weltsicht erschüttert worden. Meiner Ansicht nach waren Juden immer die Opfer, aber diese Position kann ich nun nicht mehr aufrecherhalten. Der Workshop in Hamburg hat mich aus dieser Opferkategorie herauskatapultiert, und ich musste mir einen neuen Platz suchen. Ich bin unserer Konfliktgruppe für den Mut und die Offenheit, ihren Schmerz mitzuteilen, sehr dankbar. Sie ging mit unbequemen Tatsachen um und ließ neue Informationen an sich heraus, die für sie eine Herausforderung darstellten.(...)"


ähnliche prozesse im hintergrund, wie sie hier deutlich werden, können Sie getrost überall dort voraussetzen, wo es langjährige konflikte, kriege und diktaturen gibt bzw. gab. und die weitgehend hilflosen "lösungsversuche" der "offiziellen politik", die sich meistens in medienwirksamen gewaltmaßnahmen manifestieren, können natürlich nichts tatsächlich verbessern, sondern dienen eher - und diese erkenntnis verdanken wir u.a. deMause - den psychophysischen bedürfnissen des diese "politikerInnen" wählenden publikums, welches in seine ganz eigenen bewältigungsversuche verstrickt ist. was nicht ausschliesst, dass gewaltmaßnahmen im einen oder anderen fall auch rational angebracht sein können, um das ausagieren von extremer destruktivität überhaupt erst einmal als voraussetzung für alles andere zu unterbinden. das scheint jedoch bis heute regelmässig eher ein zufälliger nebeneffekt zu sein, der zudem in keinerlei relation zu den realen folgen kriegerischer gewalt und alleine schon deren drohung - "Oft fühle ich nichts, gar nichts" - steht, und kann von daher als behauptete motivation nicht ernstgenommen werden. manchmal werden die tatsächlichen motivationen, wie von deMause im falle der kriege gegen den irak untersucht, jedoch deutlich:

"Zwischen 1991 und 1998 starben laut UNICEF 500 000 irakische Kinder unter 5 Jahren. “Rechnet man die Erwachsenen noch hinzu”, so Halliday, “liegt die Zahl mit ziemlicher Sicherheit bei über einer Million”. 1996 wurde Madeleine Albright zum aktuellen Zeitgeschehen befragt. Die Sendung im amerikanischen Fernsehen hieß ‘60 Minutes’. Albright war damals US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Frage: “Wie wir hören, starben (im Irak) eine halbe Million Kinder... ist es den Preis wert?” Albrights Antwort: “Wir glauben, es ist den Preis wert.” Der Sender CBS weigert sich seither, die Aufzeichnung des Interviews freizugeben, und der (interviewende) Reporter ist zu keiner Diskussion bereit."

unsere schwierigkeit wird zunächst sein, so glaube ich aus meiner ganz persönlichen erfahrung, die pure realität derlei niederträchtiger bösartigkeit überhaupt ersteinmal wahrzunehmen , und zu realisieren, dass in unserer wahrnehmungssperre und verleugnung gleichzeitig informationen zu unseren ganz eigenen persönlichen geschichten gestaut sind, die wir lieber nicht so genau wissen möchten. darauf können sich unsere beherrscher bisher verlassen. noch...

Dienstag, 8. November 2005

assoziation: "infantizid" oder: eine (viele) welt(en) des terrors und ihre konsequenz

so lassen sich die im bereits neulich hier kurz vorgestellten buch "Das emotionale Leben der Nationen" des us-amerikanischen psychohistorikers lloyd deMause präsentierten thesen kurz und prägnant auf den punkt bringen. ich konnte es mir (auch mithilfe der ersten spende, vielen dank nocheinmal!) inzwischen anschaffen, habe es zum großteil gelesen und nun das dringende bedürfnis, es vorzustellen. der verlag wirbt auf der rückseite mit dem satz "wer sich auf dieses buch einlässt, wird die welt mit anderen augen lesen als zuvor", was für mich normalerweise einer dieser sätze ist, welche sofort eine gewisse skepsis auslösen - in diesem fall kann ich der aussage aber größtenteils zustimmen, und auch das wort "lesen" macht einen tieferen sinn: deMause schlägt nämlich vor - ober besser: fordert -, diejenigen sozialen strukturen/ereignisse, die wir uns angewöhnt haben, als "politik" oder "religion" zu bezeichnen, völlig anders zu begreifen bzw. endlich zu dechiffrieren: nämlich als re-inszenierungen, oder auch endlosschleifen der wiederaufführungen von eindeutig traumatischen prä-, peri-, und postnatalen kindheitserfahrungen. ich zitiere einfach mal einen längeren auszug aus dem vorwort, um das besser deutlich zu machen:

