Montag, 4. September 2006

assoziation: zu den kriegen / konflikten im nahen und mittleren osten (3) - quellen des islamistischen fundamentalismus

(die ersten beiden beiträge zum thema, in denen es vor allem über (post-)traumatische einflüsse innerhalb der israelischen gesellschaft und ihre möglichen auswirkungen geht, sind hier und hier zu finden).

*

ein paar worte vorweg: nicht umsonst hat es länger gedauert, als ich eigentlich dachte, bevor dieser beitrag hier endlich eine form hatte, mit der ich einigermaßen zufrieden bin. die öffentlichen diskussionen rund um die themen islam(-ismus), religiösen und militanten fundamentalismus, den verschiedenen kriegszonen in der islamischen welt, israel und die rolle der usa und europa sind meistens derart polarisiert und in einem negativen sinne irrational, dass ich immer wieder schlicht tiefen widerwillen verspürte, mich weiter zu äußern. eine position zu finden, die ich selbst vertretbar finde, bedeutet auch, sich zwischen faktisch alle stühle zu setzen - und das ist, gerade bei der teils offen hasserfüllten art und weise der öffentlichen diskurse, kein angenehmer platz. andererseits: wo gibt es schon noch solche plätze?

mich stören sehr viele dinge: einmal wäre da der teils offen vertretene rassismus gegenüber menschen aus afrika, der arabischen welt und asien, der sich heute bei vielen verteidigerInnen der sog. "westlichen werte" untrennbar mit einer angeblich "aufgeklärten" islamkritik maskiert (das teile dieser kritik durchaus zutreffend sind, kann dabei keine rechtfertigung für rassistische ressentiments sein). zum anderen machen teile der westlichen linken andersherum strukturell nichts anderes, wenn sie - berechtigt - den erwähnten rassismus anprangern, dabei aber auch die tatsächlich reaktionären (religiös begründeten) strukturen gerade in vielen islamischen ländern unterschlagen und in schlechter, orthodox-vulgär-kommunistischer tradition quasi zu einer art "nebenwiderspruch" werden lassen - das gilt besonders dann, wenn es sich um kritik an den offen sichtbar vorhandenen patriarchalen lebensverhältnissen in diesen ländern geht, die auf einmal zu "kulturspezifischen eigenarten" erklärt werden, bei denen einmischung im emanzipatorischen(!) sinne gleichbedeutend mit imperialistischem chauvinismus sei und primär von ökonomischen interessen bestimmt wäre (was tatsächlich einen aspekt ausmacht - als stichwort reicht hier öl).

und wiederum als heuchelei muss imo die sorge um frauenrechte gelten, die seitens des offiziellen westens genau in dem moment entdeckt wurden, als bspw. die taliban in afghanistan nicht mehr verbündete - wie noch im kampf gegen die sowjetunion, als die usa genau diese taliban als freiheitskämpfer glorifizierten und die fundamental-islamistische ausrichtung ihrerseits als eine art "folkloristischer eigenart" verstanden - waren, sondern zu terroristen der gefährlichsten sorte mutierten. wer soll solchen leuten noch ihre behauptete sorge um frauen- und menschenrechte abnehmen? ich nicht. gerade vor dem hintergrund der tatsache, dass sexistische und patriarchale (ich verstehe unter den begriffen nicht das gleiche) strukturen im westen zwar modifiziert worden sind und in einigen bereichen gerade formaler und abstrakterer art (wie der allgemeinen gesetzgebung z.b.) geglättet erscheinen, nichtsdestotrotz aber in historisch teils neuen und daher auch schwer zu fassenden formen weiter fortbestehen und das leben hier prägen.

ebenfalls widerwärtig ist die instrumentalisierung des - meiner meinung nach sehr wohl vorhandenen, aber nur sehr gezielt mit repressionen zu bekämpfenden - terroristischen potenzials verschiedener islamistischer strömungen für eine inzwischen völlig hemmungslos gewordenen innere aufrüstung der usa und der meisten europäischen länder, die deutlich erkennbar die behauptete sorge für die "sicherheit der bürgerInnen" als maske vor sich herschiebt, um dahinter für die absehbaren schweren sozialen konflikte und verteilungskämpfe der nahen zukunft repressive strukturen zu schaffen, die in dieser art und weise ebenfalls eine historisch neue qualität darstellen und als absolute bedrohung jeder emanzipatorischen bewegung begriffen werden können - es existiert geradezu ein unheilvolles wechselspiel zwischen den jeweiligen strategen des fundamentalistischen terrors und der "inneren sicherheit", in dem alle zutaten von borderline-wahrnehmung zu finden sind: "gut-böse"-zuschreibungen ausschließlicher art (schwarz-weiß-sicht); polarisierendes lagerdenken; weit gehende dehumanisierung des jeweiligen "feindes" sowie eine sehr aufschlussreiche art von apokalyptischer endzeitrhetorik. das es sich bei dem begriff "borderline-wahrnehmung" vor diesem hintergrund nicht nur um eine metapher handelt, wird später noch deutlicher werden.

kurz: die ganze situation ist eine derartige, bei der zumindest bei mir spontan der impuls entsteht, sich die decke über den kopf zu ziehen und laut aufzustöhnen - es gibt imo keinerlei gründe für alle an tatsächlichen sozialen fortschritten interessierte, sich in dieser auseinandersetzung an der seite irgendeiner der beteiligten parteien zu positionieren, und wenn´s auch nur aus angeblich "taktischen" erwägungen sei - im gegenteil liegen die gründe für eine massive kritik an allen beteiligten seiten derart im weg herum, dass es schwerfällt, nicht alle naselang darüber zu stolpern.

*

im folgenden will ich nun eine zusammenfassende darstellung der entscheidenden sozialen bedingungen innerhalb weiter teile der sog. islamischen welt aus sicht der psychohistorie darstellen, wie sie lloyd deMause in seiner letzten arbeit präsentiert - in einer erweiterung zu ansätzen, wie sie bspw. bei ché im blog deutlich werden -

(...)"Aber es gibt eine Hardcore-Fraktion der Terrorbomber, die sich rein theologisch-ideologisch definieren und die auch ohne Elend in den Ländern und Palästina-Problem bomben würden. Interessanterweise sozial gesehen ein Oberschichtsphänomen."(...)

- versucht die psychohistorische analyse, hinter die als sekundär begriffenen, objektivistischen religiös-ideologischen konstrukte einen blick auf die dahinterliegenden psychophysischen strukturen der handelnden zu werfen, um derart zu einer neuen art von verstehen zu kommen, welches für eine beseitigung der quellen des fundamentalistischen islamismus und eine angepasste fortschrittliche entwicklung der betroffenen regionen wichtige anregungen geben kann.

und im unterschied zu quasi herkömmlichen psychologisch-psychoanalytischen ansätzen, wie sie hinsichtlich der islamischen welt bspw. martin altmeyer vor knapp einem monat in der "taz" unter dem titel Kultur der Niederlage vorgestellt hat; und die imo in einer typischen art und weise zu sehr von der abstraktion der orthodoxen pa geprägt sind und dabei zu solch unwahrscheinlichen und spekulativen konstruktionen wie der folgenden gelangt:

(...)"Während es wohl der Wahrheit entspräche, dass der Terrorist mordet, um für etwas Rache zu nehmen, wäre womöglich ebenfalls wahr, dass er an seiner Kränkung festhalte, um mit dem Morden weitermachen zu können. Die Unterstellung eines solchen (unbewussten) Verlangens bedeute für den Terroristen freilich eine weitere Erniedrigung, die ihn umso wütender mache, denn das Gefühl der Erniedrigung wolle er (bewusst) nicht behalten, sondern gerade loswerden. Wenn man ihm ein Bedürfnis unterstelle, sich gekränkt fühlen zu dürfen, erkläre man seine Motive und Verhaltensweisen für irrational."(...)

kann der psychohistorische ansatz imo eher eine antwort auf die in der "taz" ebenfalls aufgeworfene frage geben:

(...)"Hinter dem Kalkül des fundamentalistischen Islamismus, als dessen Vollzugsorgane sich terroristische Organisationen wie Hisbollah und Hamas verstehen, muss etwas anderes stehen als der Widerstand gegen die Schmach, die Erniedrigung, die Demütigung der arabisch-islamischen Welt durch Amerika und seinen Vorposten Israel."(...)

- weil er sich weitergehend die konkreten und in einer gewissen art und weise sehr "materiellen" sozialen lebensbedingungen anschaut, durch die wir menschen nun mal bis in unsere gehirne und nervensysteme (beides körperlich) geprägt werden, und die wir wiederum durch die wahrnehmungen / informationen in eben diesen gehirnen und nervensystemen prägen. diese vorgänge nun sind bestimmten gesetzen unterworfen, die zwar leider heute nur ansatzweise sichtbar sind, aber nichtsdestotrotz existieren. und ohne die letztlich keinerlei wirkliches verständnis menschlichen verhaltens möglich ist.

*

ich werde deMause im folgenden mit einer sehr komprimierten und in dieser art einzigartigen (zumindest ist mir nicht entsprechendes bekannt) darstellung der teils extrem traumatischen lebensbedingungen in der islamischen welt zitieren, die ich selbst an verschiedenen stellen im text kommentieren will. ich verzichte dabei auf die zahlreichen quellennachweise, die im original (bzw. im buch) angegeben werden - überwiegend bezieht er sich auf quellen aus den islamischen ländern selbst, wobei kritische - und feministische - arbeiten wie bspw. von nawal el saadawi überwiegen, die ich selbst als realistische beschreibungen der sozialen situation einschätze.

er differenziert dabei nicht zwischen den verschiedenen konflikten (z.b. israel - palästinenser), sondern versucht, die in den sozialen bedingungen vorhandenen gemeinsamen quellen der diversen krisen herauszuarbeiten, was die prägungen der islamistischen akteure betrifft.

*

(...)"Kinder, die heranwachsen, um islamische Terroristen zu werden, sind Pro­dukte eines frauenfeindlichen fundamentalistischen Systems, das häufig die Familie in zwei separate Gebiete trennt: das der Männer und das der Frauen. Die Kinder wachsen in den Räumen der Frauen auf, welche der Vater nur selten besucht. Selbst in Ländern wie dem heutigen Saudi-Ara­bien können sich Frauen dem Gesetz gemäß nicht unter nichtverwandte Männer mischen, und öffentliche Orte haben immer noch separate Frau­enzonen in Restaurants und an Arbeitsplätzen, denn - wie ein muslimi­scher Soziologe frei heraus sagt -: »In unserer Gesellschaft gibt es kein freundschaftliches Verhältnis zwischen einem Mann und einer Frau.« Fa­milien, aus denen die meisten Terroristen kommen, sind auch die gewalt­tätigsten Frauenfeinde; in Afghanistan, zum Beispiel, konnten Mädchen keine Schulen besuchen, und Frauen, die versuchten, ihre Jobs zu behal­ten oder scheinbar »mit Stolz dahin schritten«, wurden erschossen. Junge Mädchen werden in den meisten fundamentalistischen Familien abscheulich behandelt. Wird ein Junge geboren, herrscht Freude in der Familie; wird ein Mädchen geboren, trauert die ganze Familie.

Die Sexua­lität des Mädchens ist so verhasst, dass sie, im Alter von etwa 5 Jahren, von Frauen gepackt und zu Boden gedrückt wird und ihr mit einer Ra­sierklinge oder einer Glasscherbe die Klitoris und häufig auch die Scham­lippen abgeschnitten werden. Ihre Agonie und Hilfeschreie werden dabei ignoriert, weil, so sagen sie, ihre Klitoris »schmutzig«, »hässlich«, »giftig« ist, sie »kann einen unersättlichen Appetit auf ausschweifenden Sex ver­ursachen« und »kann Männer impotent machen«. Die Stelle wird dann häufig zugenäht, um Geschlechtsverkehr zu verhindern, es wird nur eine winzige Öffnung zum Urinieren gelassen. Die genitale Verstümmelung ist quälend schmerzhaft. Bis zu einem Drittel der Mädchen sterben an Infek­tionen, verstümmelte Frauen müssen »langsam und schmerzvoll dahin­schlurfen« und sind normalerweise unfähig, einen Orgasmus zu haben. Man schätzt, dass heute über 130 Millionen genital verstümmelte Frauen in islamischen Nationen leben, von Somalia, Nigeria und dem Sudan bis Ägypten, Äthiopien und Pakistan. Eine Studie über ägyptische Mädchen und Frauen ergab zum Beispiel, dass 97 Prozent der ungebildeten und 66 Prozent der gebildeten Familien immer noch weibliche genitale Verstüm­melung praktizieren würden. Obwohl in einigen Gebieten diese Praxis weitgehend aufgegeben wurde, nimmt sie in anderen - wie im Sudan und in Uganda - weiter zu, wo 90 Prozent der befragten Frauen angaben, al­le ihre Töchter beschneiden zu wollen.

Die Verstümmelung wird
nicht vom Qu'an vorgeschrieben; vielmehr sagte Mohammed, man solle Mädchen besser als Jungen behandeln. Den­noch haben Frauen über Jahrtausende hindurch ihren Töchtern diesen Horror zugefügt und inszenieren den ihnen durch Männer zugefügten Missbrauch wieder neu, wenn sie ihre Töchter verstümmeln und fröhliche Lieder wie dieses dabei singen: »Wir waren einmal Freunde, aber heute bin ich der Herr, weil ich ein Mann bin. Schau - ich hab ein Messer in meiner Hand. ... Deine Klitoris; ich werde sie abschneiden und sie weg­werfen, weil heute bin ich ein Mann.«

(dieses und alle folgenden zitate: lloyd deMause "das emotionale leben der nationen"; drava, klagenfurt 2005; isbn 3-85435-454-1; s. 39 - 43)


ich halte primär theologische und religionstheoretische auseinandersetzungen für weitgehend uninteressant, da "heilige bücher" wie die bibel und der koran sowohl beliebig interpretierbar sind als auch vermutlich durch die jahrhunderte immer wieder verändert wurden. so kann aus der bibel sowohl bspw. die inqusition als auch die befreiungstheologie südamerikanischen zuschnitts "begründet" und hergeleitet werden - sich gegenseitig ausschließende handlungsweisungen also, die die willkür deutlich machen, mit der religiöse motive konstruktivistisch begründet und umgesetzt werden. ebenso dürfte es sich mit der obigen äußerung von mohammed verhalten. deMause gibt an anderer stelle dagegen interessante hinweise darauf, dass sämtliche religionen, incl. der sog. naturreligionen, und besonders die damit assoziierten gottheiten, eher als produktionen einer durch extrem verbreitete traumatische erfahrungen allgemein dissoziierten welt- und selbstwahrnehmung zu verstehen sind, in dem die diversen götter als projektionen strafender bzw. lobender und aus der sicht von kindern v.a. mächtiger elternfiguren auftreten - und gerade die im religiösen kontext immer wieder auftretenden phänomene wie bspw. trance, religiöse verzückung, ekstase, aber auch selbstgeisselung und -bestrafung, lassen sich aus heutiger sicht sehr wohl als extremformen dissoziativer zustände begreifen.

eine andere art dissoziativer wahrnehmungsspaltung lässt sich hingegen beim stichwort saudi-arabien konstatieren: bis heute ist das dortige herrschaftssystem als eine art theokratische diktatur zu verstehen, mit einer speziellen variante patriarchaler und sexistischer unterdrückung. und seit jahrzehnten kann festgestellt werden, das diese diktatur ohne die faktische unterstützung der usa - die bis heute andauert, wenn auch in der folge des 11. september 2001 mit einigen "irritationen" - nicht existenzfähig wäre. eine (us-)administration, die im falle afghanistans zur "begründung" eines krieges u.a. menschen- und frauenrechte anführte, die sie im falle saudi-arabiens nicht mal als sekundär relevant ansieht (schließlich sind das immer noch ölliefernde "verbündete"), muss sich mindestens als heuchlerbande bezeichnen lassen, die menschenrechte rein instrumentell dann einsetzt, wenn´s ihr in den propagandistischen kram passt. sie kann allerdings auch als in einem pathologischen wahrnehmungsstatus festhängend begriffen werden - und genau dafür geben die gesamten arbeiten von deMause, der sich über jahrzehnte mit der us-amerikanischen innen- und außenpolitik bzw. ihren versteckten "drehbüchern" beschäftigt hat, etliche indizien.

"Mädchen, die in diesen fundamentalistischen Familien aufwachsen, werden normalerweise so behandelt; als wären sie verschmutzte Wesen, verschleiert, und manchmal von Gruppen vergewaltigt, wenn Männer au­ßerhalb der Familie mit Männern ihrer Familie eine alte Rechnung zu be­gleichen haben. Studien, wie eine aktuelle Erhebung unter palästinensi­schen Studenten, zeigen, dass sexueller Missbrauch in islamischen Gesell­schaften weit häufiger stattfindet als anderswo, wobei mehrheitlich Mäd­chen davon betroffen sind, als Kinder sexuell belästigt worden zu sein. Auch eine Heirat kann als Vergewaltigung betrachtet werden, da die Fa­milien häufig den Partner aussuchen und das Mädchen erst 8 Jahre jung ist. Die Schuld für die Vergewaltigung wird oft den Mädchen zugescho­ben, da man davon ausgeht, dass »diejenigen, die nicht darum bitten, auch niemals vergewaltigt werden«. Das Verprügeln der Ehefrauen ist üblich und Scheidung auf Wunsch der Frau selten - vielmehr sind Frauen von ihren Familien umgebracht worden, nur weil sie um die Scheidung baten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bei »Ärzte für Menschenrechte« he­rausgefunden wurde, dass »97 Prozent der afghanischen Frauen, die sie untersuchten, unter schweren Depressionen litten«.

Es überrascht auch nicht, dass diese verstümmelten, geprügelten Frau­en keine ideale Figur als Mütter abgeben und ihr eigenes Elend wiederum ihren Kindern zufügen. Besucher bei Familien in verschiedensten funda­mentalistischen muslimischen Gesellschaften berichten vom »Ohrfeigen, Schlagen, Peitschen und Verprügeln« von Kindern, mit konstanter Beschä­mung und Demütigung, von ihren Müttern häufig als »Feiglinge« be­schimpft, wenn sie sich weigern, andere zu schlagen. Physischer Miss­brauch von Kindern geht weiter; gemäß einem Bericht der Pakistanischen Konferenz über Kindesmissbrauch »sehen sich eine große Anzahl von Kin­dern mit irgendeiner Form physischen Missbrauchs konfrontiert, vom In­fantizid und der Weglegung von Babys bis hin zu Schlagen, Schütteln, Ver­brennen, Schneiden, Vergiften, Unter-Wasser-Halten oder der Verabrei­chung von Drogen oder Alkohol oder gewalttätige Handlungen wie Boxen, Treten, Beißen, Würgen, Schlagen, Beschießen oder Stechen«.


kurz: ähnliche und gleiche praktiken also, wie sie in dieser gesellschaft hier in den letzten jahren immer wieder für kurzzeitige mediale aufgeregtheit sorgen - ein beispiel.

