VERDAMMT.
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wie lange noch? wie viele noch?
edit: es ist kaum zu ertragen. und doch ist der folgende artikel voll von bitter nötigen informationen - nach dem ersten lesen einer der besten zum thema, die ich in mainstreammedien jemals vor die augen bekommen habe:
»Alle Formen von Gewalt beginnen mit der Entgleisung von Beziehungen, lange bevor die Gewalt selbst auftritt«
nur das "naturgesetz des welpenschutzes" wage ich zu bezweifeln - vor dem hintergrund der realen situation eine wunschvorstellung. genauso wie die verdrängung der tatsache, dass in deutschland mit beginn des letzten jahrhunderts noch lange nicht schluß gewesen ist mit den geschilderten methoden. letztlich - wie diese entsetzlichen geschichten zeigen - bis heute nicht. aber vielleicht lernen wir gerade tatsächlich, langsam und mit allerlei aussetzern, wahrzunehmen, was wir uns seit unzähligen generationen selbst antun.
war ja klar, das zu diesem thema noch einiges zu sagen bleibt - was sich auch nach meinen nachträgen zum gestrigen beitrag nicht ändern wird.
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im weitesten sinne zum komplex svv gehört folgende meldung:
"Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich unter Stressbedingungen typischerweise selbst Verletzungen zu und berichten dabei von reduzierten Schmerzen bis hin zu völliger Schmerzlosigkeit. Diesem Phänomen gingen Forscher um Dr. Wolfgang Greffrath (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Dr. Christian Schmahl (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim) auf den Grund: Sie fanden heraus, dass die Schmerzentstehung und -weiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und auch dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn zunächst normal reagieren. "Es muss sich also um einen völlig neuartigen neurobiologischen Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch eine aktive Leistung des Gehirns handeln", folgern die Forscher.
(...)
Somit bestätigt diese Studie frühere Befunde einer reduzierten Schmerzwahrnehmung bei Patientinnen mit BPS. Eine generelle Beeinträchtigung der sensorisch-diskriminativen Schmerzverarbeitung konnte jedoch erstmals vollständig ausgeschlossen werden. Die Wissenschaftler folgern, dass das periphere System der Schmerzwahrnehmung sowie die frühe Verarbeitung schmerzhafter Reize im Gehirn bei Patientinnen mit BPS vollständig intakt sein müssen und es sich um einen aktiven Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch das Gehirn handelt. "Der Schmerz wird als Ereignis zwar wahrgenommen, aber nicht als schmerzhaft empfunden, das heißt er wird subjektiv anders bewertet", sagte Greffrath."
auf die schlüsse, die daraus gezogen werden, bin ich sehr gespannt.
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thema piercing/tatto: mir ist schon früher dazu eingefallen, dass noch in den 1970er jahren tätowierungen - zumindest in dem mittelstandsbürgerlichen milieu, in dem ich aufgewachsen bin - eindeutig suspekt bis negativ kodiert waren. nämlich a) mit knast und unterwelt, b) mit seefahrer- und hafenmilieu, fließend übergehend zum bild des blutrünstigen tätowierten piraten. als ausnahme kamen noch musikerInnen hinzu. das waren auch unter "uns" jugendlichen damals die verbreiteten assoziationen, und ich kann mich an niemanden erinnern, der/die tätowiert gewesen ist - das hätte sofort einen subtilen, aber deutlichen sozialen druck für die person bedeutet. und piercing war natürlich völlig unbekannt und auch undenkbar.
nun lässt sich eine derartig unreflektierte spontane abwehr durchaus als spießig und reaktionär ansehen, wobei in den bildern zu den milieus, mit denen tattos verbunden wurden, auch ein realer kern drinsteckt. und in der rückschau finde ich es immer bemerkenswerter, wie sich innerhalb von ca. 25 - 30 jahren ein zuvor eindeutig stigmatisierten randgruppen zugeordneter style faktisch zu einem teil des heutigen normalen mainstreams entwickeln konnte. an etwas vergleichbares wie das sich erst in den 1990ern durchsetzende piercing (dessen quelle auch in der s/m-szene liegt), kann ich mich mit einer ausnahme nicht erinnern: und diese ausnahme bilden die durch backen und ohren gezogenen sicherheitsnadeln der frühen punks. ich war zu beginn der 80er jahre kurzzeitig einmal sympathisierend mit den punks, und habe dabei diverse leute kennengelernt, die ich von heute aus als eindeutig gestört ansehen muss - es waren damals bereits die ersten punkgenerationen dabei, richtung sucht - v.a. heroin - abzugleiten.
und wenn ich mir die oben beschriebenen wahrnehmungen so anschaue, beschleicht mich irgendwie ein mulmiges gefühl - ich frage mich, was die verbreitung von mehr oder wenigen rituellen elementen aus knast- und s/m-welten eigentlich tatsächlich bedeutet. womit ich nicht nicht sagen will, dass alle heutigen piercing/tatto-trägerInnen irgendwie als besonders gestört anzusehen seien. nicht gestörter als der rest der gesellschaft jedenfalls.
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ergänzung zum abschnitt über die pränatalen geschehnisse: es muss natürlich nicht unbedingt die erwähnte ablehnung der mutter als grund für pränatale schäden vorhanden sein. ebenso können belastende ereignisse jeglicher art und besonders gewalt gegen die schwangere für ähnliche entwicklungen sorgen.
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und wem die im letzten abschnitt erwähnten thesen von mertz zu den möglichen zusammenhängen zwischen politischer macht und borderline zu weit hergeholt erscheinen (auch vor dem hintergrund der tatsache, dass seine thesen in der "offiziellen" bl-debatte hartnäckig - und zum schaden aller, wie ich finde - ignoriert werden), sei auf folgende passage aus dem vorwort zum handbuch der borderline-störungen (siehe literaturliste) verwiesen - geschrieben von kernberg, dulz und sachsse, denen wohl kaum jemand einen outsider-status unterstellen kann:
"Borderlinestörungen sind Bestandteil gesellschaftlichen Verhaltens, sind ein Zeitthema. Das Thema Borderline geht alle an, schon alleine wegen der daraus resultierenden gesellschaftlichen und individuellen Schädigungen durch Drogendelinquenz, Körperverletzungen, Suizidhandlungen, innerfamiliäre Gewalt und Inzest, um nur einige Aspekte zu benennen, die über das persönliche Leid betroffener Patienten hinausgehen. Wir gehen davon aus, daß
- Borderline-Störungen durch gesellschaftliche Entwicklungen akzentuiert oder auch gebessert werden.
- gesellschaftliche Entwicklungen durch Borderline-Persönlichkeiten in leitenden politischen oder wirtschaftlichen Positionen akzentuiert werden (...)"
("handbuch der borderline-störungen"; vorwort s. VI)
nun, das dezent-elegante wörtchen "akzentuiert" kann dabei ruhig als "verschlechtert bzw. massiv zum schlechteren hin beeinflussend" gelesen werden. aber die eloquent formulierenden herren haben natürlich auch einiges an ruf und reputation zu verlieren. inhaltlich jedoch liegen sie vermutlich sehr nah an der realität (wenn dazu noch leute mit narzisstischer ps bzw. narzisstischen tendenzen sowie pure psychopathen berücksichtigt werden), und vor diesem hintergrund erscheinen äusserungen wie die hier zitierte des generalstaatsanwalts von berlin noch einmal eine ganze ecke dümmer und zerstörerischer als sowieso schon.
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und zum vorläufigen schluss noch zwei sätze aus den beiden zeitungsartikeln, über die ich gestern noch lange nachgdacht habe:
"Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht." (zeit)
"Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht." (taz)
ich frage mich schlicht und einfach - gerade vor dem hintergrund der in der letzten zeit hier näher vorgestellten ansätze von lloyd deMause -, ob diese wahrnehmungen eigentlich zutreffend sind, oder ob sie nicht eher darauf hindeuten, dass bereits seit jahrhunderten bestehende verhältnisse jetzt einfach anders bzw. überhaupt erstmalig breiter wahrgenommen werden. und letzteres wäre - paradoxerweise - überhaupt erst die grundlage für eine sehr, sehr langsam eintretende verbesserung der allgemeinen situation für kinder. verständlich, was ich meine? klar - und das ist hier im blog auch teilweise dokumentiert - existiert heute gewalt gegen kinder in teils unglaublichen formen. aber da das historisch nach psychohistorischer forschung jahrhunderte völlig "normal" war und niemanden interessiert hat, könnte der effekt heute, wo wir das zumindest immerhin in vielen fällen schon realistisch als gewalt wahrnehmen, eben vor einer fiktionalen und so niemals existierenden "besseren" vergangenheit tatsächlich so ausfallen, dass eine verschärfung der situation wahrgenommen wird. obwohl sich die realität langsam diesbezgl. bessert, zumindest in gesellschaftlichen teilbereichen.
soweit erstmal.
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edit am 29.11.: auch die frankfurter allgemeine hat vor zwei tagen einen artikel zum thema borderline gebracht, den ich zur information und unkommentiert hier verlinke.
da die zeit heute bereits mit dem zweiten artikel zum thema borderline diese woche herauskommt, nutze ich das dann gleich mal für einen schwerpunktbeitrag. dabei wird es mir weniger darum gehen, die an vielen anderen virtuellen stellen zu findenden "offiziellen" informationen hier nocheinmal wiederzugeben - interessierte seien z.b. auf den infoteil der borderline-community (siehe linkliste), die momentanen definitionen der diagnosenklassifikationen (dito) oder auch seiten wie die borderline-plattform oder das borderline-netzwerk verwiesen. zur entwicklung des begriffs und der diagnose gibt es hier eine zusammenfassung.
da ich selbst einige jahre "offiziell" mit dieser diagnose herumgelaufen bin (inzwischen ebenso "offiziell" nicht mehr), etliche gleich diagnostizierte menschen kennengelernt habe und dazu auch noch diverse ansichten und handlungsweisen von psychotherapeutInnen und psychiatrischen ärzten/fachkräften studieren konnte, schreibe ich hier also auch primär vor dem hintergrund eigener erfahrungen und den schlüssen, die ich heute daraus ziehe. der aktuelle artikel sowie ein älterer zweiter, auf den ich später zurückkomme, sind dabei ganz gute aufhänger, um die eben erwähnten schlüsse darzustellen.
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der artikel in der zeit ist dabei einer der wenigen mir bekannten, der sich zumindest bemüht, tiefer ins thema einzusteigen. und dabei aber aus gründen, die ich der autorin weder vorwerfen kann noch möchte, ebenso zwangsweise scheitert wie sogar diverse fachpublikationen.
etliche wichtige themen im bl-kontext werden ohne besondere reihenfolge angerissen - ich halte mich jetzt mal einfach an den artikel.