"Dieses Buch macht deutlich, dass die Ursachen von sozialer Gewalt und menschlichem Leid zu einem nicht geringen Teil in einem versteckten Holocaust an Kindern zu suchen sind, der sich quer durch die Geschichte zieht: Routinemäßig und zu Milliarden wurden menschliche Wesen von ihren Eltern oder von anderen Autoritätspersonen ermordet, gefesselt, ausgehungert, missbraucht, verstümmelt, geschlagen und gequält, sodass sie zu emotional verkrüppelten Erwachsenen heranwuchsen, zu rachsüchtigen Zeitbomben, die ihre frühen Traumata in Opferriten, die man Kriege nennt, periodisch wieder aufführen.

Einiges in diesem Buch wühlt auf und ist trotz der zahlreichen historischen, anthropologischen, klinischen und neurobiologischen Beweise, die ich anführe, schwer zu glauben. Gezeigt werden soll damit, warum die bisherige Geschichte eine Schlachtbank war; warum sozialen Veränderungen stets ein Wandel in der Kindererziehung vorausgeht; wo wir heute in der Evolution der menschlichen Natur stehen; und was wir tun können, um das Leben von Kindern zu verbessern und eine friedlichere, auf Vertrauen gegründete Welt schaffen. Das Buch will
  1. eine psychogene Geschichtstheorie zur Verfügung stellen, welche die Frage nach dem "Warum" beantwortet - eine Theorie der historischen Motivation als psychohistorische Alternative zu den soziogenen Theorien anderer Sozialwissenschaften.
  2. zeigen, dass die Evolution der Kindererziehung eine eigenständige Ursache historischer Veränderung ist, wobei zunehmend auf Liebe und Vertrauen begründete Eltern-Kind-Beziehungen einen zentralen Faktor für historischen Fortschritt darstellen, für die Herausbildung neuer Erscheinungsformen der menschlichen Natur, die ich als neue Psychoklassen bezeichne, und die ihrerseits die sozialen Institutionen verändern.
  3. darlegen, dass der historische Fortschritt weniger von politischen Veränderungen oder militärischen Eroberungen als von den alltäglichen Lebensumständen beeinflusst wird - vor allem von dem, was innovative Mütter und ihre verheißungsvollen Töchter leisten.
  4. darauf hinweisen, dass eine psychohistorische Betrachtung politisches, religiöses und soziales Verhalten als Wiederaufführung früher Traumata erkennen lässt, die im Gehirn in eigenen neuronalen Netzwerken abgespeichert sind.
  5. nahe legen, dass soziale Institutionen nicht nur zweckmäßig sind, sondern darüber hinaus den Ansatz zu einem kollektiven Umgang mit emotionalen Problemen bilden, die auf Ängste im Zusammenhang mit unserer Suche nach Liebe zurückzuführen sind.
  6. erklären, wie eine neues psychohistorisches Werkzeug - die Fantasie-Analyse - bei der schwierigen Dekodierung unserer kollektiven Emotionen und historischen Gruppenfantasien helfen kann
  7. zeigen, dass Gruppen sowohl aus Rache für erlittene Kindheitstraumata als auch um sich von Gefühlen der eigenen Sündhaftigkeit zu befreien, in den Krieg ziehen - in der Hoffnung auf Reinigung und Wiedergeburt durch die Opferung dessen, was den "schlechten" Teil ihres Selbst repräsentiert.
  8. darlegen, dass Kriege und Rezessionen periodisch wiederkehrende manisch-depressive Gruppenpsychosen sind, die einer emotionalen Wachstumspanik entspringen.
  9. Antwort darauf geben, warum Empathie für Kinder sich historisch gesehen spät und ungleichzeitig durchgesetzt hat und aufzeigen, wie die Welt sich in einem Wettrennen zwischen der sich langsam verbessernden Kindererziehung und einer sich rapid entwickelnden destruktiven Technologie befindet
  10. eine neue Hoffnung für die Menscheitsgeschichte sichtbar machen, einen Weg, den Gesellschaften gehen könnten, indem sie Eltern helfen, ihren Kindern liebevoller zu begegnen, damit der Gewalt gegen Kinder ein Ende gesetzt wird - und damit letztendlich auch Kriegen und sozialer Gewalt. (...)
(lloyd deMause, "das emotionale leben der nationen", drava, klagenfurt 2005; s.6/7; isbn 3-85435-454-1)