"Islamische Schulen praktizieren regelmäßig die Prügelstrafe - speziell in den Religionsschulen, aus denen freiwillige Terroristen so häufig kom­men - und ketten ihre Schüler tagelang »in dunklen Räumen mit wenig Nahrung und kaum vorhandener sanitärer Einrichtung« an."

das sind methoden aus dem arsenal der sensorischen deprivation , die auch bei der - ja, programmierung von selbstmordattentätern eine wichtige rolle spielt - dazu bspw. mehr hier und hier.

"Sexueller Missbrauch - beschrieben als »Streicheln der Genitalien, vom Kind die Berührung der Genitalien des Missbrauchers erzwingen, die Masturbation mit dem Kind entweder als Teilnehmer oder Beobachter, oraler Sex, ana­le oder vaginale Penetration mit Penis, Finger oder jeglichen anderen Objekten und [Kinder-]Prostitution« - ist ausgedehnt vorhanden, jedoch un­möglich zu beziffern.

Auch von Müttern ist berichtet worden, sie würden häufig »den Penis [ihrer Jungen] lange und heftig reiben, um ihn zu ver­größern«. Der Studie über die palästinensischen Studenten folgend, wür­den die Jungen laut ihren Berichten sogar häufiger sexuell missbraucht werden als Mädchen - Männer wählen die anale Vergewaltigung von klei­nen Jungen, um das zu vermeiden, was sie als die »unersättliche Vagina«der Frauen betrachten. Von einigen Gebieten wird berichtet, Kinder hät­ten mit Narben übersäte Körper von Verbrennungen mit glühendheißen Bügeleisen, die von Bestrafungen ihrer Eltern oder von Heilungen von der Besessenheit durch Dämonen herstammen. Kindern wird strikter Gehor­sam gegenüber allen elterlichen Befehlen beigebracht, wie etwa zu stehen, wenn ihre Eltern den Raum betreten, ihre Hände zu küssen, nicht über­mäßig zu lachen, sie immens zu fürchten; und sie lernen, dass es schreck­lich sündhaft ist, einem ihrer Begehren nachzugeben. Alle diese Kinder­erziehungspraktiken sind jenen sehr ähnlich, wie sie Kindern im mittelal­terlichen Westen routinemäßig zugefügt worden sind."


und in variantionen in deutschland bis mitte des 20. jahrhunderts stark verbreitet waren - die uns heute (hoffentlich) bedrückenden fälle von gewalt gegen kinder in dieser gesellschaft stellen eher relikte dieser massiv traumatischen vergangenheit dar - relikte allerdings, die immer noch in zu großer zahl vorhanden sind. das dabei bis heute auch christlich-religiöse institutionen immer wieder als täter im focus stehen, sollte ein gesundes mißtrauens gegen jede art derartiger "religiösität" unterstützen, die mit "spirituell" begründeten hierarchien daherkommt.

und nun folgt ein sehr wichtiger punkt - lassen Sie sich von einigen begriffen, die Ihnen womöglich seltsam vorkommen mögen, nicht irritieren:

"Die asketischen Resultate solch strafreichen Erziehens sind voraussag­bar. Wenn diese missbrauchten Kinder heranwachsen, fühlen sie jedes Mal, wenn sie versuchen, sich selbst zu aktivieren, jedes Mal, wenn sie unabhän­gig etwas für sich selbst tun wollen, sie könnten in ihren Köpfen die Billigung ihrer Eltern verlieren - hauptsächlich die ihrer Mütter und Großmüt­ter im Frauenquartier. Als ihre Städte in den letzten Jahrzehnten mit Geld aus Ölverkäufen und westlicher Popkultur überflutet wurden, fühlten sich die fundamentalistischen Männer erst zu den neuen Freiheiten und Ver­gnügungen hingezogen, zogen sich aber bald zurück, weil sie spürten, sie würden die Zustimmung ihrer Mami riskieren und als »böse Buben« gese­hen werden."

während ich den ersten satz voll unterschreibe - u.a. aus diesem grund versucht jedes autoritäre bzw. diktatorische system, u.a. über familien- und bildungspolitik destruktiven zugriff auf die lebens- und entwicklungsbedingungen der kinder und jugendlichen zu nehmen -, drückt sich deMause beim konstrukt des "bösen buben" imo etwas unglücklich und in v.a. in orthodox-freudianischer manier aus. genauer wäre es, von in folge massiver traumata entstandenen dissoziativen persönlichkeiten zu sprechen, bei denen einzelne teil-persönlichkeiten die destruktiven handlungen und forderungen der täterInnen repräsentieren, und bei "verstößen" gegen deren gebote und weltsicht massiv aktiviert werden, u.a. in form von existenziellen schuldgefühlen. bei als solchen diagnostizierten dissoziativen (multiplen) persönlichkeiten können diese anteile als quasi selbst existierende (teil-)"persönlichkeiten" von außen beobachtet werden. in schwächerer form können wir sie an und in uns selbst wahrnehmen - als mehr oder weniger deutlich wahrnehmbare innere "stimmen", die auf einem herumhacken - tatsächlich meist in situationen, die im weitesten sinne etwas mit selbstverwirklichung zu tun haben (was u.a. dann zum problem werden kann, wenn sich berechtigte kritik an egozentrischem verhalten mit destruktiven folgen für andere mit diesen stimmen mischt und zu elementarem trotz und massiver abwehr führen kann - zu beobachten ist das immer wieder bspw. bei diskussionen über die notwendige einschränkung des westlichen lebensstandards aus ökologischen und sozialen gründen).

"Menschen aus dem Westen kamen, um jetzt in Form einer Projektion ihr eigenes »Böse Buben«-Ich zu repräsentieren, das abgetötet werden musste, so wie sie von sich selbst meinten, die Strafe verdient zu haben dafür, solch unverzeihliche Sünden zu begehen, nämlich Musik zu hören, Drachen steigen zu lassen und Sex zu genießen. So urteilte je­mand: »Amerika ist gottlos. Der westliche Einfluss hier ist keine gute Sa­che, unsere Leute können CNN, MTV [und] Küssen sehen.« Ein anderer beschrieb seine Gefühle folgendermaßen: »Wir werden die amerikanischen Städte Stück für Stück zerstören, weil euer Lebensstil für uns so anstößig ist, eure pornographischen Filme und das Fernsehen.« Viele waren einer Meinung mit dem iranischen Kulturminister, dass alle amerikanischen Fernsehprogramme »ein Teil eines ausgedehnten Komplotts zur Auslö­schung unserer Kultur und unserer heiligen Werte« wären, und hatten aus diesem Grund das Bedürfnis, Amerikaner töten zu müssen. Sayyid Qutb, der intellektuelle Vater des islamischen Terrorismus, beschreibt, wie er sich gegen den Westen wandte, als er bei einem Amerikabesuch einmal einen Kirchentanz beobachtete: »Jeder junge Mann nahm die Hand einer jungen Frau. Und das waren dieselben jungen Männer und Frauen, die ge­rade eben ihre Hymnen gesungen hatten! Der Raum wurde zu einem Durcheinander von Füßen und Beinen: Arme schlangen sich um Hüften; Lippen trafen Lippen; Oberkörper drückten sich aneinander.«

hier liegt ein vergleich mit den inneren dynamiken von "ideologisch" ganz anders konstruierten autoritären gesellschaftsentwürfen durchaus nahe - in ihrer abwehr und feindschaft gegenüber allem lebendigen, für das die sexualität als das symbol überhaupt angesehen werden kann, finden jenseits aller "ideologischen" differenzen christliche, moslemische und sonstige religiöse fundamentalisten, aber auch bspw. faschisten aller coleur und orthodoxe stalinisten einen sehr aufschlußreichen gemeinsamen nenner. das genau diese lebendigkeit aber auch für die kontrollorientierte, objektivierende und quasiautistische vorherrschende tendenz der westlichen gesellschaften ein greuel ist - die sich zumindest in teilen (!) von den offen traumatischen strukturen der vergangenheit fortentwickelt hat - , bedeutet imo aber nicht, dass es keine unterschiede zu den erwähnten klassisch autoritären formationen geben würde - eher scheinen wir es in unserer gesellschaft mit anderen wegen des ausagierens, aber auch - durch die entwicklung von wissenschaftlichen ansätzen wie der psychiatrie und psychotherapie - qualitativ ebenfalls zumindest teilweise anderen möglichkeiten der tatsächlichen verarbeitung unserer traumatischen kollektiven und individuellen geschichte(n) zu tun zu haben. wobei bis auf weiteres sehr fraglich scheint, wie stark die dadurch vorhandenen tatsächlich emanzipatorischen möglichkeiten real sind.

"Osama bin Laden. selbst »frequentierte während seiner Collegezeit prunkvolle Nachtdubs, Casinos und. Bars [und] war ein Trinker und Schürzenjäger«, fühlte aber bald extreme Schuld für seine Sünden und be­gann, das Töten von Westlichen wegen ihrer Freiheiten und der Verfüh­rung von Moslems zu predigen."

hier sind verblüffende biographische parallelen zu seinem gegenpart george w. bush zu sehen:

(...)"Bush junior ist in zweifacher Hinsicht ein bekehrter Alkoholiker. Mit Ende Dreißig war er der nichtsnutzige Sohn eines reichen, erfolgreichen, patrizischen Vaters - ein Weiberheld und Trinker. Dann fand er Jesus. Um aus der Spirale eines ziellosen Lebens herauszukommen, wurde er unter dem Einfluss des charismatischen Predigers Billy Graham religiös, trank fortan keinen Tropfen mehr und ging in die Politik. Das klingt wie der Stoff für eine Satire (am besten von Tom Wolfe), aber jeder Therapeut weiß, dass ein dramatisches Erlösungserlebnis und die Bindung an neue, starke Werte oft der Weg aus der Selbstzerstörung ist."(...)

die quelle und einige - ältere - gedanken meinerseits dazu sind hier bzw. im zugehörigenden thread zu finden.

"Die meisten Führer der Taliban waren reich, so wie bin Laden, hatten Kontakt mit dem Westen gehabt und wa­ren in ihre terroristische Gewalttätigkeit hineingestoßen worden, scho­ckiert durch »die persönlichen Freiheiten und den Überfluss des Durch­schnittsbürgers, durch die Promiskuität und durch den Alkohol- und Dro­genkonsum der westlichen Jugend ... Nur eine absolute und bedingungs­lose Rückkehr in die Arme des konservativen Islamismus könnte die mos­lemische Welt vor den inhärenten Gefahren und Sünden des Westens be­wahren«. Bin Laden kehrte seinem vergnüglichen Leben den Rücken und lebte mit seinen vier Frauen und fünfzehn Kindern in einer kleinen Höh­le ohne fließendes Wasser, all jenen mit einem heiligen Krieg drohend, die sündhafte Handlungen und Freiheiten genießen, welche er in sich selbst nicht dulden kann.

Von Kindheit an ist den islamischen Terroristen beigebracht worden, jenen Teil in sich selbst umzubringen - und in weiterer Übertragung auch bei anderen -, der selbstsüchtig ist und gerne persönliches Vergnü­gen und Freiheiten hätte."


an dieser stelle finde ich das wort "selbstsüchtig" ziemlich unglücklich, zu negativ und zu begrenzend - eher ist eine traumatisierende behandlung von kindern, wie sie hier beschrieben wird, faktisch gegen alle lebendigen anteile wirksam - und wahllose promiskuität wie auch vielfältigster drogenabusus können auch jenseits von moralischen kategorien als symptome gestörter selbstregulation angesehen werden - sie sind imo eine andere art des ausagierens.

"Bereits in ihren von Gewalt und Schrecken be­herrschten Elternhäusern - und nicht erst später in den terroristischen Trainingscamps - lernen sie von Anfang an, Märtyrer zu sein und für Allah zu sterben. Als Selbstmordattentäter, die von der Ausführung ih­rer Vorhaben abgehalten werden konnten, im TV interviewt wurden, sag­ten sie, sie fühlten sich »ekstatisch«, als sie auf den Knopf drückten. Sie leugneten, durch die Jungfrauen und andere Verlockungen, die sie an­geblich im Paradies erwarteten, motiviert worden zu sein. Stattdessen wollten sie sich Allah anschließen - um die Liebe zu bekommen, die sie nie hatten. Von den Müttern von Märtyrern berichtet man, sie wären glücklich darüber, dass diese sterben. Eine Mutter eines palästinensi­schen Selbstmordattentäters, der sich in Stücke gerissen hatte, sagte »mit entschlossen freudiger Miene«: »Ich war sehr glücklich, als ich es erfuhr. Ein Märtyrer zu sein, das ist etwas. Nur wenige Menschen kön­nen das. Ich habe gebetet, um Gott zu danken. Ich weiß, mein Sohn ist nahe bei mir."

das deutsche wort "eisenmütter", welches heute bezeichnenderweise im netz nur noch im kontext des sog. rechtsrock zu finden ist, kommt mir bei den letzten sätzen in den sinn - es wurde imo sowohl im ersten weltkrieg als auch später im ns als eine art anerkennder auszeichnung für tränen- und gnadenlose mütter verwendet, deren söhne - von ihnen begrüßt - den sog. heldentod auf den schlachtfeldern fanden. ebenfalls lassen sich gewisse parallelen zu einigen heutigen "borderline-müttern" finden, bei denen die empathielosigkeit allerdings nicht durch irgendwelche ideologischen konstrukte bemäntelt wird.

*

und ansonsten finde ich, dass die texte oben für sich selbst sprechen - und hoffe, dass sie zumindest dazu anregen, von den eingefahrenen betrachtungsweisen etwas wegzukommen. fertige lösungen kann und will ich hier nicht präsentieren, obwohl sich zumindest einige ansätze von selbst ergeben:

(...)"Zu hören ist auch, was die Attentäter betrifft, eine Kritik am oft verbreiteten Anspruch der Religion, wonach dort die Lösung für alle Probleme zu finden sei. Weshalb gibt es keine "islamische Form der Psychotherapie", fragt etwa ein konvertierter deutscher Muslim. Kriegstraumata könne man mit dem Koran alleine nicht begegnen.(...)"

(quelle)


nicht nur kriegstraumata, so muss ergänzt werden. allerdings lassen sich religionen durchaus jenen "emotionalen stützkorsetten" zuordnen, die ich im letzten blogbeitrag in einem ganz anderen zusammenhang genannt hatte. vermutlich ist diese funktion sogar die eigentliche quelle ihrer attraktivität für geschädigte menschen.

Freitag, 1. September 2006

assoziation: mixzone

ich habe momentan ziemlich schlechte laune - und ein paar auslöser dafür gibt es im folgenden zu betrachten (und möglicherweise wird´s auch etwas zynisch werden...)

*

birger dulz gilt im zusammenhang mit forschung und therapie der borderline-persönlichkeitsstörung als einer der offiziell anerkanntesten kliniker, und in diesem fall kann ich das - anhand der theoretischen arbeiten, die ich von ihm kenne - auch nachvollziehen. das er sich dabei im mainstream des borderline-diskurses bewegt, liegt bei seiner repuatation eigentlich auf der hand - aber gerade durch diesen status bekommen aussagen, wie sie bspw. im unteren teil dieses beitrages zu lesen sind, vielleicht eine gewisse bedeutung in der (ver-)öffentlich(t)en wahrnehmung - und besonders dann, wenn sie aktualisiert werden:

(...)"Die Betroffenen seien - meist gut therapiert - durchaus auch in leitenden Positionen anzutreffen, berichtet der Chefarzt der IV. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios-Klinik Nord, Dr. Birger Dulz. Auf der anderen Seite allerdings landeten viele von ihnen - ohne Therapie - in psychiatrischen Einrichtungen und im Strafvollzug."(...)

nunja - was bedeutet in diesem zusammenhang eigentlich "gut therapiert"? "leitende positionen" in einem gesellschaftssystem, welches - und für diese feststellung reicht eine halbwegs funktionierende wahrnehmung bereits aus - bei genauer betrachtung für die absolute mehrheit der weltbevölkerung und auch für den planeten als ganzes extrem dysfunktional bis tödlich ist und sich u.a. durch krebsartig um sich greifende verdinglichung und simulative prozesse "auszeichnet", stellen imo weder einen anstrebenswerten noch einen akzeptablen maßstab für therapeutische erfolge dar - auch, wenn die orthodoxe psychiatrie und psychotherapie genau für derlei "erfolge" von dieser gesellschaft bezahlt werden.

und zur letzten aussage von dulz nur zwei anmerkungen: erstens kann auch "mit therapie" der weg in die erwähnten institutionen führen, und zweitens wäre es imo seine aufgabe, vor diesem hintergrund auch sinn und struktur des heutigen strafsystems in frage zu stellen - etwas, bei dem sein entfernter kollege roth bereits deutlichen klartext redet.

*

neben dulz hat der name von otto f. kernberg in der borderlineforschung weltweit vermutlich die größte akzeptanz - und das ist für einen expliziten psychoanalytiker in der psychiatrie schon recht ungewöhnlich, kann aber auch einige gerade durch die orthodoxe pa erzeugte seltsamkeiten und wahrscheinliche irrtümer hinsichtlich borderline erklären, wie sie im folgenden artikel wieder einmal auf den tisch kommen. zunächst werden die beobachtungen von dulz oben noch einmal bekräftigt, und zwar in deutlich negativer art und weise:

(...)"Borderline" hat sich als übergeordneter Begriff für alle Arten schwerer Persönlichkeitsstörungen umgangssprachlich etabliert und den "Psychopathen" nicht nur im Fachbereich abgelöst. Tatsächlich nimmt er unter diesen Störungen, von denen nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung betroffen sind, eher eine nachrangige Stellung ein – wenn auch eine prominente, schon weil er nicht leicht zu diagnostizieren ist – und noch schwerer zu behandeln.

Und noch einen gewichtigen Grund gibt es dafür, seit US-Experten herausfanden, dass Borderliner, als Manager zunächst wegen ihrer Skrupellosigkeit bei "Umstrukturierungen" (Hinauswürfen) von Unternehmen geschätzt, in der Folge desaströs handeln. Der Grund: Die meisten Borderliner sind außerstande, konstruktive Arbeit zu leisten und im sozialen Umfeld normal zu interagieren.