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"Die Theorie besagt, dass Selbstverletzungen den Betroffenen helfen, eine schier unerträgliche emotionale Spannung abzuleiten. Die Kranken sind gewissermaßen so außer sich, dass sie sich Schmerz zufügen müssen, um in die Gegenwart »zurückzukommen«.
hier hätte es heissen müssen: eine theorie unter mehreren. erstens ist "selbstverletzendes verhalten" (svv) nicht auf borderline beschränkt (auch autistische menschen sowie traumatisierte können dieses symptom entwickeln); zweitens taucht es nicht zwangsläufig bei borderline auf; drittens können die formen stark variieren (das "ritzen" ist dabei in gewisser weise eine der spektakulärsten und zugleich für die umgebung beunruhigendsten arten von svv); viertens sind die zusammenhänge zu - von der form her gleichartigen - initiationsriten anderer kulturkreise sowie die fließenden grenzen in die bereiche von extrempiercing und -tattoing imo noch nicht genügend untersucht; fünftens kann svv durch die eigenart der beteiligten psychophysischen prozesse - u.a. extreme endorphinausschüttung - im strengen sinne des wortes zur sucht werden; sechstens lässt sich das benannte "außer-sich-sein" als dissoziation begreifen; siebentens aber lässt sich auch die frage stellen, ob der begriff selbstverletzung überhaupt treffend ist:
"Im Grunde genommen dürften wir (...) gar nicht mehr von Selbstverletzung sprechen, erstens, weil die Verletzung nur bedingt ein Selbst trifft, sondern eher etwas nicht Ichhaftes (Fremdkörper als Außenweltsegment), zweitens deshalb, weil die vermeintliche Verletzung subjektiv-erfahrungsmäßig meist gar nicht als Verletzung im eigentlichen Sinne beabsichtigt ist und auch nicht so funktioniert, sondern eher wie die Einnahme eines Medikaments oder wie ein psychochirugischer Eingriff. Die angebliche Verletzung des "Selbst" ist ein rein objektiver Beobachterbegriff, der sofort (falsche) Assoziationen aus dem authentischen Erfahrungsspektrum aufruft und dem "auto"-destruktiven Akteur beharrlich übergestülpt wird, auch wenn der Akteur absolut nichts dergleichen im Sinn hat. Subjektiv-erfahrungsmäßig handelt es sich weder um Verletzungen noch um ein verletztes Selbst, sondern um gezielte Interventionen, d.h. regulierende Eingriffe in ein Fremdkörper-Geschehen, d.h. in ein nichtichhaftes Geschehen."
(j.e. mertz, "borderline...", s. 177; siehe literaturliste)
das, was mertz hier abstrakt ausdrückt, können Sie selbst an sich nachvollziehen: stellen Sie sich einfach vor, Sie hätten ein messer oder eine brennende zigarette in der hand und wären dazu aufgefordert, sich jetzt selbst schmerzen zuzufügen. nun? was nehmen Sie wahr? wie fühlt sich diese vorstellung an?
aus eigener erfahrung tippe ich darauf, dass Sie einen mehr oder weniger deutlichen, mehr oder weniger diffusen und primär körperlich fühlbaren widerwillen gegenüber dieser vorstellung wahrnehmen, vielleicht sogar eine art ekel, und das es unmöglich und völlig absurd erscheint, die geforderte aktion auszuführen. meiner meinung nach ist das ein (nicht das einzigste und entscheidende) indiz für psychophysische gesundheit.und macht gleichzeitig deutlich, wie verschoben gewisse verhältnisse und funktionen in der körperpsyche sein müssen, um zu so einem handeln zu kommen. Sie müssen sich tatsächlich in eine fiktive aussenposition jenseits des eigenen körpers begeben, die wahrnehmungsmässig als die "tatsächliche realität" empfunden wird, um den eigenen körper als objekt zu sehen - und derart die eben benannten und (hoffentlich) von Ihnen selbst gespürten widerstände zu umgehen. oder in mertz´scher terminologie: Sie müssen den eigenen körper als fremdkörper empfinden - und sich damit in eine strukturell autistische position der fiktiven körperlosigkeit bringen. ich kann mir keine andere allgemeingültige grundvoraussetzung für derlei aktionen vortellen.die für die betroffenen allerdings tatsächlich sinn machen und erleichternd wirken können. dabei scheint es übrigens weniger auf den reiz an sich anzukommen - einige spezielle borderlinetherapieformen arbeiten mit sog. skills, zu denen auch "ersatzangebote" für svv wie z.b. reizsetzung durch eisbeutel, scharfe gewürze im mund, kalte duschen u.ä. gehören - sondern tatsächlich primär um die tatsache, das eigene blut fließen zu sehen (was insbesondere psychoanalytische bl-professionelle schon zu einigen spekulationen zur symbolik veranlasst hat). das könnte auf eine ins symbolische verschobene re-inszenierung eigener erfahrener traumatischer verletzungen hindeuten, mit dem gleichzeitigen effekt eines entgegenwirkens gegen die damit verbundenen dissoziationen. wie gesagt: könnte.
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weiter im artikel:
"In der medizinischen Diskussion wird die Persönlichkeitsstörung Borderline mit einer ungünstigen Kombination biologischer und sozialer Faktoren erklärt: Wer genetisch vorbelastet ist, als Embryo im Mutterleib durch Alkohol geschädigt wurde und in der Kindheit oder Jugend ein tief verstörendes Erlebnis hatte – sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung –, ist besonders gefährdet. Ähnlich verheerend wie ein sexueller Übergriff können totale Missachtung, Abwertung oder Überforderung von Kindern durch ihre Eltern wirken."
soweit zustimmung, wenngleich ich das als zu einschränkend/ungenau empfinde: die genetische disposition dürfte überhaupt erst durch ungünstige soziale einflüsse aktiviert werden, vielleicht sogar schon pränatal; und ebenso ist pränatal ist nicht nur alkohol, sondern auch z.b. eine die meiste zeit der schwangerschaft dem kind gegenüber ablehnende mutter durch psychophysische beeinflussung z.b. mittels hormonen und neuropeptiden auf den embryo in der lage, psychophysiologische schäden bereits während des wachstums der allergrundsätzlichsten (wahrnehmungs-)fähigkeiten und anatomischen ausstattung zu erzeugen. vielleicht macht das geschehen in der pränatalen phase sogar den grundsätzlichen unterschied zwischen einer posttraumatischen belastungsstörung und borderline aus. beide diagnosen tauchen sehr häufig jeweils als komorbidität der anderen auf, und zwischen psychotraumatologie und bl-forschung ist immerhin seit ein paar jahren ein lebhafter austausch im gange. ich selbst war bis zum letzten jahr ebenfalls dem standpunkt zugeneigt, der da sagt, dass sich letztlich alle bl-diagnosen als besonders schwere und chronifizierte fälle von ptbs herausstellen würden. aber inzwischen denke ich, dass das zwar in etlichen fällen tatsächlich zutreffen dürfte, aber eben nicht in allen. die gewohnheitsmässige psychiatrische vertuschung und individualisierung von durch gesellschaftlich produzierter gewalt erzeugten traumatischen folgen spielt bei diesem ganzen themenbereich eine erschwerende rolle und erhöht die allgemeine konfusion.
"In gewisser Weise hat Borderline die klassische Hysterie als seelische Frauenkrankheit abgelöst; mindestens siebzig Prozent der Betroffenen sind weiblich. Überwiegend tritt die Krankheit oder eine ihrer Vorstufen zwischen dem 12. und 45. Lebensjahr auf; von allen Frauen in dieser Altersgruppe sind laut Schätzungen gut vier Prozent betroffen. Männliche Erkrankte richten ihre Ausbrüche eher gegen die Außenwelt als gegen sich selbst. Sie sind häufiger in Gefängnissen zu finden als in Krankenhäusern – auch wenn ihre Störung die gleichen Ursachen hat wie die der Frauen."
dieser frauen"überhang" ist einer der interessantesten aspekte beim nachdenken über borderline, wie ich finde. und er kann sehr verschieden interpretiert werden - eine eher psychotraumatologische interpretation wäre z.b. die, dass ebenso wie früher die "hysterie" heute borderline die funktion erfüllt, besonders sexualisierte gewalt gegen frauen und mädchen und die daraus entstehenden traumata durch eine diagnostische konstruktion quasi unter den teppich zu kehren. ich denke auch, dass da was dran ist. aber ist das alles? als professioneller outsider in der bl-diskussion schmeisst wieder der herr mertz einige verstörende gedanken in den ring - vor dem hintergrund eigener gedanken zum autonomiebegriff der westlichen gesellschaften allgemein und der westlichen psychiatrie/psychologie im besonderen, den er scharf kritisiert und einerseits als (reale) scheinautonomie (die reale und dauernde menschliche abhängigkeiten permanent leugnet) analysiert und andererseits als (quasiautistische) fiktion bezeichnet, schreibt er zur auffälligen frauenquote:
"Die allgemeine Erwartung geht dahin, daß Frauen im (inter)personalen Feld wesentlich mehr und anderes leisten sollen bzw. "von Natur aus" können (sollen) und wollen (sollen). Dieser immer wieder auch ziemlich konkrete Handlungsdruck, der auf die durchschnittliche Frau ausgeübt wird, trifft die borderlinekranke Frau doppelt.
Einerseits verfügt sie genau in diesem interpersonalen Bereich über keinerlei authentische Fähigkeiten, andererseits wird sie wegen der fehlenden (authentischen) Biographie stark außenorientiert sein und ihren eigenen Persönlichkeits- bzw. Lebensentwurf entlang irgendwelcher, u.U. häufig wechselnder Fremdvorgaben modellieren (externales Korsett). Die borderlinekranke Frau erlebt diese verschärften authentischen Anforderungen konkretistisch, d.h. die Anforderungen werden als eine objektive Aufgabenstellung von quasimaterieller Eindringlichkeit erlebt. Da sie über keine authentischen Optionen verfügt, gerät sie als interpersonal Simulierende unter verstärkten Druck, ihre simulative Kompetenz wird dabei wesentlich heftiger herausgefordert, genauer beobachtet und strenger beurteilt als (...) beim männlichen Borderlineautisten."
(mertz, "borderline..."; s.150/151)
mit anderen worten: die gesellschaftlichen anforderungen an frauen, bei denen die liebes- und beziehungsfähigkeit, empathie und der sinn für´s soziale quasi "naturgegeben" sein sollen, können gerade von bl-kranken frauen (borderline ist ebenso wie andere diagnosen primär als beziehungskrankheit am besten auf den punkt gebracht) aufgrund ihrer defekte nicht erfüllt werden, werden aber bei der eigenen identitätskonstruktion primär verwendet. was sich dann z.b. katastrophal auswirken könnte, wenn eine solche frau ohne reale (emotionale) basis sich die rolle einer mutter anhand rein äusserer vorgaben (muttersein z.b. als unbedingte erfüllung für jede frau) konstruiert - zu lesen ist das in der mitte dieses beitrags. nicht umsonst wird bei misshandelnden müttern öfter die bl-diagnose gestellt.
und die männer? zu denen später.