der begriff "milliarden" zu beginn ist keine übertreibung vor dem hintergrund der schätzung, dass es in der menschlichen geschichte bis heute etwa 80 milliarden (!) geburten gegeben haben soll, wobei die weitaus meisten dieser babys aber nur tage oder stunden überlebt haben - und zwar größtenteils aufgrund von aktivem oder passiven (durch schlichte extremvernachlässigung) mord.
das buch ist insgesamt, gerade durch die fundierte material- und belegfülle bzw. die art dieser belege, extrem verstörend ("aufwühlend" ist eine untertreibung) - ich habe nun bestimmt schon viel gräßliches zeug aus der menschlichen historie in worten und bildern beschrieben gesehen (und bei mir und anderen die unterschiedlichen folgen erlebt) - aber das, was hier beschrieben wird, hat mich beim lesen immer wieder zu pausen veranlasst und der frage, ob ich mir jetzt lieben die decke über den kopf ziehe, oder doch lieber vor wut an die decke gehen soll. extreme hard stuff, und schwer triggernd! das meiste ist dabei imo vom reinen wissen her noch nicht mal so neu, aber bis heute offensichtlich lediglich im bewußtsein von spezialistInnen auf dem gebiet der historischen kindererziehung und -behandlung präsent. und es wird höchste zeit, dass sich das ändert! auch, wenn das für die meisten mitmenschen ebenfalls schwer verstörend sein wird - und etliche es ebenfalls "schwer zu glauben" finden werden. wobei gerade diese reaktion bereits zum thema gehört...

ebenfalls ist zu wünschen, dass sich auch die bisher hier im blog nur angedeuteten erkenntnisse über das pränatale menschliche leben rasch herumsprechen - deMause präsentiert da eine imo sehr gelungene und kompakte zusammenfassung dieses wissens, auf die ich zukünftig auch zurückgreifen werde (im netz war bis zu jahresbeginn eine pdf-datei aus österreich zum thema vorhanden, die aber leider nicht mehr auffindbar ist).

anhand der oben zitierten zehn punkte möchte ich kurz meinen sonstigen eindruck und auch kritik loswerden:

1. der anspruch ist unbescheiden, und ich bin gespannt auf reaktionen gerade aus den benannten "anderen sozialwissenschaften". ich selbst finde den psychohistorischen zugang inspirierend, gerade weil er einen plausiblen sinn bzw. eine innere - und nachvollziehbare! - logik besonders hinter schwer destruktiven ereignissen erkennen lässt, bei denen die erklärungsansätze anderer wissenschaftsbereiche entweder unbefriedigend ("es sind die gene" oder wahlweise "die menschliche natur") oder schlicht nicht vorhanden sind. ergänzend macht dieser ansatz auf jeden fall sinn - ob es mehr sein wird, wird die zukunft zeigen müssen. speziell problematisch finde ich - trotz der durch seine arbeit entstandenen distanz, die er selbst thematisiert - den bezug von deMause auf verschiedene psychoanalytische ansätze. dazu mehr unten.

2. das gelingt ihm recht überzeugend, wie ich finde. und diese these ist für sich sehr interessant.

3. etwas unvollständig, zumal gerade die genannten faktoren ständig neue traumata in epidemischen dimensionen produzieren, und gerade dadurch das alltägliche leben wiederum negativ beeinflussen. dann aber: die mütter und ihre töchter. gerade für mütter wird dieses buch an vielen stellen unerträglich sein, kann ich mir vorstellen - einmal durch die schiere wucht der destruktivität, die hier dokumentiert wird; zum anderen aber gerade dadurch, dass deMause soetwas wie eine täterin-opfer-dialektik gerade bei müttern sichtbar werden lässt. hier hilft es nur, sich klarzumachen, dass es nicht um "schuld"zuweisungen oder moralische verurteilungen gehen kann (die sind selbst nach meinem eindruck bereits ein teil der erwähnten re-inszenierungen), sondern mütter sollten sich eher über die enorme macht klarwerden, die ihnen ihre position gibt. für sog. "maskulinistische" männer gibt es keinerlei gründe, sich die hände zu reiben - mütter UND väter sind in unterschiedlichem ausmaß an dem desaster beteiligt, und frauen und männer allgemein in dieser dynamik zu einem destruktiven knäuel verwoben. jeder täter war einmal opfer!, das gilt selbst für die so called echten psychopathen, bei denen ihre verheerende entwicklungsvariante sehr wahrscheinlich bereits pränatal vorherbestimmt wurde. indirekt aber wiederum auch durch die lebensbedingungen ihrer mütter, die wiederum...die endlosspirale des grauens.