Doch nicht nur für den Arbeits- und Unternehmensbereich oder die Politik, in der Borderliner oft als "Quereinsteiger" auftauchen (aber kaum bleiben), sondern auch das private Leben (Beziehungen, Ehe) stellen Borderliner durch Akzeptanz- und Distanzlosigkeit, Grenzüberschreitungen und Zumutungen eine zumindest so große Gefahr dar wie für sich selbst."


interessant, das die autorin hier eine faktische gleichsetzung von borderline und (klassischer) psychopathie vornimmt - warum ich das für nicht zutreffend halte, lässt sich u.a. hier und hier nachlesen. es bestehen schließlich einige indizien dafür, allgemein antisoziales verhalten - welches sich bei als solchen diagnostizierten bl-personen zweifelsfrei selbst bei berücksichtigung der gesellschaftlichen bedingtheit der "offiziellen" kriterien für antisozialität finden lässt - von der klassischen psychopathie zu unterscheiden.

und das sich der begriff als generelles synonym für alle heute geführten modelle von persönlichkeitsstörungen eingebürgert hat, mag zwar zutreffen, dürfte aber gerade bei leuten wie kernberg auf einigen widerspruch stoßen. ich selbst halte es durchaus für möglich für möglich, dass das synonym zutreffend ist - aber nur, wenn die orthodoxen modelle wesentlich erweitert bzw. ganz verlassen werden.

ebenfalls ist imo die aussage unzutreffend, dass die "meisten" bl-persönlichkeiten außerstande seien, im sozialen umfeld zu "interagieren" - das trifft höchstens für akut agierende bl-menschen zu, die dabei gegen die aktuellen kriterien der "objektiven realität" verstoßen - oder kurz gesagt auffällig werden, und damit zu objekten der psychiatrie oder sogar der strafjustiz. im als-ob-modus hingegen können solche menschen, gerade vor dem hintergrund der zunehmenden virtualisierung vieler sozialer bereiche, interaktionen und kommunikation mit tendenziell zunehmendem erfolg simulieren - und eine der thesen des weiterhin ignorierten j. erik mertz, die für diese ignoranz mitverantwortlich sein dürfte, besteht denn auch darin, einen teil der "therapeutischen" erfolge bei borderline-persönlichkeiten letztlich als erfolge bei der zunehmenden perfektionierung der jeweiligen simulativen fähigkeiten zu analysieren, d.h. das die heute etablierten therapien die betroffenen lediglich für die bereits in sich gestörten und kranken strukturen der heutigen gesellschaft anpassungs- und durchsetzungsfähiger machen - und damit macht man sich ganz sicher keine freunde innerhalb der kollegInnenschaft.

weiter im text:

"Die Borderline-Forschung hat in den letzten Jahren einige Fortschritte gemacht. So fanden Fachleute heraus, dass in vielen Fällen Missachtung und Vernachlässigung des Kindes seitens eines oder beider Elternteile vorlag. Überproportional häufig fanden sich auch Hinweise auf sexuellen Kindesmissbrauch. Schließlich wurden auch mehrere Ursachen dafür entdeckt, warum viele Borderliner den Schmerz durch Selbstbeschädigung und suizidähnliche Taten suchen. Doch ein gemeinsamer Nenner in der Entstehung fand sich bisher nicht wirklich."

das suggeriert mehr an erkenntnissen, als imo wirklich vorhanden sind - die genauen beziehungen bzw. verhältnisse zwischen borderline und (post-)traumastörungen aller art sind nach meinem eindruck noch nicht tatsächlich begriffen worden, was auch mit mit den erwähnten, und im internationalen borderline-diskurs sehr dominanten, orthodox-psychoanalytischen modellen / ansätzen zu tun haben dürfte, wie sie im folgenden kurz umrissen werden:

"Der aus Wien stammende und in New York lehrende Otto F. Kernberg – er ist ein weltweit anerkannter Spezialist für schwere Persönlichkeitsstörungen – sieht als Grundursache für Borderline und verwandte Störungen ein psychoanalytisches Phänomen: Die Betroffenen seien, sehr vereinfacht ausgedrückt, in ihrer Kindheit nicht imstande gewesen, die moralische Instanz – das Über-Ich – in ihr Ich zu übernehmen.

Dagegen stärke ein integriertes Über-Ich die Fähigkeit zur Ausbildung sowohl von Objektbeziehungen als auch die Autonomie: "Ein internalisiertes Wertesystem macht das Individuum weniger abhängig von äußerer Bestätigung ... und ermöglicht gleichzeitig ein tieferes Engagement in Beziehungen zu anderen Menschen", wie Kernberg in seinem neuen Buch ("Narzißmus, Aggression und Selbstzerstörung") schreibt.

Doch die Internalisierung eines Wertesystems bedarf der Grundsätze, Leitbildern, Erkenntnis. Kernberg befürchtet nun anhand bestimmter Parameter eine Zunahme solcher Persönlichkeitsstörungen durch soziale Umstände: Wo die traditionellen Strukturen einer Gesellschaft durch raschen Umschwung wegfielen, fehle es an deren stabilisierendem Einfluss auch auf das Individuum. Und insbesondere sozial verwahrloste Kinder, deren Vorbilder vom "Recht des Stärkeren" geprägt werden, sind davon betroffen."


*ächz* ich empfinde bei derlei aussagen zunehmend widerwillen und verdruß. warum? einmal ist es die sprache - der begriff "objektbeziehungen" wurde bereits vor jahrzehnten von erich fromm kritisiert, und zwar sehr berechtigt. dazu finde ich das mechanistische modell der pa, aus dem die konstruktion des "über-ich" stammt, schlicht überholt - freud hat hier vermutlich - wofür ihm aber bei berücksichtigung der historischen umstände schlecht ein vorwurf gemacht werden kann - auf der basis eine allgemeine verbreiteten fragmentierenden bzw. dissoziativen wahrnehmung anhand der beobachtung von fragmentierten bzw. dissoziativen patientInnen sein modell der menschlichen psyche entwickelt, welches von heute aus erstens grundsätzlich körperlos erscheint bzw. den körper in form des anonymen und "tierischen" "es" als gegenpart zum "kontrollierten und vernunftgeleiteten geist" (dem "ich") konstruiert; und hat zweitens damit ziemlich bewußtlos die folgen eines über generationen und jahrhunderte existierenden tief traumatischen einflusses innerhalb der westlichen gesellschaften (u.a. durch die verbreitete gewalt gegen kinder) quasi als "anthropologische normalität" in seinem entwurf reproduziert und zementiert.

mit anderen worten: alle theorien und modelle vom menschlichen verhalten, die den "wahnsinn der normalität" nicht wahrnehmen (können oder wollen), neigen zwangsläufig dazu, die sich aus diesem wahnsinn ergebenen verzerrten verhaltensweisen und die ebenso verzerrten individuellen wie sozialen strukturen als "normalität", "menschliche natur" und "anthropologische konstante" fehlzuinterpretieren - und werden deshalb ebenso zwangsläufig zu einer art ideologie, die die grundsätzlich pathologischen verhältnisse nicht nur nicht mehr kritisieren / analysieren kann, sondern sie sogar noch verstärkt und untermauert.

das gilt - in verschiedenem ausmaß - sowohl für die orthodoxe psychoanalyse (als deutlichstes beispiel wäre hier das konstrukt des "todestriebs" zu nennen) als auch bspw. für solche konstrukte wie den "homo oeconomicus", der bis heute gerade in prokapitalistischen ideologien als pathologisches menschenbild herumspukt - und als basis dieser ideologien unverzichtbar ist.

was kernberg nicht aufzufallen scheint: wenn sein modell konsequent zuende gedacht wird, kann als letztes auch die forderung nach einer durchhierarchisierten, formierten und autoritären gesellschaft stehen, die all den quasi "natürlich" "über-ich"-schwachen menschen die "traditionellen strukturen" z.b. von nationalstaat, patriarchat und autoritärer familie als eine art emotionales stützkorsett implantiert - was in der folge von den meisten menschen unter dem daraus folgendem sozialen anpassungsdruck tatsächlich "internalisiert" wird (ein blick in die geschichtsbücher macht deutlich, dass dieser mechanismus tatsächlich "funktioniert" - und heute auch die scheinalternative zum durchdrehenden objektivismus des westlichen typs darstellt, die den erfolg von neofaschistischen und fundamentalistischen strömungen jeglicher coleur begünstigt). und gerade die erwähnten "sozial verwahrlosten kinder" finden in dem angeblich "natürlichen" "recht des stärkeren" eine mächtige, genau von den gerade erwähnten strömungen ideologisch recht beliebig interpretierte untermauerung / begründung dafür, dass sie sich nicht ändern müssen - oder anders: ihren eigenen verletzungen nicht gegenüber treten müssen. gerade dieser aspekt wird bei den analysen des rollbacks diverser reaktionärer und antisozialer fundamentalistischer strömungen, egal ob "politisch" oder "religiös", meistens ausgeblendet.

ich nehme kernberg dabei durchaus ab, dass er sich selbst wahrscheinlich als vertreter einer zutiefst humanistischen und der aufklärung verpflichteten strömung begreift - aber die vielen lücken und verzerrungen der (nicht nur von ihm) vertretenen modelle bilden die einfallstore für u.a. jene extrem destruktive strukturen, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen. dazu kommt sein imo ziemlich unreflektierter beziehungsbegriff, der ebenso wie die meisten anderen heute etablierten nichts von der wirklichkeit der existenz simulativer fähigkeiten - und damit eben auch simulierter pseudobeziehungen - wissen will. auch das lässt sich als grundsätzlicher fehler im freudschen modell des menschen analysieren, wie es mertz in seinem buch bereits ansatzweise getan hat.

*

das stichwort "sozial verwahrloste kinder" leitet über zu folgender meldung:

"Großbritanniens Premierminister Tony Blair hat ein frühestmögliches Eingreifen des Staates gegen Kinder- und Jugendkriminalität gefordert. Möglicherweise seien schon vor der Geburt Maßnahmen nötig, um das Heranwachsen von Kindern zu Unruhestiftern zu verhindern, sagte Blair am Donnerstagabend in einem BBC-Interview."

das sich großbritannien offensichtlich als vorreiter bei der prophylaxe von als solchen definierten antisozialen verhaltensweisen etablieren will, war hier schon früher thema - neu ist jedoch der bezug auf die relevanz der pränatalen phase (die immerhin so einmal, wenn auch von den falschen leuten und mit falschen motivationen, ins öffentliche blickfeld rückt). ich bleibe bis auf weiteres bei meiner in früheren beiträgen skizzierten meinung dazu: grundsätzlich steckt in solchen überlegungen ein richtiger kern - aber eine umsetzung kann nicht unter den heutigen gesellschaftlichen machtverhältnissen stattfinden, weil genau diese einen teil des problems darstellen - und die unterschrift unter dem bild der familie blair macht das mit ihrem unterton vermutlich unfreiwillig deutlich:

"Die Familie Blair ist selbstverständlich keine Plage für die Gesellschaft."

triefende ironie oder merkhilfe für eventuelle zweiflerInnen? interessant sind die umrissenen begründungen und auch die bisherigen reaktionen:

"Ohne rechtzeitige Prognosen und Eingriffe würden Kinder in Familien aufwachsen, von denen man genau wisse, dass sie überhaupt nicht funktionierten. "Ein paar Jahre später werden die Kinder dann eine Plage für die Gesellschaft und eine Gefahr für sich selbst sein", sagte der Regierungschef. So dürften unverheiratete minderjährige Mütter, die in keiner dauerhaften Beziehung lebten, nicht nur Unterstützungsangebote bekommen. Der Staat müsse ihnen auch deutlich machen, dass er ihre Situation als möglichen Ausgangspunkt künftiger Probleme im Blick behalte.

Das sozialpolitische Forschungsinstitut Civitas kritisierte, es grenze an "sozialen Determinismus", Kinder schon vor ihrer Geburt als problematisch abzustempeln. Die oppositionellen Konservativen bezeichneten mehr staatliche Eingriffe und Bürokratie als falsche Antwort auf die Problematik."(...)


dem ersten satz würde ich zustimmen. dem rest hingegen bleibt etliches anzumerken: so muss bei den "unverheirateten minderjährigen müttern" (die formalität "unverheiratet" scheint für blair das größte ärgernis zu sein) nicht nur die sexistische und patriarchale struktur der gesellschaft berücksichtigt werden, sondern ebenfalls die durch blair maßgeblich mitzuverantwortende antisoziale (wirtschafts-)politik, die die spirale der verelendung mitsamt der zunahme der zahl dysfunktionaler familien extrem beschleunigt hat. als "lösung" dafür landet er - wie es bei solchen mitgliedern der "führungseliten" üblich ist - bei der kaum mehr verhüllten drohung von mehr kontrolle und repression seitens des staates. das sich die "oppositionellen konservativen" gegen letzteres aussprechen, hat übrigens nichts mit humanitären erwägungen zu tun - falls das ganze irgendwann ein profitorientierter arbeitsbereich privater unternehmen werden sollte, werden diese herren und damen keinerlei einwände mehr haben.

der einwand des "sozialen determinismus" hingegen scheint mir wieder mal auf dem konstrukt des "autonomen bürgers mit freiem willen" zu wurzeln. die pränatale forschung kann heute genügend belege dafür liefern, dass es bereits im mutterbauch zu gravierenden störungen / fehlentwicklungen kommen kann, die aber wiederum von den sozialen bedingungen - auch und gerade für schwangere frauen und ihr umfeld - maßgeblich mitbestimmt werden. und in diesem sinne lässt sich durchaus eine art determinierung behaupten, die allerdings vermutlich nicht dem entspricht, was hier kritisiert wird.

ich hoffe, dass sich sowohl forscherInnen als auch therapeutInnen aus dem pränatalen bereich bald mal in solche debatten einmischen.

*

ich hatte zu beginn zynismus angekündigt - nun, den habe ich mir für diese meldung hier aufgehoben, auf die ich vor einigen tagen an anderer stelle aufmerksam gemacht wurde (noch mal danke dafür):

"Deutschland leistet sich eine "Schule der Anti-Kapitalisten". Diese These vertritt Stefan Theil, Deutschlandkorrespondent der amerikanischen Zeitschrift Newsweek, in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt. In der Schule werde nicht das Funktionieren des Marktes erklärt, sondern Werturteile über "böse Manager" und "ungerechte Löhne" gelehrt."(...)

ein schönes beispiel dafür, wie sich ein offensichtlicher propagandist des newspeak selbst demaskiert: durchaus realistische wahrnehmungen vom (destruktiven) handeln "böser" manager (unter denen es ja bekanntlich etliche borderline-persönlichkeiten und / oder auch psychopathen gibt, siehe oben) und von ungerechten löhnen (die im kapitalismus gar nicht anders als ungerecht sein können), werden dem objektivistischen konstrukt vom scheinbar "objektiven" "funktionieren des marktes" gegenübergestellt - vom prinzip her wird hier das gleiche verfahren angewendet, wie ich es hier hinsichtlich der medialen "folterdebatte" bereits beschrieben habe: die allgemeine wahrnehmung wird aufgespaltet und fragmentiert - in einen angeblich "objektiven" teil, der der "falschen" subjektiven wahrnehmung - die dazu implizit als ideologisch - "antikapitalistisch" - denunziert wird, übergestülpt werden soll. "freier markt" als auch folter (und auch kriege) sollen demnach als quasi "natürliche" bedingungen unseres lebens (fehl-)wahrgenommen werden - es gibt wohl kaum etwas perverseres als solche miesen versuche, herrschende antisoziale ideologien bereits in die köpfe und körper von kindern und jugendlichen einzupflanzen.

"Eine Studie der Initiative Juniorprojekt wollte wissen, wie Wirtschaft und Unternehmen in nordrhein-westfälischen Schulbüchern vorkommen. Unternehmer, so ein Ergebnis der Untersuchung, werden nicht mit dem Schaffen von Arbeitsplätzen, sondern mit Kinderarbeit, Müllbergen, Internet-Sucht und Alkoholismus assoziiert."(...)

na, das verspricht doch hoffnung - jedes fitzelchen realistischer wahrnehmung unserer lebensbedingungen steigert die wahrscheinlichkeit dafür, dass diese spezies irgendwann doch noch einmal tatsächlich menschliche lebensverhältnisse gestalten kann. ich würde die assoziationskette höchstens noch gerne erweitert sehen: und zwar z.b. um die punkte mafiöse strukturen / fließende grenzen zwischen "legalen" und "illegalen" wirtschaftszweigen; selektion nach ökonomischer verwertbarkeit; oder auch der beteiligung des sog. "freien marktes" an der produktion von menschenabfall . von solchen peanuts wie menschenversuchen an traumatisierten kindern und den tausenden toten flüchtlingen an den grenzen der wohlstandszonen gar nicht zu reden.

aber das ist natürlich in der deformierten wahrnehmung einiger zeitgenossen alles nur vorurteilsbehaftetes, subjektives zeug - und nicht so objektiv wie das folgende:

"Theil verweist auf die in Berlin und Brandenburg eingesetzten Sozialkundetexte aus dem Cornelsen-Verlag. Im Kapitel "Was tun gegen Arbeitslosigkeit" lernten Kinder nicht etwa, dass Arbeitsplätze von Unternehmen in der Wirtschaft geschaffen werden."

was ein skandal! (aber die kids lernen ja auch nicht mehr, dass die erbe eine scheibe sei...) was wird statt der einzig wahren objektiven realität an verhetzendem gedankengut den kindern eingeträufelt?

"Das Schulbuch beschreibe vielmehr Montagsdemonstrationen, staatliche Ausgaben sowie das Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes. "Andere Länder werden fit für die Globalisierung gemacht. Deutsche Kinder werden geschult in den gescheiterten Träumen längst vergangener Zeiten", so der Chef des Deutschlandbüros von Newsweek."

unakzeptable sozialdemokratische gescheiterte träume längst vergangener zeiten also - extrem reduzierte träume einer menschlicheren welt, die trotz ihrer reduktion bereits für die ideologen der verdinglichung unerträglich zu sein scheinen. das schreit geradezu nach objektivität:

"Viele Schulen blendeten systematisch aus, dass Deutschland neben China am meisten von der Globalisierung profitiere."(...)

jawoll, endlich wird es ausgesprochen - "deutschland" (als objektivistische halluzination) "profitiert" ebenso wie "china" - das lässt sich ganz leicht an der steigenden kinderarmut hier und den im weltweiten vergleich extrem hohen zahlen von hinrichtungen und zwangsarbeit in china sehen.

und ein anderer vertreter jener schicht von pseudointellektuellen prostituierten des kapitalismus gibt uns dieses zu bedenken:

"Statt jede zweite Woche eine neue bildungspolitische Sau durchs Dorf zu treiben, sollten sich die Bildungspolitiker und Pädagogen besser daran setzen, die Schulbücher darauf hin zu untersuchen, wie dort wirtschaftliche Zusammenhänge dargestellt werden", so Müller gegenüber pressetext. "Auch ein Fach Wirtschaft bringt nichts, wenn dort nur Einseitigkeiten und Vorurteile gelehrt werden. Sicherlich werden viele Lehrer auch eigenes, objektiveres Material im Unterricht einsetzen. Und niemand will den Lehrern das Recht auf eine eigene Meinung absprechen. Doch wenn man jungen Leuten nur mit Marktmisstrauen und ökonomischen Vorurteilen malträtiert, dann darf man sich nicht wundern, wenn diese jungen Menschen später kein Verständnis für Unternehmertum, Markt und Risiko entwickeln."(...)

sehen Sie?...es fehlt schlicht an objektiveren materialien, die den ganzen einseitigkeiten und vorurteilen eins überbraten können. und weiter lernen wir, dass eine eigene meinung zwar schön und gut ist - aber nur, wenn sie nicht das verständnis für unternehmertum, markt und risiko behindert. das nenne ich echtes demokratieverständnis!

das es auch - gottseidank! - anders gehen kann, wird am folgenden beispiel deutlich:

"Vorbildlich hingegen seien die Schulen in Bayern und Baden-Württemberg. Dafür gesorgt habe die Aktionsgemeinschaft Soziale Markwirtschaft (ASM) unter Leitung von Joachim Starbatty, Professor an der Universität Tübingen. Die ASM entwickelte das computergestützte Planspiel "MACRO". Es bietet eine neue Art zu lernen. Anstatt sich durch lästige Fachbücher durchzulesen, können die Schüler laut Starbatty "spielerisch die Bedeutung der Marktwirtschaft erfahren".(...)

ja, das ist auch didaktisch up to date und voll auf der höhe der flexibilisierten zeit - "spielerisch" ideologien zu vermitteln, dagegen war ein goebbels mitsamt dem propagandaministerium ja noch pures pr-mittelalter. das wird auch deutlich, wenn wir uns die stolzen ergebnisse dieses spiels anschauen:

(...)"Sogar in den Spielpausen diskutieren die Schüler, wie sie das Wachstum steigern oder den Schuldenstand abbauen können", so Starbatty: "Ganz selbstverständlich reden sie innerhalb kürzester Zeit von Bruttoinlandsprodukt, Investitionsquote und Geldmengensteuerung".(...)

nur böswillige feinde von freedomanddemocracy können sich hierbei an die beschreibungen alexithymer persönlichkeiten erinnert fühlen - oder gar die these aufstellen, dass hier beziehungslose und in den elementarsten menschlich-sozialen fähigkeiten geschädigte zombies herangezüchtet werden, die allerdings im gegensatz zu den massen der elendszombies perfekt gestylt herumrennen und mehr oder weniger eloquent alle welt von der unvermeidbarkeit des zombielebens für alle und jeden zu überzeugen wissen - so wie die herren namens stefan theil und michael müller.