"In Kiel wie anderswo wird die Diagnose Borderline anhand eines Neun-Punkte-Katalogs gestellt: Panische Angst vor dem Alleinsein gehört dazu, ein düsteres Selbstbild, Selbstmordgedanken und -versuche; schwer kontrollierbare Wutausbrüche, eine Neigung zum verschwenderischen Geldausgeben, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, ein Gefühl der Leere – und die gefürchteten »dissoziativen Zustände«, in die Traumatisierte geraten, wenn sie durch einen beliebigen Auslöser an ihr schlimmes Erlebnis erinnert werden. Wer fünf der neun Kriterien erfüllt, gilt als Borderline-positiv.
das starren auf positivistische und objektivierbare symptome also. nicht nur von mertz, auch von anderen autorInnen in der borderlineliteratur wird hingegen auf die wahrscheinliche existenz eines blanden (= frei von massiven symptomen) borderlinetyps hingewiesen, der den psychiatrischen institutionen kaum bekannt wird und sich hingegen aufgrund der massiven unfähigkeit zu authentischen (nichthierarchischen) beziehungen in den heutigen gesellschaftlichen eliten und institutionen mit ihren simulationen von zwischenmenschlichen beziehungen (als-ob) bevorzugt wohl fühlen dürfte. (worin er oberflächlich den echten psychopathen gleicht. aber hier denke ich, dass beides nicht gleichzusetzen ist, auch wenn sich die durch beide gruppen hervorgerufene destruktivität sehr ähnelt. mehr dazu in einem zukünftigen schwerpunkt psychopathie).
der folgende abschnitt macht schlaglichtartig ein paar wichtige strukturen deutlich:
"Dann habe sie Rasierklingen gekauft. »Das war ja auch ein schweres Wochenende für Sie«, sagt die Psychologin. »Was war da passiert?« Melanie K., körperbehindert, vom Onkel sexuell missbraucht, geplagt von inneren Stimmen, die auf sie einbrüllen, erzählt von ihrer Mutter, die sich mit der Krankheit der Tochter nicht abfinde. Von einem nervenaufreibenden Drei-Stunden-Termin mit dem Sozialpädagogen in der betreuten Wohneinrichtung, in die sie nach Ende des DBT-Programms ziehen wird. Von der Beziehung zu ihrem Freund, der Alkoholiker ist.
Der Freund mache ihr Vorhaltungen: Er trinke, weil er durch ihre Krankheit viel allein sei. Bei dem Versuch, mit ihm zu schlafen, fühlte sie sich schlagartig in die Missbrauchssituation zurückversetzt, sagt Melanie K. »Ein Flashback. Es war, als ob ich das alles gerade eben erst durchgemacht hätte.«
erstens wird ein nach meiner persönlichen erfahrung häufig vorhandenes problematisches bis offen schlechtes verhältnis zur mutter sichtbar. zweitens aber wird hier umstandslos von einer "beziehung" geredet - und das könnte hinsichtlich borderline einer der zentralsten irrtümer überhaupt sein, weil "beziehung" erstmal korrekt definiert werden muss, und nicht alleine schon deshalb automatisch vorhanden ist, weil zwei menschen "objektiv" zusammen sind:
"Das DSM-IV betont zurecht die borderlinespezifischen Probleme, die sich im Kontext personaler Beziehungssituationen ergeben. Der diagnostische Kriterienkatalog wird folgerichtig von zwei Beziehungssymptomen angeführt. Kriterium Nr. 2 nennt `ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist´. Auch diese Definition enthält einen schweren und verhängnisvollen Fehler: Nicht alles, was zwischen zwei Menschen passiert, verdient den Namen Beziehung. Extreme Idealisierung und extreme Entwertung haben mit Beziehungen eigentlich auch nichts zu tun, das sind zumindest massive Beziehungshindernisse, wenn nicht gar deutliche Zeichen dafür, daß eine Beziehung im engeren Sinne eben nicht vorhanden ist. Wenn eine Interaktion zwischen zwei Menschen stattfindet, so heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine interpersonale Beziehung im üblichen Sinne handelt: Wir wissen mit Sicherheit aus unserer Alltagserfahrung, aber auch aus wissenschaftlichen und anderen Fremdquellen, daß Menschen keinesfalls zwangsläufig wie Menschen behandelt und Personen nicht unbedingt immer als Personen wahrgenommen werden müssen, daß also zwei Menschen interagieren können und sich dabei womöglich interpersonaler Formen bedienen, in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes abwickeln, etwa ein anonymes Geschäft, einen ebenso anonymen bürokratischen oder juristischen Akt oder eine anonyme medizinische Intervention. (...) Das DSM (...) ist stumpf gegen diese fundamentale Differenz (zwischen personaler Beziehung und personaler Nicht- oder Pseudobeziehung), die am Anfang und im Zentrum jeder ernstzunehmenden Psychologie und Psychopathologie steht."
(mertz, "borderline...", s.39/40)
u.a. wegen solcher seitenhiebe wie im letzen satz dürfte dieses buch bis heute von den kollegInnen von mertz in der professionellen zunft totgeschwiegen werden...aber ändert das etwas daran, dass er hier sehr einleuchtend tatsächlich argumente für eine absolut notwendige unterscheidung zwischen simulation und authentizität, zwischen pseudo und echt, zwischen als-ob und lebendig liefert? ist das "objektive zusammensein" zwischen einem mörder/vergewaltiger und seinem opfer, zwischen gewalttätigen eltern und ihrem geprügelten kind, zwischen folterer und gefangenen, zwischen versuchsleiter und versuchsobjekt(!) tatsächlich das gleiche wie ein liebevoller und zärtlicher, solidarischer umgang zwischen menschen, die sich gegenseitig als subjekte wahrnehmen und deshalb ihre gegenseitigen grenzen respektieren können?
natürlich nicht. genausowenig wie die oft zu beobachtenden "beziehungen", die anscheinend durch ein "gleichgewicht des schreckens" funktionieren. ist der oben im zeitartikel skizzierte freund, der der frau die verantwortung für seinen alkoholismus zuschiebt und sich entweder nicht für ihre geschichte interessiert und/oder sie schlicht nicht als person wahrnehmen kann, tatsächlich ein liebevoller freund in einer authentischen beziehung? oder zeigt nicht alleine schon dieser kleine ausschnitt, dass er - wie viele andere männer, aber auch frauen - eher eine selbst konstruierte fiktion in seinem kopf "liebt", die mit der realen frau - die dann nur noch als projektionsfläche bzw. als objekt zur umsetzung der fiktionen herhalten muss - mehr oder weniger nichts zu tun hat? call this objektwahrnehmung. aber die offizielle psychiatrie von heute kennt diese unterscheidung tatsächlich nicht. oder will sie nicht kennen.
weiter im artikel:
"Eine wahre Königin der Finsternis richtet sich selbstverständlich auch ihr WG-Zimmer angemessen ein: mit Fotos von nebligen Friedhöfen und Grabsteinen zum Beispiel, mit schwarzen Kerzen und Kreuzen und anderen düsteren Accessoires. An diesem Punkt wird augenfällig, dass es – nicht im seelischen Kern, aber gleichsam an der Oberfläche der Erkrankung – durchaus einen inszenatorischen Teil gibt, der fließend in »normale« Ausdrucksformen der Jugendkultur übergeht. »Letztlich sind Tätowierungen und Piercings an allen nur denkbaren Körperstellen ja auch nur eine Form der (gesellschaftlich akzeptierten) Selbstverletzung«, sagt Franz Resch, der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Heidelberg.
Auf manchem Arm einer Borderline-Patientin sind Schnitte, die durchaus nicht immer schamhaft verborgen werden, säuberlich nebeneinander angeordnet wie ein makaberer Schmuck – kein Zeichen unkontrollierter Raserei, sondern planvolle Zeichnung des Körpers.
yo. und gerade dieser fließende übergang zu den formen "gesellschaftlich akzeptierter" svv muss wachsamkeit erregen - hier scheinen tiefe kollektive strömungen unguter art wirksam zu sein. viele borderlinemenschen werden sich nach meiner eigenen erfahrung vor allem in der sog. gothic-szene, aber auch im punkbereich, antreffen lassen. aber das sind in der mehrheit die auffälligen, an deren symptomen sich eben auch die psychiatrischen institutionen und kataloge orientieren.
der letzte abschnitt des artikel ist imo der beste (mit der einschränkung, dass das unterstellte "verzweifelte bemühen um zuwendung" möglicherweise einen wahrnehmungsfehler enthält):
"Was uns an der Krankheit bewegen muss, ist die Tatsache, dass der Wahnsinn, der unter dieser gestalteten Oberfläche wütet, gesellschaftlich mitverursacht ist. Es gibt Menschen – einen Täter oder ein ganzes Umfeld –, die schuld daran sind, dass andere Menschen so leben müssen: mit zerstörten Gefühlen, mit Selbstverachtung und dem verzweifelten Bemühen um Zuwendung.
Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht. Die Zahl der Borderline-Kranken wird nicht kleiner werden."
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wir machen einen kleinen zeitsprung zurück zum 30.09.2000. an diesem tag erschien in der taz-hamburg ein artikel zum gleichen thema, den ich aus meinem eigenen kleinen archiv entnommen habe. interessant ist hierbei v.a. die etwas andere inhaltliche gewichtung - auszüge:
"Leben im Grenzland
Immer mehr Menschen sind "Borderliner". Nicht allen von ihnen ist klar, dass sie psychisch krank sind, denn manche scheinen gnadenlos erfolgreich zu sein
Adolf Hitler war wohl einer und Slobodan Milosevic dürfte einer sein: Borderliner sind aber auch ein Drittel aller männlichen Häftlinge, ein Drittel aller Essgestörten und ein Drittel aller Drogenabhängigen, weiß Birger Dulz.
Er ist Oberarzt der vierten Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nord/Ochsenzoll, und er ist einer der wenigen Spezialisten, die sich seit vielen Jahren in Klinik und Forschung mit Borderlinern beschäftigen."
zu hitler und der bl-diagnose mehr hier. interessant auch der bezug auf den "gnadenlosen erfolg" in der überschrift.
"Die sind meistens seht gut informiert", sagt Dulz. Die "Grenzgänger" sind schwer zu diagnostizieren, denn ihre Symptome wechseln. Manche von ihnen sind massiv suizidgefährdet, andere drogenabhängig oder essgestört, wieder andere verletzen sich selbst, und manche vereinigen all diese Merkmale auf sich. Es gibt aber auch Borderliner, die erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten oder Sportler sind. Häufig sind es exzentrische und extrem leicht kränkbare Persönlichkeiten, die mit Idealisierung und Entwertung arbeiten, die polarisieren, ein extremes Leben führen oder sich aber, sich selbst aufopfernd, um leidende Menschen und Tiere kümmern. Sie scheinen also Menschen zu sein, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben.
ein mögliches beispiel?
Der zentrale Faktor bei Borderlinern sei das Schwanken zwischen den Extremen: Sie fänden sich etwa nur richtig klasse oder nur richtig schlecht. Und das kann rasch, sogar innerhalb von Minuten wechseln. "Borderliner führen intensive, aber instabile Beziehungen. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein." Die Welt ohne Grautöne schafft Ordnung, und Ordnung nimmt Angst. Denn das ist das eigentlich bestimmende Gefühl der Borderliner: Eine allgemeine, aber ständig
anwesende Furcht. "Einige kanalisieren sie durch S-Bahnsurfen, andere werden Neonazis", sagt Dulz.
wieder der unbefriedigende beziehungsbegriff. dazu der hinweis auf ein weiteres merkmal: das teils blitzschnelle "umschalten" von gefühlen, dass nur real erlebt in seiner vollen wucht begriffen werden kann. und bei mir zur frage geführt hat, ob das überhaupt tatsächlich gefühle sind, was da umgeschaltet wird. ich kann das jedenfalls nicht, weil ich gefühle und den gesamten emotionalen prozeß bei mir grundsätzlich anders wahrnehme. ich brauche zeit, um rauf- und runterzukommen, sozusagen.
die thematisierte ständige furcht ist sowohl im trauma- als auch im autismuskontext ebenfalls bekannt - das gesamte nervensystem ständig in alarmstimmung.