4. ein kräftiges "ja"! hieraus lassen sich auch notwendige ansätze eines realistischen und tatsächlich diesen namen verdienenden politisch-emanzipatorischen programms entwickeln, welches die auflösung der ursachen und folgen der vorhandenen und belegbaren epidemischen traumastörungen auf allen kontinenten als beseitigung des absoluten hindernisses nr.1 für jeglichen sozialen fortschritt zu betrachten hat. ohne verständnis der dynamik von traumatischen strukturen ist bspw. der ewige israelisch-palästinensiche konflikt nicht einmal ansatzweise zu verstehen, geschweige denn zu lösen! und das gilt für die allermeisten derjenigen krisen und konflikte, die Sie heute abend in der tagesschau oder morgen in Ihrer zeitung vorgeführt bekommen. und das bisherige wissen über die neurobiologischen prozesse bei zwischenmenschlicher gewalt jedweder art zwingt auch auch dazu, sich z.b zu fragen, auf was für einem menschenbild eigentlich die institution justiz aufbaut - die begriffe "freier wille", "verantwortlichkeit" und "determinierung" werden über kurz oder lang neu definiert werden m ü s s e n, so meine prognose. warum? weil unter dem terror des traumas solche konstrukte erstens absolut keinen sinn machen - dissoziative trancezustände in massendimensionen (die zb. gerade bei den unruhen in frankreich eine hauptrolle spielen) sowie zwanghafte und suchtartige handlungen aller art relativieren jedwedes konstrukt von "verantwortlichkeit" und "freier entscheidung" auf das nachdrücklichste -, sondern selbst als abwehrkonstruktionen gerade des bereiches im menschen zu sehen sind, der sich bei nicht mehr anders zu verarbeitender überwältigender bedrohung selbst aktiviert: das objektiv(istisch)e bewußtsein, welches die "heimat" aller geistigen konstruktionen bildet - und eben auch die "verantwortlichkeit", unabhängig von jedem gegebenen materiellen (neuropsychologischen) zustand, kreiert hat. diese art von "verantwortlich-sein-fühlen-müssen" jedoch ist nichts weiter als ein knüppel, und produziert unter traumabedingungen bestenfalls letztlich nur erzwungene simulationen von verantwortlichkeit, ohne das die betroffenen tatsächlich etwas derartiges spüren würden - "als-ob". dahinter steckt u.a. auch eine fiktion von autonomie, gerade im "bürgerlichen" bewusstsein, welches sich auf diese art auch um die erkenntnis der eigenen realen determiniertheit und der vielfältigen abhängigkeiten herum"lügen" kann.

5. ja. institutionen sind von multidimensionaler funktionalität, und erfüllen gerade für die emotionalen bedürfnisse ihrer angehörigen wichtige zwecke. schwierig wird´s mit der postulierten allgemeingültigen suche nach liebe - möglicherweise existieren unter uns zunehmend mutationen, bei denen ihre gene und die neuronalen netzwerke dafür gesorgt haben, dass die jahrtausendealte erfolglose und lebensgefährliche suche nach liebe aufgegeben wurde zugunsten eines ganz neuen existenzmodus, bei dem das subjekt (oder, in diesem fall, besser objekt!) anscheinend (!) nicht mehr auf soziale beziehungen jeder art angewiesen ist - ein name für eine derartige mutation könnte autismus lauten.

6. das macht sein buch "reagans amerika" besser klar, wie ich finde.