*

ich schließe mit einem wort - und einem kleinen quiz - zum wochenende, welches irgendwie auch einiges mit den obigen themen zu tun hat - und gleichzeitig ein eindrucksvolles beispiel für den vorgang darstellt, der unter dem namen projektion aus der orthodoxen psychoanalyse in den mainstream eingegangen ist:

"Es war C. S. Lewis, der in seinem unvergeßlichen Screwtape Letters schrieb: `Das schlimmste Übel geschieht heute nicht in jenen verworfenen Höhlen des Lasters, die Dickens so gerne schilderte ... das Böse wird ersonnen und befohlen (beantragt, betrieben, ausgeführt und archiviert) in und von übersichtlichen, mit Teppichen ausgelegten, geheizten und gut beleuchteten Büroräumen aus, in denen ruhige Männer sitzen, mit weißem Kragen, geschnittenen Fingernägeln und glattrasierten Wangen, die es nicht nötig haben, laute Töne anzuschlagen´.

Und da diese `ruhigen Männer´ es nicht nötig haben, `laute Töne´ anzuschlagen, da sie zuweilen sogar in sanften Tönen reden - von Bruderschaft und Frieden reden - vergessen wir manchmal die geschichtlichen Tatsachen und die aggressiven Triebe eines Evil Empire..."


na, welche historische persönlichkeit sagte diese wahrhaft ehrlichen und zutreffenden worte im märz 1983? worte, mit denen allerdings nur die anderen gemeint waren? ich bin mir sicher, Sie kommen drauf.

Dienstag, 29. August 2006

notiz: "Hikikomori"

keine ahnung, ob sich der begriff hier irgendwann durchsetzen wird - in japan jedenfalls hat er schon seit längerer zeit eine gewisse psychiatrisch-soziologische bedeutung:

(...)"Das japanische Gesundheitsministerium definiert als Hikikomori eine Person, die sich weigert, das Haus ihrer Eltern zu verlassen und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben. Nach Schätzungen des Psychologen Saito Tamaki, der auch den Begriff prägte, dürfte es in Japan (ca. 127 Million Einwohner) mehr als 1 Million Hikikomori geben. Das Gesundheitsministerium gibt in einer vorsichtigeren Schätzung nur 50.000 Hikikomori an, ein Drittel davon älter als 30 Jahre.

Obwohl akuter gesellschaftlicher Rückzug in Japan Jungen und Mädchen gleichermaßen zu betreffen scheint, sind es aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen der japanischen Gesellschaft an Jungen und Mädchen vor allem Jungen, die mit ihrem Verhalten Besorgnis oder Aufmerksamkeit erregen. In Familien mit mehreren Kindern ist es am häufigsten der älteste Sohn."(...)


im weiteren verlauf des artikels wird verschiedenen und imo auch vermutlich zutreffenden hypothesen über die gründe dieses als den sozialen phobien zurechenbaren verhaltens raum gegeben:

(...)"Der durchschnittliche Hikikomori beginnt als Schulschwänzer (tōkōkyohi). Junge japanische Erwachsene fühlen sich von den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat, häufig überfordert. Versagensangst und das Fehlen eines ausgeprägten Honne und Tatemae (grob übersetzt die Fähigkeit, zwischen „öffentlichem Gesicht“ und „wahrem Ich“ zu unterscheiden und mit den täglichen Paradoxien des Erwachsenenlebens umzugehen) drängen sie in die Isolation. Die Gemeinsamkeit der Hikikomori, am Übergang von Jugend und Kindheit in die Welt der Erwachsenen zu scheitern, wird von vielen Psychologen mit dem Fehlen von Transformations- und Initiationsritualen im modernen, kapitalistischen Japan begründet."(...)

das "öffentliche gesicht" ließe sich hier auch mit simulierter maske vs. authentischem selbst übersetzen - und aus dieser sicht wäre die reaktion, zum hikikomori zu werden, eine irgendwie auch nachvollziehbare - wer will schon wirklich an all den blödsinnigen und v.a. destruktiven machtspielchen teilnehmen, mit denen sich große teile dieser angeblich intelligenten spezies die zeit vertreiben? (okay: die, die vielleicht gar nicht anders können, lasse ich hier mal außen vor).

warum ich überhaupt auf dieses thema komme? darum. auch das ist globalisierung.

notiz: noch eine fortsetzungsgeschichte...

...die bereits jetzt eine absolute bankrotterklärung - eine von inzwischen unzähligen - der bestenallerwelten (TM) darstellt, wird wie üblich im medialen mainstream unter ferner liefen abgehandelt - mit einer ausnahme, nämlich der taz (über die allgemein zwar einiges kritische zu sagen wäre, aber in diesem fall ist einfach auch mal beifall angebracht). so geht die berichterstattung über eine absolut trostlose geschichte in die nächste runde:

"Der Traum von Europa endete in den letzten Tagen für mindestens 22 afrikanische Flüchtlinge mit dem Tod. Ihre Leichen wurden am Sonntag an der Küste des westafrikanischen Landes Mauretanien angespült. Die dortigen Behörden befürchten, dass die Zahl der Toten noch erheblich steigen könnte. Denn laut Ermittlungen sind mindestens zwei Fischerboote verschollen. Die Cayucos, wie die Holzschiffe in Spanien genannt werden, bieten für 90 bis 170 Menschen Platz. Die Insassen zweier weiterer Cayucos entgingen nur knapp dem Tod. Die mauretanische Polizei barg ein Boot mit 92 Menschen an Bord aus schwerer Seenot. Die Insassen schöpften seit zwei Tagen verzweifelt Wasser aus dem leckgeschlagenen Gefährt. Im zweiten Boot war der Motor ausgefallen, 87 Flüchtlinge konnten gerettet werden. Nach Angaben der mauretanischen Behörden waren alle schwer erschöpft.

Doch dies sind nur die letzten einer ganzen Serie von Tragödien. So wurden alleine seit Jahresbeginn auf den Kanarischen Inseln, das Ziel der meisten Flüchtlinge, 490 Tote geborgen. Das gab am Wochenende die kanarische Regionalregierung bekannt. Der Rote Halbmond und das Rote Kreuz schätzen die Zahl der Verschollenen auf der langen Überfahrt von Afrika auf die Urlaubsinseln im Atlantik gar auf 2.000 bis 3.000. Diese Zahl ist so hoch wie nie. Dem gegenüber stehen 19.000 Schwarzafrikaner, die mit ihren Booten das spanische Archipel seit Januar erreicht haben. Das ist sind doppelt so viele Flüchtlinge wie im gesamten Rekordjahr 2002."(...)


und wir alle machen uns durch ignoranz, stillschweigende duldung und letztlich auch die passive akzeptanz unserer sog. führungseliten (incl. so ziemlich aller politikerInnen) mitverantwortlich. die aufgabe wird sein - und zwar nicht nur bei diesem thema - , sich einerseits von dem elend berühren zu lassen, um andererseits dadurch nicht in apathie zu verfallen, sondern handlungsfähigkeit zu entwickeln. und es ist auch keinesfalls nur mit der konzentration auf diese ereignisse an den eu-außengrenzen getan - der fisch stinkt bekanntlich vom kopf her.

(...)"Rein polizeiliche Maßnahmen werden nur bewirken, dass die Flüchtlinge noch weiter im Süden ablegen", sagt Luc André Diouf. Der Senegalese ist der Verantwortliche für Immigration in der Gewerkschaft CCOO auf den Kanaren und berät die Regionalregierung in Ausländerfragen. Er befürchtet, dass es dann zu noch mehr Toten kommen könnte. Seine Lösung: "Europa muss Afrika mit Investitionen helfen, um den Menschen eine Perspektive in ihrer Heimat zu geben." Vor allem in der Landwirtschaft und im Fischfang müssten Arbeitsplätze geschaffen werden. "Die Union muss Verträge mit allen betroffenen afrikanischen Länder schließen, und nicht ein Land nach dem anderen anbinden, je nachdem wo die Flüchtlinge losfahren."

die aktuellen europäischen "investitionen" in afrika machen jedoch mehr als deutlich, woher der wind weht - es sind die stinknormalen kapitalistischen interessen, die wie üblich dominieren:

(...)"Abgesichert werden soll dadurch in erster Linie die Ausplünderung des Landes durch internationale Konzerne wie Bayer und Siemens. So konstatierte der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Andreas Schockenhoff, denn auch erst vor wenigen Tagen, der Kongo verfüge "vor allem über strategische Rohstoffe (...), die für Europa wichtig sind". Das Auswärtige Amt preist in einem Strategiepapier wichtige Rohstoffe des Gebietes an wie "Erdöl, Kobalt, Coltan". 80 Prozent der weltweiten Coltan-Reserven, das vor allem für die Handy-Produktion benötigt wird, lagern im Kongo. Das deutsche Unternehmen H.C. Starck, eine Tochtergesellschaft von Bayer, war jahrelang einer der Hauptabnehmer kongolesischen Coltans.

Bereits seit 1994 nahmen staatliche Stellen der Bundesrepublik Teilhaberfunktionen unter anderem an der Mine Lueshe im Osten des Kongo wahr, in der Rohstoffe für die Herstellung von Düsenmotoren und Raketenteilen gefördert werden. In einem weiteren Positionspapier des Auswärtigen Amtes heißt es, die Demokratische Republik Kongo werde in Zukunft "aufgrund ihrer Größe, des Rohstoffreichtums und der zentralen Lage an politischem und wirtschaftlichem Gewicht erheblich gewinnen". Gemessen daran stagniert aufgrund der instabilen politischen Verhältnisse jedoch die Förderung und der Export dieser Rohstoffe. Das ist auch gemeint, wenn Verteidigungsminister Franz Josef Jung am 17.3. gegenüber der "Bild"-Zeitung von der Förderung der "Stabilität in der rohstoffreichen Region" sprach, die "auch der deutschen Wirtschaft nutzt".(...)


egal ob aus rohstoffreichen oder -armen afrikanischen regionen, für die objektivistische logik, die hinter dem oben dargestellten steht, sind flüchtlinge - wenn sie es denn bis an die eu-grenzen schaffen - primär objekte polizeilichen handelns. störende objekte, die bitteschön im stillen krepieren sollen. es ist im übrigen die gleiche logik, die sich auch zunehmend im umgang mit den sog. sozial schwachen hier direkt vor der haustür beobachten lässt.

und eine aktivistin aus der italienischen flüchtlingsarbeit macht auf weitere aspekte der fluchtbewegung aufmerksam, die bisher im schatten geblieben sind:

(...)"Ich gehöre nicht zu denen, die propagieren, dass wir den Menschen die Gelegenheit lassen sollten, wie bisher übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Diese Reisen der Verzweiflung müssen einfach verhindert werden. Europa muss aber nicht über Abschottung, sondern über sichere Alternativen der Einreise nachdenken. Und Europa muss unmittelbar eine Lösung für die vielen auseinandergerissenen Flüchtlingsfamilien finden. Immer wieder habe ich von Fällen gehört, in denen der Mann auf Malta, die Frau mit den Kindern aber in Italien gelandet ist. Auf legalem Wege können diese Familien heute kaum zusammenkommen. Das führt dann zu neuen lebensgefährlichen Reisen, über die nie gesprochen wird - von Malta nach Italien. Als ich auf Malta war, waren dort drei Boote in See gestochen. Nur eines davon erreichte Italien."

call this "freedom and democracy" - aber nur für gefüllte brieftaschen.

Donnerstag, 24. August 2006

notiz: "Liebe in Zeiten des Neoliberalismus"

so lautet heute die überschrift eines artikels in der jungen welt. auch, wenn er für regelmäßige leserInnen hier in seinen wesentlichen aussagen nicht sehr viel neues enthält - als zusammenfassende darstellung kann ich ihn durchaus empfehlen. unbefriedigend finde ich dabei nur die reduktion auf den "klassischen" begriff von liebe, nämlich die traute zweisamkeit incl. sexualität. dabei ist liebe imo eigentlich nicht nur ein hochpolitischer begriff - und lieblosigkeit eine absolut relevante politische kategorie in dem sinne, dass sich gesellschaften eigentlich daran messen lassen müssen, wieweit sie die sozialen und auch ökonomischen bedingungen schaffen, in denen sich ihre mitglieder zu liebesfähigen menschen entwickeln können - , sondern ebenfalls als die wichtigste basis des gesamten menschlichen lebens zu betrachten. es ist vielleicht angebracht, von liebe als existenzieller seinsweise zu sprechen - und das greift sehr weit über die definition von liebe hinaus, mit denen wir in dieser kultur so zu tun haben.

*

ein paar kommentierte auszüge aus dem artikel:

(...)"Der »flexible Mensch« entwurzelt (R. Sennet), denn soziale Bindungen stehen einer ökonomischen Selbstverwertung im Wege, die allseitige Verfügbarkeit, grenzenlosen Zeiteinsatz und geographische Mobilität verlangt."

ja. diese beobachtung wurde hier bereits in verschiedenen zusammenhängen aufgegriffen. ein problem bei derlei soziologischen analysen bestht imo darin, dass sie hinsichtlich der konkreten prozesse, mit denen sich die psychophysische struktur des menschen mit solchen bedingungen versucht auseinanderzusetzen, eigentlich immer sehr im nebulösen bleiben, wenn sie denn überhaupt thema werden. liegt es vielleicht auch daran, dass hier kein verständnis ohne mindestkenntnisse oder zumindest vorstellungen aus "fachfremden" bereichen wie medizin/anatomie, neurologie, psychiatrie, psychologie... möglich ist? immer wieder falle ich darüber: in weiten bereichen der sog. geisteswissenschaften wird mit einem seltsam abgehobenen, entkörperlichten und durchaus virtuellen menschenbild operiert - der "freischwebende geist" scheint immer noch das vorherrschende paradigma zu sein, mit allen negativen konsequenzen, die eine derart verzerrte wahrnehmung nun mal mit sich bringt.

"Mit der Beschleunigung der ökonomischen Reproduktionsgeschwindigkeit haben sich neue Anforderungen an die psychosoziale Reaktionsfähigkeit der Menschen entwickelt, die wiederum auf die zwischenmenschlichen Verhaltensweisen zurückwirken; tendenziell gleichen sich die alltäglichen Sozialstandards den Reaktionsmustern im Wirtschaftsleben an. Die Kurzfristigkeit der Perspektiven in der Arbeitswelt prägen zunehmend eine Haltung der Unverbindlichkeit im Privaten. Die im Berufsleben aufgezwungenen egoistischen bis asozialen Durchsetzungsstrategien äußern sich im privaten Leben in einem berechnenden Verhältnis zum Mitmenschen."(...)

nun, es ist nicht allzuweit hergeholt, den autor als marxisten zu begreifen. von daher ist seine prioritätensetzung oben - die veränderten ökonomischen bedingungen führen zu entsprechend härteren reaktionen im "wirtschaftsleben", und prägen darüber dann die sozialen fähigkeiten - schon nachvollziehbar. aber imo ist das eben nur die hälfte der realität, dazu auch eine undialektische: es ist eher eine wechselspiel teils komplexer art, in denen die ökonomischen strukturen ebenso abhängig sind von sozialen, "weichen" bedingungen - beide prägen sich gegenseitig.

"Angesichts zunehmender Beziehungskatastrophen mutet die ungebrochene Option für die Liebe deplaziert an. Doch gerade weil das herrschende Konkurrenzklima und die beruflichen Anforderungsprofile der vertraulichen Zuneigung und dem Streben nach Gemeinsamkeit wenig förderlich sind, verstärkt sich das Verlangen nach ihnen. Auf die sozialen und emotionalen Defiziterfahrungen reagieren die Menschen mit überspannten Glückserwartungen mit der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Das Verlangen nach verläßlichen Partnerschaften hat sich bei jungen Menschen als Ersatz für die erodierten Gesellschaftsutopien etabliert. Obwohl selbst der illusorische Schleier eines bürgerlichen Familienidylls zerrissen ist, hat er seine Funktion als Orientierungsmuster nicht eingebüßt: Ein »Bedürfnis nach Verläßlichkeit und Heimat geht in die Utopie der Familie ein, obwohl jedermann die Erosion der bürgerlichen Familienstrukturen mit Händen greifbar vor sich hat.«(...) (O. Negt)


yo. hier stimme ich ebenfalls weitgehend zu.

(...)"Die mit Weltfluchttendenzen verbundenen Liebesvorstellungen waren damals Ausdruck des Gefühls eines Verlustes – und dürfte es heute immer noch sein, weil auch die Liebe in den Sog der gesellschaftlichen Fragmentarisierungstendenzen, der Gefährdung sozialer Schutzräume und einer »Individualisierung« im Sinne von Vereinzelung geraten ist. Das Liebenwollen und das Liebenkönnen, der Wunsch nach Zweisamkeit und die Lebenspraxis in den neoliberalistischen Zeiten haben sich auseinanderentwickelt.

Nicht selten ist das Bemühen, den Verlust in einen Gewinn umzuinterpretieren. Mit Hilfe ideologischer Rationalisierungsformeln wird versucht, die individuellen Reaktionen auf die Fragmentarisierung der Existenzbedingungen als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebensentwurfs erscheinen zu lassen. Jedoch ist es fraglich, ob besonders viele Menschen ohne den marktvermittelten Anpassungszwang bereit wären, ihr Leben als ein Provisorium einzurichten und sich der latenten Gefahr sozialer Isolierung auszuliefern. Die »freiwillige« Wahl dieser Existenzformen entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als Konsequenz beruflicher Zwänge oder allgemeiner Lebensumstände (die meisten »Singles« sind ältere Menschen)."


sehr überpointiert lässt sich das obige in der signatur eines users aus einem forum für aspergerbetroffene entdecken: "Autismus bedeutet nicht man könne nicht "lieben"; man kann ja auch Dinge statt Menschen lieben ;-)" oder aber menschen mittels eigener wahrnehmungsreduktion in dinge verwandeln. liebe lässt sich in solchen konstellationen allerdings nicht leben - das ist unmöglich. (btw: ob sich der smiley im zitat als hinweis auf ironie betrachten lässt, kann in dieser virtuellen ebene imo nicht beurteilt werden).