"Angst aber gibt ein Borderliner nicht unbedingt zu, ist sich ihrer oft nicht einmal bewusst. Er behauptet dann, im besten Glauben, sich vor Nichts und Niemandem zu fürchten. Diese verleugnete und dennoch lebensbestimmende Furcht stammt meistens aus einer Traumatisierung. Viele Borderliner wurden als Kinder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt. "Es kann auch an häufigen Krankenhausaufenthalten liegen, wobei als Störungsursache letztlich das subjektive Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, eine Rolle spielt."
Dulz bringt den Teufelskreis auf eine Formel: "Wer missbraucht wird, reagiert eher autoaggressiv, wer misshandelt wird, eher fremdaggressiv." Das sei bei beiden Geschlechtern gleich. Weil aber Mädchen eher missbraucht werden, entwickeln sie häufiger Esstörungen oder verletzen sich selbst und landen eher in der Psychiatrie. Jungs werden häufiger misshandelt, werden als Erwachsene gewalttätig und kommen in den Knast. Dort wird ihre Krankheit oft weder diagnostiziert noch behandelt, obwohl bereits nachgewiesen ist, dass ein Drittel aller deutschen Häftlinge Grenzgänger sind. Rückfälle sind somit wenig überraschend."
bei diesen tatsachen wird das repressionsinstrument "knast" noch fragwürdiger als sowieso schon. aber das stichwort "männer" erlaubt mir jetzt auch den oben angekündigten nachtrag der gedanken von mertz zum thema bl-männer (von denen nur ein teil im sinne des aktuellen strafgesetzbuchs auffällig werden dürfte - die anderen werden jetzt thema):
"Der durchschnittliche borderlinekranke Mann dagegen dürfte keine Mühe damit haben, den absolut identischen und gleichermassen massiven Borderlinedefekt in ein anderes externales Korsett (...) derart einzupassen, daß er beinah vollständig zum Verschwinden gebracht wird. Dieses nach wie vor ungemein mächtige, objektiv normative Schema des Männlichen schreibt den Männern ein ganz "natürliches" Defizit im Bereich authentischer Interpersonalität (Beziehung, Empathie usw.) zu und stellt ihnen großzügig dimensionierte (...) Freiräume zur Verfügung, in denen sich v.a. zahllose Borderlinekranke männlichen Geschlechts vollständig unangefochten bewegen und verstecken können. (...)
Diese privilegierten Nischen werden traditionell überall und auf allen Ebenen eingerichtet, in der privaten Sphäre, in den anonymen Mechanismen der Arbeitswelt und auch in den politischen Apparaten. Diese Nischen haben etwas mit Macht; Gewalt und Destruktion zu tun. Gesellschaftliche Macht, egal in welcher Form (Geld, Prominenz, `Erfolg´ usw.) scheint als anonyme "Ersatzwährung" für interpersonale Authentizität (Beziehung) zu fungieren: Je mehr Macht, desto geringer die authentischen Anforderungen der Mitwelt."
(die letzte aussage lässt sich bei betrachtung des verhaltens unserer "eliten" fast schon als faustformel gebrauchen. inzwischen werden aber auch manchmal als-ob-simulationen vom publikum verlangt.)
"In diesen geschlechtspolitischen Nischen, befreit vom Druck gewöhnlicher authentischer Anforderungen, Anstrengungen und Abhängigkeiten, wurden unter anderem auch die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden und geplant. Außerhalb dieser Nischen würden die Protagonisten viel eher mit ihren massiven authentischen Defiziten oder Defekten (hitler, stalin, pol pot usw., anmerk. mo) konfrontiert und marginalisiert werden" (...)
(beide zitate oben: mertz, "borderline..."; s.151/152)
klaus theweleit hat in den männerphantasien die untersuchten soldatischen männer der präfaschistischen freikorps sinngemäß als für das zivile (authentische) menschliche leben faktisch ungeeignete a-soziale beschrieben, die eigentlich nur innerhalb des starren korsetts der militärischen hierarchien einigermaßen funktionsfähig waren. daraus lässt sich der schluss ziehen, dass der kern von sa und ss von einem ganz speziellen typ borderlinemänner gebildet wurde. eine unschöne vorstellung.
wie sieht das wohl heute mit denjenigen bl-männern aus, die nicht in den knästen landen? und eher als blande bl zu begreifen sind?
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weiter im artikel:
"Dulz begreift die Arbeit seines Teams als Prophylaxe. "Bis zu 50 Prozent der Opfer werden später zu Tätern." Je schlimmer die Patienten - also die Opfer - gestört sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre eigenen Kinder quälen. Je früher die gestörten Opfer therapiert würden, desto wahrscheinlicher ließe sich diese Zwangsläufigkeit durchbrechen. "Insofern helfen wir Staat und Krankenkassen langfristig, Geld zu sparen. Aber es wird ja immer nur in Jahresbudgets bilanziert", klagt Dulz.
ein mögliches beispiel für das geschilderte ist hier nachzulesen.
"Er ist davon überzeugt, dass Borderline-Störungen sich zu einem Massenphänomen entwickeln, weitgehend unbeachtet von den meisten psychiatrischen Kliniken. "Die Krankenhäuser haben auf Psychotiker gesetzt." Die aber könne man immer besser ambulant therapieren. Doch mehr als ein Viertel aller Patienten in den psychiatrischen Kliniken leiden unter Persönlichkeitsstörungen, die dann häufig falsch behandelt werden. "Weil der Druck in unserer Gesellschaft immer weiter wächst, benutzen immer mehr Menschen Gewalt als Ventil." Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht"
das sind verdammt beschissene aussichten, wenn ich ehrlich sein soll. auch aus folgendem grund:
"Denn sie vernichten, was sie vernichtet - oder von dem sie glauben, dass es sie vernichtet. "Borderliner haben vor nichts so viel Angst, wie davor, verrückt zu sein."
Aus dieser Angst heraus bedrohen sie beispielsweise ihre Mitpatienten, die schizophren sind oder andere Psychosen haben. Sind sie hingegen unter ihresgleichen, helfen und unterstützen sie sich gegenseitig. "Ihre Umgebung sieht in Borderlinern häufig nur das Aggressive und Destruktive", sagt Dulz.
Dabei seien sie oft charmant, humorvoll und intelligent. "Und wer das nicht sieht, kann Borderliner nicht behandeln."
beim letzten satz sei noch einmal auf den unterschied zwischen simulation und authentizität hingewiesen.
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so, das ist jetzt sehr lang und sehr viel geworden, und trotzdem nur ein komprimierter ausschnitt. wer mehr wissen will, sei auf die angegebene literatur verwiesen. und zur frage der epidemiologie von borderline und auch anderen hier im blog thematisierten störungen möchte ich mich in einem eigenen beitrag äussern.
der heute startet mit einer meldung zum zusammenhang zwischen gestörten spiegelneuronen und autismus:
"Bei Autisten funktionieren die Gehirnschaltungen, die Menschen ermöglichen die Aktionen anderer wahrzunehmen und zu verstehen, nicht auf die herkömmliche Art und Weise. Zu diesem Ergebnis ist eine Studie der University of California gekommen. Die EEGs von zehn Patienten mit Autismus wiesen eine Dysfunktion des Spiegelneuronensystems auf. Ihre Spiegelneuronen reagieren nur auf ihre eigenen Aktionen und nicht auf die anderer. Bei Spiegelneuronen handelt es sich um Gehirnzellen im prämotorischen Kortex."
(...)
Heute wird davon ausgegangen, dass das menschliche Spiegelneuronensystem nicht nur bei der Ausführung und Beobachtung von Bewegungen eine Rolle spielt, sondern auch bei höheren kognitiven Prozessen. Dazu gehören zum Beispiel die Sprache, die Fähigkeit andere zu imitieren oder von ihnen zu lernen, ihre Intentionen zu erkennen oder mit ihrem Schmerz zu fühlen. Autismus wird teilweise genau durch Defizite in diesen Bereichen charakterisiert. Frühere Studien legten daher nahe, dass ein dysfunktionales Spiegelneuronensystem die beobachteten Pathologien erklären könnte. Die aktuellen Forschungsergebnisse unterstützen diese Hypothesen in einem entscheidenden Ausmaß."
wie früher schon hier geschrieben, spielen die erst seit recht kurzer zeit zum thema gewordenen spiegelneurone offensichtlich für unsere sozialen beziehungen eine wichtige rolle. wenn nun (soziale) prozesse bekannt werden sollten, die diese spiegelneuronsysteme verändern, beeinträchtigen oder gar zerstören können - wäre das nicht sogar ein relevanter grund, z.b. justizielle konsequenzen aus allgemein antisozialen aktionen zu überdenken bzw. neu zu definieren? nur mal so als gedanke eingeworfen.
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in einem weiteren beitrag zum autismus taucht der satz "Demnach müssen wohl auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle spielen" auf. ach? tatsächlich? gene hin oder her (zu den immer noch nicht breit wahrgenommenen jüngsten erkenntnissen der genforschung gehört übrigens das zusammenspiel von genen und sozialen bedingungen, aber ich habe gerade nicht die kapazitäten dafür, hier auch noch einen crashkurs zu veranstalten), dieses zauberwort dient anscheinend - genauso wie "neurologisch bedingt" - immer noch primär dazu, auch den kleinsten verdacht auf die beteiligung psychosozialer einflüsse zu zersteuen. sachlich hingegen erlauben weder "genetisch" noch "neurologisch" die konstruktion eines menschen, der quasi "ganz aus sich selbst heraus" krankhafte veränderungen produziert. der verdacht bleibt weiter bestehen, dass es sich bei dieser fragmentierten und objektivierenden wissenschaftlichen wahrnehmungsart selbst um eine quasiautistische wahrnehmung handelt. was natürlich nicht thematisiert wird.
stattdessen haben Wissenschaftler (...) mehrfach auch toxische Stoffe, Mangelernährung, Viren oder andere Pathogene dafür verantwortlich gemacht. dazu wird auch bei möglichen umweltgiften geschaut, während die theorie, dass verschiedene impfungen möglicherweise ursächlich-auslösend beteiligt sind, inzwischen breit als unwahrscheinlich bewertet wird. und so bleibt entscheidendes ungeklärt:
"Unklar ist an der Theorie der genetischen Faktoren aber die rasante Zunahme an Autismus-Fällen. (...) Erschreckend waren jedenfalls die beim Treffen in Boston präsentierten Zahlen: seit den 90-er Jahren hat die Krankheit um 172 Prozent zugenommen, obwohl die Bevölkerung in den USA um nur 13 Prozent jährlich wächst."
eine entwicklung, die nicht nur in den usa zu verzeichnen ist - folgende meldung bezieht sich auf großbritannien und datiert von 2001:
"London (rpo). Die Anzahl der Autismusfälle bei Kindern dürfte viermal höher sein als bisher angenommen. Eine Studie von Forschern der Central Clinic und des Institute of Psychiatry des King’s College hat zwischen Juli 1998 und Juni 1999 im englischen Staffordshire 15.000 Kinder zwischen 2,5 und 6,5 Jahren auf Entwicklungsstörungen hin untersucht.
Frühere Studien gingen von vier bis sechs Erkrankungen auf 10.000 Kinder aus. Jetzt zeigte sich, dass der Anteil viel eher bei 17 Fällen liegt."
ist tatsächlich eine veränderte definition und wahrnehmung die erklärung?
"Der scheinbare Anstieg von Autismus-Fällen ist zum Stillstand gekommen. Eine UK Kohorten-Studie (Archive of Diseases of Childhood 2003;88:666-70) fand einen Anstieg bis zum Gipfel 1992, der v.a. auf ein grösseres Bewusstsein der Bevölkerung und der Kinderärzte für das Krankheitsbild zurückzuführen sei. Seitdem ist es zu keiner signifikanten Zunahme der Neuerkrankungen mehr gekommen."