7. hier wird einiges über den begriff des opfer deutlich, gerade im religiösen kontext, was ich sehr aufschlussreich finde.kriege sind für deMause generell als opferrituale zu verstehen, die ihre wurzel allerdings im religiösen haben. und dazu laufen seine thesen darauf hinaus, dass jede (!) religion auf dissoziativen zuständen mitsamt den diese zustände begleitenden "alter egos" - ausdruck hochorganisierter neuronaler sub-netzwerke, wie sie bspw. auch bei multiplen persönlichkeiten eine rolle spielen - basiert, also einen verarbeitungsversuch traumatischer erlebnisse, darstellt. bin sehr gespannt, was der olle papst dazu sagen wird.... (das belegmaterial dazu von deMause stammt aus allen kontinenten und allen möglichen kulturellen phasen, und umfasst sog. naturreligionen ebenso wie die "großen" weltreligionen).

8. der punkt mit den tatsächlich recht sonderbaren periodischen ökonomischen rezessionen innerhalb "entwickelter" gesellschaften dürfte nicht nur für bwl´er interessant sein. er klärt auch darüber auf, warum trotz allgemeinen reichtums einer gesellschaft ungerechte verteilung und die existenz von armen und reichen ein zwingendes kollektives bedürfnis darstellen könnten, und soziale rasiermesser alá "hartz IV" ebenso als opferwerkzeuge begriffen werden können wie ein krieg.

9. "ungleichzeitig" ist ein gutes stichwort - habe mir heute seit langem mal wieder ein boulevard-blättchen, und zwar die hamburger morgenpost gekauft - wegen der folgenden schlagzeilen: Senatorin rechtfertigt sich, und Ließen sie ihr Kind krepieren?

erinnern Sie sich...? ein regelrechter schock nach der lektüre von deMause war für mich die erkenntnis, dass derartig abgrundtief-gefühllose, sinnlos-brutale und bösartig-niederträchtige behandlung von kindern alleine wegen ihrer bloßen - störenden - existenz über jahrtausende den normalfall in fast allen menschlichen kulturen dargestellt hat. das war mir so nicht klar, und ich finde diesen brocken immer noch unverdaulich. was in den hier im blog bisher dokumentierten geschichten von kindermorden und -misshandlungen sichtbar wird, war bis vor ein paar jahrzehnten mainstream im umgang mit kindern, besonders in deutschland! auch und gerade in solchen extremen formen, wie sie heute - was ein ausdruck von echtem sozialen fortschritt ist - bei vielen menschen entsetzen hervorrufen. und trotzdem existieren die verschiedenen historischen modi von kinderbehandlung in einer gesellschaft gleichzeitig fort - wie finden Sie diese vorstellung? und wundern Sie sich vor diesem hintergrund noch wirklich darüber, warum ein ganz offensichtlich schwer soziopathischer mann wie hitler in diesem land an die macht kommen konnte? ein land, in dem kinder immer noch nach den vorstellungen einer nicht geringen zahl von leuten alles andere als kinder sein dürfen/sollen? aus kindern werden erwachsene, die nichts wirklich vergessen. punkt.

10. ach, wie gerne würde ich die hoffnung teilen können...alleine: es gibt da eine sache, oben schon angesprochen, namens autismus. und hier komme ich auch auf einen anderen punkt von oben zurück: mein hauptkritikpunkt - bisher - ist der imo von deMause unreflektierte bezug auf psychoanalytische ansätze bei seinen interpretationen. der bereits oft erwähnte j.e. mertz hat in seinem buch eine begründete schwere kritik an der psychoanalyse als ganzes geübt, die u.a. deren ignoranz gegenüber "als-ob"- und anderen simulationsphänomenen thematisiert. bei deMause kommt diese ignoranz dann zum vorschein, wenn er zwar dauernd die offensichtliche empathie- und allgemeine gefühllosigkeit bei den erwachsenen erzieherInnen korrekt wahrnimmt und beschreibt, aber dennoch äusserungen wie "erst schläge, dann liebe" oder auch "wer sein kind liebhat, der züchtigt es" unkommentiert hinnimmt - und es damit unterlässt, auf die unmöglichkeit des vorhandenseins von liebe vor dem hintergrund realer brutalität hinzuweisen. von liebe kann in den dargestellten szenarien absolut keine rede sein. er thematisiert stattdessen die mögliche angst vor liebe, was ein alternativer ansatz sein kann. aber nicht die sehr ungute möglichkeit, dass es sich zumindest bei einem teil der dargestellten erwachsenen um funktionell oder strukturell autistische personen handeln könnte, die aufgrund ihrer eigenen gewalterlebnisse (auch die von mertz als hypothese eingeführte "pränatale umprogrammierung" wäre als eine sehr spezifische art von gewalt aufzufassen!) in dem sinne quasi-mutiert sind, wie ich es unter punkt 5 kurz umrissen habe. der heutige wissensstand um genetik und neurobiologie, von ihm gut in teilen wiedergegeben, gibt für die möglichkeit einer solchen entwicklung durchaus material her, wie ich finde - und alleine eine solche verheerende perspektive als möglichkeit unserer kollektiven entwicklung müsste allgemeinen alarm auslösen!

soweit für den moment - lesenswert ist dieses buch auf alle fälle, und mich würden andere meinungen hier sehr interessieren.