"Die Tendenzen zur Vereinzelung und sozialen Beziehungslosigkeit, auch zur sozialdarwinistischen Verachtung der Mitmenschen und zur Entwicklung von Selbsthaßsyndromen, sind Spiegelbild eines Lebens im Zeichen steter Unsicherheit und eines permanenten Bewährungsdrucks. Um in der Risikogesellschaft zu bestehen, müssen die Menschen die Disziplin und Zweckrationalität verinnerlichen, sie zu Maximen ihres Lebens machen: Leistung und Erfolg werden zu Imperativen allen Denkens und Handelns. Um sozial nicht zu unterliegen, müssen die Menschen ein zwanghaftes Verhältnis zu sich selbst einnehmen und bereit sein, Tag für Tag ein Stück der eigenen Emotionalität zu Markte zu tragen und ihre soziale Sensibilität zu beschädigen."(...)

die als letztes genannte beschädigung (die imo keinesfalls nur auf die "soziale sensibilität" beschränkt ist) kann allerdings - bekanntlich immer wieder thema hier - auch in diversen psychiatrischen diagnosemodellen entdeckt werden. und nachdem, was bisher über die möglichen ätiologien dieser verschiedenen störungen / defizite bekannt ist, lässt sich ebensogut sagen, dass entsprechend betroffene danach streben könnten, ihre eigenen, massiv von den oder der entsprechenden störung produziertes selbst- und menschen-/weltbild in die (soziale) realität hinein zu konstruieren - was letztlich unter der prämisse des eigenen überlebens durchaus sinn macht, wenngleich dieser auch beschränkt ist.. als beispiel: massive und chronische stresszustände, wie sie bspw. als posttraumatisches symptom auftreten können, werden in bestimmten wirtschaftlichen bereichen für die davon betroffenen sogar "positive" wirkungen haben können - wenn dieser stress nämlich in ein konstrukt ständiger "leistungsbereitschaft" und "arbeitswut" verpackt wird. die langfristigen folgen sind dann natürlich für die geschädigten menschen (und für die gesamte gesellschaft) katastrophal, wenn auch für ihre sog. arbeitgeber durchaus profitabel.

"Besonders durch einen Blick auf die Geschlechterverhältnisse wird das ganze gesellschaftlich produzierte psychische Elend sichtbar: Nicht nur in den literarischen Zustandsbeschreibungen wird das Sexualleben als emotionale Wüste geschildert. Die herrschende Trostlosigkeit und die Intensität der Selbstentfremdung wird von vielen sexualwissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt, die eine Tendenz zur Anonymisierung, Beziehungsarmut und emotionalen Kälte beschreiben. Mit dem Fernsehen, dem Telefon und dem Computer wird die Beziehungslosigkeit überspielt: Eros verschwindet tendenziell in den Maschinen. Triebvitalität wird ins Virtuelle übertragen, zwischenmenschliche Vereinigungsbedürfnisse auf Ersatzhandlungen reduziert."(...)

genau die erwähnte "übertragung ins virtuelle" lässt sich funktionell eigentlich nur begreifen, wenn es eine vorstellung der prozesse gibt, die diese virtuellen spären im menschen überhaupt produzieren können. und genau dafür ist das modell des objektivistischen modus ganz gut geeignet.

beschreibungen wie die obige sind dazu auch ein schwerwiegendes indiz dafür, dass diese gesellschaft es tatsächlich mit einer sehr ungesunden, dominanten stellung dieses modus und seiner produktionen zu tun hat.

(...)"Der Sexualforscher Volkmar Sigusch zeichnet die Welt der gegenwärtigen Sexualbeziehungen mit ihrem Egoismus und Dispersionen, ihren bizarren Ersatzhandlungen und narzißtischen Inszenierungspraktiken, ihrem kalten Selbstbefriedigungsdrang (der Kinderprostitution, Sextourismus und Gewaltpornographie mit einschließt) und ihrer ästhetisierten Lustlosigkeit als ein Horrorgemälde in der Tradition Hieronymus Boschs."(...)

auch das möchte ich hier absehbarer zeit aufgreifen: sex in der dingwelt. eigentlich ist das doch sehr naheliegend, dass sich schwere schäden der allgemeinen und speziellen beziehungsfähigkeiten mit am krassesten in der sexualität manifestieren. und "lust" (an der eigenen bzw. fremden objektwerdung wie im bereich von s/m-praktiken zb.) ist nicht gleich lust im sinne eines kraft- und freudvollen, lebendigen und intensiven, liebevollen erlebens.

(...)"Doch auch die gescheiterte Liebe und das verfehlte Streben nach erotischer Erfüllung sind Ausdruck einer im Kern unkontrollierbaren und individuelle Selbstentfaltung reklamierenden Subjektivität. Das Bedürfnis nach Zuneigung, Liebe und Gemeinsamkeit kann immer wieder fehlgeleitet und enttäuscht, nicht aber ausgelöscht werden. Es besitzt eine subversive Kraft, weil sie das Streben nach einem erfüllten Leben durch das Verhältnis zu anderen thematisiert und daran erinnert, daß das Ich ohne das Du nicht existieren kann."(...)

"Solange durch die sozialen Strukturbedingungen ein erfülltes Leben eher behindert denn gefördert wird, verweist die Utopie der Liebe auf die konkrete Utopie einer solidarischen Gesellschaft: »Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen.« (Karl Marx: MEW 40, S. 567)"


dem bleibt wiederum nur hinzuzufügen, dass die erwähnten bedürfnisse - eben weil sie eine körperlich-materielle basis besitzen - in einem gewissen sinne doch soweit "ausgelöscht" werden können, dass sie praktisch so unerkennbar oder auch verstümmelt werden, dass sich die frage stellt, ob es dann noch sinn macht, von solchen bedürfnissen zu reden.

Mittwoch, 23. August 2006

assoziation: fortsetzungsgeschichte(n)

erinnern Sie sich noch an den hier erwähnten jungen mann, der seine identitäten wechselt(e) wie andere ihre wäsche (und damit vor allem in der sog. "high society" auf viel anklang stieß)? nun endete die geschichte vorläufig vor gericht, und einen aktuellen pressebericht über den prozeß möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.

damals hatte ich mich aufgrund der vorliegenden informationen schon ziemlich festgelegt:

(...)"hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden."(...)

nun lässt sich diese einschätzung mit derjenigen eines psychiatrischen gutachters vergleichen:

(...)"Dabei hat sein selbstbewusstes Auftreten einst viele Menschen so überzeugt, dass sie ihm den Titel "Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" ohne Fragen glaubten. Von August bis Oktober 2005 lebte er unter diesem Namen in Düsseldorf auf Pump, prellte Banken und Firmen um 100 000 Euro.

Psychiater Martin Platzek erklärte gestern diesen Widerspruch mit einer so genannten "Borderline-Persönlichkeitsstörung". Dem Angeklagten fehle eine stabile eigene Identität, er brauche Bestätigung von außen. Mit Scheinidentitäten habe er sich Anerkennung geholt. Ursachen lägen in der Kindheit, dazu komme der Missbrauch durch einen Pfarrer mit zehn Jahren.

In sein Leben als Fürst habe ihn "eine Verkettung von Ereignissen" geführt, die es ihm leicht machten: "Das konnte er nicht auslassen." Denn eigentlich quälten ihn Minderwertigkeitsgefühle. Sie hätten ihn sogar an Selbstmord denken lassen. Fazit: "Seine Steuerungsfähigkeit war eingeschränkt."(...)


und wenn Sie sich einerseits nochmals die beiträge hier zu den themen "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" vor augen führen und andererseits auch die tatsache berücksichtigen, dass männer mit der borderline-ps häufig auch mit dem modell der "dissozialen persönlichkeitsstörung" (deren vorläufer die klassische psychopathie war) diagnostiziert werden, dann können Sie vielleicht meinen eindruck nachvollziehen, dass ich trotz unterschiedlicher diagnostischer begriffe inhaltlich nicht so falsch gelegen habe. nein, das soll hier kein schulterklopfen meinerseits werden - ich denke, der junge mann wäre vielleicht vor zwanzig bis dreißig jahren tatsächlich auch offiziell-diagnostisch als psychopath klassifiziert worden (warum ich finde, das dieser begriff - auch aufgrund seiner historischen belastung - nur noch auf eine sehr eingeschränkte gruppe von schwer gestörten menschen angewendet werden sollte, steht grob skizziert ebenfalls im verlinkten damaligen blog-beitrag).

nun also borderline - nicht zum erstenmal taucht diese diagnose im zusammenhang mit scheinidentitäten auf. eine damals noch nicht vorliegende information stellt der (vermutlich sexualisierte) erwähnte "missbrauch durch einen pfarrer" dar. und das führt direkt in den bereich von verwirrenden fragen rund um die komplexe "borderline - als-ob/simulative identitäten - trauma/dissoziation - täter-opfer-dialektik - antisoziale persönlichkeiten". es bleiben aber selbst bei berücksichtigung der neuen informationen verschiedenste möglichkeiten offen, was hier eigentlich wirklich vorliegt - die möchte ich kurz beschreiben. auch, wenn ich selbst meine eigene meinung bereits skizziert habe:

1. traumatische erfahrungen verschiedenster art liegen vor, die - und das lässt sich heute durchaus vielfältig belegen - gerade bei erlebnissen sexualisierter gewalt von männern anders als von frauen verarbeitet werden. das hat u.a. etwas mit den geschlechterstereotypen zu tun, die bis heute noch sehr wirkungsvoll sind. "männer sind / dürfen / können keine opfer sein" z.b. (das gegenstück zu "frauen sind von natur aus opfer bzw. bereit, sich zu opfern"). dieser - ja, quatsch kann zu extremen reaktionen besonders dann führen, wenn die realität der eigenen erlebnisse mit den im eigenen inneren verankerten stereotypen völlig kollidiert. so tun sich männer i.d.r. bis heute mit der vorstellung sehr schwer, zum opfer gemacht / geworden zu sein. wozu eben auch die allgemeine soziale / gesellschaftliche reaktion beiträgt, nach der es irgendwie ungehörig - oder einfacher: "unmännlich" - ist, wenn (sich) ein mann derart empfindet. mit diesem problem schlagen sich v.a. therapeutInnen herum, die mit männlichen überlebenden sexualisierter gewalt arbeiten - denn gerade im sexuellen bereich widersprechen so ziemlich alle klischees der vorstellung, dass männer ausgerechnet hier zum opfer werden könnten. dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzender anteil homophobie - "bin ich deshalb opfer geworden, weil ich vielleicht schwul bin?" oder "werde ich jetzt dadurch schwul?" das mag irrational klingen, ist aber - wenn Sie sich die gesellschaftlichen realitäten vor augen halten - eigentlich durchaus nachvollziehbar, gerade wenn die betroffenen männer / jungen in "klassischer" art sozialisiert worden sind.

an reaktionen können von betroffenen männern / jungen darauf folgen: erstens eine sehr demonstrative und rigide orientierung am klassisch-patriarchalen macho-ideal - hart, härter, am härtesten. das lässt sich als eine sehr weitgehende und starke form von verdrängung / abspaltung einerseits mit einhergehender kompensation andererseits verstehen. das die "macho-identität" bis heute in grundlegenden teilen immer noch gesellschaftlich akzeptiert, gefördert und auch bewundert wird, lässt sie für männer mit einer traumatischen biographie zu einem (zu) einfachen (schein-)ausweg werden. bei solchen männern ist dann sehr oft das zu beobachten, was ich hier als täter-opfer-dialektik begreife: sie werden, gerade beim versuch, der realen opfererfahrung zu entkommen, selbst zu tätern - und zwar auch häufig zu gewalttätern.

eine andere art der reaktion erinnert mehr an das, was die meisten menschen - wenn sie sich überhaupt mit derlei beschäftigen - spontan mit den begriffen "trauma" und "opfer" assoziieren: rückzug, isolation, sprachlosigkeit und vielfach anscheinend "rein" körperliche - und "unerklärliche" - symptome. auch das ist etwas, was gerade betroffenen männern - die sich vielfach und mehrheitlich immer noch als anscheinend "ohne psyche" begreifen - durch mächtige und stark verankerte gesellschaftliche zuschreibungen bzw. zumutungen eher als "ausweg" akzeptabel - und akzeptiert - scheint als die offensive auseinandersetzung mit dem eigenen leid und schmerz. das es diesbezgl seit ca. zwanzig jahren auch andere tendenzen - imo positivere - zu beobachten gibt, ändert leider nichts an der bis auf weiteres vorhandenen realität der skizzierten reaktionen (es gibt natürlich noch etliche andere, v.a. auch "mischformen" - aber die obigen zwei scheinen mir die vorherrschenden zu sein).

beurteilen Sie selbst, ob das gerade beschriebene - in welcher variation auch immer - im fraglichen fall hier vorliegt.

2. eine andere möglichkeit: geht es hier vielleicht, gerade weil die fake-identitäten als so überzeugend empfunden worden sind, um eine unerkannte dissoziative ("multiple") persönlichkeit? traumata, besonders in ihren drastischen formen, können diese reaktion nach sich ziehen - die aufspaltung / fragmentierung in "teilpersönlichkeiten", die durchaus ein teils deutlich ausgeprägtes eigenleben führen können und auch den körper gewissermaßen zeitweise "übernehmen". dagegen spricht eigentlich alles, was bisher über die geschichte des mannes bekannt ist: bei dissoziierten menschen sind fast immer verschiedene "kinder" aktiv (durchaus neben "erwachsenen"), die sich auch meistens ausdruck verschaffen. dazu fehlt das element bewusster kontrolle über die verschiedenen teile. und alleine aus diesen beiden punkten halte ich die variante für sehr unwahrscheinlich (mal ganz abgesehen davon, dass ein psychiatrischer gutachter eine derartige persönlichkeit eigentlich erkennen sollte - aber Sie wissen ja, wie das mit dem wörtchen "eigentlich" so ist...)

trotzdem: selbst bei der annahme, dass dissoziative zustände im weitesten sinne hier vermutlich auch beteiligt waren, bleibe ich bei meiner meinung: dissoziative ps = unwahrscheinlich.

3. eine "als-ob-persönlichkeit" also? mal abgesehen davon, dass es eine "offizielle" diagnose mit diesem namen nicht gibt (auch, wenn der begriff tatsächlich schon in forensischen gutachten aufgetaucht ist), hat vermutlich nicht nur mich etliches an das modell von helene deutsch erinnert. ganz abgesehen von j. erik mertz, der ja in seinem modell die borderline-ps in ihrer blanden form als quasi der als-ob-persönlichkeit gleich beschreibt.

dagegen würden hier, zumindest auf den ersten blick, die konstatierten minderwertigkeitsgefühle sprechen. aber tun sie das eigentlich wirklich? wenn Sie sich an die in den entsprechenden beiträgen beschriebenen, geradezu chamäleonartigen fähigkeiten von als-ob-personen erinnern, sich so ziemlich jeder situation anpassen zu können und dabei auch völlig überzeugend zu wirken - was spräche dann gegen die möglichkeit, dass sich der mann beim prozeß nicht ebenfalls perfekt der identität eines reuigen opfers bedient hätte? ich weiß, dass das nur eine spekulation ist (und eine gar nicht nette dazu) - aber ausschließen kann ich diese variante keinesfalls. das würde im übrigen auch bedeuten, dass der gutachter überzeugend getäuscht wurde - aber wäre auch das so abwegig, wenn Sie sich nochmals durchlesen, in welchen identitäten der mann agiert hat? als falscher adliger, falscher arzt, falscher polizist...und er muss dabei durchaus überzeugend gewirkt haben.

4. mit der borderline-diagnose bewegt sich imo besonders der gutachter auf einigermaßem sicherem terrain, einfach deshalb, weil diese diagnose sehr interpretationsfähig ist. ich wüßte einmal gerne, auf welche der nötigen punkte aus den offiziellen klassifikation icd und dsm er diese diagnose stützt - denn neben der - zugegebenermaßen sehr auffälligen - identitätsstörung kann ich zumindest keinerlei weitere der "klassischen" bl-symptome erkennen. kennt bzw. akzeptiert der gutachter das modell der "blanden" borderline-ps (welches nicht nur von mertz, sondern bspw. auch von christa rohde-dachser als möglichkeit skizziert wurde)? was für eine vorstellung hat er von borderline? solche fragen müssen hier offen bleiben, und darum auch die tendenz, die seine diagnose möglicherweise besitzt - oder auch nicht, wenn er sich strikt an das "offizielle" modell gehalten hat.

5. und aus dem gleichen problem des fehlenden wissens über die weltsicht des gutachters kann ich auch nichts über seine stellung zu den diagnosen der dissozialen ps und dem ganzen begriff der psychopathie generell sagen, die hier ebenfalls als bezugspunkte hätten dienen können - warum ich das finde, sollte eigentlich soweit nachvollziehbar sein. traumatische kindheitserfahrungen sprechen übrigens nicht grundsätzlich gegen diese möglichkeit.

meine persönliches fazit ist das, dass eigentlich nur weitere informationen über den background des gutachters - wie begreift er diagnosen, was hält er von den aktuellen modellen etc. - weiterhelfen würden. besonders aber wäre hier vielleicht eine gründliche neurophysiologische untersuchung angebracht gewesen, die imo zumindest die frage: "soziopathische persönlichkeit oder nicht?" hätte beantworten können. vielleicht.dazu wäre eine präzisierung der kindheitserfahrungen nötig, eigentlich auch eine gründliche analyse der pränatalen phase bei diesem mann - was dann unausweichlich auch die mutter miteinbezogen hätte.

*

Sie sehen schon, das ich leicht unzufrieden bin. ich finde, das diese geschichte wieder einmal mehrere probleme aufzeigt: einmal die fließenden grenzen zwischen diversen zentralen psychiatrischen diagnosenmodellen, die darauf hindeuten, dass die sich dahinter verbergenden phänomene immer noch in wesentlichen bereichen nicht ausreichend verstanden worden sind (was übrigens nicht bedeuten soll, dass ich behaupte, ich hätte sie verstanden - ich arbeite hier mit verschiedenen alternativmodellen, um auch für mich selbst ein größeres verständnis - im besten fall - zu erreichen). dazu finde ich, dass die diagnosenstellung ganz dringend um neurophysiologische und pränatale aspekte erweitert gehört, in diesem rahmen auch um eine analyse der familiären strukturen. es würde sehr wahrscheinlich einfach das bild um ganz entscheidende aspekte erweitern, was wiederum eine größere sicherheit bei der diagnostik zur folge haben müsste.

vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, hat der psychiatrische gutachter auch eine "konventionelle" neurologische untersuchung durchgeführt, um bestimmte, als primär organisch begriffene störungen auszuschließen. das er sich auch um eine analyse der pränatalen entwicklung bemüht hat, wage ich allerdings zu bezweifeln.

klingt alles anmaßend oder gar arrogant meinerseits? mag sein - aber das sind nun mal die fragen, die mir dazu in den kopf kommen.