(quelle)
ist es eine fehlinterpretation meinerseits, wenn ich die erste meldung als direkten widerspruch zur zweiten ansehe?
keine erklärung jedenfalls ist das obige für die in den usa involvierten forscher:
"Ein explosionsartiger Anstieg der Autismus-Fälle im US-Bundesstaat Kalifornien in den vergangenen 15 Jahren ist nicht das Ergebnis sich ändernder Diagnose-Kriterien. Auch die Verbesserung der Diagnose ist nicht der Grund des enormen Anstiegs um 273 Prozent zwischen den Jahren 1987 und 1998. "Autismus steigt in den USA und wir wissen nicht warum", erklärte der Erstautor der Studie, Robert S. Byrd vom M.I.N.D. Institute der University of Califonia/Davis.
Für die Zunahme der Autismus-Fälle finden die Forscher keine Erklärung. Der Anstieg ist laut Byrd nicht durch eine Lockerung der Kriterien, die für eine Diagnose benötigt werden, begründbar. Autismus-Kriterien erfüllten zwar auch einige Kinder, die nicht autistisch aber geistig unterentwickelt waren, diese falsche Einstufung habe sich aber mit der Zeit nicht verändert. Weiters wurden 90 Prozent der Kinder in den Staaten geboren. Dadurch wird die Möglichkeit ausgeschaltet, dass die Zunahme das Ergebnis einer Einwanderung von Familien nach Kalifornien, um bessere Services in Anspruch zu nehmen, ist. Die Genetik spiele zwar eine Rolle. Wurden bislang auch schon mindestens sechs Gene entdeckt, die Menschen für den Autismus prädisponieren können - eine Epidemie auslösen können diese aber nicht, betonte Byrd".
nur kalifornien?
"Die Autismus-Zunahme kann ebenso gut in anderen Bundesstaaten festgestellt werden. Nur sieht diese niemand", betonte Allenby.
eine öffentliche erklärung der europäischen union hingegen bleibt so derart im vagen und unklaren - sinngemäß "zwar kann eine zunahme festgestellt werden, aber..." -, dass der klartext aus kalifornien dagegen regelrecht krass wirkt. mehr zu diesem ganzen komplex in der zukünftigen fortsetzung dieses beitrags.
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ein kleines quiz gefällig?
"Es wird verglichen, bewertet, gemessen und alles mit jedem in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt."
(quelle)
handelt es sich um a) eine beschreibung des objektivistischen bewusstseins, b) eine autismus-variante, c) ökonomisch-effektives denken, d) empathielosigkeit, e) den ausdruck einer zwangsneurose, f) den ausdruck einer zwanghaften persönlichkeitsstörung, g) die typische form der westlichen rationalität, h) die typische form des westlich-wissenschaftlichen denkens, i) puren kapitalismus, j) eine folge von sozialer dissoziation, k) etwas von allem, l) nichts davon?
ausgespielt werden erkenntnisgewinne.
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edit am 21.12.09: wenn ich mich recht erinnere, habe ich diesen beitrag vor gut vier jahren geschrieben - und nun gibt es aktuell neue zahlen aus den usa:
"Nach neuen Erhebungen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) verbreitet sich Autismus, eingeschlossen das Asperger-Syndrom und andere Autismus-Spektrum-Störungen, in den USA immer schneller unter den Kindern. Jetzt sollen bereits 1 Prozent der 8-Jährigen bzw. 9 von 1000 autistisch oder 1 von 110 sein (in der EU geht man von 3-6 auf 1000 Kinder aus, es liegen aber keine genauen Zahlen vor). (...)
2007 galt noch ein achtjähriges Kind von 150 als autistisch, 2000 eines von 300. In 10 der beobachten Regionen haben autistische Störungen durchschnittlich um 57 Prozent gegenüber den letzten Erhebungen in 2002 du 2006 zugenommen, allerdings schwankt die Zunahme regional erheblich zwischen 27 und 95 Prozent. Derzeit könnten, so wird von den CDC geschätzt, 730.000 Menschen im Altre bis 21 Jahren Autismus-Spektrum-Störungen zeigen.
Die sprunghafte Zunahme autistischer Erkrankungen bei den 1998 Geborenen könnte ganz einfach darin liegen, dass Ärzte Kinder häufiger so diagnostizieren. Beim CDC will man aber nicht ausschließen, dass eine wirkliche Zunahme stattgefunden hat, auch wenn man keinen Grund dafür angeben kann." (...)
seit jahren also keinerlei wirkliche erkenntnisse, selbst bei der entscheidenden frage nach dem grund des ansteigens der diagnosen im autistischen spektrum nicht - hm...
den begriff hatte ich gerade unten in einem kommentar benutzt, und habe dann gleichmal aus neugier gegoogelt - mit dem begriff als phrase und lediglich zwei treffern - schon bemerkenswert, wie ich finde - als ergebnis, und dazu beziehen sich beide auf den gleichen text. der allerdings hat es in sich und nach dem ersten überblick finde ich die dort vorgestellten thesen hochinteressant. werde versuchen, noch genauer inhaltlich darauf einzugehen, aber ich möchte Ihnen diese rezension sehr empfehlen - auszüge:
"Damit ist die eigene Sozialisation bereits eine Art "Trance", und die tranceerzeugenden Gedankenkreise bestehen dann in "Du darfst nicht.., Du mußt.., Das gehört sich so.., das ist vernünftig.., das ist logisch....", mit denen ein jeder von uns aufgewachsen ist und die uns in Form eines Konsens über das, was Realität, "richtiges" Verhalten, und Denken ist, das Leben in der Gemeinschaft überhaupt ermöglichen."
"Nach Wier ist Trance eine bestimmte Art der Dissoziation: Etwas, was wir automatisch machen und uns daher nicht bewußt ist, wie z. B. zu gehen, Autozufahren, den Schlüssel zu verlegen ...
Trancezustände erlauben uns unsere Aufmerksamkeit zu konzentrieren, und viele wunderbare Dinge zu kreieren oder zu machen, aber andererseits verhindern sie so auch eine breite Aufmerksamkeit und vereiteln uns die Wahl. Nach Wier sind Trancezustände in unserem Leben normal, wir nehmen sie nur nicht als solche wahr, nur wenn sie uns besondere Freude (beim Tanzen, Musikhören, nachdenken...) oder Probleme bereiten ( Zerstreutheit, Suchtverhalten, unnötig einseitige schlechte "Filme"). Andererseits sollte uns diese Definition dazu anregen Trancezustände nicht mehr als etwas Ungewöhnliches zu betrachten, wozu wir lediglich Hexen, Hypnose, Stammestänze, Schamanismus,assoziiern, sondern auch all die anderen unserer Bewußtseinszustände der Menschen unter diesem Aspekt zu durchleuchten."
"Wenn wir überlegen wie sehr intensive Gefühle, wie Eifersucht, Panik abgrundtiefer Haß, Liebe, Leidenschaft,Massen hysterie die Menschen in Rage versetzt, zu was für irrsinnigen Aktionen Menschen beispielsweise in Kriegszuständen usw fähig sind, die hinterher aufkeine vernünftige Art erklärt werden können, erscheint der Verdacht auf einen veränderten Bewußtseinszustandes gar nicht so weit hergeholt.
Oder denken wir an die Schmerzen einer Geburt, oder wozu Menschen nach schlimmsten Verletzungen, abgerissenen Gliedern noch fähig sind. Eine interessante Frage wäre dabei auch welche körpereigenen Drogen an diesen außergewöhnlichen Bewußtseinszuständen beteiligt sind. Wie verändern die biochemischen Prozesse innerhalb des Körpers unseren Bewußtseinszustand unsere Wahrnehmung ? Adrenalin, Serotonin, Dopamin.. Sind sie die Auslöser von Trancezuständen oder die Folge ? Nach Wier helfen Trancezustände Schmerzen zu reduzieren, ob Körperlichen wie in der Hypnose in der Zahnarztpraxis, oder Seelischen, durch Religion, durch Arbeit, oder durch Alkohol.
Werden unsere körpereigene Drogen meist nur während sehr heftiger Trancezuständen, in Situationen in denen es um den psychischen und physischen Tod geht aktiviert, in Nahtoderfahrungen, im Zerfall des Selbst, in Erschöpfungszuständen, durch Hunger und Durst, durch Einnahme von Psychedelika, vor und während des Schlafs, im Träumen...
Welche Rolle spielen dabei äußerliche Faktoren, monotone Musik, Lautstärke, Ruhe, Licht , fesselnde Bücher und mitreißende Redner. Was sieht und erlebt der Mensch dabei ?
Wie real sind Gespräche mit anderen Entitäten, Verstorbenen, Reisen durch Raum und Zeit ? Sind sie Anteile unseres zerfallenen Selbsts, ist das, was wir wahrnehmen das Ergebnis,die Auswirkungen unserer Angst oder der Art und Weise wie unsere Psyche solche Extremsituationen verarbeitet?
Sind die guten und bösen Geister, Gott und der Teufel, Religion eine Ausgeburt der labilen menschlichen Psyche? Entstanden aus unserer Angst vor Tod und Schmerz und unserer Unfähigkeit den Zufall, das Chaos, die Sinnlosigkeit des Lebens zu ertragen."
ich bin gerade sehr aufmerksam geworden - gerade die letzten fragen werden z.b. bei deMause bejahend beantwortet, und aus den allegemein traumatischen sozialisationsprozessen heraus erklärt (die "sinnlosigkeit" des lebens ist sehr wahrscheinlich eine direkte wahrnehmungskonsequenz gewalttätiger erziehung). sowieso scheinen autor und rezensentin des buches die verbindungen zu den psychischen störungen im bereich trauma/borderline nicht zu erkennen (nicht als vorwurf gemeint - themenspezifische spezialisierung bringt das meistens mit sich).
"Menschliche Gemeinschaften haben sich schon immer das eingeschränkte soziale Benehmen der Menschen, verursacht durch Trance, nutzbar gemacht: in Form von Gesetzen, Ritualen, Moralvorschriften, Training.
Denn es braucht einfach zu viel kognitive Energie, das Unübliche, das, was herausfällt, zu verstehen. Daher wurde das was gegen die Norm verstößt schon immer bekämpft .
Nach Wier sollten sich die Menschen mehr bewußt darüber werden, wie sehr sie manipuliert und mißbraucht werden, bezüglich dem was Realität ist, was normal ist, was rational oder irrational ist.
Bevor sie immer mehr unkontrollierte Trancezustände schaffen, sollten sie sich lieber erst darum bemühen, aus den alten, krankmachenden Mustern herauszukommen. Es braucht große Anstrengung und Mut diesen starken Kräften zu widerstehen, die uns dazu bewegen z. B. den Fernseher nach der Arbeit anzuschalten, der Mode nachzurennen, ans Telefon zu rennen, wenn es läutet, den Tag zu verplanen und diese Verhaltensweisen zu ändern.
Psychotherapeuten können helfen eingefahrene Angewohnheiten, die zu Leid führen, zu ändern, indem sie die eingeengte Wahrnehmung versuchen zu erweitern und so neue Handlungswege aufzeigen .
Es gibt nach Wier keinen vernünftigen Grund irgendjemanden oder etwas zu vergöttern, in ihm nur das absolut ganz Gute zu sehen, und es als heilbringend zu verehren oder im Gegenteil etwas zu verteufeln, nur Schlechtes in ihm zu sehen. Es sei denn es handelt sich dabei um eine eingeengte Wahrnehmung und den daraus folgenden Projektionen und Halluzinationen.
Weil es sowohl den herschenden wie den beherschten Menschen überfordert, genauer zu differenzieren, flüchten sie sich in vorgegebene Formen der eingeengten Wahrnehmung, wo feste Meinungen bereits vorgegeben sind, die "Welt" bereits geordnet ist, wo Informationen gefiltert werden oder geschönt wird, in Religionen, in Parteien, in Arbeit, in Konsum, zum Fernseher, in (heterosexuelle) Liebesbeziehungen, in Sucht.
Diese soziale Trance beeinhaltet also in sich einen sich selbst aufrechterhaltenden Loop, angefangen beim kranken Individuum, über die leidende Familie, über den Arbeitsplatz, der verloren geht, zur maroden Institutionen, von dort wieder zum Individuum .
Sie schränkt die Wahrnehmung ein, jeder kümmert sich nur um seinen Part und verhindert gleichzeitig Kommunikation."
"Viele Aspekte eines Kriegszustandes deuten auf einen Zustand der Trance hin, wie Wier ihn beschreibt hin, mit all seinen Implikationen bezüglich veränderter geistiger und körperlichen Funktionen: Ein absoluter Ausnahmezustand.
In diesem kollektiven Tranceereignis, konnte und kann Schreckliches passieren, wie ein schlinmmer Film, ein böser Geist, etwas, was sich nur auf der Ebene dieses veränderten Bewußtseins abspielt, und außerhalb davon völlig unverständlich und unfaßbar ist."
sehr, sehr interessant. vielleicht können die interessierten leserInnen hier die eigenen gedanken ergänzend zusammentragen? ich werde hier vermutlich selbst noch einiges nachzutragen haben.
weitgehend unkommentiert ein paar aufgefischte links. die mehr oder weniger untergründigen zusammenhänge lassen sich teils in anderen beiträgen hier lesen.
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in einem zeit-blog ist folgendes zu lesen:
"Nachdem eine Studie ergab, dass an britischen Schulen inzwischen fast jedes Kind Gewalttaten ausgesetzt ist, will die das britische Schulministerium bisher völlig unbekannte Methoden ausprobieren: Lehrer sollen das Recht bekommen, Schulrowdys auch unter Gewaltanwendung zur Räson zu bringen. Außerdem sollen Eltern prügelnder Kinder Erziehungskurse besuchen müssen, sonst droht ihnen eine Strafe von 1.000 Pfund. Ministerin Jacqui Smith: „Kinder müssen lernen, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, und dass sie bei Überschreiten der Grenzen mit Konsequenzen rechnen müssen".
klartext: lehrkräfte dürfen prügeln, und die eltern, die hier mit zur problemgruppe zählen, werden aller wahrscheinlichkeit nach ihre rechnung für die möglichen kosten und den zeitaufwand für die erziehungskurse (kein ganz falscher gedanke imo, aber so umgesetzt ziemlicher unfug) mit "ihren" kindern abmachen - womit ein sich selbst erhaltender kreislauf der schläge garantiert wäre.
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im gleichen blog ein solala-bericht zum thema borderline:
"Was genau in Borderlinern vorgeht, weiß sie auch nicht. Das weiß niemand so genau. Anne kennt nur die Symptome. Depressionen, Ängste, Realitätsverlust, Depersonalisierung, Identitätsdiffusion. Bindungsunfähigkeit, oft verbunden mit übertriebener Promiskuität. Autoaggression, Gefühlsstörungen, innere Leere, starke Emotionsschwankungen, suizidale Tendenzen und noch ein paar andere.
(...)
"Die gängigen Erklärungsversuche für Carolins Probleme sind: schlimme Kindheit, sexueller Missbrauch, Konflikte im Jugendalter, traumatische Erlebnisse. Carolin hatte eine normale Kindheit, soweit man weiß. Normales, kleinbürgerliches Elternhaus, kein Trennungskind. Zu ihren Eltern hat sie ein normal gutes Verhältnis. Wie es scheint. Über außergewöhnliche Konflikte in der Pubertät ist nichts bekannt. Traumata, Missbrauch? Niemand weiß darüber etwas."
ja. die sogenannte normalität. niemand weiß darüber etwas.
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das ist auch normalität:
"Gestern hat Unicef zu diesem Tag den aktuellen Bericht über die Lage der Kinder 2005 veröffentlicht und mit trockenen Zahlen daran erinnert, dass trotz großem Reichtum in einigen Ländern, Regionen und Bevölkerungsschichten für viele Menschen die Ausgangsbedingungen hart, grausam und düster sind und dass die Weltgemeinschaft noch immer viel zu wenig macht, um das zu ändern und zumindest eine gewisse Chancengleichheit zu garantieren. Eher werden denn schon die Festungsmauern um die Wohlstandsinseln hoch gezogen und ziehen sich diejenigen, die Glück hatten, darauf zurück, dass sie das auch verdient oder gar selbst geleistet haben. Allerdings wird festgehalten, dass auch in den reichen Ländern meist die Zahl der Kinder gestiegen ist, die in Armut leben. In Deutschland beispielsweise von den 80er auf den 90er Jahren von 4,1 auf 9 Prozent. In Ländern wie Großbritannien, USA oder Kanada ist die Kinderarmut im selben Zeitraum zwar leicht gesunken, liegt aber dafür in den 90er Jahren sehr viel höher: 15,4, 21,9 bzw. 14,9 Prozent.
Kinder stellen heute trotz der vergreisenden Welt noch einen Großteil der Weltbevölkerung. 36 Prozent aller Menschen sind Kinder. 400 Millionen Kinder oder Minderjährige unter 18 Jahren – ein Fünftel - haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 640 Millionen leben ohne angemessene Unterkunft – ein Drittel. 270 Millionen werden nicht ausreichend medizinisch versorgt: ein Siebtel aller Kinder. 1,4 Millionen Kinder sterben jährlich, weil sie kein sauberes Trinkwasser haben oder unter hygienisch unzureichenden Bedingungen leben. 10, 6 Millionen Kinder sterben, bevor sie fünf Jahre alt werden, so viele wie es Kinder unter fünf Jahren in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Italien insgesamt gibt. Sie sterben in aller Regel an Krankheiten, die behandelbar wären. Allein durch Impfungen ließe sich jährlich das Leben von über 2 Millionen Kindern retten.(...)"
(tp-artikel)
ohne worte.
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nicht in der statistik enthalten: kindliche und jugendliche suizide:
"Täglich versuchen 40 Kinder und Jugendliche in Deutschland, sich das Leben zu nehmen."
ursachenforschung:
„...weil die Kinder keine verlässlichen Beziehungen erfahren. Sie versuchen verzweifelt, die instabile Familie, in diesem Fall die Mutter, zu retten. Das kann ein Kind natürlich nicht leisten.“
das ist natürlich ganz unpolitisch, und wegen so sozialklimbim gibt´s auch keinerlei sondersendungen und krisenstäbe. nur, wenn dann mal vermehrt autos brennen und der alltag in den schulen - siehe oben - massiv gestört wird, gibt es reaktionen. aber was für welche.
die allgemeine mediale beschleunigung heute lässt solche ereignisse inzwischen beinahe schneller im informationsnirvana verschwinden, als man(n) "konsequenz?" fragen kann. manchmal aber werden auch die fortsetzungen solch´ medial zerstückelter und konsumentInnenfreundlich zubereiteter desastererevents deutlich. in diesem fall unter dem treffenden titel Die Börse brummt, die Geisterstadt stirbt. am ende steht da zu lesen:
"Besonders gut hat der Rüstungskonzern Northrop Grumman "Katrina" überstanden. Mit 18.000 Angestellten der größte Arbeitgeber am Golf, kann sich der voll auf Versicherungsgelder und Subventionen vom Pentagon verlassen. So hat die Marine jetzt schon zwei Milliarden Dollar aus der Kasse des US-Katastrophenamts Fema beansprucht, um die drei Northrop-Werften der Region wieder aufzubauen - auf Staatskosten.
"Diese Zahlen sind atemberaubend hoch", wunderte sich der Verteidigungsexperte Winslow Wheeler in der "New York Times" über die schnelle Versorgung des emsigen Wahlkampffinanziers Northrop. "Das müssten die Buchprüfer mal unter die Lupe nehmen."
Derweil müssen die 80.000 vom Bankrott bedrohten, kleinen Privatfirmen in New Orleans und Mississippi weiter auf Rettung warten. Die für Katastrophendarlehen zuständige Regierungsbehörde Small Business Administration hat nach eigenen Angaben in den drei Monaten seit "Katrina" erst knapp 3000 Anträge bearbeitet - davon zwei Drittel mit einem ablehnenden Bescheid.
Im Eingangskörbchen liegen noch weitere 24.542 Darlehensanträge."
nein, inhaltlich muss und will ich das gar nicht kommentieren. ich würde es eher interessant finden, wenn auch Sie sich die eigene reaktion (emotional und intellektuell) deutlich machen würden. etwas an dieser nachricht da oben "stimmt nicht"; und zwar nicht in dem sinne, das die sachverhalte falsch beschrieben sein würden. wissen Sie, was ich meine? beobachten Sie vielleicht einmal genau, wie Sie die obigen informationen verarbeiten, was für gefühle in welchen phasen auftauchen. könnte aufschlussreich sein. das nur als anregung.
vielleicht werfen Sie vor den nächsten sätzen nocheinmal einen blick hierauf, um ein gefühl für die verbreitung gewisser wahrnehmungsarten, die gewisse handlungsarten erst möglich machen, zu bekommen.
und jetzt setzen Sie sich besser gut hin - nicht nur ich bin bei der folgenden meldung kurzzeitig total fassungslos geworden:
es geht um die gesetzlichen regelungen für versuche mit pestiziden - keine medikamente - an menschen in den usa, zu denen in einem tp-artikel heute folgendes zu lesen ist:
"Menschenversuche werden nach Recherchen von Frontal21 bei Pestizidherstellern immer beliebter. Im Auftrag von Bayer etwa wurde Versuchspersonen in Holland ein radioaktiv versetztes Insektizid auf die Haut aufgetragen. Andere Versuchspersonen inhalierten das Insektizid Cyfluthrin - es findet sich etwa in dem Insektenspray Blattanex von Bayer."
in den usa ergab sich folgende entwicklung:
"Die Umweltbehörde akzeptiert nach heftigen Diskussionen seit 1998 keine von der Industrie finanzierten Forschungsergebnisse mit Versuchen an Menschen mehr. Die Vorteile solcher Tests an Menschen sind, dass keine Versuche an Tieren notwendig sind und die Einschätzung des Risikopotenzials genauer ist. Bei Tierversuchen muss berücksichtigt werden, dass diese weniger empfindlich für bestimmte Pestizide sein könnten. Der Sinn der Tests an Menschen für die Industrie ist einerseits Kostenersparnis und andererseits die Chance, die Grenzwerte hochsetzen zu können. Gegen die Entscheidung, Tests an Menschen nicht mehr zur Beurteilung zuzulassen, hatten die Pestizidhersteller 2002 Beschwerde eingelegt, nachdem die Umweltbehörde unter der neuen Bush-Regierung bereits an die National Academy of Sciences gewandt hatte, um das Verbot wieder zu lockern. Das Berufungsgericht entschied 2003, die EPA dürfe nur dann Ergebnisse der von der Industrie finanzierten Forschung zurückweisen, wenn sie für Versuche an Menschen klare Richtlinien vorgibt. Eine solche Richtlinie hat nun die EPA im September im Kontext von Pestizid-Tests veröffentlicht."
und das, was ist in diesen richtlinien offensichtlich enthalten ist, ist mit dem begriff "perfide" nur unzureichend beschrieben:
"Was eigentlich erst einmal ziemlich eindeutig klingt, erweist sich dann doch eher als Regelwerk zur Öffnung von Ausnahmen für das angeblich strikte Verbot, Tests an schwangeren Frauen und Kindern durchzuführen. Dabei werden Schutzmaßnahmen, die ansonsten für die medizinische Forschung vorgeschrieben sind, weit unterlaufen. So heißt es beispielsweise, dass der Independent Review Board (IRB) bei Kindern (unter 18 Jahren) überprüfen muss, ob die Zustimmung dieser zu den Tests erfolgt ist. Wenn aber "die Fähigkeit einiger oder aller Kinder so beschränkt ist, dass (man) sie nicht vernünftig befragen kann … so ist die Zustimmung der Kinder nicht zwingend für die Fortführung der Forschung." Doch selbst bei Kindern, die ihre Zustimmung geben könnten, wären Ausnahmen möglich. Zustimmen müssten auch die Erziehungsberechtigten. Bei Eltern würde es auch reichen, wenn nur ein Elternteil zustimmt."
aufgeweichte gesetzliche bestimmungen, wie sie in allen möglichen bereichen so zu finden sind also. deutlich bereits hier ein schwächerer status von kindern. das ist aber nicht alles:
"Es sind aber noch weitere Ausnahmen vorgesehen. So sollen Tests an Kindern oder Menschengruppen erlaubt sein, für die die Zustimmung der Eltern oder des Vormunds keine "vernünftige Anforderung für den Schutz der Versuchspersonen" darstellen. Als Beispiele werden "vernachlässigte oder missbrauchte Kinder" genannt."
ich lese einmal, stutze, ich lese zweimal, stutze wieder - und merke, wie die information dieser sätze sich sehr langsam mit ihrer vollen wucht als erkenntnis breit macht. was zum teufel steht da? steht da wirklich, dass irgendwelche bürokraten auf druck von konzernlobbys ernsthaft vorschlagen, vernachlässigte oder missbrauchte kinder als geeignete menschliche testobjekte für die wirkungen von schädlingsbekämpfungsmitteln zu betrachten? mit der "begründung", dass ja die (täter-)eltern dieser kinder sowieso nicht die geeigneten personen zum schutz derselben wären?
ja. genau das steht da.
haben Sie auch schon mal dran gedacht, einfach amok zu laufen, wenn die zumutungen der dingweltbewohner schier unerträglich werden?
"Vorgesehen ist auch, dass die Regeln für Tests, die außerhalb der USA durchgeführt werden, teilweise oder ganz ausgesetzt werden können. Danach können die Chemiekonzerne ihre Tests im Ausland durchführen lassen, wo es keine oder kaum Schutzmaßnahmen gibt. Die Ergebnisse würden dennoch anerkannt werden. Und wenn es sich um wissenschaftlich gültige, aber ethisch nicht korrekte Tests (ethically deficient) handelt, können diese herangezogen (werden), wenn die Umweltbehörde damit ihren Aufgaben nachkommen und beispielsweise Grenzwerte festlegen kann. Man würde dies auch gerne dann zulassen, wenn dabei schwangere Frauen und Kinder absichtlich Pestiziden ausgesetzt wurden."
sprachlos. hatte ich gestern von neidischen mafiosi geschrieben? nun, die eine mafia ist verboten.
vielleicht haben Sie noch die worte des hier zitierten experten im kopf? das extreme vernachlässigung (und, so ist hinzuzufügen, auch offene gewalt) gegen kinder in der heutigen realität wesentlich verbreiteter ist, als es sich die meisten von uns vorstellen (oder auch eingestehen) können? einmal mit offenen augen durch die medialen welten gegangen, und Sie erhalten eine art chronik des terrors (ein anderes wort wäre eine verharmlosung) - alle meldungen sind von heute oder aus den letzten tagen:
"Berlin (ddp-bln) Beamte des Landeskriminalamts haben in einer Wohnung in der Schäferstraße in Spandau zwei vernachlässigte Kinder entdeckt. Die Jungen im Alter von drei und sieben Jahren seien unter «katastrophalen» hygienischen Zuständen untergebracht gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Auf den Fall aufmerksam geworden seien Mitarbeiter eines Krankenhauses. Dort sei der 45-jährige Vater der Kinder mit Schnittverletzungen erschienen, die er sich nach eigenen Angaben beim Basteln mit seinen Kindern zugezogen habe. Er habe behauptet, das sich eine Nachbarin um diese kümmere und das Jugendamt nicht informiert werden müsse.(...)"
19.11.2005
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"Bexbach (ddp) Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken hat nach dem Tod eines zweieinhalb Monate alten Säuglings aus Bexbach Mordanklage gegen den Vater erhoben. Das teilte die Staatsanwaltschaft heute mit. Das Kind war Anfang Juli nach schweren Misshandlungen an einer Schädelfraktur mit schwerem Schädelhirntrauma gestorben.
Laut Anklage soll der 27-jährige Staplerfahrer sein Kind heftig geschüttelt, geschlagen und anschließend gegen einen Heizkörper geworfen haben. Der Säugling starb noch am selben Tag in einer Kinderklinik. Die Obduktion hatte ergeben, dass er schon in der Vorzeit häufig misshandelt worden war.(...)
Die Ermittlungen gegen die 23 Jahre alte Mutter des Kindes dauern nach Angaben der Staatsanwaltschaft noch an. Möglicherweise muss sie sich wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassung verantworten, weil sie von den fortdauernden Misshandlungen wusste, aber nicht dagegen einschritt."
17.11.2005
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"Geseke (ddp-nrw) Nach dem Fund einer Babyleiche in Geseke (Kreis Soest) haben sich bislang keine Hinweise auf ein Gewaltdelikt ergeben. Bei der Obduktion des am Dienstag in einer Kühltruhe entdeckten Neugeborenen seien keine Anhaltspunkte für äußere Gewalt festgestellt worden, teilten die Kreispolizeibehörde Soest und die Staatsanwaltschaft Paderborn mit. Das männliche Baby habe bei der Geburt gelebt und sei offenbar kurze Zeit später gestorben.
Da sich zwischen den Aussagen der festgenommenen 33-jährigen Mutter und dem Ergebnis des Rechtsmediziners Widersprüche ergaben, sollte die Frau am Mittwochabend noch einmal vernommen werden. Anschließend werde entschieden, ob ein Haftbefehl gegen sie beantragt werde, hieß es.
Die Polizei hatte am Dienstag die Wohnung der Frau mit Leichenspürhunden durchsucht und dabei das tote Baby gefunden. Die Staatsanwaltschaft Paderborn ermittelt seit Ende vergangenen Jahres gegen die Frau, nachdem Hinweise auf eine möglicherweise abgebrochene Schwangerschaft beziehungsweise auf ein verschwundenes Baby eingegangen waren. Die allein erziehende Frau hat noch zwei weitere minderjährige Kinder, die durch das städtische Ordnungsamt bei Verwandten untergebracht wurden."
17.11.2005
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"Bochum - Das am Donnerstag gestorbene Baby in Bochum ist absichtlich mit heißem Wasser verbrüht worden. Das hat der Lebensgefährte der Mutter am Freitag gestanden, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Er habe sich über das Geschrei des sieben Monate alten Jungen geärgert, sagte der 28-Jährige. Staatsanwalt Dieter Justinski berichtete, der arbeitslose Dachdecker habe außerdem zugegeben, das Kind schon im Alter von sechs Wochen so geschüttelt zu haben, dass es mit einem Oberschenkelbruch in die Klinik gebracht werden musste."
(...)
"Unterdessen wurde der Bochumer Polizei ein weiterer Fall von Kindesmisshandlung gemeldet. Im Stadtteil Wattenscheid wurde ein 24-jähriger Vater unter dem Verdacht festgenommen, seiner fünf Monate alten Tochter durch brutale Schläge schwere Striemen und Blutergüsse am Kopf beigebracht zu haben.
Nach den Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft hat es in der Familie, zu der noch ein zweijähriger Sohn gehört, schon früher Vorfälle häuslicher Gewalt gegeben."
18.11.2005 AP
die dokumentierten fälle von explizit sexualisierter gewalt gegen kinder habe ich aussen vorgelassen, weil sich die öffentliche wahrnehmung in den letzten beiden jahrzehnten wenigstens hier und zumindest etwas offener dem problem stellt.
ich kann die thesen von deMause zwar an einigen punkten kritisieren, finde jedoch in seinem weiter unten vorgestellten buch nach wie vor einen durch ganze berge von material überzeugend belegten schluß immer noch extrem niederschmetternd: das, was oben dokumentiert ist, stellte über jahrtausende quer durch fast alle kulturen weltweit die normalität des umgangs mit kindern dar! und seine these, dass bis heute innerhalb von gesellschaften auch dieser modus der kinder"erziehung" zusammen mit fortgeschritteneren existiert, macht vor dem hintergrund solcher meldungen wie oben wirklich sinn. ein tatsächlicher sozialer fortschritt lässt sich daran erkennen, dass zumindest ein teil der tatsächlichen gewaltereignisse inzwischen repressiv verfolgt wird, was wenigstens kurzfristig für die opfer eine wichtige schutzmaßnahme sein kann, aber ohne berücksichtigung der hintergründe keine echte verbesserung bewirken kann. dazu müssten wir in unserer absoluten mehrzahl erst selbst in der lage sein, realistisch wahrzunehmen - in einer historischen situation, in der sich als-ob-simulationen von sozialen beziehungen immer mehr breit zu machen scheinen (was sich als eine logische konsequenz des thematisierten gewalttätigen umgangs mit kindern interpretieren lässt), ist diese wahrnehmungsebene immer schwerer zu erreichen. aber das scheint sich mir als eine politische hauptaufgabe allererster priorität abzuzeichnen.
als nachtrag zum thema infantizid möchte ich Ihnen einen artikel in der aktuellen "taz" nicht vorenthalten, zumal da gleich mehrfach etliches bemerkenswerte auftaucht:
"Der Mann weiß inzwischen, dass er aussprach, was Volkes Stimme seufzend bejaht: In Deutschland gebe es, so Hansjürgen Karge, Generalstaatsanwalt von Berlin, "völlig übertriebene Vorstellungen von antiautoritärer Erziehung"; ein "Klaps" könne einem Kind nicht schaden. Das war Anfang der Woche - und die Debatte dauert an: Muss es eine Todsünde sein, Kinder im Gefecht normalen Familienlebens mit einer Geste der Züchtigung - Klaps, Ohrfeige oder deren Androhung - dem erwachsenen Willen zu unterwerfen?"
wie der autor des artikels später noch feststellt, kann derartiger menschenverachtender unsinn nur von leuten kommen, die nicht in der lage sind wahrzunehmen, dass es sich bei kindern nicht um ihre leibeigenen bzw. ihr eigentum handelt. auch bei der gewalt gegen kinder ist die vermutlich wichtigste voraussetzung bei den täterInnen dabei eine wahrnehmungsverschiebung (in verschiedenen möglichen varianten) in die objektebene, in der alles nur als dinglich empfunden werden kann.
und der offensichtliche irrsinn dieser art der "kindererziehung" wird schon daran deutlich, dass es bei einer ernstgemeinten akzeptanz dieser - hm, einstellung keinerlei argumente dagegen gibt, nicht auch unter erwachsenen menschen mit derartigen mitteln zu agieren, und andere dem eigenen willen zu unterwerfen. bei diesem gedanken wird auch gleich sehr deutlich, dass dieser sehr verbreitete schwere psychophysische defekt in den "erwachsenen" welten von heute tatsächlich seine entscheidende basis in der kindheit der so handelnden besitzen dürfte.
"Man könne doch, gerade in Stresssituationen, Müttern und Vätern nicht verübeln, wenn ihnen mal die Hand ausrutsche.
Das war schon damals eine Bagatellisierung dessen, worum es bei dieser Frage geht: dass in Deutschland, nicht erst seit nationalsozialistischen Tagen, ein Bewusstsein tief fußt, körperliche Gewalt als Mittel von Ermutigung und Bestrafung führte zu dem, was die jeweiligen Züchtiger als Erfolg verstanden wissen wollen: Gehorsam. Zu "lieben Kindern" also."
zu gebrochenen und im extremfall hasserfüllten kindern also, wie die aktuellsten erkenntnisse aus der hirnforschung, neurobiologie, psychotraumatologie und psychohistorie nahelegen. von "liebe" sollte in diesem zusammenhang überhaupt nicht geredet werden.
Eine beliebige Recherche in kriminalpolizeilichen Akten spricht freilich eine Sprache, die mit der verniedlichenden Aura des Wortes vom "Klaps" nicht in Einklang zu bringen ist: Da ist dann von Müttern und Vätern die Rede, denen, quasi familiär eingebettet und scheinbar geschützt durch die grundgesetzlich garantierte Distanz des Staates von der Familie, jede Form von Bestialität erlaubt scheint. Väter neigen in dieser Hinsicht eher zum Faustschlag, auch zum so genannten "Arsch voll"; Mütter, eingebunden in die Moral der guten Amme, zur verdeckten Demütigung, wenn sie ihre Kinder in fast kochendem Wasser baden, mit festem Griff die Ärmchen verdrehen, sie mit dem Metallhandfeger traktieren. Väter waren (und sind noch oft) die Familienfiguren, die sich die Finger schmutzig machen sollen; Mütter hingegen sind kaum weniger aggressionsfähig, aber sie bevorzugen die Drohung: Lass erst mal Papa heimkommen!
ja. alleine die rede vom "klaps" ist hier nur noch als verharmlosung zu werten. und diesem beamten im staatsdienst scheint nicht klar zu sein, dass er pures antisoziales zeug absondert und letztlich auch damit solche ereignisse überhaupt erst in letzter konsequenz mit möglich macht - durch eben die benannte verharmlosung.
"Hinter dem Wunsch, wenigstens mit einem "Klaps" strafen zu dürfen, verbirgt sich im Grunde nichts als die Fantasie, Kinder als Leibeigene behandeln zu dürfen."
korrekt. immer noch hängen wir im zeitalter der sklaverei fest. die welt ist voll von psychophysischen entwicklungsländern.
"Die meisten Kinder, so wissen es Kinderschutzexperten, finden im übrigen postum, dass Gewalt gegen sie gerechtfertigt (gewesen) sei: "Das hat mir doch nicht geschadet" - Aussagen von Opfern, die im konkreten Moment Horror empfanden, aber die Taten ihrer familiären Peiniger rechtfertigen müssen, um an den Akten der Aggression nicht irre zu werden. Die Alternative - Geschlagen- oder Verlassenwerden - beantworten sie lieber mit dem meist kleineren Übel."
aussagen von opfern vor allem, die später möglicherweise zu täterInnen werden:
"Auswertungen von Täterprofilen haben ergeben, dass alle Personen (überwiegend Männer), die zur Gewalt neigen und körperlichen Missbrauch als solchen nicht erkennen, selbst als Kinder Opfer von familiärer Gewalt geworden waren. Kinderschutzexperte Kai-Detlef Bussmann, Professor an der Universität Halle-Wittenberg, sagt hierzu nur kühl: "Je mehr Eltern schlagen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder später zum Problem für unsere Gesellschaft werden."
womit die thesen von lloyd deMause auf den kern gebracht wären.
"In jeder fünften deutschen Familie zählt Gewalt nach wie vor zum Potenzial von Erziehung. Wenngleich 80 Prozent der Erwachsenen Gewalt als Mittel ablehnen, so ist die Front der Klapsbejaher sprechend differenziert: Während einer Forsa-Umfrage zufolge Unionsanhänger mit 43 Prozent kleinere Züchtigungen befürworten, sind es derer 40 bzw. 38 Prozent bei FDP- und Linkspartei-Gewogenen. Ein knappes Drittel sozialdemokratisch Inspirierter sind für leichte Schläge - und die Wählerschaft der Grünen ist mit immerhin noch 15 Prozent zu einem Ja in dieser Hinsicht zu bewegen."
(ein weiterer grund zum nichtwählen.)
"Im Übrigen haben nur 14 von 46 Mitgliedern des Europarats, die die Konvention der Gewaltfreiheit unterzeichnet haben, akzeptable Schutzmaßnahmen installiert. Die Weltorganisation gegen Folter hat 2003 gegen fünf Staaten in Sonderheit Anklage erhoben: Belgien, Griechenland, Irland, Italien und Portugal, wo das Züchtigen von Kindern besonders krass im Volksbewusstsein eingesunken ist.
Dass zum familiären Zusammenleben körperliche Gewalt nicht gehören muss, beweisen skandinavische Beispiele. Züchtigung ist strikt verboten, moralisch geächtet und faktisch nicht zu verheimlichen, weil niemand es gutheißt. In TV-Spots haben schwedische Kinderschutzorganisationen vor fünf Jahren Erwachsenen Gewalt demonstriert. Gezeigt wurden Erwachsene, denen von viermal größeren Gestalten, Monstern gleich, 7,20 Meter hoch, zwei Meter breit, Klapse erteilt wurden. Aus dieser Perspektive wird selbst ein Klaps wie eine Exekution wahrgenommen. Erziehung, die ohne körperliche Strafeinschreibungen auskommen kann, ist ein Zeichen von Zivilisation - nicht von Laschheit. Stress ist eine Ausrede, immer."
da bleibt wenig zu kommentieren. ein recht guter artikel, wie ich finde - obwohl die dimensionen der probleme und auch die historischen folgen von gewalt gegen kinder zu stark im hintergrund belassen werden. aber die widerstände - bei uns allen - vor genau der wahrnehmung dieser dimension dürften riesig sein, was keinerlei entschuldigung dafür ist, sie nicht anzugehen.
ein heutiger artikel bei spon zeigt einige aufschlussreiche dinge:
"Schnell sehen De Ciccos Männer, dass Giorgio ein Talent ist. Er schießt gut, und er zeigt offenbar überhaupt keine Nerven. Ihm fehlt jener Draht zur Wirklichkeit, der normale Menschen Angst spüren lässt."
hm...wie ein immer noch in der warteschleife hängender beitrag zum begriff des psychopathen zeigen wird, stellt dieser "fehlende draht zur wirklichkeit" (der opfer) in form einer schwer defekten (angst-)wahrnehmung ein wahrscheinliches hauptmerkmal der "echten" psychopathie dar. und das folgende könnte sich auch in diversen kz, folterstätten und überall dort abgespielt haben, wo sich psychophysisch schwer beeinträchtigte leute zum ausagieren zusammenfinden (in form von zwangsgemeinschaften) - achtung, das folgende ist mal wieder absolut heftig und trostlos:
Und nun lernt Giorgio Basile auch, wie einfach das Geschäft der 'Ndrangheta funktioniert: Eines Abends wird ein wichtiges Treffen anberaumt. Die Männer sitzen in einem Restaurant - die wichtigen Mafiosi aus Corigliano und dazu einige Stadträte. Sie reden über Aufträge für eine Baufirma, die dem Clan gehört.
"Meine Waffe drückt mich so beim Sitzen", sagt einer der Clan-Männer, "hat jemand was dagegen, wenn ich sie auf den Tisch lege?" Die Augen der Politiker weiten sich. Dann legen auch die anderen Mafiosi ihre Waffen auf den Tisch. Und natürlich erhält die Firma den Auftrag.
(...)
Was passieren kann, wenn man sich mit der 'Ndrangheta anlegt, erfährt Giorgio einige Wochen später. Wieder ist ein Treffen anberaumt, diesmal unten am Fluss Coriglianeto, auf De Ciccos Grundstück. Es ist Abend, ein milder Wind weht über das Land und bringt angenehme Kühle. Der Tisch unter Olivenbäumen ist reichlich gedeckt. Es gibt Fleisch, Brot, Oliven und Wein. "Merk dir genau, was du sehen wirst", sagt De Cicco zu Giorgio.
Es beginnt wie immer. Zunächst reden die Männer über das Wetter und die Weinernte - bis sie plötzlich über einen in der Runde herfallen. Als der Mann ohnmächtig ist, fast tot schon, schleppen sie ihn zum Schweinestall. Dort quiekt gierig eine Rotte, die seit Tagen nichts zu fressen bekommen hat. Die Männer nehmen den blutig geschlagenen Körper und werfen ihn in den Trog. Wie wild stürzen sich die Schweine auf den Ohnmächtigen.
Die Männer lachen herzhaft, während die Schweine ihre Kiefer in das Menschenfleisch graben. In kurzer Zeit ist von dem armen Teufel kaum noch etwas übrig.
Allmählich kehren die Mafiosi an den Tisch zurück und essen ungerührt weiter. Giorgio schaut zu. Und lernt. "Das passiert mit Leuten, die einen Fehler machen", sagt De Cicco zu ihm.
ich stelle immer wieder bei vielen menschen ein unvermögen? defizit? einen unwillen? hinsichtlich der realistischen wahrnehmung der sich in solchen aktionen manifestierenden absoluten kälte, gleichgültig- und bösartigkeit fest. und sicher, es macht angst, ist in jeder hinsicht belastend und unangenehm.
aber durch die tatsachen, welche über die verbindungen zwischen der "legalen" wirtschaft und der organisierten kriminalität - von der die klassische mafia einen prototyp darstellt - bekannt sind, fürchte ich, dass wir letztlich nicht um eine auseinandersetzung mit dieser art von "als-ob"-gemeinschaften herumkommen werden. sie beeinflussen nämlich unser aller leben. und zwar keinesfalls positiv.
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edit 1: es ist sicher nur ein zufall bzw. eine böswillige unterstellung meinerseits, wenn mir beim betrachten der obigen geschichte ein zitat eines sicher sehr angesehenen und honorigen mitglieds der gesellschaftlichen elite in den sinn kommt:
"Sun-Manager Gage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, "to have lunch or be lunch", zu essen haben oder gefressen werden.
warum nur werde ich vor meinem inneren auge das bild applaudierender mafiosi nicht los?
edit 2: haben Sie hier, wie schon einmal früher empfohlen, auf die diversen logos von sehr angesehenen und honorigen unternehmen geklickt?
warum nur werde ich vor meinem inneren auge das bild neidischer mafiosi nicht los?