Samstag, 5. November 2005

kontext 12: weitere infos aus der hirnforschung zum autismus

dem hinweis eines lesers (nochmal danke dafür!) verdanke ich die kenntnis von mehreren älteren forschungsprojekten zum autismus mit einigen sehr aufschlussreichen ergebnissen. einmal wäre da ein bericht zur - im wahrsten sinne des wortes - hier schon häufiger thematisierten auffälligen objektwahrnehmung, bzw. möglichen gründen dafür:

"Menschen mit Autismus und dem verwandten Asperger Syndrom nehmen Gesichter quasi wie unbelebte Objekte wahr. Das berichten Forscher der Universität Yale aufgrund von funktionellen Kernspinuntersuchungen (fMRI) des Gehirns. "Diese Ergebnis ist sehr überzeugend, da es mit unseren klinischen Erfahrungen mit Autismus zusammenpasst", erklärte Studienleiter Robert Schultz."
(...)
"In der dreijährigen Studie haben der Neuropsychologe Schultz und seine Kollegen ermittelt, dass Personen mit Autismus bei Gesichtswahrnehmung verminderte Aktivität im Gyrus fusiforme zeigen, der Großhirnwindung, die bei Gesichtserkennung aktiv ist. Gleichzeitig fanden die Forscher, dass eine benachbarte, für Objekterkennung zuständige Hirnregion bei diesen Patienten aktiver war. Die Schwierigkeit, Menschen anhand ihrer Gesichter zu erkennen und mit ihnen umzugehen, ist für dieses psychische Leiden charakteristisch. "Personen mit Autismus und Asperger haben sehr wenig Interesse an Menschen, und unsere Studie zeigt, dass dieses Desinteresse sich wiederspiegelt in der Art, wie die Zentren für optische Verarbeitung in ihren Hirnen organisiert sind."


wenn Sie sich vor augen halten, dass das autistische spektrum in den hier im blog vorgestellten erscheinungsformen aufgrund theoriebedingter und struktureller (wahrnehmungs-) defizite in psychiatrie/psychologie möglicherweise wesentlich größer ist, als allgemein angenommen wird, erhält der satz "haben sehr wenig Interesse an Menschen" gleich einen unheilvollen unterton. die benannte eigenschaft lässt sich in ihren konsequenzen jeden tag in den nachrichten studieren.

*

die überschrift des nächsten artikels, "Autisten fühlen sich mit Logik ein", stellt bereits einen widerspruch in sich dar - konsequenterweise müsste hier von objektivierender simulation von empathie gesprochen werden - eine als-ob-variante davon:

"Mitgefühl als "mentale Arithmetik"

Eine Londoner Wissenschaftlerin hat drei Gehirnregionen identifiziert, die bei gesunden Menschen vermutlich für das Einfühlungsvermögen zuständig sind, berichtet das Wissenschaftsmagazin "New Scientist". Autisten dagegen versuchen sich mit Hirnregionen des reinen Verstandes in andere Menschen einzufühlen, sagte Francesca Happe auf der Konferenz der Britischen Psychologischen Gesellschaft in Glasgow."


wie hier bereits zu lesen war, spielen nach den neuesten forschungen sowohl die spiegelneurone als auch die propriozeptive wahrnehmung eine wichtige, wenn nicht eine entscheidende rolle für die fähigkeit zur empathie. leider werden die drei gehirmregionen nicht genauer präzisiert.

Bei den gesunden Versuchspersonen stellten die Forscher in drei Hirnregionen eine erhöhte Aktivität fest. Die autistischen Probanden dagegen nutzten ganz andere Gehirnbereiche, um die Aufgaben zu lösen. "Es scheint, dass sie dazu eher den reinen Verstand als die soziale Intelligenz nutzten", erklärt Happe.