*

und eine frage auch als letztes: ich wundere mich sehr, dass die kontakte des jungen mannes zur sog. politischen klasse zumindest für die zeitung überhaupt kein thema waren. und ich frage mich, ob sich das auch beim prozeß so verhalten hat. die gründe dafür würden mich dann doch ebenfalls sehr interessieren.

Montag, 21. August 2006

assoziation: von der (un-)möglichkeit des freien willens, perverser justiz, moral und einigem mehr

so. ich komme momentan nicht so recht bei der bearbeitung diversen materials hinterher, aber das ist ja bekanntlich nix neues. die angekündigten fortsetzungen zu den kriegen im nahen/mittleren osten, und hier als nächstes die möglichen psychophysisch-sozialen grundlagen für den islamischen fundamentalismus speziell aus sicht der psychohistorie, werden aber auf jeden fall erscheinen.

*

und manchmal kommt dann auch einfach etwas "hereingeflogen", was ich so interessant finde, dass ich es einfach vorziehen möchte - in diesem fall danke ich wieder einmal sansculotte für den hinweis auf das folgende interview mit den hirnforscher und biologen gerhard roth unter dem kontroversen versprechenden titel "Hitler und Stalin haben sich nicht freiwillig entschieden" - es geht dabei, wie der satz schon vermuten lässt, generell um das thema "freier wille" - was das überhaupt sein könnte, welche grundlagen das besitzt (oder auch nicht), und vor allem, welche gesellschaftlichen folgen die - hm, ungeprüfte unterstellung der sog. willensfreiheit für faktisch alle von uns hat. ich werde die aus meiner sicht spannendsten passagen vorstellen und kommentieren.

*

"Gerhard Roths provokante These lautet: Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto weniger ist sie vom Täter wirklich gewollt. Schläger, Mörder und Massenmörder seien Getriebene in der Kindheit erworbener Hassgefühle. Gesetze hält Roth für wichtig, Gefängnisse aber für überholt."(...)

"Lieber Herr Roth, ist die Tatsache, dass ich heute ein Interview mit Ihnen führe, das Ergebnis meines freien Willens, oder bin ich neuronal gesteuert bei Ihnen gelandet?

Gerhard Roth: Weder noch. Weder ist es die Konsequenz Ihres freien Willensentschlusses - den gibt es nämlich nicht -, noch kann man sinnvoll von einer reinen neuronalen Steuerung sprechen.

Hat der Mensch überhaupt einen freien Willen, der es ihm ermöglicht, selbstbestimmt zu entscheiden?

Roth: Er hat diese Möglichkeit. Was man unter freiem Willen versteht, ist jedoch etwas äußerst Heterogenes. Man ist auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Mensch hat die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei, also aus sich heraus und auf der Basis seiner eigenen Motive, zu entscheiden."


die "fähigkeit und möglichkeit" also - das relativiert als erstes mal die absolutheit, an die wir faktisch alle gewöhnt sind, wenn wir uns mit dem "freien willen" beschäftigen, v.a. dann, wenn er zur begründung von handeln oder auch nichthandeln herangezogen wird. fähigkeiten und möglichkeiten umschreiben eigentlich ein potenzial - potenziale aber brauchen bestimmte bedingungen, um real wirksam werden zu können - sie brauchen förderung, training und - in diesem speziellen fall - auch entsprechende soziale milieus.

mit der "basis der eigenen motive" führt roth allerdings meiner meinung nach durch die hintertür wieder ein konstrukt ein, zu dem es in der realität nur annährungen geben kann - die eigenen motive so weitgehend zu verstehen, wie es hier impliziert wird, setzt eine qualität der selbsterkenntnis voraus, die zumindest unter den heutigen sozialen bedingungen schier unmöglich zu leben zu sein scheint.

"Trotzdem, damit ich es wirklich einmal verstehe: Eine der großen Errungenschaften des Menschen, mit der er sich auch vom Tier unterscheidet, ist der Glaube daran, er könne sich selbstbestimmt in seinem Leben verhalten. Dass seine Bedürfnisse auch reflektorisch zu einer Entscheidung führen, die dann zu einer Handlungsweise führt. Stimmt das?

Roth: Das stimmt. Man muss aber unterscheiden, was im philosophischen und strafrechtlichen Sinne unter Willensfreiheit verstanden wird. Im Klartext: Wir fühlen uns frei, wenn wir, wie der Philosoph David Hume sagte, tun können, was wir wollen. Wenn wir einen bestimmten Willen haben, der am besten auch noch reflektiert ist, und wenn wir nach diesem Willen handeln. Das ist ein vernünftiger Begriff von Handlungsautonomie oder von Freiheit im umgangssprachlichen Sinne. Davon unterscheidet sich völlig die Fiktion, die auf Immanuel Kant zurückgeht, es gebe bei unseren Entscheidungen einen Raum, in dem das bewusste Ich frei von allen Motiven, rein nach abstrakten Überlegungen, zum Beispiel der Rechtsmoralität, entscheiden könnte."


eine sinnvolle unterscheidung, wie ich finde. wobei der definition von hume eine permanente "unschärfe" zu eigen ist, die von roth zu wenig berücksichtigt wird.

interessant aber vor allem die kritik an der fiktion von kant - hier wird, in etwas anderen worten zwar, aber doch unverkennbar, von einem konstrukt des objektivistischen modus gesprochen, der beim obigen beispiel in einer dominanten, real unmöglichen, von der körperlichen basis losgelösten position operiert. und wie hier bereits öfter erwähnt, tut er das in einem quasi virtuellen raum, der als entstehungsort faktisch aller fiktionen funktionell unverzichtbar ist. ich fühle mich in meiner ansicht bestärkt, dass den verschiedenen strömungen gerade der westlichen philosophie spätestens seit newton (siehe auch hier ) und descartes mit allergrößter skepsis zu begegnen ist - sicher, teils sind es großartige konstruktionen - aber eben auch nur das.

"Was verstehen Sie unter Motiven?

Roth: Alle Beweggründe, die aus unseren Genen, aus unserer Hirnentwicklung, aus unseren frühkindlichen Prägungen, aus unserer späteren Sozialisierung und aus der Erfahrung resultieren und in vielfältigster Form auftreten."


würde ich soweit unterscheiben, mit zwei ergänzungen: erstens sind die genetischen grundlagen des menschen in einem großen aumaß, wie heute langsam sichtbar wird, viel flexibler und sozusagen interaktiver (und zwar mit den jeweiligen sozialen bedingungen), als früher vermutet wurde - eine starre genetische determinierung gerade sozialen verhaltens lässt sich als behauptung imo nicht mehr aufrechterhalten. und zweitens ist die hirnentwicklung (zusammen auch mit der entwicklung des nervensystems) etwas, dessen grundlagen bereits pränatal gelegt werden - und pränatal können aber auch bereits (vor allem via mütterlicher einflüsse) verschiedenste störungen bis hin zu regelrechten defekten auftreten, die sich beim werdenden menschen in funktionellen oder strukturellen beeinträchtigungen zeigen - u.a. beeinträchtigungen der selbst- und weltwahrnehmung, die besonders - aber nicht nur - im "offiziellen" autistischen spektrum eine hauptrolle spielen.

"Ich hatte immer die Überzeugung, dass ich tue, was ich will.

Roth: Das ist ja auch völlig richtig. Die Auflösung dieses Paradoxons besteht darin, dass der Mensch keinen Einblick in das hat, was den Willen formt. Wir handeln einem Gefühl entsprechend. Gleichzeitig müssen aber der Psychologe, der Neurobiologe und auch der Philosoph anerkennen, dass der Wille selber zusammengesetzt ist aus unbewussten und bewussten Motiven, aus emotionalen und rationalen. Das erleben wir selbst aber nicht. Insofern ist der Wille bedingt, und zwar durch unsere gesamte Lebensgeschichte.

Warum spiegelt das Gehirn dem Menschen den Eindruck vor, er habe ein autonomes Ich? Ist das ein Schutzmechanismus?

Roth: Am Ende ja. Wenn ich nach meinen eigenen Erwartungen handele, stellt sich in mir automatisch das Gefühl der Handlungsfreiheit ein. Das ist das Erste. Das Zweite ist, ich habe als Mensch gegenüber den Tieren fast immer Handlungsoptionen, die in dem Augenblick, in dem ich über die Option reflektiere, noch nicht festgelegt sind. Was ich heute Abend tun werde, steht in diesem Augenblick noch nicht fest. Das ist sehr wichtig, weil manche Kritiker denken, da gebe es ein Gehirn, das uhrwerkartig längst entschieden hat, ehe wir darüber reflektieren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Ich habe Optionen. Ich kann früh ins Bett gehen, ich kann ins Kino gehen, ich kann arbeiten, viele andere Dinge machen - diese realen Optionen sind ein weiteres ganz wesentliches Merkmal des Gefühls von Freiheit. Und damit ist völlig vereinbar, dass ich, wenn ich es dann tue, durch meine Motive bedingt bin."


wobei auch die als letztes erwähnten optionen eben erstmal nur das sind - möglichkeiten. ich sehe v.a. zwei einschränkungen, durch die diese möglichkeiten teils drastisch reduziert werden können: einmal sozusagen eine "interne" einschränkung, die durch krankhafte prozesse/entwicklungen im ganz allgemeinen sinne erzeugt werden kann - ein gebrochenes bein reduziert gewisse möglichkeiten, ebenso aber auch bspw. phobien und ängste.

und zum anderen entscheiden auch die sozialen bedingungen über meine (un-)möglichkeiten - und zwar gleich in zweierlei weise: zum einen können die eben erwähnten ängste eigentlich hinsichtlich ihrer ätiologien meistens nicht von diesen bedingungen getrennt werden; und anderseits hat ein millionär andere optionen zur verfügung als ein "hartzIV"-empfänger (wobei sich das bei einem phobischen millionär bspw. auch wieder relativieren kann).

das erwähnte "autonome ich" scheint mir übrigens nur ein anderes synonym für den objektivistischen modus (nach der definition von mertz) zu sein - die postulierte "autonomie" ist real unmöglich, weil wir als materielle wesen ständig in verschiedenen beziehungen und auch abhängigkeiten stecken. ich greife hier mal weit vor und behaupte, dass sich so eine art "autonomes ich" funktionell wahrscheinlich ganz zentral als reaktion auf jahrtausendealte strukturen verbreiteter gewalt begreifen lässt - eine art kollektive dissoziation im breitesten maßstab, eine bewegung weg von den (schmerzerfüllten) körpern und schmerzhaften gefühlen, hin zu den (vermeintlichen) rettungsankern in fiktiven und virtuellen räumen. es gibt dabei wahrscheinlich verschiedenen erscheinungsformen, die so eine bewegung annehmen kann - so lassen sich bspw. die verschiedenen religionen mit ihren (fiktionalen) gottheiten ebenfalls derart begreifen. in der westlichen kultur haben philosophie und wissenschaft mit ihrer impliziten körperfeindlichkeit sowie ihrem funktionellen autismus (wahrnehmungsmässig) einen anderen weg der kollektiven dissoziation aufgezeigt. möglicherweise (!) aber einen, der eine paradoxe art der selbstauflösung der allgemeinen dissoziation zumindest als option enthalten könnte.

"Aber wenn ich nicht selbstbestimmt für mein Ich entscheide, dann kann man mich auch für nichts mehr verantwortlich machen.

Roth: Das ist die große Frage, die im Augenblick sehr intensiv in der strafrechtlichen Theorie diskutiert wird. Ob es eine Verantwortung im Staatssinne ohne diese Willensfreiheit gibt. Und die Antwort ist: ja. Wir haben zwar keine absolute Verantwortlichkeit in uns, von Geburt an, irgendwo in der Großhirnrinde, wir können aber zu einer Verantwortlichkeit erzogen werden. Das heißt, wir können durch Erziehung erreichen, dass jeder Mensch verantwortlich handelt, nämlich im Rahmen von Normen, die ihm vorgegeben werden."


nochmals die implizite betonung der option der durch den sog. freien willen möglichen verantwortlichkeit also. "erziehung" sollte hier imo nicht in der klassischen form begriffen werden - letztlich muss dieser prozeß bereits bei der schaffung von angemessenen, unterstützenden und gewaltfreien lebensbedingungen (nicht nur) von schwangeren frauen beginnen. und bei einer ganz wesentlich größeren bewusstheit bezgl der motivationen eigener kinderwünsche überhaupt.

und die erwähnten (sozialen) normen können selbstverständlich nicht die heutigen sein, die bspw. von den konstrukten "eigentum" und "objektivität" einen regelrecht perversen charakter verpasst bekommen haben. auf dieses problem verweist auch die nächste frage:

Wird der Mensch dadurch nicht absolut bestimmt von denjenigen, die die Herrschaft über die jeweiligen Normen der Zeit haben?

Roth: Überhaupt nicht. Die Erziehung durch die Gesellschaft ist nur eine von mehreren Komponenten. Zunächst gibt es meine genetische Ausrichtung.

Diese ist in der Regel schwach, sie liegt bei 10 bis 15 Prozent. Der allergrößte Teil ist das, was wir als Kind und als früher Jugendlicher erfahren haben. Das verfestigt sich einmal zur Persönlichkeit im individuellen Sinne, aber auch zur Persönlichkeit im sozialen Sinne. Das legt fest, wie ich später handele. Ob ich zum Beispiel der Staatsmacht widerstehe, weil ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, das mir beibringt, ungerechten Maßnahmen zu widerstehen. Interessant ist, dass sich diese frühe Kindheitserfahrung im Gehirn manifestiert. Also: Was ich als Kind erlebe, dringt in mein Gehirn ein und verändert es."


yo. wieder mit der erweiterung der pränatalen phase. ansonsten finde ich die obigen aussagen sehr erfreulich in dem sinne, das endlich einmal der heutige wissenstand bezgl. der menschlichen entwicklung deutlich mit art und form der daraus resultierenden gesellschaft(-en) verbunden wird, zumindest ansatzweise (aber man(n) ist ja bereits für wenig dankbar...)

und jetzt zu einem ganz heißen eisen:

"Sollte man die Kategorie Schuld im Strafrecht abschaffen?

Roth: Nein. Es gibt ja zwei große Kategorien von Schuld. Einmal die Sühne und Vergeltungsschuld. Die ist abzuschaffen, wie der Strafrechtstheoretiker Klaus Roxin schon gefordert hat. Andere Rechtstheoretiker wie Franz von Liszt sagen, wir müssen den Schuldbegriff aus bestimmten Gründen beibehalten, aber ihn auf die General- und Spezialprävention einschränken. Also auf die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die Abschreckung, die Therapie und das Wegsperren. Den Schuldbegriff brauchen wir aber im Sinne einer anerzogenen Verantwortung, um - so argumentiert zum Beispiel Klaus Roxin - der Strafe ein Maß zu geben. Damit der Staat zum Beispiel nicht übermäßig straft. Das ist aber ein nicht ausgearbeitetes Konzept.

Lassen Sie mich ein wenig polemisieren. Wie gehe ich mit der moralischen Bewertung und Verurteilung eines Adolf Hitler oder eines Slobodan Milosevic um, wenn ich bei einem Dieb gesagt habe, das, was dieser Täter gemacht hat, war nicht willentlich?

Roth: Es gibt etwas, das ich Schuldparadoxon genannt habe. Das Schwere im moralischen Sinne ist die Tat. Alle Untersuchungen zeigen jedoch, dass je verabscheuungswürdiger das ist, was jemand getan hat, also auch Stalin oder Hitler, desto klarer die Einsicht ist, dass die Leute nichts dafür konnten. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, sondern sie wurden aus extrem starken Motiven dazu getrieben. Das ist bei Hitler und bei Stalin so, ebenso bei Gewalttätern und Pädophilen. Das ist sonnenklar für jeden Fachmann."


ha! endlich! endlich wird einmal begonnen, die absurde und katastrophal falsche basis der heutigen justiz zu thematisieren, ihre pseudounabhängigkeit, die pseudoobjektivität ihrer richterInnen und nicht zuletzt die durch und durch objektivistische qualität ihrer gesetze, die wie ein abstraktes raster über der gesamten gesellschaft liegen, und gerade durch ihre abstraktion in ihrer heutigen form v.a. als machtinstrument dienen.

was ich mit dem letzten satz konkret meine? "gesetze" im heutigen sinne gehen ganz zentral erstens von einer vorausgesetzten und auf alle fälle vorhandenen verantwortlichkeit von menschen aus, die jedoch - gerade unter den herrschenden sozialen bedingungen, die wiederum ganz entscheidend von unser aller traumatischen kollektiven und auch vielfach individuellen geschichte bestimmt werden, eben - und das ist meine persönliche meinung - hauptsächlich nur als option vorhanden ist. zweitens, und der punkt hängt in gewisser weise mit dem ersten zusammen: sie sind ihrem wesen nach reduktionistisch, d.h. sie berücksichtigen nicht die beziehungsrealitäten des menschen, sondern gehen faktisch von einer isolierten, vereinzelten monade aus, die primär von ihrer vernunft geleitet wird - und dazu ein set hauptsächlich negativer an"triebe" wie neid, gier usw. besitzt. und im letzteren, damit zum dritten punkt, reproduzieren sie völlig bewußtlos die traumainduzierte negative anthropologie, die sich heute überall in dieser gesellschaft beobachten lässt (achten Sie nur mal drauf, wie oft Ihnen folgende aussagen begegnen - "der mensch ist von natur aus schlecht", "ein irrläufer der evolution" usw.)

ich habe hier in der vergangenheit gerade anläßlich verschiedener prozesse gegen kindsmordende bzw. gewalttätige eltern bereits ähnliches zur justiz anzumerken gehabt - und einiges meiner damaligen kritiken kann ich jetzt wiederholen - so zb. diese:

(...)"hat der gutachter kröber mit seinen fragwürdigen einlassungen hier vielleicht bewusst geschützt und gerade deshalb unfreiwillig offenbart, was nicht öffentlich und breit bewusst werden darf und soll? das eine nüchterne rekonstruktion der ereignisse unter einschluss der transgenerationalen familiendynamiken nicht nur die kette der gewalt, sondern auch unser aller gesellschaftliches versagen, unsere quasiakzeptanz dieser kette deutlich machen würde? mussten die beiden eltern alleine schon zur aufrechterhaltung des eigentlich unhaltbaren juristischen schuldbegriffs und menschenbildes auf alle fälle voll "schuldfähig" gesprochen werden? werden damit nicht auch die deutlichen widersprüche der staatlichen und politischen propaganda, die sich familien- und besonders kinder"freundlich" gibt, zur realität von politischen entscheidungen deutlich, die durch ökonomische verelendung genau die milieubedingungen fördert, in denen offene gewalt oder stille verwahrlosung von ganzen familien bevorzugt gedeihen, unter den teppich gekehrt? genauso wie die offenkundige unfähigkeit der offiziellen psychiatrie, zustände von wahnsinn - ausgelöst durch menschliche gewalt - korrekt zu erkennen und eben nicht durch die alleinige orientierung an scheinbarer "realitätstüchtigkeit" und "objektiv" vorhandener kognitiver intelligenz komplett zu leugnen und auf eine "als-ob"-simulation hereinzufallen (genauso werden auch die vielen hitlers dieser welt aus dieser sphäre des wahnsinns ferngehalten herausdefiniert - es wäre ja auch zu gefährlich, das zu erkennen und gleichzeitig nach der inneren verfassung der den "führern" folgenden massen fragen zu müssen)? müssen deshalb auch auschwitz (bzw. das, wofür es steht) und ereignisse wie das hier thematisierte regelmäßig als "leider völlig unerklärbar" bezeichnet werden?"(...)

und der folgende auszug lässt sich nach meinem verständnis als direkte weiterführung der ausführungen von roth oben verstehen:

(...)"ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.

vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste."(...)


kurz: unsere ach so "rechtsstaatlich-demokratische" justiz und ihre gesetze sind im kern ganz wesentlich von einer verzerrten anthropologie geprägt, die eine im strengen sinne pathologische und wahnsinnige version des menschlichen seins für "normal" hält.

entsprechend erbarmungslos und pathologieerzeugend sieht dann auch ihre praxis aus.es bleibt immer weniger bei der frage offen, ob dieser art von justiz noch irgendeine art von berechtigung zugestanden werden soll bzw. kann. (und um mißverständnisse an dieser stelle auszuschließen: die justiz stellt nur einen gesellschaftlichen bereich dar, in dem ganz grundsätzlich etwas falsch läuft).

weiter im interview:

"Wie soll eine Gesellschaft mit solchen Menschen künftig umgehen?