*

eine enorme brisanz in verschiedener hinsicht enthält aber besonders ein artikel unter der überschrift "Gestresste Schwangere bekommen häufiger autistische Kinder" - spontan werden Ihnen, falls bekannt, dazu die thesen von j.e. mertz hinsichtlich der borderlinepersönlihkeitsstörung einfallen, dazu ergeben sich von hier aus aber auch deutliche verbindungen zum gesamten bereich psychotraumata:

"Starker Stress der Mutter in der Schwangerschaft kann das Risiko für Autismus bei Kindern erhöhen. Das berichten amerikanische Hirnforscher auf dem Jahrestreffen der Neurologischen Gesellschaft in San Diego.

Belastende Ereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen oder der Verlust des Arbeitsplatzes können die Entwicklung des Gehirns der Ungeborenen beeinflussen und so zu Autismus führen, so die Wissenschaftler um David Beversdorf von der Staats-Universität Ohio. Bisher sahen Wissenschaftler die Gründe für die Krankheit vor allem in einem Defekt des Erbguts.

Die Wissenschaftler hatten 188 Frauen mit autistischen Kindern über den Verlauf ihrer Schwangerschaft befragt. Sie fanden heraus, dass diese Mütter zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche häufig durch schwere Schicksalsschläge belastet waren. In dieser Phase der Schwangerschaft entwickelt sich ein Teil des Gehirns, der bei Autisten anders ausgebildet ist.

Autismus ist eine Persönlichkeitsstörung, bei der die Patienten bereits im Säuglingsalter unfähig sind, Gefühlsbeziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. (...)"


klartext: hier geht es um die möglichkeit, das ereignisse, die üblicherweise als traumatisch beschrieben werden - wobei die oben angeführten beispiele noch nicht mal die variante von direkter psychophysischer gewalt gegen die schwangere benennen - verschiedene erscheinungsformen des autistischen spektrums hervorrufen könnten. was das in letzter konsequenz vor dem hintergrund der zustände auf diesem planeten bedeuten könnte, brauche ich regelmässigen leserInnen hier wahrscheinlich nicht näher zu erläutern.

Freitag, 4. November 2005

kontext 11: alexithymie oder: was ist das denn?

durchaus im direkten zusammenhang mit dem letzten beitrag ist die mir selbst erst seit kurzem bekannte diagnose alexithymie zu sehen - im beitrag einer institution des medizinbetriebs heisst es dazu u.a.:

"In den letzten Jahren sind immer mehr Patienten in Behandlung gekommen, die angeben, kaum oder gar nichts emotional zu spüren. In der modernen Forschung werden diese Patienten Alexithyme genannt, weil sie unfähig sind, Gefühle bei sich und anderen wahrzunehmen und darüber zu sprechen. Dabei handelt es sich um eine Art „Gefühlsblindheit“. Wenn diese Menschen versuchen, ihre Gefühle zu beschreiben, ist das ungefähr so, als redeten Blinde über Farben, wobei man spürt, dass ihnen die Sache grundsätzlich fremd ist. Dieses Phänomen ist häufiger anzutreffen als z. B. in den 70er Jahren angenommen wurde. Es betrifft Arme wie Reiche, Junge wie Alte und Männer deutlich häufiger als Frauen. Bei psychologischen Tests in Skandinavien erwiesen sich 13 % aller Probanden als alexithym, unter den Frauen waren es 10, bei den Männern 17 %. Fast jeder ist schon einmal Menschen mit Alexithymie begegnet, z. B. einem Buchhalter, der in der Mittagspause über nichts anderes als Bilanzen fachsimpelt."

mir persönlich ist dabei immer noch nicht so recht klar, wo hier eigentlich die unterschiede zu den diagnosen des "klassisch" autistischen spektrums liegen gemacht werden. wenn jemand von den leserInnen hier genaueres sagen kann - bitte sehr.
auffällig ist jedoch auch hier die im zitat erwähnte geschlechtliche verteilung. und das folgende klingt sehr ähnlich wie die im letzten beitrag dokumentierten stellungnahmen der autismus-forscherInnen:

"Dabei zeichnen sich Frauen zumeist durch eine höhere Fähigkeit zur Empathie aus. Ihre emotionalen Hirne können deutlich besser Regungen von Mitmenschen erkennen und deuten. Als typische Stärke der Männer hingegen wird das systematische Denken bezeichnet. Dabei sind Männer im Durchschnitt Frauen überlegen, sobald es sich um logische Schlussfolgerungen handelt. Anhand von Untersuchungen ist festgestellt worden, dass dieser technische Denkstil als ein charakteristisches Merkmal der Menschen mit Alexithymie bezeichnet werden kann. Oft fallen die Alexithymen auf den ersten Blick gar nicht auf."

ja. und mehr noch als das (jetzt folgt ein satz, bei dem ich Sie einfach drum bitten möchte, sich die bedeutung dieser aussage- einer medizinischen institution, wie gesagt - genauestens bewußt zu machen:

"In vielen Berufen sind Alexithymie-Eigenschaften in unserer Industriegesellschaft eine durchaus erwünschte Eigenschaft.
Daraus wird ersichtlich, dass es sich bei der Alexithymie nicht um eine Krankheit handelt."


ich bin immer wieder leicht fassungslos über die hier sichtbar werdende "logik" ("weil es nützlich ist, gefühllos zu sein, ist - kann - es nicht krankhaft sein"), obwohl ich diese aussage nun schon länger kenne. und diese logik passt verdammt gut zu anderen, ähnlichen phänomenen, die z.b. hier und hier thematisiert wurden.

das bild wird deutlicher.

kontext 10: autismus als extremvariante von männlichkeit? oder "männlichkeit" als autismusvariante?

in einem artikel auf spon wird heute eine these als angeblich neu vorgestellt, die bereits in den letzten jahren immer wieder in den v.a. wissenschaftlichen diskussionen zum autismus diskutiert wurde:

"Denn ihre These über das "Rain Man"-Syndrom und das Gehirn lautet, in Kurzform: "Autismus stellt eine extreme Form der männlichen Struktur dar." Von "beeinträchtigter Empathie" und "erweiterter Systemisierung" ist da die Rede.

Was bei Autisten mit "Systemisierung" gemeint ist, kennt man etwa aus dem Film "Rain Man" oder dem Roman "Buntschatten und Fledermäuse" von dem autistischen Autor Axel Brauns: Fahrpläne auswendig lernen, Kreuzworträtsel ausdenken, zum Vergnügen Telefonbücher lesen, von Straßennamen besessen sein, die Reihenfolge hunderter Spielkarten im Kopf behalten. Praktische, wenn auch im Alltag selten wirklich dringend nötige Fähigkeiten also. Normale Männer machen so etwas auch - in reduzierter Form. Zum Beispiel spielen Jungen lieber als Mädchen mit mechanischem Spielzeug und sind besser im Kartenlesen."
(...)
Autisten können sich gar nicht in die Lage anderer versetzten, sie haben keine "Theory of Mind", wie Psychologen das nennen: Sie wissen einfach nicht, was im Kopf ihres Gegenübers vor sich geht. Bei Männern, vermutet das Forscherteam vom Autism Research Center der Cambridge University, ist das ähnlich. "Wir haben festgestellt, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum eine übersteigerte Form des männlichen Profils aufweisen", schreiben die Wissenschaftler."


es steht ja noch die fortsetzung dieses beitrags aus, und ich werde da versuchen, auf die - hm, testosteron-hypothese näher einzugehen. die möglichen verbindungen des autistischen phänomens in all seinen erscheinungsformen zu den verbreiteten geschlechterstereotypen sind allemal einer näheren betrachtung wert (dazu gehört übrigens auch der überproportional hohe anteil an frauen mit borderlinediagnose). und - möglicherweise! - erleben wir mit dieser diskussion den beginn einer notwendigen neuformulierung von patriarchatskritik auf einer neurobiologischen basis. dabei wird es imo für alle beteiligten bisher unvorhergesehene kröten zu schlucken geben - meine ganz persönliche meinung dazu.

nachtrag: in der dem spon-artikel zugrundeliegenden pressemitteilung heisst es am ende:

Baron-Cohen betonte laut BBC, dass die Wissenschafter daran interessiert seien den Autismus zu verstehen. "Es geht nicht darum, wie man intervenieren, Autismus verhindern oder einen pränatalen Test entwickeln kann. Es gibt zwei ethische Bedenken: Ob es sich bei Autismus um eine Krankheit handelt und ob ein möglicher pränataler Test spezifisch oder genau genug wäre."


die anmerkungen zum pränatalen test - okay, aber die andere frage erinnert sofort an etwas ähnliches: "was nützlich ist, kann keine krankheit sein"

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