Roth: Es wird ja überhaupt nichts im weiteren Sinne entschuldigt. Sondern es geht darum, dass dieser Sühne- und Vergeltungsschuldbegriff inhuman ist. Er sinnt nämlich auf Rache. Dazu eine kurze historische Betrachtung: Früher wurde es als persönliches Verschulden angesehen, wenn man in Armut geriet oder krank wurde. Man war persönlich schuldig. Heute haben wir uns davon befreit - so wie von der Selbstjustiz. Aber vor 150 Jahren wollte kaum jemand anerkennen, dass Krankheiten durch Bakterien und Viren verursacht werden und nicht durch göttliche Fügung. Es wurde gesagt, es werde schon was dran sein, weshalb der oder die schwer krank geworden sei. Das ist ein Lernprozess. Ich behaupte, dieser Vergeltungs- und Sühneschuldbegriff ist inhuman. Der Therapiegedanke, der Besserungsgedanke wird dadurch nachweislich abgeschafft."


der vorletzte satz trifft es haargenau. und ich finde neben anderem v.a. immer wieder die heuchelei dieser gesellschaft extrem widerlich, die sich im falschen glanz ihrer fetische "rationalität" und "vernunft" sonnt, um dann in den entscheidenden momenten deutlich zu machen, dass es sich dabei um abgehobene konstrukte handelt - und dann folglich in der verdrängten, verleugneten, abgespaltenen und (zumindest in europa) tabuisierten ebene verzerrter und bösartig gewordener gefühle wie rache zu landen.

"Ist ein Mensch wie Hitler im hirnbiologischen Erkenntnisprozess therapierbar?

Roth: Eine völlig offene Frage. Schwerverbrecher und Mörder haben alle schwerste Hirnschäden im Stirnbereich, das belegen Untersuchungen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Leuten, die auch solche Schäden haben und nicht kriminell geworden sind. Man vermutet, dass das Gehirn, durch verschiedene Umstände begünstigt, die Möglichkeit hat, das zu reparieren, ob nun organisch oder durch eine sehr frühe Therapie.

Überträgt man Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die geisteswissenschaftliche Ebene, dann stellt sich bei Hitler der Offenbarungseid jeder Moraltheorie ein.

Roth: Das ist nicht richtig. Wenn es eine Moral gibt, die das, was Hitler getan hat, für verabscheuungswürdig hält, weil es das friedliche Zusammenleben der Menschen und das Glück des Einzelnen völlig zerstört, dann muss man untersuchen, ab wann solche psychopathologischen Entwicklungen einsetzen. Und die Erkenntnis lautet, sehr früh, bereits im Alter von vier oder fünf Jahren. Schon ein kleiner Junge, der sich so und so auf dem Schulhof verhält, ist höchst gefährdet, ein späterer Gewalttäter zu werden. Das ist nicht sicher, aber die Gefährdung ist sehr hoch. Und die Moral setzt genau dort an. Dass man beschließt, das müssen wir vermeiden, weil der Junge nämlich sonst das friedliche und glückliche Zusammenleben in der Gesellschaft stören würde."


was roth im letzten absatz ausspricht, ist und bleibt für mich unter den heutigen (!) gesellschaftlichen bedingungen und machtverhältnissen eine extrem zwiespältige angelegenheit - auch, wenn ich neue formen der prophylaxe und früherkennung von antisozialen tendenzen grundsätzlich befürworte - allerdings ausdrücklich unter einschluß derjenigen schichten, die sich heute als sog. eliten begreifen.

und das ich von "moral" in den hier diskutierten zusammenhängen nicht viel halte, lässt sich z.t. hier nachlesen. das vorhandensein von moral - d.h. abstrahierten handlungsanweisungen - innerhalb einer gesellschaft bleibt für mich weiter eher als indiz für grundsätzlich gestörte kollektive und individuelle selbstregulation bestehen.

"Die Gesellschaft kann doch die frühkindliche Entwicklung kaum beeinflussen. Sie vollzieht sich in den Familien.

Roth: Das ist eben die Tragik. Wir haben eine moralische Vorstellung von der Familie, dass sie eben das tun kann, was sie will. Aber wenn wir verhindern wollen, dass etwa fünf Prozent der Jungen schwer gewaltbereit werden, dann müssen wir dieses Tabu brechen. Und das wird ja auch äußerst erfolgreich von Kolleginnen und Kollegen von mir bei der frühkindlichen Therapie gemacht. Gerade wenn wir erkennen, dass Menschen moralisch gefährdet sind, hat die Gesellschaft die Verpflichtung, einzugreifen. Und dabei gilt: Je später man eingreift, umso weniger wirksam ist es."


auch das unterschreibe ich, aber mit einer gewaltigen einschränkung: wieder können unter den heutigen machtverhältnissen die nötigen veränderungen und auch eventuelle eingriffe in dysfunktionale familien eigentlich nicht stattfinden, ohne sofort die gefahr extrem destruktiver nutzung seitens der herrschenden eliten hervorzurufen.

"Lassen Sie mich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Mit Descartes entstand die Hoffnung des Denkens und mit Kant die Vernunft als Mittelpunkt des Seins. War das alles nur eine Illusion?

Roth: Ja, es war Illusion für jeden Menschenkenner seit 200 000 Jahren. Alle großen Denker haben immer gewusst, dass das eine Illusion ist. Es war eine verständliche Illusion, vielleicht sogar eine staatsnotwendige Illusion. Aber es war eine Illusion. Jeder Politiker mit Menschenkenntnis weiß, dass Rationalität sehr wichtig ist, dass man aber am besten nicht allein auf sie baut. Alle Eltern mit mehr als einem Kind wissen, dass vom Temperament, also vom Kern der Persönlichkeit her, die Kinder so bleiben, wie sie bei der Geburt sind. Gerade bei Kant ist es wunderschön zu sehen. Wenn Kant selber sagt, niemand könne sich vorstellen, wie dieser freie Wille funktionieren soll. Kant meinte eben, es müsse so sein, weil sonst moralisches Handeln nicht möglich wäre. Ich und viele andere sagen nun: Wenn wir die Verabscheuungswürdigkeit von Taten trennen von dem abstrakten Willen, dann können wir unseren moralischen Anspruch aufrechterhalten."


yo. wie schön, das zu lesen: diese gesellschaft, nein sogar die "kultur", in der sie verankert ist, ist in ihren selbstvorstellungen und ihrem weltbild bei realistischer betrachtung, d.h. unter berücksichtigung einer annährend korrekten anthropologie, auf sand gebaut - auf objektivistische fiktionen, illusionen - letztlich also einen bereich, dem ebenso die übelsten psychotischen individuellen wie auch kollektiven wahnvorstellungen entspringen, in deren offene formen ja die "normalen" illusionen auch immer wieder kippen - vielleicht das deutlichste beispiel dafür ist bis heute der nationalsozialismus. das roth das als "vielleicht sogar staatsnotwendige illusionen" bezeichnet, stellt - wenn auch vielleicht ungewollt - eine sehr wahre aussage über unsere situation dar.

"Woher nimmt man die Legitimation, bestimmte Normen für eine Gesellschaft festzulegen und andere nicht auch zu respektieren?

Roth: Darauf kann man eine klare Antwort geben. Ein ganz kleiner Teil unserer Normen liegt bereits in unseren Genen. Wir bringen zum Beispiel unsere Eltern nicht um. Wir schaden unseren nächsten Verwandten in aller Regel nicht. Aber im Tierreich gibt es Mord und Totschlag und beim Menschen eben auch. Ich behaupte, die Mehrzahl der Menschen folgt einer Art Steinzeitmenschen-Code, der während der frühen psychosozialen Erfahrung festgelegt wird und uns bestimmte Dinge tun lässt. Es gibt kein weiteres Gewissen. Nehmen Sie einen Jungen, der in Bogotá aufwächst, wo ich eine Zeit lebte. Der wird einen Menschen wegen eines Dollars umbringen und nicht die geringste Reue dabei empfinden. Weil er gelernt hat, wenn ich das nicht tue, dann sterbe ich. Der Straßenjunge bringt zwar nicht seinen Vater um. Aber ein Nichtverwandter bedeutet ihm nichts.

Ist das die Steinzeitkultur?

Roth: Ja. Wenn ein Fremder kommt und sich nähert, muss man ihn erschlagen. Das ist moralisch gut, moralisch geboten. In der Steinzeit war es nämlich so: Wenn einer kam, wollte er mein Kind, meine Frau und mein Vieh wegnehmen. Skrupel hatte man nur gegenüber Verwandten. Und dieser Junge in Bogotá, wenn der einen Touristen umbringt, warum sollte das aus seiner Sicht verwerflich sein? Im Gegenteil, es ist ja ganz toll, er bekommt dadurch einen Dollar oder eine goldene Uhr. Hier sieht man, es gibt nachweislich keine Moral jenseits dieser schwachen genetisch verankerten Moral. Das heißt, was wir uns an weitergehender Moral erworben haben, entstand nur durch in Tausenden von Jahren bitter bezahlte Einsichten. Dass es Regeln gibt, wie Menschen zusammenleben, und dass man sie tunlichst beachten sollte."


einspruch: roth vergisst hier u.a. schlicht die erkenntnisse der heutigen psychotraumatologie. der "junge in bogotá" nämlich stammt aller wahrscheinlichkeit nach aus einem milieu, welches voll von gewalt ist - und zwar akzeptierter und gewohnheitsmässiger gewalt. wie sind die sozialen fähigkeiten der eltern? wie sieht es mit den verschiedenen möglichen deprivationen durch bitterste armut aus? was spielt ein gewalttätiger staat (und als solches lässt sich das heutige kolumbien durchaus bezeichnen) für eine rolle, in dem übergriffe des militärs und folter zur "normalität" gehören? todesschwadronen? und dazu die offen mafiösen strukturen der diversen narco-kartelle?

ich brauche keine "steinzeitkultur" zu bemühen, um selbst eine negative genetische determinierung anzunehmen - wenn nämlich diese traumatischen gewaltformen wie die obigen über generationen vorhanden sind, dann steigt die wahrscheinlichkeit entsprechender genetischer "anpassungen" zwecks bloßen überlebens rapide an. und von den sonstigen anzunehmenden negativen psychophysischen prägungen durch extrem negative und destruktive lebensbedingungen brauchen wir erst gar nicht anzufangen. kurz: ich halte den "steinzeitmenschen-code" im wesentlichen für ein mehr oder weniger unbewusstes entlastungskonstrukt. wer und was hier entlastet werden soll, muss ich hoffentlich nicht noch extra erwähnen.

im nächsten absatz widerspricht er sich diesbezgl. meiner meinung nach selbst:

"Glauben Sie an die Vision eines friedlichen, guten Menschen im Sinne dieser Moral?

Roth: Ja, natürlich. Wenn Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl besitzen und ein gutes Frustrationstoleranzsystem, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung hatten und eine günstige psychosoziale Umwelt, dann sind sie empfänglich für die Normen der Gesellschaft. Das ist die große Chance, die wir haben. Und deshalb sind ja auch 95 Prozent der Menschen friedlich und bringen sich nicht um. Es sind fünf Prozent, die aus physiologischen Gründen oder wegen früher Traumatisierungen eben so sind, wie sie sind. Und bei Stalin, Hitler und anderen ist das ja auch aus den Biografien erklärbar."


also, es geht auch ohne "steinzeit-code" - genau die benannten bedingungen sind eben beim jungen aus bogotá nur rudimentär bis gar nicht vorhanden.

ich befürchte allerdings, dass die "fünf prozent" eine gewaltige fehleinschätzung darstellen.

"Sie beschreiben etwas, das in der Wissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert wird. Was ist das Neue an diesen Erkenntnissen?

Roth: Das Neue an den Erkenntnissen meiner Zunft ist, dass man Dinge empirisch experimentell nachweisen kann. Also die Frage, ob frühkindliche Erfahrungen wirklich den Einfluss haben, den Freud und andere ihnen unterstellt haben. Das war bis vor Kurzem nicht überprüfbar. Die Antwort heißt nun: Es gibt diese Einflüsse, aber in komplizierter Wechselwirkung mit den Genen, mit der Hirnentwicklung und mit der späteren psychosozialen Verhaltensweise. Auch die alte Frage "Ist der Mensch eher durch seine Gene oder durch die Gesellschaft determiniert?" galt bis vor Kurzem als unentscheidbar. Heute können wir eine sehr befriedigende Antwort darauf geben, rein empirisch experimentell. Wir können nachweisen, wie die Gene das Verhalten bestimmen, wie die Mutter-Kind-Beziehung ins Gehirn eingreift - schon vor der Geburt. Und wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich als Kind selbst Opfer von Gewalt wurde, mein Gehirn negativ verändert. Es gibt Tausende von Untersuchungen, die belegen: Menschen sind durch ihre frühe psychosoziale Erfahrung extrem beeinflusst. Man kann es im Gehirn zeigen."


und das obige sollten, nein sogar müssen wir uns allesamt hinter die ohren schreiben! genau hier liegt ein wesentlicher teil der basis, ohne die zukünftig keinerlei positive soziale entwicklung konzipiert und durchgeführt werden kann.

"Ist eigentlich die Institution Gefängnis nach dem, wie Sie Schuld, Schuldfähigkeit, Schuldbewusstsein und freien Willen definieren, überhaupt noch zeitgemäß?

Roth: Alle Experten, mit denen ich zu tun habe, sagen: nein. Durch das Gefängnis wird der erste Teil des Schuld- und Strafbegriffs bedient, nämlich Vergeltung und Sühne. Und der genauso wichtige Begriff der General- und Spezialprävention, also des Vorbeugens weiterer Taten, wird sehr niedrig gehandelt aus vielerlei Gründen, weil es unglaublich viel kostet und weil viele Dinge noch gar nicht untersucht sind. Das wird von vielen Strafrechtstheoretikern, Strafrechtlern und auch Kriminologen beklagt."(...)


und dem bleibt aus meiner sicht nur noch hinzuzufügen, dass gefängnisse nicht umsonst das synonym "schule des verbrechens" tragen - hier wird (im drittletzten absatz von unten) ein sehr eindrückliches beispiel dafür beschrieben. dafür werden u.a. Ihre steuern benutzt, neben der finanzierung von all dem anderen destruktiven zeug wie den sog. sicherheitsorganen, militär, fragwürdiger großtechnologie undundund...

*

ob die "welt" wohl weiß, was sie da eigentlich veröffentlicht hat?

Donnerstag, 17. August 2006

notiz: zu zwei hier bisher weniger...

...thematisierten psychiatrischen diagnosen fanden sich in der letzten zeit zwei meldungen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte - gerade weil sie wieder einmal grundsätzliche probleme der aktuellen diagnostischen modelle deutlich machen.

*

zum einen wäre da die folgende aussage zum "aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom" adhs (das ist nicht das gleiche wie ads - der inhaltliche unterschied ist mit dem "h" in der abkürzung bereits deutlich):

"Die Krankheit wird häufig als Borderline- oder bipolare Störung fehldiagnostiziert und fehlbehandelt,..."

oder taucht als sog. komorbidität bzw. zweite diagnose bei bl-diagnostizierten auf. ebenso, wie sie auch öfter zum autistischen spektrum gezählt wird (und meines wissens auch häufiger als komorbidität beim asperger-syndrom auftaucht bzw. beide häufiger verwechselt werden - das betrifft aber v.a. die variante ads, welche zusammen mit dem adhs aber bisher als eine störung , wenn auch mit zwei unterschiedlichen ausprägungen, begriffen wird.)

und wenn Sie hier schon länger mitlesen, werden Ihnen die oben deutlich werdenden überlappungen bzw. schnittstellen gerade zwischen den diagnosen aus dem bereich der sog. persönlichkeitsstörungen (ps) mit denjenigen aus dem autistischen spektrum bereits bekannt sein. die oben zitierte kritik an den erwähnten fehldiagnosen lässt sich alternativ auch als ein weiterer hinweis darauf verstehen, dass es sich hier womöglich eher um ganz grundsätzliche konstruktionsfehler der betreffenden diagnostischen modelle handelt, deren quellen in einem zu reduktionistischen bzw. fragmentierten verständnis der psychophysiologie des menschen liegen, die in der folge bei den entsprechenden psychiatrischen bzw. psychologischen (incl. psychoanalytischen) theoretischen modellen zu zwangsläufigen verzerrungen bzw. fehlinterpretationen führen.

ich habe ab und zu den gedanken, mal die bisher sichtbaren verhältnisse zwischen den fraglichen diagnosen graphisch darzustellen - all die komorbiditäten und verbindungslinien. das könnte die ganze sache vielleicht etwas deutlicher machen. für die zukunft vorgemerkt.

(vielleicht noch eine nötige anmerkung: der begriff "bipolare störung" ist die aktuelle bezeichnung für den älteren namen "manisch-depressiv", meint aber inhaltlich das gleiche. und während sich im populären mainstream hinsichtlich dieser krankheit v.a. allem die betonung von genetischen bzw. primär organisch-biologischen ursachen festgesetzt hat [was in einer gewissen hinsicht auch nicht falsch ist, eher eine frage der perspektive], so finden sich selbst bei einem so "klassisch" psychiatrischen störungsmodell nur leider allzu bekannte zusammenhänge:

(...)"Neben genetischen spielen unterschiedliche Faktoren aus der Umwelt eine große Rolle, die in der Lebensgeschichte wirken, wie traumatische Ereignisse (Trennungen, Mobbing und Bossing, Verlust des Arbeitsplatzes, Vertreibung und Verfolgung, langjähriger sexueller Missbrauch/Vergewaltigung und körperliche Misshandlung im Kindes- und Jugendalter, sowie der Verlust eines geliebten Angehörigen), sind hier von Bedeutung. Ebenso verheerend wirkt sich auch sonstiger Stress aus (hierbei sind Bipolare viel verletzlicher als Nichtbetroffene, so kann sogar Wohnungswechsel Phasen auslösen), vor allem auch psychosozialer Stress, Konflikte in der Partnerschaft, in Familie und Beruf (auch hier sind Betroffene viel mehr gefährdet)."(...)

*

und zu den beiden oben erwähnten diagnostischen komplexen der persönlichkeitsstörungen und des autistischen spektrums gehört natürlich auch als drittes der gesamte bereich der psychotraumata, hier besonders in der form der posttraumatischen belastungsstörung. eine diagnose, die nicht nur inzwischen breiter bekannte schnittstellen zur borderline-ps aufweist, sondern deren inhalte auch bei anderen ps offensichtlich eine rolle spielen. so zum beispiel bei der "schizotypischen ps", für die hier ein kurzes "fallbeispiel" zu lesen ist, in dem es am ende heißt:

(...)"Schizotypische Menschen sind sehr sensitiv und oft kreativ. Nicht selten erlebten sie sexuellen Mißbrauch, körperliche Mißhandlungen oder Vernachlässigung."(...)

eine der fragen, die u.a. mit für dieses blogprojekt hier verantwortlich sind, lautet für mich ungefähr so: kann es sein, dass es sich bei den oben erwähnten drei für die heutigen psychiatrie mit am relevantesten diagnostischen komplexe eigentlich "nur" um verschiedene beschreibungen des letztlich immer gleichen handelt? wobei mit diesem "immer gleichen" verschiedenste auswirkungen sozialer gewalt innerhalb der prä-, peri- und postnatalen menschlichen entwicklung gemeint sind (dabei beziehe ich die bisher möglichen anscheinend anderen ursachen, wie genetische dispostionen, umweltgifte etc. durchaus mit ein. aber solche erklärungen schließen keinesfalls eine sozusagen soziale ätiologie aus).

es gibt in meinen augen kaum eine frage, deren realistische beantwortung dringender wäre.

Dienstag, 8. August 2006

notiz: in der bestenallerwelten [TM]... (update)

...stellen sich verschiedene fragen: sind die zeichen für eine um sich greifende agonie - oder auch implosion, das kommt auf die perspektive an - des sozialen lebens tatsächlich mehr geworden? oder verändert sich einfach die allgemeine und persönliche wahrnehmung dahingehend, dass früher als "normal" betrachtete zustände u.a. im zuge von tiefgreifenden umwälzungen kritischer gesehen werden? die position "alles wird immer schlimmer" jedenfalls ist zwar verführerisch einfach, trifft jedoch real längst nicht auf alle so wahrgenommenen entwicklungen zu (eines der nachdrücklichsten beispiele für diese differenz zwischen persönlicher und objektivierter wahrnehmung stellt immer noch der bereich der als solches definierten kriminalität dar - während bspw. alte menschen sehr häufig angstbestimmt in öffentlichen räumen unterwegs sind, stellen real tatsächlich junge männer unter dreißig jahren den hauptteil der opfer von gewaltkriminalität in eben diesen räumen. eine wahrnehmungsdifferenz, die sicher z.t. auch durch entsprechende mediale focussierung mit produziert wird, aber imo auch einiges über die persönlichkeitsstrukturen in der älteren bevölkerung aussagt. nur sehr selten bis nie wird nämlich nachgefragt, ob die - unbestritten vorhandenen - benannten ängste eigentlich tatsächlich ihre quellen in der aktuellen realität haben, oder vielleicht doch eher quasi mischungen aus aktuellen wahrnehmungen und vergangenen, quasi immer wieder neu getriggerten ängsten darstellen (letzteres dürfte dabei besonders auf die generation der kriegskinder des zweiten weltkriegs zutreffen, die teils mit bis heute unausgesprochenen traumata der verschiedensten art - bombenkrieg, flucht etc. - durchs leben geht)?

zu solchen und anderen wahrnehmungsdifferenzen zukünftig mehr. nichtsdestotrotz gibt es aber immer wieder meldungen wie die folgende , die deutlich machen, dass die unguten gefühle beim anblick des zustands der westlichen gesellschaften durchaus berechtigt sind:

"Eine aktuelle Studie der Duke Universität und der Universität von Arizona belegt, dass jeder vierte Amerikaner niemanden kennt, mit dem er wichtige Themen und Probleme besprechen kann. Die Anzahl der Menschen, die sagen keine Freunde zu haben, hat sich damit seit 1985 verdoppelt. Im Schnitt haben die Amerikaner zwei Vertrauenspersonen. Im Jahr 1985 waren es noch drei."(...)

"Der Trend der Vereinsamung der US-Bürger ist den Wissenschaftlern zufolge das Ergebnis der amerikanischen Lebensweise, die größtenteils im Büro und im Internet stattfindet. Die Menschen haben dadurch immer weniger Zeit für externe soziale Aktivitäten, die persönliche Beziehungen stärken könnten."(...)


die "(us-)amerikanische lebensweise" ist dabei durchaus als prototyp der existenz in den welten des spätmodernen kapitalismus anzusehen, dementsprechend in teils modifizierten formen auch an vielen ecken in europa zu beobachten. gleichzusetzen ist die us-gesellschaft mit den europäischen jedoch nicht - aber es lassen sich ja bekannterweise durchaus trends ausmachen, die mit mehr oder weniger zeitlicher verzögerung auch hier vielfach als modelle des angesagten lebens auffällig und verbreitet werden. was dann im bereich bspw. der popkultur noch mehr oder weniger geschmackssache ist (auch, wenn sich näheres betrachten der jeweiligen inhalte und botschaften sehr lohnt), wird bei solchen entwicklungen wie der dargestellten jedoch zur eindeutigen bedrohung (der grundlagen jedes sozialen lebens). gerade bei den mit pc und handy sozialisierten generationen wird diese entwicklung erst so recht durchschlagen. und beim stichwort computer verweise ich nochmals auf die hier und hier erwähnten sichtbaren möglichen zusammenhänge zwischen der herrschenden akzeptanz der allgegenwart von computern mit dem objektivistischen modus einerseits und autistischen störungen andererseits.

"Auch bei der Begeisterung über die zunehmende Rolle, die das Internet bei persönlichen Kontakten spielt, sei einige Zurückhaltung geboten, meint Smith-Lovin. Einerseits trägt E-Mail tatsächlich zum Pflegen von sozialen Kontakten bei. Laut einer aktuellen Studie des US-Instituts Pew Research Center teilen Familienmitglieder über Internet oft wichtige und seriöse Angelegenheiten miteinander. Auch ist es eine gute Methode, um die Kontakte mit weit weg wohnenden Familienmitgliedern und Freunden zu pflegen. E-Mail und SMS können Face-to-Face-Kontakt jedoch nicht ersetzen, warnen die Forscher. "Die richtig interessante Frage ist daher, wie wir das Internet anwenden können um unsere Offline-Beziehungen zu stärken und zu vertiefen", so Soziologe Putnam abschließend."

virtuelle räume als werkzeug nutzen, um das reale leben vielfältiger und auch angenehmer zu gestalten - genau dieses verhältnis könnte auch als metapher für ein gesundes psychophysisches verhältnis zwischen objektivistischen modus und subjektivem sein in uns menschen durchgehen. umgekehrt aber wird die dominanz von virtuellen (und simulativen) räumen als surrogat bzw. kompensation fehlender sozialer kontakte / beziehungen ebenfalls zur metapher, und zwar genau für diejenigen psychophysischen zustände, die hier immer wieder thema sind.

wenn Sie sich nochmal den letzten blogbeitrag unten betrachten, wird Ihnen sicher nicht entgangen sein, dass dort ebenso wie hier jetzt das thema beziehungs(un)fähigkeit im weitesten sinne eigentlich den gar nicht groß versteckten kern der jeweils thematisierten entwicklungen ausmacht. und ob es sich dabei um die folgen von hartz-IV oder aber von übermässiger pc-nutzung handelt -stets stehen diese entwicklungen im kontext der verdinglichung und durchkapitalisierung, die von elitärer seite aus als einziges modell für den gesamten planeten versucht wird durchzusetzen. der angriff auf unsere ganz spezifisch menschlichen beziehungsfähigkeiten ist dabei inzwischen unübersehbar, und der "erfolg" dieses angriffs ist u.a. in den steigenden zahlen der sog. psychischen krankheiten abzulesen. und dieser angriff zielt ebenfalls ganz unübersehbar auf den eigentlichen kern dessen, was uns überhaupt erst zu menschen macht: die fähigkeiten zur solidarität, empathie/mitgefühl, altruismus - die menschliche liebesfähigkeit in all ihren ausprägungen.

und wenn dieser angriff durchkommt, wird er der tödlichste überhaupt aller denkbaren angriffe sein. er zielt auf die absolute basis aller sozialität.

*

im eben erwähnten zusammenhang muss imo auch das thema mobbing als eine art symptom angesehen werden - mobbing verdient hier eigentlich auch einen eigenen beitrag, aber in der heutigen taz schildert ein autor persönliche eindrücke unter dem titel Neue Deutsche Asozialität , die es in sich haben:

"Das Klima wird rauer", sagen die Soziometeorologen. Was auch rassistischer meint. So wurde kürzlich eine tschechische Porzellanbemalerin nach 23 Dienstjahren in einer Berliner Geschirrfabrik Knall auf Fall entlassen - mit der Begründung: ihr fehle die nötige Qualifikation. Und in einem Ausbildungsinstitut entließ man eine tschechische Sekretärin, bloß weil dem neuen Vorstand ihr "Arbeitsstil" nicht gefiel, begründet wurde dies mit 10,5 Fehlstunden seit 2005. Es handelte sich dabei um zwei Tage, an denen sie Migräne hatte und früher nach Hause gegangen war, um sich krankschreiben zu lassen. In Wirklichkeit stand dahinter das Drängen einer deutschen Kollegin."(...)

"Gestern diskutierte ich im Advena darüber mit Fatih, der im Kotti-Quartiersbeirat mitarbeitet - und sich quasi laufend Gedanken über diesen neuen Hang zur Asozialität und Antisolidarität macht. Er ist selbst Opfer dieses Trends: Seine Firma, die alte Leute pflegt, kündigte ihm nach einer Rehamaßnahme wegen eines Bandscheibenvorfalls. Zwar gewann er den Arbeitsgerichtsprozess, arbeitslos ist er trotzdem. Fatih erzählte, dass auch in Kaufhäusern sowie in Altersheimen und Krankenhäusern das Mobbing epidemisch geworden sei, in Letzteren reagieren die Gemobbten sich an den Patienten ab. Er meinte, das alles sei Folge einer um sich greifenden "sozialen Verwahrlosung". Eine Ursache dafür ist laut Fatih die Schwäche der Gewerkschaften. Ich nickte. Von einer alten IG-Metall-Sekretärin hatte ich erfahren, dass dort das "Klima" ebenfalls extrem mies geworden sei: Man duze sich nicht mehr und feiere auch nicht mehr zusammen. Alle Kontakte würden sich formalisieren, jeder sei vor mobbenden Kollegen auf der Hut. So etwas hätte es früher nicht gegeben - vor dem Fall der Berliner Mauer. Die anscheinend so etwas wie eine tragende Wand gewesen ist."


die "schwäche der gewerkschaften" ist besser ebenfalls eher als symptom denn als ursache auf den punkt gebracht. und der bezug auf die "mauer" (aka kalter krieg) lässt sich möglicherweise als hinweis auf den wegfall einer gesamtgesellschaftlichen und beidseitigen (in west wie ost) projektionsfläche betrachten, die quasi als eine art giftcontainer funktionierte, in denen das jeweilige abgespaltete "böse" bequem untergebracht werden konnte (zu dieser these hat sich klaus theweleit in "das land, das ausland heißt" viele gedanken gemacht).

nun ist mobbing aber weder eine speziell deutsche angelegenheit noch alleine ein produkt medialer inszenierung. oberflächlich betrachtet, stellt es u.a. die perfekte versinnbildlichung vom krieg "aller gegen aller" dar; die manifestation sozialdarwinistischer alpträume sowie das bitterernst genommene konkurrenzprinzip, gemixt mit eigenen abstiegs- und untergangsängsten sowie selbstzweifeln. boshaftig- und niederträchtigkeit gibt´s als garnierung oben drauf.

wie bei so ziemlich allen anderen sozialen phänomen haben wir es uns mehrheitlich angewöhnt, auch mobbing als scheinbar isoliertes ereignis zu betrachten (ausdruck und folge zugleich von fragmentierender wahrnehmung). und wie in anderen bereichen auch, so ist auch diese reduktionistische wahrnehmungsweise hier unzulässig, fatal und verzerrend-irreführend. mobbing wird bspw. untergründig im zitierten faz-artikel im letzten beitrag nahegelegt, wenn es dort heisst:

(...)"Außerdem müsse derjenige, der nach Macht strebe, gewisse Spielregeln befolgen und dabei auch in Kauf nehmen, ethische und moralische Hürden zu überschreiten."(...)

und mobbing wird ebenso quasi wie eine naturnotwendigkeit hingenommen - und die opfer als quasi "kollateralschäden" -, wenn folgende "empfehlung" gegeben wird (das dieses antisoziale gerede dazu noch von einer psychotherapeutin kommt, ist schlicht deprimierend):

(...)„Aber wer Macht will, muß bereit sein zu kämpfen und muß wissen, mit welchen Waffen er einerseits selbst ausgerüstet ist und welche andererseits auf dem gewählten Schauplatz von Nutzen sind“, erklärt Christine Bauer-Jelinek, die als Wirtschaftscoach und Psychotherapeutin arbeitet. „Wer weiterkommen will, muß strategisch vorgehen.“(...)

(...)"Ein kluger Machttaktiker läßt sich eben nicht in die eigenen Karten schauen, schaut anderen jedoch - oft mit Hilfe seiner Seilschaft - ständig ins Blatt. „So kann man Angriffe schon im Keim ersticken“, erklärt Zielke. Und gleichzeitig den Gegner schwächen. Zum Beispiel, indem man geschickt Gerüchte streut oder streuen läßt. „Der Stratege sieht dann gelassen zu, wie die Öffentlichkeit den Feind richtet.“

Gelingt es nicht, einen möglichen Angriff schon im Vorfeld abzuschmettern, dann müssen einflußreiche Verbündete her, die sich ganz demonstrativ auf die Seite des Angeschossenen stellen. Eine starke Seilschaft ist dafür das A und O. Aber wie baut man eine solche auf? „Zunächst einmal sollte man die Unglücklichen und Glücklosen meiden“, rät Zielke. Denn diese zögen das Unglück nach sich und brächten es auch über ihre Gefolgsleute."(...)


"gerüchte streuen, seilschaften aufbauen, die unglücklichen und glücklosen meiden" - und konkurrenten aus dem weg räumen - damit sind ganz wesentliche aspekte des mobbings auf den irren punkt gebracht (den zusammenhang mit verschiedenen psychophysischen störungen hatte ich im letzten beitrag schon umrissen).

für derlei kriegsführung - denn nichts anderes ist das - ist eine verdinglichende wahrnehmung, in der andere menschen nur noch als objekte des eigenen handelns und der eigenen - objektivistischen - kalkulationen auftauchen, die notwendige basis. symptom und (psychopyhsische) quelle zugleich für eine pathologische deformation des menschlichen lebens, die alle alarmleuchten angehen lassen muss. und deren - ja, bekämpfung, genau die gleiche priorität haben müsste wie der umgang mit einer lebensbedrohlichen epidemie. und eine politk, die diesen namen auch verdienen würde, hätte zunächst keine dringenderen ziele auf ihrer agenda zu führen.

aber derartige gedanken entsprechen ja mal wieder nicht den nüchternen sachzwängen dieser welt.

*

edit am 11.08.: im letzten jahr gab es hier schon beiträge zum thema alexithymie zu lesen (eins und zwei), und ich empfehle Ihnen, diese nochmals im hinblick auf das obige zu betrachten - und dabei besonders über diese sätze nachzudenken:

"In vielen Berufen sind Alexithymie-Eigenschaften in unserer Industriegesellschaft eine durchaus erwünschte Eigenschaft.

Daraus wird ersichtlich, dass es sich bei der Alexithymie nicht um eine Krankheit handelt."


so wie die aktuelle realität ausschaut, lässt es sich tatsächlich als eine art - allerdings kurzfristigen - "evolutionären vorteil" begreifen, von funktioneller bzw. struktureller wahrnehmungsreduktion betroffen zu sein - nichts anderes ist gefühl- bzw. empfindungslosigkeit nämlich. das dabei natürlich auch die beziehungsfähigkeiten den bach runtergehen, ist in einer welt, in der dinge und die sog. objektivität zu absoluten fetischen (gemacht) geworden sind, tatsächlich eher hilfreich - zumal im konkurrenzkampf, der als zivil angesehenen variante des krieges.

und, wie schon gesagt, langfristig absolut tödlich.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

US-Depeschen lesen

WikiLeaks

...und hier geht´s zum

Aktuelle Beiträge

Es geht ihm gut? Das...
Es geht ihm gut? Das ist die Hauptsache. Der Rest...
Grummel (Gast) - 23. Jan, 21:22
Im Sommer 2016 hat er...
Im Sommer 2016 hat er einen Vortrag gehalten, in Bremen...
W-Day (Gast) - 23. Jan, 14:49
Danke, dir /euch auch!
Danke, dir /euch auch!
Grummel - 9. Jan, 20:16
Wird er nicht. Warum...
Wird er nicht. Warum auch immer. Dir und wer sonst...
Wednesday - 2. Jan, 09:37
Ich bin da, ein Ping...
Ich bin da, ein Ping reicht ;) Monoma wird sich...
Grummel - 15. Sep, 16:50
Danke, Grummel. Das Netzwerk...
Danke, Grummel. Das Netzwerk bekommt immer grössere...
Wednesday - 13. Sep, 10:02
Leider nicht, hab ewig...
Leider nicht, hab ewig nix mehr gehört.
Grummel - 12. Sep, 20:17
Was ist mit monoma?
Weiss jemand was? Gruß Wednesday
monoma - 12. Sep, 14:48
Der Spiegel-Artikel im...
Den Spiegel-Artikel gibt's übrigens hier im Netz: http://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-45964 806.html
iromeister - 12. Jun, 12:45
Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

Suche

 

Status

Online seit 7198 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Besuch

Counter 2


assoziation
aufgewärmt
basis
definitionsfragen
gastbeiträge
in eigener sache
index
kontakt
kontext
lesen-sehen-hören
notizen
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren