Samstag, 25. April 2009

assoziation: der umgang mit der krise in deutschland (1) [update am 01.05.09]

und quasi als passenden prolog zum thema hören wir zunächst eine stimme aus schon recht weit entfernter vergangenheit, eine jener stimmen, die meistens unter der rubrik "deutsche klassiker" geführt werden - und ich finde es immer wieder eine schöne ironie der geschichte, wenn von hiesigen nationalisten gerade der verweis auf diese "klassiker" mit stolzgeschwellter brust herausgetönt wird, um die "überlegenheit" des volks der "dichter & denker" (die entsprechende metamorphose dieser sentenz in richter & henker ist nach wie vor höchst angemessen) zu belegen. der folgende auszug aus dem roman hyperion von hölderlin, entstanden ende des 18. jahrhunderts, eignet sich immer wieder sehr gut, um den oben genannten die erwähnte brust wieder recht schnell zusammenfallen zu lassen. und gleichfalls - das werden die vermutlich zwei weiteren folgebeiträge dieser minireihe zeigen - hat hölderlin da bereits vor langer zeit einige typische atmosphärische und verhaltensmässige folgen von weit verbreiteten traumatischen sozialstrukturen mittels wortgewaltiger sprache eingefangen, die sich insgesamt zu etwas komprimieren lassen, was unter dem in die irre führenden begriff von der "deutschen mentalität" bis heute davon zeugt, dass sich mehr oder weniger große teile der hiesigen bevölkerung immer noch nicht über ihr eigenes sein und dessen bedingungen auch nur einigermaßen im klaren sind.

mit der aktuellen situation in der heutigen krise hat das, was gleich im brief von hyperion an seinen freund bellarmin zu lesen sein wird, in meinen augen deshalb etwas zu tun, weil die spezifisch hiesigen autoritätsängste, die unfähigkeit zum widerstand gegen angemaßte autorität sowie die damit zusammenhängende bereitschaft zur aggression gegen alles als "schwächer" wahrgenommenes - oder auch gegen
sich selbst - , eine lange und unheilvolle tradition besitzen, deren prägnanteste wegmarken nicht nur all die fehlgeschlagenen bzw. nicht stattgefundenen revolutionen darstellen, sondern ebenfalls all das, was sich in den verschiedenen deutschen diktaturen - mit dem monströsen, aber folgerichtigen "exzess" des nationalsozialismus an der spitze - wie ein giftiges konzentrat gebündelt hat - militarismus, rassismus, antisemitismus, sexismus und der in den weltkriegen jeweils in den offenen wahn kumulierende nationalismus. all das sind natürlich keine rein deutschen spezialitäten, und trotzdem sind die meisten erscheinungsformen der eben genannten herrschaftsverhältnisse in diesem land immer noch eine stufe ekliger, krasser, brutaler und mittels staatlicher duldung und unterstützung besser organisiert (= mörderischer) ausgefallen als anderswo. was ohne entsprechende dispositonen in relevanten teilen der bevölkerung eben nicht möglich gewesen wäre.

und das gilt in modifizierter form bis heute (dazu muss man sich zb. nur den verbreiteten umgang mit erwerbslosen, noch deutlicher den gegenüber "ausländern", betrachten). die in diesem zusammenhang verbreitete rede eines angeblich "deutschen nationalcharakters" oder auch der von der schon erwähnten "deutschen mentalität" besitzt dabei trotz aller sonstigen irreführung (beides sind rein gedankliche konstrukte objektivistischer art) einen realen kern in der art, dass beide begriffe etwas zu erfassen suchen, was sich als tradierte kollektive erfahrungs- und verhaltensmuster beschreiben liesse. dabei geht es aber primär immer um individuelle erfahrungen von solcher verbreitung, dass sie regelmässig als "typisch" und "normal" (fehl-)wahrgenommen werden - letzteres deshalb, weil sie vielleicht typisch für eine bestimmte - nämlich traumatische - gesellschaftliche matrix sein mögen, aber gerade deshalb keinesfalls als "normalität" begriffen werden können und sollten.

und der folgende brief des hölderlin macht deutlich, dass diese matrix bereits seit langer zeit in unseren breiten hier wirksam ist - und auch die aktuellen und noch kommenden reaktionen auf die krise zu einem großen teil mit gestalten wird. der text lässt sich durchaus nach meinem verständnis als sehr frühe psychohistorische studie lesen. und es empfiehlt sich sehr, ihn sacken und wirken zu lassen. in den nächsten tagen kommt dann die zweite folge.

*

Hyperion an Bellarmin

So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten -

Wie anders ging es mir!

Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist:

ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?

Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke.

Die Tugenden der Alten sei'n nur glänzende Fehler, sagt' einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt' ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.

Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind - wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene
schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!

Aber du wirst richten, heilige Natur! Denn, wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze nicht sich machten für die Bessern
unter ihnen! wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! -

Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? der Sonne Strahlen, sind sie edler nicht, denn all ihr Klugen? der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr auch das? ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden. Ihr sorgt und sinnt, dem Schicksal zu entlaufen und begreift es nicht, wenn eure Kinderkunst nichts hilft; indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. Ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend, und ihren Herbst und ihren Frühling könnt ihr nicht vertreiben, ihren Aether,
den verderbt ihr nicht.

O göttlich muß sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch schön das Schöne bleibt! -

Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht? Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.

Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbelastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.

Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt. O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.

Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz
getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! -

Genug! du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Namen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind
und leiden, wie ich dort gelitten.

(hölderlin: hyperion; zweiter band, zweites buch)


*

edit am 1. mai: wie zur bestätigung des obigen lesen sich passagen aus einem gerade veröffentlichten
artikel unter der überschrift "Der neue Mensch" - zwei auszüge:

(...)"Wir alle drücken dem System, das ohne Alternative ist, die Daumen. Wir alle wünschen uns, dass es gewinnt, allerdings modifiziert, unter wachsam befolgten Regeln und Teilnahme engagierter Bürger."(...)

Es geht um Werte wie Bedürfnis-Aufschub, Disziplin, Dienst, Pflicht. Um das, was Max Weber die protestantische Arbeitsethik nannte."(...)


ist das nun

[ ] überlautes pfeifen im walde seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] das bis zum erbrechen widerholte diktat des TINA-prinzips ("there is no alternative") seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] unverschämtes appellieren zum maßhalten im sinne von "wir-sind-ja-alle-irgendwie-mitschuld" seitens eines kapitalistischen lohnschreibers oder auch
[ ] die öffentliche zurschaustellung der eigenen sklavenmentalität seitens eines kapitalistischen lohnschreibers?

mal davon abgesehen, dass ich einen realen kern in dem ganzen dreisten elaborat sehe - denn ohne verschiedenen arten von grundsätzlichem, primär auf kompensierenden konsum zielenden, verzicht (wobei die wahrnehmung dessen, ob etwas als verzicht oder als bereicherung angesehen wird, durchaus aus verschiedenen perspektiven jeweils ganz unterschiedlich aussehen kann) wird´s auch meiner meinung nach keine sinnvollen veränderungen geben können -, sind die aussagen des autors in diesen zeiten von einer derartigen frechheit, das mir fast die spucke wegblieb.

jahrelang haben die kapitalisten zwecks profitakkumulation das lied vom fröhlichen konsum als lebenssinn vorgegeben; jetzt, wo das damit assoziierte system, angelangt an seinen inneren und den äußeren physikalischen grenzen, förmlich zerbröselt, kommt der rückgriff auf - kirchlich untermauerte - "preussische tugenden", zu denen hyperion oben schon das notwendige gesagt hat? ein schlechter witz.

ach ja, falls mir der autor irgendwann mal über den weg laufen sollte, gibt´s für das "wir alle" einen tritt. auch kapitalistische lohnschreiber müssen irgendwann erkennen, dass es grenzen der eigenen erbärmlichkeit gibt.

*

und während ein mainstreammedium von "disziplin, dienst und pflicht" deliriert, ist ganz aktuell in dortmund zu besichtigen, wie leute, bei denen diese einfältige dreifaltigkeit ebenfalls hoch im kurs steht, krisenbewältigung in ihrem sinne verstehen:
hunderte nazis greifen maikundgebung des dgb an. nicht die erste konfrontation zwischen gewerkschafterInnen und nazis in diesem jahr. und voraussichtlich auch nicht letzte. das sind nun wahrhaft deutsche zustände, und es stellt sich mehr und mehr die frage für die gewerkschaften, wie sie sich zu diesen positionieren wollen.

Samstag, 18. April 2009

themenabend "psychopathen" bei arte - der tv-tipp für sonntag, 19.04. [update]

passend nicht nur zum beitrag über simulierte welten und soziopathen, sondern auch zu vielen anderen hier im blog, bringt arte morgen eine art themenabend zur psychopathie, für die ich weiterhin lieber den passenderen (und unbelasteteren) begriff soziopathie bevorzuge:

"Sie missachten gesellschaftliche Regeln und Erwartungen ohne Schuldgefühl und Reue, kennen kein Gewissen, enttäuschen und verletzen ihre Mitmenschen. Dabei wirken sie auf den ersten Blick äußerst charmant und einnehmend. Die Rede ist von Psychopathen, die ein böses Spiel mit ihrer Umgebung treiben, ohne gleich kriminell oder sadistisch zu sein. Der Themenabend spürt den Grenzen zwischen krank und gesund nach und beschreibt die subtile Bedrohung, die von Psychopathen ausgeht."(...)

und der abend beginnt zunächst mit einem
alten bekannten, nämlich dem talentierten mr. ripley - wenn die verfilmung, die ich noch nicht kenne, gleichfalls so überzeugend wie das buch von patricia highsmith sein sollte, ist das ein passender einstieg. wobei ich die ankündigung der nachfolgenden dokumentation noch interessanter finde:

(...)"Filmemacher Ian Walker hat Sam Vaknin begleitet, einen Menschen, der von sich selbst behauptet "größenwahnsinnig, abstoßend, widersprüchlich, skrupellos, unberechenbar und unzuverlässig" zu sein. Im Gegensatz zu den meisten Psychopathen möchte Vaknin seinem Wesen auf die Spur kommen und wissen, warum er sich nur für sich selbst interessiert und bereit ist, sowohl sich als auch andere zu verletzen oder gar zu zerstören.

"Ich bin ein Psychopath", behauptet Sam Vaknin von sich selbst. Aber ein schlechter Mensch ist er in seinen Augen nicht. Es interessiert ihn bloß nichts - außer es geht um ihn selbst. Er hat wie viele Psychopathen mit Charme und großer Manipulationskraft einige Menschenleben aus dem Gleis geworfen. Und er hat die Extreme einer sozial überaus unverträglichen Existenz durchlebt, die erfolgreichen Seiten und die Abgründe des zerstörerischen Wesens am eigenen Körper erfahren sowie seine Mitmenschen erfahren lassen.

Doch im Gegensatz zu vielen seiner Wesensgenossen will Sam Vaknin Sicherheit über seine Diagnose von Wissenschaftlerseite. Wurde er wirklich ohne Gewissen geboren? Der australische Dokumentarfilmer Ian Walker begleitet Sam Vaknin und seine stets leidende, aber immer loyale Ehefrau Lidija bei der Suche nach der Antwort. Die Reise führt tief hinein in das Denken und Fühlen eines Psychopathen."(...)


das dürfte nicht nur ein tipp für alle allgemein an den menschlichen möglichkeiten interessierten sein, sondern speziell für alle, die wissen möchten, wie relevante teile unserer gesellschaftlichen "eliten" so ticken. und wer über aufzeichnungsmöglichkeiten verfügt, sollte diese speziell bei der doku laufen lassen. ich bin jedenfalls sehr gespannt und finde es erfreulich, dass das thema derart endlich mal eine größere öffentlichkeit erfährt.

*

edit am 20.04.: der film von ian walker hat zumindest für mich im goßen und ganzen das gehalten, was die ankündigung versprochen hat - die rücksichtlosigkeit (die in solchen fällen gerne mit "aufrichtigkeit" verwechselt wird) und dreistigkeit des sam vaknin wurde an vielen entscheidenden punkten aufschlußreich eingefangen; ebenfalls die elementare lieblosigkeit, mit der vaknin die sog. "beziehung" führt - seine charakterisierung der frau als u.a. "weißes blatt papier" (welches er dann beschreibt), macht seine selbst- und fremdwahrnehmung bzw. besser die defekte in dieser mehr als deutlich. interessant auch seine anfängliche selbststilisierung als narzisst (mit der er im übrigen durch sein buch noch geld verdient), die erst im laufe der im film dokumentierten psychiatrisch-neurologischen untersuchungen widerlegt wird - er ist tatsächlich ein klinischer soziopath, was die erste begutachtende psychologin und v.a. der psychoanalytiker an der zweiten station nicht bestätigen wollten, was vermutlich größtenteils mit an den denk- und diagnosemodellen liegt, die beide angewendet haben. walker hat aber primär durch den einsatz seiner versteckten kamera auch deutlich gemacht, dass eigentlich erst der alltägliche umgang mit soziopathen die ganze destruktive wirkung solcher leute deutlich macht; und dementsprechend überhaupt erst dann der entsprechende diagnostische verdacht aufkommen kann. neu war für mich immerhin die relative sicherheit bei der diagnosestellung, die sich durch den kombinierten einsatz von hirnscans und testverfahren wie dem von robert hare ergibt - das (anscheinend) sehr selbstsichere auftreten, der durchaus vorhandene (wenn auch meist verletzende witz) in kombination mit der als-ob-aufrichtigkeit und der rätselhaften wirkung des soziopathischen "charmes" machen es tatsächlich sehr schwer, hinter dieser maske die extrem kranke und krankmachende persönlichkeitsstruktur zu erkennen. da dürfte dann viel von dem gelten, was im ersten teil des eingangs verlinkten blogbeitrags zu als-ob-persönlichkeiten an zitaten von j.e. mertz zu der von ihm so genannten "psychoallergischen reaktion" zu lesen ist - die zeichen der eigenen wahrnehmung im umgang mit soziopathen bleiben meist so subtil, dass sich das "normale" gegenüber dann eher in irritationen und ausufernder selbstreflexion verliert, was dann für den soziopathen bei seinem treiben erleichternd wirkt.

beklemmend das verzweifelte klammern der ehefrau an ihrem konstruierten bild des "geliebten", welches auch durch die bestätigte diagnose nicht gestoppt werden kann. noch beklemmender aber die darstellung dessen, wie soziopathen anhand körperlicher bewegungsmuster opferpersönlichkeiten identifizieren können.

die bezüge zum öffentlichen leben, v.a. der rolle von soziopathen in der ökonomie, waren zwar vorhanden, wurden aber meiner meinung nach zu beiläufig abgehandelt. dabei ist einer entscheidenden frage nach dem sehen dieser doku eigentlich überhaupt nicht mehr auszuweichen: wie viele solcher leute sind in führungspositionen in politik, wirtschaft und militär unterwegs? wenn man sich das treiben in diesen bereichen so betrachtet, kann die antwort nur niederschmetternd sein.

und auch zu einer alten streifrage hier im blog möchte ich noch was sagen: oberflächlich weist vaknin sicher zunächst überhaupt keine züge auf, die irgendwie als autistisch verstanden werden könnten. wenn man als zentrales und definitorisches merkmal von autismus jedoch weitgehende bis totale störungen der beziehungsfähigkeiten ansieht, ist er in meiner wahrnehmung ein gutes beispiel für strukturellen und simulationsfähigen autismus, wie er eben von mertz beschrieben wird.

die dokumentation wird bei arte zweimal in den nächsten tagen wiederholt: am 24.04. um 9.55 h morgens, und am 27.04. um 03.00 h morgens.

notiz: krisennews und -gedanken (33)

heute ohne lange vorrede, aber mit dem besonderen hinweis auf die neuen erkenntnisse zum tod von ian tomlinson bei den "g20"-protesten in london neulich:
  • großbritannien I: tod bei protesten war kein herzinfarkt - polizeilicher angriff als ursache immer wahrscheinlicher
  • großbritannien II: von der besetzung zur blockade - neue entwicklung bei "visteon" in london
  • frankreich: neue betriebsblockaden und neues "bossnapping"
  • deutschland: "hier ist die krise"
  • brasilien: tausende von erwerbs- und obdachlosigkeit bedrohte menschen besetzen land und gebäude in belo horizonte
  • russland: betriebe gehen zur naturalienzahlung an mitarbeiterInnen über
  • usa: hausbesetzungen werden zur verbreiteten aktionsform
  • in aller kürze: us-kreditkartenblase wird virulent / fakes, tricks und bilanzfälschung: wie die aktuellen bank"gewinne" zustandekommen / deutsche rüstungsindustrie boomt / iwf warnt vor depression / nur in der schweiz? absatzboom bei hundefutter unter verdacht
*

die desinformationskampagne von polizei und (vielen) mainstreammedien nach dem tod des 47-jährigen ian tomlinson während eines polizeieinsatzes bei den anti-gipfel-protesten in london erweist sich mehr und mehr als ein zusammenbrechender versuch der vertuschung einer
polizeilichen tötung:

"Die Ursache für den Tod eines Mannes am Rande der Demonstrationen gegen den G-20-Gipfel in London war nach jüngsten Erkenntnissen nicht ein Herzinfarkt, sondern eine innere Blutung. Gegen den möglicherweise verantwortlichen Polizisten laufen nun Ermittlungen wegen "fahrlässiger Tötung", wie die zuständige Behörde am Freitag mitteilte. Wie der Anwalt der Familie von Ian Tomlinson mitteilte, ergab eine zweite Obduktion, dass der 47-Jährige an einer Unterleibsblutung starb. Die Ursachen der Blutung müssten noch geklärt werden. Die Polizei hatte Anfang April nach einer ersten Obduktion noch erklärt, der Zeitungsverkäufer sei auf natürliche Weise an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben."(...)

es kursierten bereits ein paar tage nach dem tod zeugenaussagen, in denen nicht nur von polizeilichen schlägen auf die beine, sondern auch in die nierengegend die rede war. aber egal, ob diese blutung entweder durch die umstände des (ebenfalls polizeilich verursachten) sturzes auf den boden oder aber direkt durch einen schlagstock verursacht worden ist - von einem "unfall" kann spätestens jetzt keine rede mehr sein.

*

bleiben wir in london: von der dortigen besetzung eines werkes des autozulieferers "visteon" war in den letzten news schon die rede, inzwischen hat sich die
besetzung zur blockade verwandelt:

"Seit dem 31. März sind in England und Nordirland Fabrikhallen des Autozulieferers Visteon besetzt. Die Firma liefert Autobestandteile an Ford und hat ihren Bankrott erklärt. Den Beschäftigten werden soziale Leitungen verweigert.(...)

Die Besetzung in Enfield wurde am vergangenen Donnerstag beendet. Das Unternehmen ließ eine gerichtliche Verfügung ausstellen, die insbesondere den Vertrauensleuten in der Fabrik Gefängnis und die Enteignung ihrer Häuser androhte, sollte die Besetzung weitergehen. Deshalb wandelten die Arbeiter die Besetzung nun in eine Blockade der Fabrik um. Ähnlich sieht es in Basildon aus, dort wurde bereits nach zwei Tagen die Besetzung aufgegeben und in eine Blockade umgewandelt. Am Ostersonnabend hatten Beschäftigte einen Protestmarsch durch den Ort veranstaltet. In Belfast geht die Besetzung mit ungebrochener Stärke weiter.(...)

Die Unterstützung aus der Bevölkerung für die Besetzungen ist groß. Einer der Besetzer in Enfield erzählte: »Geschäftsleute aus der Umgebung sind vorbeigekommen und haben Lebensmittel gebracht. Einer hat Dixietoiletten hergefahren, völlig kostenlos. Selbst die Polizisten hatten Sympathie für uns. Einer hat gesagt, wenn er könnte, würde er mit uns auf dem Dach stehen.«(...)


eine gerichtliche verfügung, in der den besetzern u.a. mit "enteignung ihrer häuser" gedroht wird? kennt jemand das britische rechtssystem genauer und kann sagen, ob das da etwas "normales" in solchen fällen darstellt? ich finde diese drohung jedenfalls bemerkenswert.

*

ansonsten ist es in vielen ländern tatsächlich so wie schon neulich vermerkt, dass besonders die autoindustrie und ihre zulieferer in dieser krisen- und protestphase im focus stehen, was auch ein blick nach
frankreich unterstreicht:

"Es ist Donnerstagabend, rund 300 Toyota-Mitarbeiter blockieren ihre Fabrik in Onnaing im Norden des Landes. Alle Zufahrten werden von Streikposten versperrt, kein Lastwagen kann das Werksgelände verlassen. Um ihrem Ärger Luft zu verschaffen, stecken die Arbeiter Holzkisten in Brand. Auch Autoreifen gehen in den Flammen auf."

die sueddeutsche kann offenbar agenturmeldungen nicht richtig lesen; darum in kürze: in dem toyotawerk arbeiten 2700 menschen, die meisten momentan auf kurzarbeit gesetzt. und bei den protesten geht es um die abwehr von gehaltskürzungen, wobei bemerkenswert ist, dass diese aktionen trotz einer gewerkschaftlichen vereinbarung mit der firmenleitung zur "konfliktbeilegung" stattfinden - und gerade letzteres ist ein weiteres zeichen für die schon öfter angesprochene bereitschaft zur militanz bei vielen französischen arbeiterInnen. ebenso wie die von ihnen geschaffene aktionsform des "bossnapping":

"Ebenfalls in der Gewalt eines wütenden Mobs: fünf Manager der Firma FM Logistic. Erst nach zehn Stunden in der Gewalt von Mitarbeitern werden sie freigelassen. Als die Polizei beginnt, die Namen der an der Geiselnahme beteiligten Arbeiter aufzunehmen, brechen sie die Aktion ab. Es ist bereits der fünfte Fall von "Bossnapping" binnen weniger Wochen."(...)

alles weitere in dem artikel bezieht sich tatsächlich auf das toyota-werk und nicht auf die gerade genannte firma. aber stattdessen schön vom "mob" daherschreiben - viele kommentare zum artikel rücken diesen sprachgebrauch zurecht.

*

wie sich die ökonomischen verwerfungen langsam auch hierzulande im alltag von immer mehr menschen bemerkbar machen, beschrieb vor ein paar tagen ein artikel mit der überschrift
"Hier ist die Krise", in dem eine kleine rundreise dokumentiert wird:

"Lange Zeit haben die Deutschen nichts von der Jahrhundertkrise gespürt. Doch unaufhaltsam dringt sie in das Leben der Menschen vor - Angst und Verzweiflung greifen um sich. Eine Reise durch ein verunsichertes Land."(...)

zumindest ein kleines stückchen realität gibt´s da zu betrachten, deshalb soll das auch der heutige lesetipp sein. wobei das örtchen alzenau in der reise nicht enthalten war, wo sich gerade - ebenfalls bei einem autozulieferer -
eine art präzedenzfall entwickeln könnte:

"Mahle, einer der führenden Zulieferer für die Automobilindustrie, will sein Werk mit 424 Beschäftigten und zwölf Auszubildenden in dem unterfränkischen Städtchen Ende Juni schließen. Doch die gewerkschaftlich gut organisierte Belegschaft will das nicht kampflos hinnehmen. Unter dem Motto »Eine Region steht auf – Mahle Alzenau muß leben« mobilisiert sie an diesem Samstag zur Protestdemonstration. Besonders wütend macht die Metaller, daß der Konzern einen gültigen Standort- und Beschäftigungssicherungstarifvertrag einfach ignorieren will.(...)

Womöglich geht es dem Konzern ohnehin nicht nur um betriebswirtschaftliche Überlegungen. Ziel könnte auch sein, einen Präzedenzfall zu schaffen. »Wenn es gelingt, ein gutorganisiertes Werk wie Alzenau dichtzumachen, dann könnte die Hemmschwelle, auch anderswo auf Betriebsschließungen zurückzugreifen, erheblich sinken«, befürchtet Gebhardt. Deshalb habe dieser Konflikt für alle Mahle-Belegschaften und die IG Metall insgesamt eine große Bedeutung."(...)


näheres zu dieser auseinandersetzung auf einer eigenen
website. und auch hier bin ich wie immer gespalten: die bisherige autoindustrie wird aus grundsätzlichen gründen nicht zu halten sein; die kollektiven erfahrungen der verschiedenen belegschaften in den diversen konflikten jedoch können in der zukunft einmal eine große und positive rolle spielen.

*

sehr interessante neuigkeiten aus brasilien, genauer aus
belo horizonte, verbunden mit einem aufruf:

"Am Gründonnerstag, 9. April haben in Belo Horizonte rund 300 Familien ein Areal mit mehreren Häusern besetzt. Die Stadt, mit rund 4 Millionen EinwohnerInnen, registriert offiziell 75.000 leerstehende Wohneinheiten - und 55.000 obdachlose Familien. Dies ist der dritte Versuch einer Massenbesetzung in diesem Jahr in BH - und da die ersten beiden Versuche mit massiven Polizeieinsätzen beendet wurden, rufen die Organisationen, die diese Besetzung unterstützen (die Volksbrigaden (...) und die Landlosenbewegung MST) zur internationalen Solidarität auf."(...)

inzwischen sieht das alles so aus:

"Nach den Ostertagen (der Montag ist in Brasilien kein Feiertag) ist die Zahl der BesetzerInnen des etwa 40 Hektar großen Geländes der Besetzung "Dandara" vom Gründonnerstag regelrecht explodiert: Am Dienstag wurden von Fernsehreportern 981 Hütten und Zelte gezählt - womit niedrig geschätzt etwas über 4.000 Menschen an der Besetzung beteiligt sind. Die rapide Zunahme ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der erste Polizeiangriff von 150 Schockbataillon Polizisten in der Nacht (gesetzlich verboten) zum Karfreitag, der ohne juristische Grundlage erfolgte, in einer dreistündigen Auseinandersetzung abgewehrt wurde. Seit Dienstag gibt es nun eine einstweilige richterliche Räumungsverfügung, wogegen die Anwälte der BesetzerInnen Einspruch eingelegt haben. Die Polizei hat einstweilen zugesagt, das Ergebnis der Verhandlung dieses Einspruchs abzuwarten - ein Ergebnis sowohl des organisierten Widerstands als auch der organisierten Solidarität, und der breiten Berichterstattung in zahlreichen Medien, bis auf die Produkte des "Globo" Konzerns sogar recht sachlich.(...)

Und während juristisch, politisch und materiell die Unterstützung organisiert wird, werden auch bereits Alternativen gesucht, für den Fall eines erfolgreichen nächsten Polizeiangriffs - denn viele der beteiligten BesetzerInnen sind Menschen, die gerade eben in der aktuellen kapitalistischen Krise erwerbslos wurden und dringend eine Wohnmöglichkeit brauchen."(...)


die verlinkte seite vom labournet sei zur weiteren information empfohlen; und mir scheint, dass nicht nur solche geschichten die tatsache, dass viele weltregionen incl. großen teilen von südamerika in den hiesigen medien schlicht nicht existent sind, einmal mehr grell beleuchten. umso nötiger ist die verbreitung gerade von widerstandsaktionen, nicht nur dafür dank ans labournet.

*

ein blick nach
russland macht hingegen für mich an einem beispiel sehr deutlich, wo der zusammenbruch bestimmter branchen bzw. betriebe nicht nur wünschenswert, sondern sogar überfällig ist (und das gilt natürlich nicht nur für russland):

"Mitarbeiter des russischen Rüstungsbetriebs Molot können in diesen Tagen ihre Lebensmittelvorräte aufstocken. Da der staatliche Produzent von Maschinengewehren und Panzerabwehrwaffen derzeit knapp bei Kasse ist, hat die Betriebsleitung beschlossen, die Arbeiter in Naturalien auszuzahlen. Nun werden Pakete mit Mehl, Nudeln, Zucker, Fleischkonserven und Speiseöl an die 5000 Beschäftigten ausgegeben. Die schlimmsten sozialen Folgen für deren Familien werden damit zunächst einmal abgefedert - immerhin arbeitet ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Stadt Wjatskije Poljany bei Molot."(...)

ein strukturwandel, der diesen namen auch verdienen würde, müsste in einem solchen fall nicht nur die organisierung der produktion, sondern auch und gerade deren inhalt betreffen - und das ist, binsenweisheit, nicht nur in russland eben auch eine frage der gesellschaftlichen machtverhältnisse. aber bezgl. der art der lohnzahlung ist dieser spezielle produzent von destruktivem müll durchaus keine ausnahme:

""Die Bezahlung in Naturalien oder eigenen Erzeugnissen wird wieder in Mode kommen", sagt Konstantin Makjenko, Vizedirektor des Moskauer Zentrums für strategische und technologische Analyse. In der chaotischen Umbruchphase nach dem Ende der Sowjetunion war die Naturalienwirtschaft durchaus üblich. Zahlungsunfähige Betriebe schickten ihre Mitarbeiter mit Paketen von Oberhemden oder Konservendosen nach Hause - und die versuchten dann, die Ware auf improvisierten Märkten loszuwerden.

Nach Jahren des Wachstums und der wirtschaftlichen Stabilität kehren nun die Probleme zurück. Vor allem in einigen Regionen des asiatischen Teils Russlands droht die Situation außer Kontrolle zu geraten. Die verzweifelten Menschen, die bereits seit mehreren Monaten auf ihr Geld warten, versuchen, ihre Arbeitgeber mit Hungerstreiks zum Zahlen zu bewegen. Anfang April harrten im Gebiet Rostow zehn Bergarbeiter der Grube Tschicha zwei Tage ohne Essen unter der Erde aus, um an ihren Lohn zu kommen, den sie schon seit drei Monaten nicht mehr erhalten hatten. Die Aktion erwies sich als erfolgreich. Die zehn Hungerstreikenden erhielten mittlerweile ihren Lohn, die restlichen Arbeiter bekamen immerhin die Zusage, bis zum 1. Mai bezahlt zu werden."(...)


das sind hinsichtlich von lohnausfällen bzw. verzögerten zahlungen dimensionen, die hier im westen (noch) nicht erreicht werden - aber mit fortschreitendem jahresverlauf und zunehmender belastung der (fälschlich) hochgelobten sozialen sicherungssysteme vieler westlicher staaten dürften solche szenarien auch in unseren breiten eine neue erfahrung werden. ebenfalls ist verständlich, wenn auch keinesfalls akzeptabel, warum die russische regierung schon seit monaten den inneren repressionsapparat aufrüstet.

*

von der einen abgewrackten "supermacht" zur anderen: in den usa werden nicht nur in kalifornien
häuser besetzt:

(...)"Die Poor Peoples Economic Human Rights Campain ist ein Netz verschiedener regionaler Gruppen in verschiedenen Staedten in den USA. Die Kampagne existiert seit 12 Jahren. Der Grossteil der Arbeit besteht darin, Menschen ohne festen Wohnsitz in der Wohnungssuche zu unterstuetzen indem sie ihnen leerstehende Haeuser vermitteln und ihnen helfen drin zu bleiben. In Philadelphia wurden von der Kampagne ueber 500 Haeuser besetzt und an Menschen vemittelt die diese brauchten.

Doch zurueck nach Minneapolis:
Hier wurden in letzter Zeit 13 Haeuser neu bewohnt. Auch das Haus von Rosemary Williams gilt nun als "besetzt", sie als "illegale Hausbesetzerin". Um auf die Situation aufmerksam zu machen ist dieses Wochenende ein oeffentliches Training des ziviler Ungehorsams geplant. Rosemary und eine Gruppe von Unterstuetzer_innen bereiten sich auf die Konfrontation mit der Polizei vor. Bis dahin wird sie in ihrem Haus wohnen bleiben."(...)


und zwecks weiterer information der
link zur erwähnten kampagne. meldungen über hausbesetzungen, ja auch den entsprechenden aufruf einer demokratischen politikerin vor ein paar monaten, gab es hier ja schon öfter zu vermerken - aber es ist erfreulich, dass diese aktionsform, die in vielen fällen in anbetracht der bedingungen in den zeltstädten sogar lebensrettend sein kann, sich augenscheinlich weiter verbreitet. und auch dabei ist der lerneffekt für die beteiligten in sachen kollektiven handelns und der relativität aller gesetze nicht zu unterschätzen.

*

in aller kürze - das krisentelegramm + lange vorhergesagt, beginnt jetzt tatsächlich das
platzen der kreditkartenblase: "Immer mehr Amerikaner werden arbeitslos. Nun können sie auch ihre Kreditkartenrechnungen nicht mehr begleichen. American Express und Capital One, in den USA führende Anbieter von Kreditkarten, meldeten am Donnerstag beide steigende Ausfallraten. Bei American Express stieg die Ausfallrate von Krediten im März auf 8,8 Prozent, einen Rekordwert. Im Februar hatte sie noch bei 8,6 Prozent gelegen. Die Ausfälle bei Capital One stiegen von 8 auf 9,3 Prozent." die weiteren erläuterungen und behauptungen im artikel fallen vorsichtig gesagt in die gleichen rubriken wie das folgende + fakes, tricks und "legale" bilanzfälschungen - wie die aktuellen bank"gewinne" zustandekommen - die "eliten" praktizieren wieder einmal angewandten konstruktivismus. wird ihnen bloß nix nützen + darum haben sie für alle fälle auch immer noch die üblichen mittel in der hinterhand - rüstungsindustrie boomt: "Das Rüstungsgeschäft profitiert davon, dass die häufig über Jahrzehnte laufenden Milliardenprogramme kurzfristig nur schwer zu stoppen sind. So wächst auch der US-Verteidigungshaushalt, obwohl es jetzt zu Kürzungen bei einigen Schlüsselprojekten kommt. Zudem sehen Experten in Zeiten von Wirtschaftskrisen eine erhöhte Nachfrage nach Überwachungs- und Sicherheitssystemen, etwa an Landesgrenzen." - es ist bezeichnend, dass derartiges nicht als die perversion erkannt und benannt wird, die es ist + der iwf beginnt, von einer depression zu flüstern + und spätestens in einer solchen werden sich allüberall die essgewohnheiten so verändern, wie es jetzt (ausgerechnet) in der schweiz schon beobachtet wird: mehr hundefutter auf den tisch - "Weniger lustig ist die neue Studie der Beratungsfirma Boston Consulting Schweiz. Die Resultate zeigen: In der gegenwärtigen Krise steigt der Absatz bei Tiernahrung. Grund ist nicht etwa die Tierliebe der Schweizer. «Die Menschen steigen selber auf Tierkost um, wegen ihrer knappen Budgets», sagte Elmar Wiederin heute gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Besonders beliebt scheint Hundefutter – hier steigen die Umsätze markant." kombiniert mit den ebenfalls neulich schon erwähnten fertigsuppen, die gerade ebenfalls boomen, dürften solche ernährungsstile dann in mittlerer zukunft die umsätze des medizinischen bereiches sowie des bestattungsgewerbes beleben. enjoy capitalism!+

Freitag, 17. April 2009

the same procedure...

der aktualisierte index sei zum wiederholten male besonders allen neuen leserInnen hier zum stöbern empfohlen. und das nicht nur, weil ich mich immer wieder auf ältere beiträge beziehe, sondern auch darum, um den vielleicht nachdrücklichsten eindruck von der thematischen ausrichtung des blogs zu bekommen.

Sonntag, 12. April 2009

assoziation: noch mehr simulierte welten

erst neulich hatte ich ein paar neuere überlegungen zu den real existierenden simulierten welten aus ganz verschiedenen perspektiven zusammengetragen; heute gibt´s eine art fortsetzung, die ich mit einem zitat aus einem streitgespräch zwischen einem pädagogen und einem psychiater über die "richtige" art des umgangs mit kindern beginne (für den hinweis auf dieses gespräch dank an wednesday):

(...)Bergmann: In der Tat werden immer mehr Kinder schwierig und auffällig. Das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom greift um sich wie eine Epidemie. Wir haben es mit sozialen und damit auch seelischen Verfallserscheinungen in der modernen Kindheit zu tun. Dazu gehört, dass Körperselbstbildstörungen zunehmen, also Essstörungen und Selbstverletzungen bei Mädchen sowie Computersucht bei Jungen.(...)

Winterhoff: Die Frage ist, was hinter den Auffälligkeiten steht. Die Kinder, die ich bis vor zwölf Jahren gesehen habe, wussten, dass es ein Gegenüber und Regeln gibt. Die Kinder, denen ich heute begegne, zeigen eine Respektlosigkeit und stellen sich nicht mehr auf das Gegenüber ein. Stattdessen zwingen sie den Erwachsenen, sich auf sie einzustellen.

Bergmann: Stimmt - aber natürlich nur für einen Teil der Kinder, der näher umrissen werden müsste. Da zeichnet sich eine tiefgreifende Veränderung ab, die von vielen, auch mir, seit längerer Zeit beschrieben wird, aber keineswegs bis ins Letzte verstanden worden ist: Manche Kinder sind freundlich, sympathisch, aber sie flutschen rechts und links an allen Regeln und Vorgaben, an allen Verbindlichkeiten vorbei. In meiner Praxis sind sie ausgesprochen höflich und sagen: Das war ganz toll bei Ihnen, Herr Bergmann. Ich sitze trotzdem bedröppelt hinter meinem Schreibtisch und habe das Gefühl, dass ich das Kind nicht erreicht, nicht berührt habe. Als gäbe es gar keinen Kern des Selbst, mit dem bewusst und unbewusst Kontakt aufgenommen werden könnte. Dies ist ein sehr auffälliger Teil einer gefährlichen Entwicklung. Die Kinder laufen uns aus dem Ruder. Es ist eine fast unheimliche Tendenz."(...)


"Als gäbe es gar keinen Kern des Selbst..." - offensichtlich tut sich der pädagoge an dieser stelle schwer, das, was nicht sein darf, weiter auszuführen bzw. überhaupt weiter zu denken - denn dann würde er auf modelle zurückgreifen müssen, die den stammleserInnen hier vertraut sein dürften, den weitaus meisten tätigen sowohl im pädagogischen als auch im psychiatrischen/psychologischen bereich jedoch nicht. gleichfalls würden ihm solche modelle auch den zusammenhang zwischen seiner hypothese und den vorher erwähnten körperselbstbildstörungen deutlicher machen können, aber das wäre dann wohl too much (zu sehr deutlichen und offenen störungen des körperschemas siehe auch
hier, und zwar im unteren teil).

"Manche Kinder sind freundlich, sympathisch, aber sie flutschen rechts und links an allen Regeln und Vorgaben, an allen Verbindlichkeiten vorbei. In meiner Praxis sind sie ausgesprochen höflich und sagen: Das war ganz toll bei Ihnen, Herr Bergmann."

simulationsfähigkeiten in aktion. und es lässt sich mit berechtigung die these aufstellen, dass das eine direkte und sehr unmittelbare folge der konstatierten kernlosigkeit darstellt - wir sehen womöglich den
objektivistischen modus, und zwar die entgleiste variante, in betrieb.

*

und das gleiche ist jetzt in einem neuen film unter dem sinnigen titel
so glücklich war ich noch nie zu betrachten, bei dem es in der insgesamt recht interessanten rezension bei telepolis am ende einen ganz zentralen absatz gibt:

(...)"Seine Hauptfigur Knöpfel ist ein Mensch, der sich selbst nur da findet, wo er in erfundene Rollen schlüpft, und das heißt zugleich, dass er sich längst verloren hat. Denn der Betrug an anderen geht mit dem Selbstbetrug Hand in Hand - und gerade weil es vielleicht ja zutrifft, dass die Welt gern betrogen werden will, wird das Spiel für die, die das gekonnt tun, mitunter derart verführerisch, dass sie Junkies ähneln, Spielsüchtigen - nur dass sie nicht um ihr eigenes Geld spielen, sondern mit dem Geld der Anderen gleich um ihr eigenes Leben."



wobei ich finde, dass die assoziation mit "spielsucht" etwas in die irre führt, weil sie nicht die existenzielle wucht der als-ob-struktur erfasst. nichtsdestotrotz tangiert das nicht meine empfehlung, sich den film anzuschauen; nicht zuletzt auch deshalb, weil vom regisseur alexander adolph ebenfalls die thematisch gleiche dokumentation
die hochstapler stammt, in der es um - wenn man so will - authentische fallbeispiele von soziopathie bzw. als-ob-persönlichkeiten geht.

der hochstapler knöpfel im spielfilm jedenfalls scheint spontan ungefähr so sympathisch wie die figur des tom ripley von patricia highsmith zu sein, den ich in der vergangenheit als idealtypische (fiktive)
als-ob-persönlichkeit begriffen hatte. und diese benannte sympathie ist nicht nur etwas, was die wirkung von vielen (nicht allen) erfolgreichen soziopathen auf die menschliche mitwelt so unheimlich erscheinen lässt, sondern auch ein merkmal, welches von regisseurInnen und autorInnen vor allem deshalb immer wieder treffend beobachtet und skizziert werden kann, weil es real vorhanden ist.

*

was sich in beliebigen kriminalistischen
fallbeispielen nachvollziehen lässt - als wäre ein tom ripley aus seinem buchumschlag in die reale welt entsprungen:

(...)"Wolf wird sich vielleicht als Holländer oder Brite ausgeben. Niederländisch und Englisch spricht er ohne Akzent, Letzteres sogar mit mehreren Dialekten. Wolf wird ein unscheinbares gebrauchtes Auto vor der Wohnung stehen haben, das er im Internet oder über eine Kleinanzeige gekauft hat.

So vermutet es zumindest die „Soko Wolf“; sie ist hinter dem Entführer her, für dessen Ergreifung es 100.000 Euro Belohnung gibt. Wolf könne eigentlich überall sein, sagen die Polizisten. Und dort, wo er ist, wird er lockere soziale Kontakte knüpfen, gerne mal mit den Nachbarn trinken, „bis er hauchzart lallt, aber nie bis zum Kontrollverlust“. Er wird die Menschen in seiner Umgebung freundlich grüßen, sich anpassen. „In honorigen Kreisen wird er dementsprechend auftreten. Er kann aber auch im Schlabberlook am nächsten Kiosk stehen.“ 56 Jahre ist Wolf alt, 1,85 Meter groß, trägt Brille, hat graue Haare und Geheimratsecken, ist muskulös vom ständigen Hanteltraining - „völlig unauffällig, komplett normal“, sagen Zielfahnder.(...)

Acht Jahre hat der gebürtige Düsseldorfer Wolf als Niederländer David van Dijk scheinbar „komplett normal“ im Frankfurter Westend gelebt. Ab und zu hat er sich den weißen Mercedes 200 E seiner Lebensgefährtin geliehen. Die Frau, so die Polizei, habe keine Ahnung gehabt, mit wem sie zusammenlebte."(...)


wäre interessant zu erfahren, was diese frau nach achtjähriger ehe überhaupt zu "ihrem" mann sagen kann - noch interessanter wäre aber vermutlich eine gründliche beschäftigung mit ihren selbst- und fremdwahrnehmungsfähigkeiten. bei den verschiedenen geschichten von soziopathen solchen kalibers, die mir bisher bei der beschäftigung mit dem thema so bekannt geworden sind, fällt diese fatale unfähigkeit der jeweiligen sozialen umfelder, menschen anders als im grad ihrer kompatibilität mit den herrschenden gesellschaftlichen normen für "normalität" wahrzunehmen, immer wieder sehr unangenehm auf - stecke den schlimmsten kriminellen und komplett empathielosen massenmörder in schlips und kragen, lasse ihn die rudimentärsten gesellschaftlichen umgangsformen beherrschen und eine einigermaßen höfliche sprache, so wird oma schulze von gegenüber unter garantie vom "höflichen netten nachbarn" schwärmen, der immer so zuvorkommend und ordentlich aufgetreten ist. was spätestens dann grund genug sein sollte, sich einmal ausführlicher mit all den oma schulzes und den welten zu beschäftigen, welche von ihnen so bewohnt werden.

(...)"Wolf hat nie einen Beruf gehabt, nie etwas gelernt. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Verbrechen. Seit Thomas Wolf 15 Jahre alt ist, beschäftigt er die Polizei. Als Fahrrad- und Ladendieb beginnt er. Wolf kommt in ein Landesjugendheim, haut ab, wird zum Räuber. Auch die erste Gefängnisstrafe bleibt ohne Folgen. Er klaut weiter, fälscht sich einen Führerschein, betrügt, begeht Körperverletzungen.

Sein Leben besteht aus Straftaten, Aufenthalten in Gefängnissen und Ausbrüchen aus Gefängnissen.(...)

„Seine Taten laufen ruhig und gesittet ab“, sagen Ermittler. Schließlich lässt Wolf sein Leben als van Dijk und die Frau, mit der er acht Jahre zusammenlebte, wie einen Koffer zurück und geht ein für ihn hohes Risiko ein.(...)

Polizeipsychologen bezeichnen Wolf als narzisstisch veranlagt. Er sei ein Soziopath. „Er weiß nicht, was eine menschliche Bindung ist. Er hat keine Empfindungen.“ Aber Wolf weiß, wie er sich verhalten muss. Als unauffälliger älterer Herr irgendwo in Westeuropa."


das wörtchen narzisstisch halte ich im obigen zusammenhang übrigens für irreführend, auch wenn soziopathen (mit hoher wahrscheinlichkeit in diesem fall zutreffend) oberflächlich betrachtet wie narzissten wirken können. aber die innere dynamik ist eine grundsätzlich andere, weil eine narzisstische ps in der regel von einem mehr oder weniger schwer gestörten, aber eben auch vorhandenen, authentischen selbst kündet.

wolf hätte vielleicht in seiner kindheit auch beim eingangs erwähnten pädagogen im büro sitzen und diesen zu den gleichen aussagen wie oben veranlassen können - eine kindheit, zu der sich selbst ohne weitere kenntnisse der biographie sagen lässt, dass sie schlicht verheerend gewesen sein muss. denn wenn es keine deutlich abgrenzbaren ereignisse wie bspw. ein unfall mit hirnschädigung gegeben haben sollte, so ist ein mensch mit einer störung solchen kalibers immer ein produkt (in diesem falle trifft das wortwörtlich zu) der eltern und mittelbar der gesellschaft, die solche existenzen produziert.

*

wolf lässt sich dabei noch in der rubrik der gesellschaftlich durchschnittlich "erfolgreichen" soziopathen unterbringen, und zwar deshalb, weil sein existenzielles spiel immer wieder trotz kontakt mit dem repressionsapparat "funktioniert", und zwar über recht lange zeiträume - er kann innerhalb der existierenden gesellschaftlichen strukturen funktionieren (= überleben), und in nichts anderem liegt der "erfolg". ein beispiel für jemanden, der bei vermutlich strukturell ähnlicher ausgangslage nicht mal annähernd diese ebene erreicht und bei seiner geschichte gleichzeitig die fiktionale bis offen halluzinierte qualität der als-ob-welten deutlich macht, lässt sich im folgenden
prozeßbericht betrachten - "In einer Scheinwelt Chef gespielt":

(...)"Software für Finanzbuchhaltung, ein Computer und ein Notebook, Tintenpatronen, ein Regal – die Bestellungen, die der Angeklagte deutschlandweit tätigte, wollen nicht recht passen zu einem von Arbeitslosengeld II lebenden 35-Jährigen, der die Sonderschule nach der achten Klasse verlassen hat.

„Er hat sich eine Scheinwelt aufgebaut, in der er als Chef fungiert“, erklärte die Verteidigerin, „er spielt Chef.“ In seiner „leitenden Funktion“ habe er Bestellungen für Produkte wie Steuerberaterprogramme getätigt, „um seine Tätigkeit ausüben zu können“. Ihr Mandant lebe sehr isoliert und habe im Rahmen seiner fiktiven Geschäftstätigkeit unter anderem Formulare bei BMW bestellt, um als Vertragshändler für den Autohersteller tätig werden zu können.

Bei den Bestellungen, die zum Teil eine Höhe von über 3500 Euro erreichten, firmierte der umfassend geständige Mann mit erfundenen Briefköpfen als Unternehmer in Sachen Systemtechnik oder Computersystemen."(...)


das mutet im vergleich mit der - hm, "weltläufigkeit" bei t.wolf wirklich gleich alles ein "paar klassen tiefer" an; ebenfalls wie die anfallenden finanziellen schäden. vermutlich hat der protagonist dieser geschichte aber einfach mehr pech und ungünstige umstände bei der umsetzung seiner fiktionen gehabt:

(...)"Bewährungschancen und Therapieangebote, aber auch mehrjährige Haftstrafen hatte der Mann in seiner Vergangenheit schon mehrfach erhalten. Seine ältesten Einträge im Strafregister reichen bis ins Jahr 1989 zurück. Überwiegend sind es Betrugsdelikte, mit denen der Angeklagte schon im Alter von 16 Jahren begann.(...)

Die von seiner Verteidigerin und auch seinem Bewährungshelfer vertretene Meinung, dass der Mann sich lediglich so verhalte, weil er nicht anders könne, teilte der im Prozess gutachtende Psychiater nicht. Der Angeklagte wirke keineswegs wie ein Sonderschüler, er könne sich gewählt ausdrücken. Während der Begutachtung „war er charmant, weltoffen und sympathisch“, so der Psychiater. Der Mann habe durchaus die Fähigkeit, sich auf Menschen und ihre Gefühle einzustellen und sie zu manipulieren."(...)


und das ist wieder mal so ein psychiatrisches gutachten, bei dem ich ob der schlussfolgerungen kopfschüttelnd davor sitze - wann wird sich bei der etablierten psychiatrie endlich mal die existenz von totalsimulativen persönlichkeiten herumsprechen, die natürlich die fähigkeiten besitzen, "sich auf menschen und ihre gefühle einzustellen", weil sie nicht anders können - nicht anders überleben können? ein schimmer dieser nicht verstandenen einsicht blitzt paradoxerweise im folgenden auf:

(...)"Im Raum stand für das Gericht die Frage einer eventuellen Schuldunfähigkeit aufgrund einer psychischen Störung. Doch diese Möglichkeit verneinte der psychiatrische Gutachter entschieden. Zwar sei bei dem 35-Jährigen eine sogenannte „dissoziale Entwicklung“ von Kindheit an festzustellen sowie eine Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus, aber beides sei nicht so schwerwiegend, dass sein Leben davon durchgehend eingeschränkt werde."(...)

was der psychiater für eine vorstellung von "so schwerwiegend" hat, dass er bereit wäre, eine durchgehende einschränkung eines lebens daraus abzuleiten, bleibt sein geheimnis. ich will damit keinesfalls die psychophysische struktur bei solchen menschen wie den geschilderten verharmlosen, auch wenn ich die ebene des primär finanziellen betrugs aus meiner persönlichen sicht für nicht so relevant halte wie bspw. die bereitschaft zum mord ohne reue und innere hemmnisse, die bei einer solchen struktur jederzeit in die realität "einbrechen" kann. aber der umgang damit mittels der bisherigen und konventionellen mitteln besonders der justiz ist in solchen fällen durch die bank hoffnungslos unzulänglich und sogar kontraproduktiv, wenn man dazu die reale funktion von gefängnissen als "schulen des verbrechens" und zuchtanstalten für dissoziale persönlichkeiten berücksichtigt. aber gleichfalls gilt natürlich: um diesen umgang qualitativ zu ändern, müsste sich zunächst die orthodoxe psychiatrie von einigen elementaren hartnäckigen illusionen und fiktionen lösen, und das wiederum kann nicht geschehen ohne entsprechende änderungen von gesellschaftlichen welt- und menschenbildern. wozu ganz basal auch die änderung unseres verhältnisses zu kindern sowie zur bedeutung der
pränatalen phase der menschlichen entwicklung gehört.

*

solange das aber nicht passiert, werden wir uns von der unter uns vorhandenen soziopathischen minderheit weiter offenbar mit einiger bereitwilligkeit - mindestens - betrügen lassen (meistens noch schlimmeres); mit einiger wahrscheinlichkeit sogar im globalen maßstab:
"Könnte ich die Psychopathen nicht im Gefängnis studieren - an der Wall Street würde ich genug von ihnen finden". wobei die notwendige anmerkung zum schluß noch lautet: nicht nur die soziopathen schaffen sich offensichtlich immer wieder im großen und kleinen maßstab das ihnen passende system, sondern der vorgang läuft gleichfalls permanent in der anderen richtung ab - der kapitalismus favorisiert die ihm am meisten kompatiblen persönlichkeitstypen.

Donnerstag, 9. April 2009

kontext 53: total kranker scheissdreck aus wahrhaft *rechtsfreien* räumen [update]

(ich sehe mich zur drastischen ausdrucksweise der überschrift mangels alternativen schlicht gezwungen. verhältnisse von solch drastischer erbärmlichkeit wie gleich zu sehen machen eine entsprechend deutliche sprache nötig. ebenfalls wie die nötige triggerwarnung: dieser beitrag enthält dokumentarische szenen von schlägen und folterartigen ausschreitungen).

*

es gehört keine große prophezeiungsfähigkeit dazu, davon auszugehen, dass die derzeitige krise szenen wie die folgenden, die auch in relativ "normalen" zeiten schon oft genug zu verzeichnen waren, in gehäufter form hervorbringen wird - wenn die wahrhaft großen antisozialen kriminellen in den schicken anzügen nicht erreichbar sind bzw. das auch seitens der "eliten" nicht gewünscht wird, bleibt als erwünschtes ventil die hinwendung von öffentlichkeit & repressionsapparaten zu eh schon stigmatisierten gruppen übrig, die sich in verschiedenen ländern teils nur noch mittels kleinkriminalität über wasser halten können. bei einigen besonderen minderheiten wie den roma in osteuropa reicht dabei offenbar bereits die bloße identifizierung als eben solche, um in den augen von einigen staatsdienern der
elementarsten menschenrechte verlustig zu gehen:

(...)"Zwei bellende Hunde an der Kette, ein brüllender Uniformierter, sechs Kinder, vier stehen an der Wand, zwei sitzen auf dem Boden. Dann ein Knall. Das Bild zeigt einen jungen Rom, der einen anderen, etwas kleineren, mit voller Wucht ins Gesicht schlägt. Eine Stimme im Off gibt Anweisungen. Beide blicken fragend in Richtung Kamera. Ein kurzes Zögern. Wieder die Stimme. Dann ein weiterer Schlag, diesmal ist es der schmächtigere Bursche. Neue Kinder kommen ins Spiel. Es sind Ohrfeigen. Ab und zu lachen Männerstimmen. Dann ein Schnitt. Die Kamera zeigt sechs Kinder von oben in einem Raum. Wieder gibt es Anweisungen. Sie ziehen sich aus. Nackt."(...)

eine gekürzte zusammenfassung liefert das folgende video, und ich zeige das wie auch das spätere aus seattle deshalb, weil ich es als nötig empfinde, dass sich möglichst viele menschen einen nachhaltigen eindruck von dem machen können, was in rechtsfreien räumen wie polizeiwachen und -arrestzellen innerhalb eines kollabierenden systems möglich ist:



das video...

"... zeigt laut dem Bericht Misshandlungen und Demütigungen von Roma-Kindern in der ostslowakischen Stadt Kosice. Die Burschen wurden demnach auf der Polizeistation vorgeführt, weil sie verdächtigt wurden, eine ältere Frau überfallen zu haben.

Polizeipräsident Ján Packa erklärte bei einer Pressekonferenz in Bratislava, die beteiligten Polizisten seien vom Dienst suspendiert worden, es würden Ermittlungen eingeleitet, ihre Vorgesetzten würden abgesetzt. Der Vorfall fand in einem Vorort Kosices, in der Roma-Siedlung Lunik IX statt, wo mehr als 7000 Menschen leben und die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Der Bürgermeister der Siedlung, Ladislav Saòa, sagte dem Standard, die Kinder stammten aus einer armen Familie. Sie hatten den Vorfall aus Angst zunächst nicht melden wollen."(...)


so nötig die entfernung der betreffenden täter im öffentlichen dienst auch ist - an der basis der strukturellen gewalt, die latent immer in die offene gewalt eines solchen kalibers umschlagen kann, ändert das schlicht - nichts. bin ich eigentlich der einzige, den das ganze an methoden der "schwarzen pädagogik" erinnert?

*

etwas länger zurück liegt der folgende vorfall aus seattle / usa, den ich mir damals bereits vermerkt hatte:



hier ist ein von der polizei wg. fahrens ohne führerschein (meines wissens im wagen ihrer eltern) festgenommenes 15jähriges mädchen zu sehen, die bei ihrem eintritt in die zelle innerhalb eines wortgefechtes einen ihrer schuhe nach den polizisten schleudert. die dokumentierte reaktion lässt sich jedoch selbst bei den größten geistigen verrenkungen nicht mehr im raster von "irgendwie gerade noch angemessen" unterbringen, sondern ähnelt deutlich - zwei starke männer im schutz der relativen anonymität einer arrestzelle überwältigen auf brutale art ein mädchen - einer art vergewaltigungssituation.

*

vielleicht der wirklich einzige nutzbringende vorteil der inzwischen überall präsenten kameras für den großteil der bevölkerung, dass solche angriffe in den staatlichen zonen der realen rechtlosigkeit von fall zu fall durch die selbst geschaffene maschinerie dokumentiert werden. für eine allgemeine befürwortung des überwachungsapparates reicht das jedoch keinesfalls aus.

*

edit am 11.04.: bezüglich der situation der roma empfehle ich diese ergänzung
"Die schwere Misshandlung von acht Roma-Kindern in der Ostslowakei ist kein Einzelfall, sagen Experten. Der Rassismus in der Gesellschaft habe die Übergriffe möglich gemacht." aus dem wiener standard.

Montag, 6. April 2009

notiz: krisennews und -gedanken (32)

und den heutigen lesetipp gibt´s gleich zur einleitung, weil der text dabei helfen kann, die versteckten dimensionen der weiter unten folgenden meldungen deutlich zu machen:

(...)"Das derzeitige Wirtschafts- und Finanzsystem wird demnach bei Erreichen der Systemgrenze kollabieren, wie es dies ja folgerichtig auch schon seit einem halben Jahr tut. Ein funktionierendes Bankwesen ist in unserem derzeitigen Wirtschaftssystem eine zwingende Voraussetzung für das Funktionieren der herstellenden Industrie und der industriellen Landwirtschaft, die auf die Kredite angewiesen sind. Da es in der Politik keinen Plan B zu exponentiellem Wirtschaftswachstum gibt (und dies in Deutschland sogar gesetzlich im Wachstums- und Stabilitätsgesetz verordnet ist), ist es aus Regierungssicht von allergrößter Wichtigkeit, dieses Bankensystem zu retten, wohlwissend, dass dies garnicht möglich ist. Das ist der Grund, weshalb sofort Milliardensummen bereitstehen, um den Banken unter die Arme zu greifen, wohingegen große Vorbehalte bestehen, wenn es darum geht, beispielsweise Autohersteller zu retten. Da der Volkskuchen bei Erreichen des Erdölfördermaximums nicht mehr größer werden kann, bedeutet die Gelddruckerei sämtlicher Regierungen zur Rettung des Bankensystems eine Umverteilung des Reichtums weg von normal arbeitenden Bürgern hin zu den Banken. Die Staatsregierungen als einzige, die Geld drucken dürfen, zwingen somit um des Systemerhalts willen alle Unternehmer und alle Bürger, ihre exponentiell steigenden Schulden bei den Banken zu bezahlen.

Nachdem wir aber verstanden haben, was die Exponentialfunktion darstellt und dass unsere Lebensweise, unsere gesamte Weltanschauung auf unmöglichen Grundlagen beruht, ist es unerheblich, ob das Bankensystem noch gerettet wird oder nicht, ob Renten und Lebensversicherungen mehr oder weniger offensichtlich entwertet werden. Diese Zukunftsinvestitionen waren nie etwas wert, sie gelten lediglich solange exponentiell mehr Energie bereitgestellt werden kann. Der Zeitpunkt, an dem dies nicht mehr möglich ist, liegt hinter uns und wir werden uns andere Maßnahmen überlegen müssen, unser Leben und Überleben im Alter zu sichern."(...)


ich stimme durchaus nicht mit der im weiteren verlauf des beitrags geäusserten meinung überein, dass das problem des systemimmanenten zwangs zum ständigen exponentiellen wachstum schlicht für alle der inzwischen aufgehäuften probleme des kapitalismus verantwortlich ist - hingegen macht der text nachdrücklich klar, dass wir als spezies insgesamt gerade an vielfältige physikalische grenzen stoßen. auch das führt zwangsläufig in die globale systemkrise, die sich u.a. in symptomen ungleich verteilter zunehmender sozialer unruhe ausdrückt - der schwerpunkt der heutigen news:

*
  • großbritannien I: widersprüchlichkeiten im todesfall während der "g20"-proteste
  • großbritannien II: erste betriebsbesetzungen haben begonnen
  • italien: massendemonstrationen gegen regierung und ihre krisenpolitik
  • griechenland: rückblick auf generalstreik am donnerstag / weitere anschläge gegen banken und staatliche institutionen
  • frankreich: betriebsbesetzungen und festsetzungen von managern häufen sich
  • russland: weltbank warnt vor sozialen unruhen und verlangt stärkere soziale hilfen von der regierung / stahlarbeiter im hungerstreik, bergarbeiter drohen mit massenprotesten
  • usa: millionen auf lebensmittelmarken angewiesen / zeltstädte breiten sich weiter aus / landesweite massenproteste für mitte april geplant
  • spanien: bericht zur sozioökonomischen situation
  • deutschland & global: rückblick auf den internationalen aktionstag am 28. märz
  • in aller kürze: der erste märz seit beginn der statistik vor 80 jahren, in dem die erwerbslosenzahlen in d-land steigen / die häfen geraten immer schärfer in krisengewässer / innenansichten zur "hsh-nordbank" / joseph stiglitz zum iwf und der weltbank (aus dem jahr 2001)
*

die woche der gipfel liegt nun hinter uns, und die "ergebnisse" sind genau die, die zu
erwarten waren - die "g20" versuchen alles, um ihren laden namens globaler kapitalismus, der inzwischen lichterloh in flammen steht, etwas aufzuhübschen - im schaufenster wird die dekoration ausgetauscht - , und derart zeit zu gewinnen. die anachronistische und nachweislich staatsterroristische (remember "gladio") vereinigung zur verteidigung von freedomanddemocracy namens "nato" feiert sich selbst im passenden geburtstagsambiente von zehntausenden polizisten, tränengasschwaden, dem knallen von schockgranaten, absurden demonstrationsverboten und -auflagen sowie dem qualm brennender häuser (zu den letzteren siehe zb. diesen bericht.)

in london war nach dem tod eines 47-jährigen mannes relativ abrupt schluss mit den meisten aktionen, und nach meinem eindruck hatte das primär etwas mit eben jenem tod zu tun, der bei vielen der dortigen aktivistInnen starke betroffenheit auslöste, und nach den offensichtlichen polizeilichen falschmeldungen der ersten stunden ("von demonstranten mit flaschen beworfen, und auch die helfenden einsatzkräfte gleich mit") die notwendigkeit in den vordergrund rückte, die ereignisse soweit wie möglich realistisch zu rekonstruieren. inzwischen sind immer mehr augenzeugenberichte verfügbar, und es zeichnet sich etwas ab, was bei polizeieinsätzen wie zb. im folgenden video dargestellt...



...eben nicht sehr überraschend sein sollte - todesfälle auch schon alleine aufgrund von schock & aufregung sind bei solchem vorgehen
nicht unwahrscheinlich:

"The man who died during last week's G20 protests was "assaulted" by riot police shortly before he suffered a heart attack, according to witness statements received by the Independent Police Complaints Commission.

Investigators are examining a series of corroborative accounts that allege Ian Tomlinson, 47, was a victim of police violence in the moments before he collapsed near the Bank of England in the City of London last Wednesday evening. Three witnesses have told the Observer that Mr Tomlinson was attacked violently as he made his way home from work at a nearby newsagents. One claims he was struck on the head with a baton."(...)


wenn dazu noch schläge mit einem polizeiknüppel kommen, wie sie mehrere zeugen inzwischen für den zeitpunkt kurz vor dem tod von ian tomlinson bestätigen, wird die phrase vom "tragischen unglücksfall" endgültig zur farce. es ist vorhersagbar, dass diese geschichte noch kreise ziehen wird - in london gab es bereits erste demonstrationen vor polizeirevieren mit der forderung einer öffentlichen untersuchung.

*

und nicht nur diese entwicklung ist so gut wie kein thema im hiesigen medialen mainstream, sondern auch eine ganze reihe von betriebsbesetzungen findet nach deren lesart quasi gar nicht statt - exemplarisch sei hier auf die besetzung des autozulieferers
visteon in nord-london verwiesen, die seit dem 1. april läuft, zeitgleich mit ähnlichen besetzungen bei gleichen betrieben u.a. in belfast.

betriebsbesetzung in gb

nicht ganz überraschend werden also zunächst die betriebe der autoindustrie zu den ersten kampffeldern, und die besonderen probleme hierbei hatte ich in vergangenen news bezgl. dieser sparte schon thematisiert. positiv jedoch finde ich den aspekt der selbstorganisation einerseits sowie die demonstrierte bereitschaft andererseits, die bisher vorgegebenen regeln nicht länger als absolut bindend hinzunehmen, wenn die eigene ökonomische existenz bedroht wird. beides dürfte für viele beteiligte menschen enorme entwicklungssprünge bedeuten, die mittelfristig auch in ganz neue räume führen können. die erfahrung sowohl von erfolgen wie auch problemen derartigen kollektiven handelns kann letztlich enorme wichtigkeit gewinnen, wenn sich die verhältnisse weiter verschärfen.

*

in italien fand am samstag zum wiederholten male eine von den gewerkschaften organisierte
massendemonstration in rom statt, die - wenn ich mir so verschiedene berichte betrachte - auch erfreulich regierungsfeindliche töne aufwies:

"Mehrere Hunderttausende Menschen haben am Samstag in Rom gegen die Mitte-Rechts-Regierung demonstriert. Laut den Organisatoren beteiligten sich sogar 2,7 Millionen Personen an der Kundgebung gegen mangelhafte Maßnahmen der Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi gegen die Finanzkrise, zu der der Gewerkschaftsverband CGIL aufgerufen hatte. Arbeiter, Pensionisten, Einwanderer und Studenten aus dem ganzen Land waren mit 40 Zügen und fast 5000 Bussen nach Rom gekommen.

Fünf Demonstrationszüge zogen durch die Innenstadt und strömten zu einer Kundgebung im Circus Maximus. "Es handelt sich um eine der größten Demonstrationen aller Zeiten in Italien", erklärte Gewerkschaftschef Guglielmo Epifani. In seiner Rede vor den Demonstranten, die rote Fahnen schwenkten, forderte Epifani einen runden Tisch im Kampf gegen die Wirtschaftskrise. "Wir dürfen in dieser Krise niemanden zurück lassen. Wir müssen gegen die Resignation und für die Rechte der Arbeitnehmer kämpfen", sagte der Gewerkschaftführer.(...)


noch gelingt den etablierten gewerkschaften nicht nur in italien eine art moderation der in etlichen ländern immer angespannteren stimmung. noch. vom betreffenden spagat der gewerkschaften hatte ich ebenfalls in einer früheren news schon geschrieben. von den vielen videos zur demo habe ich eines ausgesucht, dass sich speziell aus der sicht einer firmenbelegschaft mit der situation beschäftigt, und hier wäre ich wieder mal über eine übersetzung sehr dankbar.



*

auch in griechenland sehen sich die gewerkschaften gezwungen, der öffentlichen stimmung ausdruck zu verleihen - like frankreich war das am vergangenen donnerstag mit abstand von einigen monaten der zweite
generalstreik...

"Ein Generalstreik hat am Donnerstag Griechenland weitgehend lahmgelegt. Zu dem Ausstand hatten die beiden größten Gewerkschaften aus Protest gegen die Politik der konservativen Regierung aufgerufen. Diese hatte vor kurzem ein Einfrieren der Gehälter für Teile des öffentlichen Dienstes angekündigt. Die Gewerkschaften lehnen dies ab und fordern, gut verdienende Unternehmen stärker zur Kasse zu bitten. Außerdem widersetzen sie sich der Lockerung von Arbeitsschutzgesetzen, die die Regierung angeschlagenen Firmen erlaubt hat. Behörden und Schulen blieben am Donnerstag in Griechenland geschlossen, Krankenhäuser arbeiteten nur mit Notdiensten, die Schiffe blieben in den Häfen und auf den Flughäfen des Landes wurde der Flugverkehr für vier Stunden unterbrochen. Das Datum war bewußt gewählt, ging es doch in Athen wie bei den Protesten gegen den G-20-Gipfel in London um die gleiche Forderung: Nicht die Arbeitenden, sondern das Kapital, Verursacher der Krise, verantwortlich für Krieg, Hunger und Ausbeutung, soll die Krise bezahlen."(...)



...und gleichfalls wie beim zweiten landesweiten streik in frankreich gab es auch das folgende zu beobachten:

"Mehr als 90 Prozent der in Großbetrieben und im öffentlichen Dienst Beschäftigten verweigerten die Arbeit. Besonders erfreulich dabei sei die hohe Teilnahme aus Betrieben, die bisher noch nie gestreikt hätten, erklärte der Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung Rizospastis, Dimitris Koutsoumbas, gegenüber junge Welt."

währendessen gehen die
anschläge gegen allerhand systeminstitutionen weiter, die folgende meldung ein paar tage vor dem streik mag dafür als beispiel stehen:

"Innerhalb von 15 Minuten verübten Unbekannte in dieser Nacht Anschläge mit Gaskartuschen und anderen leicht brennbaren Materialien in mindesten zehn verschiedenen Gegenden von Attika. Betroffen waren Bankfilialen, ein Autosalon, eine Postfiliale, Kraftfahrzeuge der Elektrizitätsgesellschaft DEI, sowie Pkw's, darunter auch Fahrzeuge von Diplomaten."(...)

was nicht nur in griechenland bei einer weiteren eskalation der krise passieren wird, lässt sich mit einer gewissen wahrscheinlichkeit ausmalen.

*

und das lässt sich ebenfalls für
frankreich konstatieren:

(...)„Die Radikalisierung der sozialen Konflikte banalisiert sich“ (= normalisiert sich, breitet sich aus) lautet die Überschrift des dazugehörigen Artikels. Die Botschaft, die der Titel verkündet, banalisierte sich ihrerseits in den letzten Tagen: „Unter der Wirkung der Krise radikalisieren sich die sozialen Konflikte“, so übertitelte die christliche Tageszeitung ‚La Croix’ ihre Titelstory vom Donnerstag, die ihre Seiten 1, 2 und 3 füllt. Und die Gratistageszeitung ‚Métro’ machte am selben Tag ihre Eins mit der Schlagzeile auf: „Die sozialen Konflikte legen eine Eskalationsstufe zu.“

Dabei geht es nicht nur um Manager und (örtliche) Direktoren, die eine Weile als unfreiwillige Gäste „ihrer“ Beschäftigten verbringen. Klar, auch die Festsetzaktionen breiteten sich in jüngster Zeit aus. Nachdem etwa der Generaldirektor von Sony-France, Serge Foucher, in der Nacht vom 12. auf den 13. März in seinem Büro eingesperrt war, haben sich solche Aktionen inzwischen vervielfacht. Zuletzt wurden am Dienstag und Mittwoch dieser Woche vier Manager und leitende Angestellte des US-Baumaschinenherstellers Catarpillar im ostfranzösischen Grenoble für 24 Stunden festgehalten.(...)

Aber auch Betriebsbesetzungen kommen, neben Festsetzaktionen, wieder auf. So waren seit dem gestrigen Donnerstag die Lohnabhängigen des weltweit führenden Herstellers von Baukränen, Manitonow Crane (früher Potain), dazu aufgerufen, „ihre“ Werke zu besetzen, ohne allerdings die Produktion zu verhindern.

Zuvor hatten bereits seit vergangener Woche die 400 Beschäftigten der Chipkartenfabrik FCI in Mantes-la-Jolie (eine entlegene Trabantenstadt circa 35 Kilometer westlich von Paris) „ihr“ Werk besetzt. Damals, Ende März, begannen sie bereits ihre fünfte Streikwoche. Obwohl die Aktivität „ihres“ Arbeitgebers sich – trotz Krise – in einer Boomphase befindet, hat die Direktion entschieden, den Standort der Produktion nach Singapur zu verlagern. Die Werksleitung hat unterdessen den Standort schlicht und einfach aufgegeben und sich vollständig zurückgezogen, sie „verschanzt sich am zentralen Firmensitz in Versailles“...(...)


für jede solcher aktionen dürfte das gelten, was ich anfangs schon bezgl. der akteure bei den britischen besetzungen geschrieben hatte. und für nicht zu unterschätzen halte ich auch die mögliche vorbildfunktion auf andere länder und belegschaften.

*

wir machen beim kleinen rundblick weiter in
russland:

(...)"Russische Bergarbeiter warnten Präsident Dmitri Medwedew laut verschiedenen Zeitungsberichten in einem Brief vor Massenunruhen, wenn die Politik ihrer Branche nicht unter die Arme greifen sollte.

Sie warfen unter anderem dem Finanzministerium vor, die Steuern für die russische Kohleindustrie nicht wie versprochen gesenkt zu haben.

Im März war es bereits zu Protesten gegen höhere Importsteuern auf Gebrauchtwagen in Wladiwostok gekommen. Zudem traten Stahlarbeiter in der Industriestadt Slatoust im Ural in Hungerstreik, um gegen niedrigere Löhne zu demonstrieren.(...)

In Umfragen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada erklärten 26 Prozent der Teilnehmer, sie seien bereit, an Demonstrationen gegen die Verschlechterung ihres Lebensstandards teilzunehmen, deutlich mehr als noch vor einem Jahr. 54 Prozent der Befragten unterstützten die Motive der Demonstranten."(...)


und diese situation wird offenbar von der weltbank als so brisant eingeschätzt, dass aus dieser ecke ungewohnte töne zu vernehmen sind:

"Die soziale Lage hat sich so schnell und so unerwartet verschlechtert, dass es nun wichtig ist, den Fokus der Antikrisenpolitik auf die Bevölkerung zu lenken", sagte Zeljko Bogetic, Chefökonom der Weltbank in Moskau.

Das Institut regt etwa an, soziale Transferzahlungen vorübergehend deutlich zu erhöhen. So könnten für den Verlauf eines Jahres das Arbeitslosengeld um 70 Prozent, die niedrigsten Renten um 20 Prozent und das Kindergeld sogar um 220 Prozent angehoben werden."


land für land ist inzwischen zu beobachten, wie die zutaten für das, was im vorletzten bulletin des "leap" mit dem "beginnenden zusammenbruch der öffentlichen ordnung ab herbst 2009" beschrieben worden ist, mal langsamer, mal schneller zu köcheln anfangen. der countdown läuft definitiv.

*

und das gilt auch und besonders für einen brennpunkt des ganzen desasters, nämlich die usa - die
querschüsse liefern einmal mehr die bedrückenden fakten - im vergleich zu den januarzahlen dürfte das ganze allerdings inzwischen noch schlimmer aussehen:

(...)"Nach Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums (United States Department of Agriculture - USDA) erreicht die Anzahl der US-Bürger, welche Lebensmittelmarken beziehen im Januar 2009 ein Allzeithoch! Gewaltige 32,204 Millionen Amerikaner bezogen per Kreditkarte, für je 112,80 Dollar pro Person, im Januar Lebensmittel auf Basis von SNAP. Dies ist ein gewaltiger Anstieg von +420'400 Leistungsbeziehern bzw. von +1,3% zum Vormonat und von +16% bzw. +4,453 Millionen zum Vorjahresmonat mit damals 27,761 Millionen Bedürftigen.(...)

Selbst die 32,204 Millionen Bedürftigen sind nur ein Teil der bitteren Realität, denn um in den "Genuss" der Kreditkarten für Lebensmittelausgaben zu kommen, müssen arbeitsfähige Erwachsene zwischen 16 und 60 Jahren den Nachweis erbringen, dass sie Arbeit suchen und bereit sind bestimmte Arbeiten zu akzeptieren, z. B. an Beschäftigungs- und Ausbildungsprogrammen teilnehmen. Die entmutigten Arbeitnehmer welche aufgegeben haben einen Job zu suchen, fallen wie in der Arbeitslosenstatistik auch bei SNAP durchs Netz. Erwachsene ohne Kinder können generell nur maximal 3 Monate SNAP beziehen. Ebenfalls durch das SNAP-Netz fallen auch die legalen Immigranten, sie sind seit der Sozialhilfereform 1996 ebenso, wie grundsätzlich die Illegalen vom Supplemental Nutrition Assistance Program ausgenommen.
Nahezu 80% der Lebensmittelmarken gehen an Familien mit Kindern, davon 85% an Kinder mit nur einem Elternteil. Ein klarer Beleg für das Armutsrisiko durch Kinder vor allem für Alleinerziehende!"(...)


und ein großer teil der betroffenen dürfte zusätzlich mit der echten bedrohung der obdachlosigkeit zu kämpfen haben - berichte bzw. videos über die wachsenden zeltstädte besonders an den rändern der metropolen waren in früheren news schon zu sehen, hier nun ein relativ neuer bericht über eine zeltstadt nahe los angeles:



und in einem
überblick zur gesamten krisensituation in den usa schreibt tomasz konicz zum thema:

"Derzeit schießen überall in den USA Zeltstädte aus dem Boden, Notunterkünfte, in denen Opfer der aktuellen Weltwirtschaftskrise hausen. »Hoovervilles« werden sie gelegentlich genannt, ein längst vergessen geglaubter Begriff. Als Hoovers-Dörfer wurden in den 30er Jahren all die Elendsquartiere bezeichnet, die sich während der großen Depression im Land ausbreiteten.(...)

Die sozialen Konsequenzen des zusammengebrochenen Immobilienmarktes in den USA sind bereits jetzt verheerend. Allein im vergangenen Jahr wurden 3,2 Millionen Zwangsvollstreckungen eingeleitet. Da bezahlbare Mietwohnungen Mangelware sind, sah sich ein großer Teil der betroffenen Menschen genötigt, in ihren Autos zu leben oder bei Verwandten unterzukommen. Wer das nicht konnte, rutschte sofort in die Obdachlosigkeit und strandete in den Zeltstädten. Die Bewohner dieser provisorischen Lager sind jedoch nur ein kleiner Teil des rasch wachsenden Obdachlosenheeres in den Vereinigten Staaten. Laut Hilfsorganisation Nationale Allianz zur Beendigung der Obdachlosigkeit (National Alliance to End Homelessness) werden in diesem Jahr an die 3,5 Millionen Bürger der USA obdachlos sein – gegenüber 2007 ein Anstieg um 35 Prozent. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. 39 Prozent der US-Amerikaner ohne ein Dach über dem Kopf sind jünger als 18 Jahre.

Und die Zeltstädte können sich auf weiteres Wachstum einstellen. Neuesten Studien zufolge droht in den kommenden drei Jahren bis zu sechs Millionen Familien die Zwangsvollstreckung ihrer Häuser, sollten keine substantiellen Maßnahmen ergriffen werden."(...)


welche kriterien gelten eigentlich für die definition eines sozialen superGAUs? vielleicht sind mögliche antworten schon in ein paar tagen aus den usa zu vernehmen:

"Diese rasant voranschreitende Verelendung – potenziert durch die billionenschweren Hilfsmaßnahmen für in Schieflage geratene Banken und Versicherungen – läßt die Wut in der Bevölkerung an vielen Stellen bereits überkochen. Unklar ist allerdings, welche Richtung diese zunehmende Radikalisierung nehmen wird. Dabei stehen die Chancen für die Linke nicht schlecht. In den zurückliegenden Jahren ist ein umfassendes Netz alternativer Medien in den USA entstanden, das inzwischen Millionen Menschen erreicht. Während vormals kreuzbrave linksliberale Organe wie die einflußreiche Zeitschrift The Nation inzwischen prominente linke Intellektuelle wie Mike Davies oder Immanuell Wallerstein sozialistische Alternativen zum bestehenden System diskutieren lassen, mobilisiert für den 11. April ein breites Bündnis zur Massendemonstrationen im gesamten Land, um gegen weitere Milliardengeschenke an die US-amerikanische Finanzoligarchie zu protestieren."(...)

*

wenn man sich so mit den sozioökonomischen daten und verhältnissen beschäftigt, die ständig aus allen möglichen ländern eintrudeln, so fällt die zunehmende monotonie oder auch der gleichklang der entwicklungen auf - vermutlich gab es einen derartigen verfallsprozeß, der tatsächlich - in einigen fällen noch mit verzögerung - kein einziges land der erde unberührt lassen wird, historisch noch nie zu betrachten. wie bekannt, schätze ich in so einer situation die länderberichte von wildcat sehr, weil sie trends und entwicklunglinien nicht nur von "unten", sondern auch aus anderer perspektive strukturell zu begreifen suchen - in einem weiteren dieser berichte geht´s unter dem irgendwie launigen motto
Backsteine, Blasen und Bankrott nach spanien:

"Ein Albtraum tritt nun an die Stelle jener heiteren Jahre, in denen alle wussten, dass das irgendwie verrückt ist und nicht ewig so gehen kann: Das ganze Land eine gigantische Wachstumsmaschine, wenn auch mit einigen Besorgnis erregenden Nebeneffekten, wie dem, dass ganze Landstriche mit schäbigen Wohnschachteln verschandelt wurden – für die Zweitwohnung am Meer, für die wachsende Bevölkerung, für die anlagesuchenden Ersparnisse aus aller Welt oder für das Waschen von Schwarzgeld. »Damals«, als in Spanien soviel Zement verbraucht wurde, wie in den vier größten europäischen Volkswirtschaften zusammen, als hier ein Drittel aller 500-Euro-Scheine zirkulierte, um die korrupten Seilschaften aus Politikern, Beamten und Bauunternehmen zu schmieren, als die kommunalen Einnahmen aus der Verwandlung von Äckern in Bauland nur so sprudelten."(...)

bleibt für den moment - bis sich auch in spanien erwähnenswertes zu rühren beginnt - nur zu sagen: buenas noches!

*

und das ist durchaus nicht hämisch gemeint, wenn ich mir die freundlich geschätzten 50.000 anschaue, die am 28.3. in berlin und frankfurt zusammen am start waren - wo doch in anbetracht der situation eher 500.000, besser gleich fünf millionen, angemessen gewesen wären. aber im wirrwarr aus abwrackprämie, täglichen märchenstunden aus regierung und wirtschaft sowie der weiterhin funktionierenden sedierung mittels
tittytainment , welches in d-land besonders verheerende ausmaße angenommen hat, leben die meisten der mitbürgerInnen immer noch in einer ziemlich virtuellen welt ihre alpträume still für sich aus. bis die realität anfängt, ohrfeigen und schienbeintritte zu verteilen. (btw, um etwaige nachfragen gleich zu benatworten: nein, ich war am 28.3. aus mehreren gründen, primär dabei ein gesundheitlicher, ärgerlicherweise nicht in der lage, auch in berlin aufzutauchen. aber im laufe des jahres wird es noch ausreichend gelegenheit geben, selbst aktiv zu werden.)

zur situation hier ist weiterhin ein krisenspecial geplant, und bevor ich lange worte verliere: bei attac gibt´s einen brauchbaren
überblick zu den aktionen vom 28. märz. dabei fällt auf, dass eigentlich nirgendwo die vorherigen zahlen der beteiligung an demonstrationen getoppt werden konnten. das ist gerade bei einem internationalen aktionstag nicht nur ärgerlich, sondern auch in der hinsicht bedenklich, das darin auch eine aussage über das derzeit verbreitete bewußtsein vieler bevölkerungen stecken könnte - stichwort tellerrand.

*

in aller kürze - das krisentelegramm +
ein historischer monat, eine historische zahl - wie gesagt, das erstemal überhaupt seit 80 jahren + norddeutsche krisenspezialitäten - "Der Boom in der Hafenwirtschaft ist vorerst vorbei - in den bremischen Häfen verlieren demnächst wohl bis zu 1.400 ArbeiterInnen ihren Job. Auch in Hamburg, Rostock und Lübeck ist die Lage kritisch. Noch behilft man sich mit Kurzarbeit." noch. + "Das ist ein Wahnsystem" - hier "nur" in bezug auf den quasibankrott der hsh.nordbank und die landesbanken allgemein gemünzt. aber auch darüber hinaus eine treffende aussage + zuletzt etwas erhellendes aus dem jahr 2001 - joseph stiglitz rechnet mit seinen früheren kollegen bei iwf & weltbank ab: Was ihn letztendlich dazu trieb, seinen Job an den Nagel zu hängen, war das Unvermögen der Banken und des US-Schatzamtes, ihren Kurs zu ändern, nachdem sie mit den Krisen konfrontiert wurden - Pleiten und Leiden, verursacht durch ihren monetaristischen Tanz im Vier-Viertel-Takt. Wann immer diese Lösungen auf Basis freier Märkte versagten, verlangte der IWF einfach noch mehr freie Marktwirtschaft.

"Das ist fast wie im Mittelalter," erzählt der Insider. "Wenn der Patient starb, sagten sie: ‚Er beendete eben den Aderlass zu früh, es war immer noch etwas Blut in ihm.'"
in den vergangenen acht jahren hat sich also in diesen institutionen nichts grundlegend geändert +

gift, gene und mafiöse strukturen

auch, wenn ich damit vermutlich eulen nach athen trage und der film hoffentlich schon von vielen wahrgenommen worden ist - ich habe ihn erst gestern zum ersten male gesehen:



und diese dokumentation gehört gerade in zeiten wie diesen sozusagen zum pflichtprogramm für alle, die sich mit den inhalten und funktionsweisen des kapitalismus auch und gerade in seinen "normalen" phasen näher beschäftigen wollen oder müssen. aus einer
rezension:

(...)"Der beeindruckend direkte Film steigt ein mit einem Produkt, dass Monsanto 1974 auf den Markt brachte, dem Unkrautvernichtungsmittel "Roundup". Jahre später produzierte der Konzern dann die "Roundup-Ready-Sojabohne", die genetisch so verändert wurde, dass sie resistent gegen das Totalherbizid ist. Entgegen der Werbung von Monsanto gilt "Roundup" allerdings nicht als "biologisch abbaubar", sondern als hochgiftig und krebsfördernd. Um das Herbizid und die Genpflanzen auf dem Markt zu halten, unterdrückte Monsanto Gutachten, erpresste unabhängige Wissenschaftler, erwirkte ihre Entlassung (zum Beispiel aus der US-Food-and-Drug-Administration und aus Forschungsinstituten weltweit) und hievte umgekehrt Monsanto-Mitarbeiter in die Kontrollbehörden.(...)

Im Film folgt sodann das dioxinhaltige Unkrautvernichtungsmittel "2,4,5-T", das ein Hauptbestandteil von Agent Orange war. Die Amerikaner hatten 80 Millionen Liter davon über Vietnam versprüht, um den Dschungel, in dem der Vietkong hockte, zu entlauben und den Bauern die Reisfelder zu vernichten. Sie mussten daraufhin in die Städte abwandern, was US-Soziologen als "nachgeholte Urbanisierung" begrüßten. Noch 1985 hatte der US-Wissenschaftler Alwin Young auf einem Kongress in Bayreuth erklärt: "Der Dioxin-Einsatz hat niemandem geschadet!" Aber seitdem verklagen neben den Vietnamesen, die verkrüppelte Kinder zur Welt brachten, auch viele krank gewordene US-Vietnam-Veteranen Monsanto.

Um nicht zahlen zu müssen, ließ der Konzern die Untersuchungsberichte manipulieren. Auch den US-Sojaanbauern spielte der Konzern übel mit: Wie einer im Film es ausdrückte, "verbreitet Monsanto Angst und Schrecken unter den Farmern". Da es sich bei den Genpflanzen um patentiertes Saatgut - eine Art Kopierschutz - handelt, dürfen die Bauern nichts von der Ernte zurückbehalten, um es im nächsten Jahr auszusäen. Rüde werden sie von Monsanto deswegen mit Prozessen überzogen. Um ihre Felder zu kontrollieren, hat Monsanto sogar eigens eine "Gen-Polizei" geschaffen.

"Sie wollen alles Saatgut kontrollieren und machen alle Lebensmittel zu ihrem Eigentum", sagt ein Bauer im Film.(...)


und letzteres ist etwas, was es - wie so vieles anderes auch - unbedingt zu verhindern gilt. "monsanto" ist ein klassisches beispiel für die nur noch als schwerkriminell zu bezeichnenden verwüstungsfeldzüge der transnationalen konzerne unter protektion entsprechend korrupter regierungen. mehr zu den machenschaften des konzerns und dem fälligen widerstand
hier und hier.

Sonntag, 29. März 2009

notiz: krisennews und -gedanken (31)

heute aus zeitbedingten gründen nur in einer kurzversion. mehr mit einem schwerpunkt auf die laufenden weltweiten proteste in der nächsten woche.

*

bis dahin empfehle ich erstens einen
artikel von nils minkmar...

(...)„Die Leute sind sauer, aber noch lange nicht sauer genug“, schreibt Matt Taibbi, der politische Kolumnist des amerikanischen Rolling Stone: „Es ist vorbei. Kein Imperium übersteht es, dauerhaft lächerlich gemacht zu werden.“ Und er rechnet vor: Der Versicherungskonzern AIG hat in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres 27 Millionen Dollar pro Stunde verloren, 465 000 Dollar in der Minute. Und braucht noch mehr Geld. Und wollte noch vorletzte Woche seinen so empfindlichen Genies weitere Boni zahlen, und Privatflugzeuge und die Maniküre. In Deutschland haben wir bei der Dresdner Bank und der Hypo Real Estate Vergleichbares. Ein Staat, der hier weiter Geld rausrückt, setzt seine Legitimität aufs Spiel. Nichts untergräbt Regierungssysteme so schnell und wirksam wie die Lächerlichkeit.

Darum ist die Krise nun eine Krise der symbolischen Repräsentation und damit eine Machtfrage geworden."(...)


*

...zweitens einen
beitrag von tomasz konicz, der aus einer ganz anderen perspektive zu einem ähnlichen fazit gelangt und spezielle schlüsse hinsichtlich des agierens der linken zieht...

(...)"Wollte man das Wesen dieser nun alle Weltregionen erfassenden Krise auf einen kurzen, prägnanten Nenner bringen, so wäre es wohl dieser: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es ist dies die klassische revolutionäre Situation, wie sie Marx im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ vor 150 Jahren dargelegt hat: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (…) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ (MEW 13, S. 9)

Die Tragik unserer Epoche besteht nur darin, dass weit und breit keine revolutionäre Klasse, kein revolutionäres Subjekt auszumachen ist. Der ideologische Sieg des Kapitalismus scheint gerade in seiner Niederlage absolut zu sein, für breiteste Bevölkerungsschichten sind Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung schlicht undenkbar. Sollte keine breite, progressive, antikapitalistische Bewegung innerhalb des einsetzenden Krisenprozesses entstehen, droht uns der zivilisatorische Zusammenbruch. Die Aufgabe der revolutionären, antikapitalistischen Linken besteht zuvorderst darin, das öffentliche Bewusstsein über diese höchst gefährliche Situation – die jederzeit in Barbarei umschlagen kann – zu verbreitern und postkapitalistische, jenseits der uferlosen, fetischisierten Kapitalreproduktion angesiedelte gesellschaftliche Alternativen zu diesem autodestruktiven, spätkapitalistischen System zu diskutieren und aufzuzeigen.

Wir müssen – in den konkreten Kämpfen vor Ort – zuerst revolutionäres Bewusstsein schaffen; also das Bewusstsein darüber, dass wir uns in einer revolutionären Situation befinden, dass das kapitalistische System an seine Entwicklungsgrenzen gestoßen ist. Die konkrete Aktion, der Abwehrkampf vor Ort, der Streik, die Betriebsbesetzung, die Straßenblockade, die Demonstration – diese vor uns liegenden Kämpfe müssen bereits als Teil des Ringens um eine postkapitalistische Gesellschaft aufgefasst und propagiert werden. Wir müssten ja an konkreten Kämpfen ansetzen − mit den Menschen streiten, die in dieser Krise unterzugehen drohen, diese konkreten Kämpfe zusammenführen zu ihrem gemeinsamen, objektiven, um des Überlebens der menschlichen Zivilisation willen absolut notwendigen, scheinbar so „abstrakten“ Ziel: der Überwindung dieses über uns zusammenbrechenden kapitalistischen Systems."(...)


*

...drittens eine
meldung , die einerseits beispielhaft illustriert, was für situationen konicz im letzten zietierten absatz oben u.a. meint, und andererseits eben auch in der zwiespältigkeit sowohl der ziele als auch der aktionsform "hungerstreik" überhaupt die ganze schwierigkeit dessen deutlich macht, was mit "schaffung eines revolutionären bewusstseins" umschrieben wird (in letzter konsequenz ist das letztlich nichts anderes als eine qualitative änderung der eigenen neuronalen konfiguration - ein anderes fühlen und denken, teils bereits in räumen jenseits des bisher gewohnten und "normalen" angesiedelt):

(...)"Sie sind entschlossen, für ihre Jobs zu kämpfen, sie wollen arbeiten. Dafür treten sie jetzt sogar in den Hungerstreik: Drei Leiharbeiter von VW Nutzfahrzeuge in Hannover haben ein Zelt auf dem Parkplatz vor dem Werkstor 3 des Unternehmens aufgebaut. Ihre Verträge laufen zum 31. März aus und wurden nicht verlängert. "Wir bleiben hier, bis man auf unsere Forderungen eingeht", sagt Oguzhan Batur. Seine beiden Kollegen Tufan Cicek und Isa Güner nicken zustimmend. Die drei Männer drängen sich um einen kleinen Gas-Heizstrahler, doch der eisige Wind, der über den Platz fegt, dringt durch die Ritzen der Planen.

Seit rund zwei Jahren arbeiten die Männer in der Montage des Unternehmens. "Wir haben unsere Kraft investiert, auch am Samstag gearbeitet, Krankheitstage hat sich keiner erlaubt", schildert Batur. Immer mit der Hoffnung, übernommen zu werden. Doch die Verträge von rund 900 Leiharbeitern bei VW Nutzfahrzeuge sollen nicht verlängert werden, hatte Vorstandschef Stephan Schaller am Mittwoch mitgeteilt. Ziel sei es, die Beschäftigung der Stammbelegschaft mit etwa 18.000 Jobs zu sichern. Das Unternehmen erwartet einen drastischen Umsatzrückgang. Weltweit will der Konzern in diesem Jahr alle noch verbliebenen 16.500 Leiharbeiter-Stellen streichen."(...)


"krankheitstage hat sich keiner erlaubt", und die sich u.a. in eben solcher selbstgefährdung ausdrückende bereitwilligkeit, sich selbst von den kapitalisten vernutzen zu lassen, "zahlt sich nun noch nicht mal aus" - so dürfte spekulativ einer der gedankengänge bei den hungerstreikenden sinngemäß lauten. was wäre hier revolutionäres bewusstsein? vielleicht erkenntnisse darüber, dass die leiharbeit nur das i-tüpfelchen auf dem täglichen skandal der kapitalistischen zwangslohnarbeit darstellt, dazu noch die autoindustrie gesamtgesellschaftlich ein auslaufmodell darstellt und noch so bereitwillige verwandlung in arbeitswillige nichts an den benannten fakten und auch nichts daran ändern wird, dass die "arbeitgeber" die leiharbeiter eben nur als kalkulierbare und am leichtesten handhabbare größe in ihren kalkulationen betrachten, die in einer situation wie jetzt eben auch so behandelt werden? vielleicht aber auch ganz praktikable alternativen zur frage, wie diese männer sich selbst und ihre familien zukünftig ernähren können - ohne strukturen, die dazu führen, dass sie selbst, aber auch andere menschen in ganz anderen regionen unter ihrer arbeit bzw. den arbeitsbedingungen und den von ihnen hergestellten produkten zu leiden haben?

der hungerstreik als aktionsform scheint mir jedenfalls mehr als alles andere ein sehr passender ausdruck des eben nicht vorhandenen revolutionären bewusstseins bei den leiharbeitern zu sein - und das zu ändern, dürfte für eine sich als umwälzend begreifende linke tatsächlich in der kommenden zeit - in der mit mehr solcher aktionen zu rechnen ist - eine hauptaufgabe darstellen.

*

und viertens müssen geschichten wie die folgende, welche die inzwischen in den heulenden wahnsinn driftenden systeminternen
widersprüche deutlich machen, breit bekannt gemacht und entsprechend kommentiert werden:

(...)"F. ist arbeitslos und Hartz-IV-Empfänger. 351 Euro vom Staat und der Zuschuss zur Miete reichen kaum zum Leben. F. setzt sich in der Fußgängerzone auf den Boden, stellt Blechdose und Pappschild auf und hofft, dass Passanten ein paar Münzen übrig haben. Er bettelt.

Im Behördendeutsch handelt es sich bei den Almosen allerdings um "zusätzliche Einkünfte von Leistungsempfängern". Der Mann hatte Pech: Ein Sachbearbeiter vom Sozialamt passierte in der Mittagspause die Stelle, an der Klaus F. bettelte, erkannte den Mann und schaute dann - nicht nur einmal - ganz genau hin.

In einem Brief vom Fachbereich Soziales der Stadt Göttingen konnte F. später lesen: "In den letzten Tagen habe ich Sie mehrfach gesehen, wie Sie vor dem Rewe-Supermarkt (...) gebettelt haben. Zuletzt lagen am 3.1. 2009 in der Mittagszeit circa sechs Euro und heute gegen 13 Uhr etwa 1,40 Euro in einer Blechdose."

Der pflichtgetreue Staatsdiener rechnete die Beträge hoch und kündigte an: "Ich beabsichtige daher, (...) einen Betrag von 120 Euro als Einkommen durch Betteln anzurechnen." Künftig werde Herr K. nur noch 231 Euro Unterstützung aus Hartz IV monatlich erhalten.

Noch nie hat das Sozialthermometer in Deutschland eisigere Temperaturen angezeigt. "Uns ist bundesweit kein ähnlicher Fall bekannt", sagt Martin Grönig vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, "so weit unten waren wir noch nie".(...)

Die Göttinger Vorgehensweise, sagt Manfred Grönig vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, verdeutliche aber einen Trend: "In der Sozialpolitik wird an allen Hebeln gedreht." Dass ein Sachbearbeiter sich überhaupt legitimiert fühle, in solch einer Sache aktiv zu werden und nicht einfach weitergehe zeige, "dass die Koordinaten verrutscht sind".

Die Stadt Göttingen hat Klaus F. inzwischen zu seinen Einkünften befragt und den "vorläufigen Bescheid wegen der vorgesehenen Kürzung der Leistungen korrigiert"; zurückgenommen hat sie ihn nicht."


in ihrer exemplarischen weise zeigt diese geschichte in zeiten gleichzeitiger milliardengeschenke an bankster und manager auf, was all das gerede von "sozialer marktwirtschaft" und dem "bestmöglichen system" tatsächlich für einen platz verdient - nur noch den in der mülltonne.

Sonntag, 22. März 2009

assoziation: von simulierten welten

"Wir blicken auf die Megamaschine der Moderne mit ihren explodierenden, implodierenden und zunehmend konvergierenden Mechanismen (`Globalisierung´), also auf dieses ganz und gar Gemachte, Artefaktische, wie auf ein `Natur´-Ereignis, das mit der unberechenbaren Eigendynamik einer Urgewalt über uns hereinbricht und nur noch durch bedingungslose Unterwerfung einigermaßen `beherrscht´ werden kann. Gleichzeitig verwandelt sich die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares: Wir kompensieren unsere sklavische Unterwerfung unter das Diktat der mechanistisch-toten Anonymität durch heroische Selbstgestaltungen, die in dieser Form gar nicht realisierbar sind. Auch wenn uns unsere Welt zunehmend entgleitet, und zwar in entwürdigender Weise, so versuchen wir doch alles, um wenigstens noch eine `gute Figur zu machen´.

Der spätmoderne Mensch präsentiert sich, auf allen Ebenen der Intellektualität, Weltmächtigkeit und auch im Privaten, als ziemlich lächerliche und realitätsflüchtige Figur. Die mentale Selbstversklavung des spätmodernen Typs in Gestalt der erniedrigenden und hoffnungsfrohen Unterwerfung unter den Terror der anonymen Mechanismen und des autistischen Objektivs kann durch nichts in der Welt kompensiert werden."

(j. erik mertz, borderline - weder tot noch lebendig; s. 311; siehe literaturliste)


*

als einstieg in diesen beitrag, den ich durch einige leseerlebnisse anderswo angeregt schreibe, finde ich das obige zitat - mit dem ich damals auch dieses blog begonnen hatte - sehr passend. das "warum" sollte sich in den folgenden absätzen erschliessen.
*

und die beginne ich mit
dieser meldung aus österreich:

"Unerwiderte Liebe hat zu dem Mord mit anschließendem Selbstmord am späten Freitagabend in der Wiener Innenstadt geführt. Bei der Bluttat erschoss in den Räumlichkeiten der Österreichischen Autistenhilfe (ÖAH) in der Eßlinggasse 17 ein 29-jähriges Mitglied einer Autisten-Selbsthilfegruppe eine 24-jährige Studentin und danach sich selbst. Offenbar hatte sie seine Liebe zu ihr nicht erwidert, wie ÖAH-Vizepräsidentin Ruth Renee Kurz am Samstagvormittag schilderte.(...)

Er schoss mit dem Gewehr mehrfach auf die 24-Jährige, die in einem Wiener Studentenheim lebte. Die anderen Gruppenmitglieder brachten sich schwer geschockt in Sicherheit. Dann tötete er sich selbst in einem Nebenraum. Seper: "Es deutet alles darauf hin, dass es sich um eine Beziehungstat gehandelt hat."(...)

Fraglich ist, was den 29-Jährigen zu der Tat getrieben hat. Gerade bei Autisten seien solche Handlungen sehr ungewöhnlich, so Kurz: "Normalerweise ist es so, dass Autisten, wenn sie überhaupt zu Aggressionen neigen, diese eher gegen sich selbst richten. Gerade diese Kinder brauchen besonders viel Liebe, weil sie so übersensibel sind, viel sensibler als wir alle." Der ÖAH-Vizepräsidentin zufolge hat der Täter vor kurzem eine Bezugsperson durch Todesfall verloren, was seine Situation zusätzlich schwierig gemacht haben könnte."(...)


innerliches aufstöhnen war meine erste reaktion bei ansicht dieses artikels, und das bezieht sich vor allem auf den völlig unreflektierten gebrauch einiger worte - da wäre einmal das behauptete tatmotiv in gestalt der "unerwiderten liebe" - dazu hatte ich bezgl. verdinglichender wahrnehmungsmodi in der vergangenheit etwas geschrieben, was ich jetzt nochmal
zitiere:

"ich frage mich immer, wann sich endlich herumsprechen wird, dass menschen andere menschen, die auch als menschen wahrgenommen werden, unmöglich besitzen können /wollen. diese besitzidee könnte ihre basis in einer konstellation "ich vs. mein körper" als selbstwahrnehmung haben - und hat bereits dann, wenn nämlich diese konstellation in der selbstwahrnehmung dominant ist, eine gewisse pathologische qualität (ja, ganz recht, unser westliches normalbewußtsein...). anders: "besitzen" lassen sich nur dinge - oder eben menschen, die durch eine defekte wahrnehmung in dinge verwandelt werden. was mich zu einer etwas überraschenden assoziation bezgl. sogenannter "eifersuchtsmorde" bringt, die angeblich immer durch "übergroße liebe" verursacht werden. vielleicht existieren auch hier zwei qualitativ grundsätzlich verschiedene zustände von eifersucht: einmal eine authentisch-menschliche form, die durch schmerz über zurückweisung und (getriggerte) verlustgefühle (trauer!) auch älterer herkunft gekennzeichnet ist. und zum anderen eine "als-ob-eifersucht", bei der das wort liebe völlig fehl am platze ist, und die sich eben durch die kränkung durch den verlust eines für einen selbst wertvollen objektes auszeichnet. liebe lässt los, wenn auch unter schmerzen - die immer wiederkehrenden morde jedoch lassen ganz und gar nicht los, vernichten das ding lieber, und erkennen damit auch nicht die existenz einer anderen persönlichkeit als eigene qualität an. und das ist von liebe welten entfernt, wie ich finde."

ich sehe keine gründe, das obige grundsätzlich zu revidieren - wer bezgl. solcher eifersuchtsmorde ernsthaft von tatmotiven aus "liebe" redet, muss sich meiner meinung nach dringend mit seinem liebesbegriff auseinandersetzen. und natürlcih beschreibt das letzte zitat eine strukturell autistische position, die sich - versteckt - ebenso als psychophysische ausstattung bei vielen "normalen" und nicht als explizit autistisch diagnostizierten wiederfindet.

der täter im aktuellen fall hat gleich mehrfach auf die angebliche "geliebte" geschossen - mal ehrlich, wer soll diesen sprachgebrauch bei so einem deutlich an den tag tretenden vernichtungsdrang noch ernstnehmen? das gleiche gilt für den ausdruck "beziehungstat", der hier primär der verschleierung der sich aus den genannten fakten ergebenen offenkundigen tatsache dienen soll, dass eben keine (authentische) beziehung vorhanden gewesen sein dürfte.

das bei menschen mit diagnosen aus dem "klassisch" autistischen spektrum mordaktionen eines solchen kalibers "sehr ungewöhnlich" sein sollen, mag bei betrachtung der relationen zu den taten der "nt`s" (autistischer "slang" für die angeblich "neurologisch typischen") der fall sein - mir sind keine diesbezgl. statistiken bekannt, aber es existieren genügend hinweise dafür, dass auch diagnostizierte autisten durchaus in der lage sind, ihre aggressionen in extrem destruktiver manier nach außen zu richten - beispiele
hier und hier.

das es dazu tatbegünstigende umstände wie den benannten todesfall im umfeld des täters geben kann, halte ich für möglich. hingegen ist die behauptete sensibilität wieder etwas, was meiner meinung nach nicht mit pauschal mit der authentischen sensibilität gleichgesetzt werden darf - in den bisherigen blogbeiträgen zum thema autismus sollte deutlich geworden sein, dass es sich um eine schwere psychophysische störung besonders der sozialen (beziehungs-)fähigkeiten handelt, die u.u. kompensatorisch durch allerlei objektivistische simulationen "ersetzt" werden, was speziell für den versteckten strukturellen autismus gilt. das gilt es durchaus zu unterscheiden von der situation, in der sich bspw. schwer autistische kinder befinden, bei denen bezgl. spezieller wahrnehmungen durchaus so etwas wie eine übersensibilität zu verzeichnen ist. ich möchte nur in frage stellen, dass sich diese ausgerechnet auf die wahrnehmung sozialer beziehungen entwickelt. davon abgesehen: ich würde einen 29jährigen nicht mehr unbedingt als "kind" betrachten, selbst wenn diese bezeichnung seitens der zitierten leiterin der öah metaphorisch für den inneren entwicklungsstand des täters gemeint gewesen sein sollte.

als vorläufiges fazit möchte ich festhalten, dass anhand einer solchen tat für mich speziell am punkt der selbst- und fremdwahrnehmung bei sog. "beziehungs"tätern deutlich wird, dass die " klassischen" autisten bzw. ihre existenzweise sehr viel mehr mit den wahrnehmungsmodi scheinbar ganz "normaler" menschen zu tun haben, als uns allen lieb sein kann. und das gilt genauer gesagt nicht nur für solche taten, sondern
auch andere.

*

von anscheinend "privaten" welten, in denen simulierte und konstruktivistische "liebe" solche mörderischen folgen nach sich ziehen kann, springen wir in die öffentlichen - bei kritik und kunst ist mir ein aktueller beitrag mit dem titel
Die simulierte Welt: Von den Lügen der Mächtigen besonders ins auge gefallen - der text beschäftigt sich anlässlich der krise besonders mit der einerseits zu beobachtenden realitätsflucht bzw. -verdrängung seitens der sog. "eliten", die andererseits mit einem von aussen als schon starrsinnig zu betrachtenden festhalten an den systemtragenden simulationen, fakes und als-ob-konstrukten untrennbar zusammenhängt. hartmut finkeldey macht das u.a. an den notorisch verzerrenden statistiken zur erwerbslosigkeit fest:

(...)"Das kommt bei der infamsten wirtschaftspolitischen Lüge, dem infamsten "image", das der Neoliberalsimus in den letzten Jahren kreierte, sinnfällig zum Ausdruck. Ich meine die Lüge vom "Wirtschaftswunder 2.0", die Lüge des "die Reformen wirken, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Kaufkraft steigt" etc. Alle öffentlich zugänglichen Zahlen belegten damals, 2006 und 2007, problemlos, dass weder die Erwerblosigkeit real zurückging, noch die Kaufkraft der Bevölkerung stieg. Dennoch erlebten wir damals monatlich das gleiche Ritual: Es wurden real gar nicht existente "Erfolge am Arbeitsmarkt" verkündet, die GfK konstatierte einen "Anstieg der Konsumlaune" - und dass der Konsum real gar nicht stieg (und nicht steigen konnte, da ja die Kaufkraft fehlte), fand sich dann irgendwann auf Seite 15 unten in einer kleinen Meldung, wenn überhaupt.

Und dieser Vorrang des Virtuellen, diese Schein-Problemlösung (das Arbeitslosenproblem wird per Fake "gelöst") in einer Schein-Welt (die Reformpolitik bewirkt, das es "allen besser geht"), diese gespenstische Simulation ist alles andere als lediglich harmlose Real-Satire. Denn in einer Welt,in der Vollbeschäftigung simuliert wird, es real aber sehr wohl Erwerblose gibt, fallen die realen Erwerblosen eben als Überflüssige aus der Welt. Sie werden gleichsam weggekürzt. Wie schon gesagt: Aus naheliegenden Gründen - denn wenn die Wirklichkeit mit meiner Ideologie nicht übereinstimmt, desto schlimmer für die Wirklichkeit! - verbindet sich mit einer solch gespenstisch herbeisimulierten Welt die Neigung, die wirkliche Welt der Simulation anzupassen, und sei es durch Gewalt. Denn reale Erwerblose in einer fast schon der Vollbeschäftigung zustrebenden Welt darf es ja gar nicht "geben", sie müssen ja selbst schuld sein - und dürfen somit erbamungslos der Scheinwelt angepasst werden. Durch Sanktionen, Schikanen, verweigertes Geld. So stellt sich dann per Gewalt im Idealfall wirklich ("wirklich"!) die Arbeitslosenquote Null her..."(...)


das ist meiner meinung nach ein gut beschriebenes beispiel für den ständigen versuch der ersetzung der realität durch simulierte pseudo- bzw. als-ob-realitäten. ich möchte das nur noch dahingehend ergänzen, dass ich das problem tiefer sehe: wie der verlinkte beitrag schon selbst beschreibt, handelt es sich bei simulationen einer solchen dimension keinesfalls um "gewöhnliche" lügen; und das nicht primär deswegen, weil hier eine große zahl von personen an der systematischen konstruktion solcher als-ob-realitäten beteiligt ist, sondern eher deswegen, weil die virtuellen welten mutmaßlich für eine größere zahl der in "politik" & wirtschaft handelnden protagonisten die ihnen
einzig mögliche existenzweise darstellt - und warum die inneren strukturellen merkmale pathologischer art bei einzelnen menschen durchaus gesamtgesellschaftlich fatale folgen nach sich ziehen können bzw. gleichfalls ausdruck gesellschaftlicher verhältnisse darstellen, habe ich in anderen beiträgen schon öfter versucht, aufzuzeigen.

eine weitere assoziation zum empfehlenswerten k-u-k-beitrag noch:

(...)"Im Bereich des Politischen sind wir, spätestens, seit mithilfe von Massenmedien Legitimation hergestellt werden muss, mit einem Phänomen konfrontiert, das Arendt als "image-making" problematisiert hat. Dieses Image-making, diese Manipulation der Wirklichkeit im Bereich der Politik ist eben gerade kein punktuelles Lügen. Politik findet dann unter offenkundig falschen, erlogenen Voraussetzungen statt. Es handelt sich hier keineswegs um ein Oberflächenphänomen. Denn die Manipulierer sind gezwungen, wie Arendt richtig sah, die Wirklichkeit ihren Manipulationen anzupassen. Und es handelt sich dabei mitnichten nur um gefahrlose Flunkerei (etwa, wenn irgendwo Jubelperser hinbestellt werden, was ja manchmal, jüngst bei Sarkozy, auch eine heitere Note hat).

"Die Täuscher wie die Getäuschten müssen, schon um ihr "Weltbild" intakt zu halten, sich vor allem darum kümmern, daß ihr Propaganda-"Image" von keiner Realität gefährdet wird."(Arendt, Hannah, aaO, p. 359)


das, was da im zitat von hannah arendt beschrieben wird, ist aus meiner sicht nichts anderes als angewandter konstruktivismus, wie er auch als grundlage und technik in dem nicht zufällig in elitären kreisen beliebten sog.
neurolinguistischen programmieren benutzt wird, welches primär zum ziel hat, die eigenen fiktionen (die grenze zu klinisch relevanten wahngebilden ist hier mehr als fließend) als "realität" wahrzunehmen. es wäre eine durchaus interessante sache, mal bei gelegenheit nachzuforschen, wieviele der jetzt von der authentischen realität so in die bredouille gebrachten bankster, manager und die sie hofierenden politiker mittels nlp-methoden "gecoacht" worden sind, die tatsächlich darauf hinauslaufen, "die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares" zu verwandeln, wie mertz es ausdrückt. einige bekannte beispiele sind im verlinkten beitrag zu nlp anfangs schon genannt.

*

in einem ganz anderen zusammenhang beschäftigt sich gleichfalls robert kurz in einem
interview - ebenfalls anläßlich der aktuellen krise - mit der virtualisierung sozialer zusammenhänge, speziell innerhalb linker theorie & praxis - und ich möchte dabei explizit auf den benannten aspekt eingehen (wobei das schon als teil meines zuletzt angekündigten antwortversuchs hinsichtlich der demonstrationen am kommenden wochenende betrachtet werden kann):

(...)"Warum ist die Schande der Krise auch die Schande der postmodernen Linken?

Die Krise ist keine Schande, sondern ein objektiver Prozess, der aus der blinden Dynamik von Konkurrenz und unkontrollierter Produktivkraftentwicklung resultiert. Hinsichtlich der postmodernen Linken kann man insofern von einer Schande sprechen, als sie die Kritik der politischen Ökonomie größtenteils über Bord geworfen hat. Der „Ökonomismus“ der traditionellen Parteimarxisten wurde nur kritisiert, um die negative Objektivität der kapitalistischen Kategorien von „abstrakter Arbeit“ und „Verwertung des Werts“ gleich ganz zu entsorgen. Die Krisendynamik des Kapitalismus wurde völlig verkannt und in „unbegrenzte Möglichkeiten“ umgedeutet. Wie die neoliberalen Eliten glaubte die postmoderne Linke an das „finanzgetriebene Wachstum“ und machte sich zu einem ideologischen Ausdruck des fiktiven Kapitals. Den ökonomische Virtualismus ergänzte der technologische Virtualismus des Internet. Das „second life“ im virtuellen Raum mutierte zur „eigentlichen“ Lebensform, die angebliche „immaterielle Arbeit“ (Antonio Negri) zur Fortsetzung der kapitalistischen Arbeitsontologie.(...)

Der falsche ökonomische und technologische Virtualismus schlug sich philosophisch in einer Erkenntnistheorie nieder, die den fetischistischen „realen Schein“ des Kapitalverhältnisses nicht mehr kritisieren und überwinden wollte, sondern zu dem Glauben verführte, sich in diesen Verhältnissen „selbst verwirklichen“ zu können. Das „eiserne Gehäuse“ (Max Weber) des warenproduzierenden Systems wurde den virtualistischen Illusionen entsprechend in eine jederzeit und für alles offene „Ambivalenz“ und „Kontingenz“ umdefiniert, die beliebig begehbar zu sein schien. Wahrheit, auch die negative Wahrheit der Kritik, sollte keine objektive Grundlage in den Verhältnissen mehr haben, sondern als „produzierbar“ und „verhandelbar“ gelten. Das negative Wesen des Kapitals löste sich für die postmoderne Linke in eine unbestimmbare „Vielfalt“ von Erscheinungen auf, die sich als zusammenhanglose „Vielfalt“ sozialer Bewegungen ohne Fokussierung auf den harten Kern des Kapitals darstellen sollte.

In sozialer Hinsicht war die postmoderne Linke ein Trendsetter der kapitalistischen Individualisierung und Flexibilisierung. Das abstrakte Flexi-Individuum wurde nicht als Krisenform des bürgerlichen Subjekts erkannt, sondern zum Vorschein befreiter Individualität schon innerhalb des Kapitalismus verklärt. Statt als letzte Daseinsform des totalitären Marktes und als drohender „Krieg aller gegen alle“ in der universellen Krisenkonkurrenz erschien die Individualisierung als atomisierte Form der „Selbstverwirklichung“ und der „flexible Mensch“ (Richard Sennet) nicht als hilflos getriebenes Objekt kapitalistischer Zwänge, sondern als „Souverän“ seiner selbst, der neue Spielräume gewinnen und alles aus sich machen könne. Die Nähe des postmodernen Denkens zur neoliberalen Ideologie war trotz aller äußeren Gegensätze immer unverkennbar. Jetzt steht die postmoderne Linke vor den Trümmern ihrer Illusionen und wird mit der harten Realität einer epochalen Krise konfrontiert, die sie von Anfang an nicht wahrhaben wollte und auf die sie deshalb nicht vorbereitet ist."(...)


mal von dem spezifischen hintergrund der kurzschen "wertkritik", die ich hier nicht weiter erläutern kann und will, abgesehen, ist der obige befund für mich durchaus schlüssig - wenn dazu die notwendige benennung der dazugehörigen psychophysischen prozesse (wie traumatisierungen, ihre möglichen folgen und auch die gesellschaftliche verbreitung antisozialer bis soziopathischer pathologien) erfolgt, die ich sowohl als ausdruck wie auch gleichfalls als motor der hier leider wieder mit dem falschen ausdruck "individualisierung" bezeichneten prozesse begreife - es geht um vereinzelung und die zerstörung sozialer zusammenhänge bzw. deren versuchte ersetzung durch konstruktivistische und simulative surrogate, für die seit der verbreitung von computern und internet gewaltige und historisch neue möglichkeiten vorhanden sind (nebenbei: ich bezweifle, dass die dynamik der aktuellen krise ohne computer so möglich wäre).

die benannte postmoderne ist dabei aus meiner persepktive identisch mit der anfangs von mertz erwähnten "spätmoderne", auch wenn dieser die postmoderne in seinem modell bereits als erledigt ansah. und wenn ich hier im blog von der ersteren spreche, so meine ich auch immer die letztere.

es steckt sehr viel im zitat von kurz, auf das ich nur unzureichend eingehen kann - und der satz "Die Nähe des postmodernen Denkens zur neoliberalen Ideologie war trotz aller äußeren Gegensätze immer unverkennbar." ist ein volltreffer in der hinsicht, als das er viele fragmente politischer, ökonomischer, sozialer und gerade auch kultureller entwicklungen, die hier im blog auch schon als explizite probleme begriffen worden sind, in den meiner meinung nach realistischen größeren zusammenhang bringt.

die postmoderne linke hat sich dieses attribut vor allem dadurch "verdient", in dem gerade in ihren sog. popkulturellen und auch gender-politischen fraktionen die dominanz konstruktivistischer ansätze ein ausmaß angenommen hat, welches zwangsläufig in ganz eigene formen der als-ob-welten führen musste - ohne irgendwann noch begreifen zu können, dass all diese welten sowohl untrennbar mit der authentischen sozioökonomischen realität nicht nur verbunden sind, sondern darin ihre grundlagen besitzen; als auch ausdruck von problematischen bis offen pathologischen entwicklungen darstellen - das hatte ich hinsichtlich der debatten zu sex und gender und ihrer betonung von nötigen dekonstruktionen geschlechtlicher identitäten in früheren beitragen bspw.
so ausgedrückt...

"konstruierte identitäten, die bis heute den kern der gesellschaftlichen geschlechterstereotypen bilden, sind beliebig austausch- und natürlich auch dekonstruierbar - aber das eigentliche problem versteckt sich eher dahinter: konstruierte identitäten bilden primär krücken für diejenigen, die aufgrund psychophysischer schäden die (körperlichen) grundlagen ihrer eigenen authentischen identität entweder nicht (mehr) wahrnehmen oder aber deren grundlagen erst gar nicht entwickeln konnten."

...oder auch
so:

"warum aber sollte jemand, der/die sich in sich und seiner/ihrer körperlichkeit sicher und wohl fühlt, den wunsch entwickeln, sich eben von dieser körperlichkeit und den damit untrennbar verbundenen vielfältigen beschränkungen und grenzen "befreien" zu wollen, sich eine neue identität verschaffen zu wollen? es macht, egal aus welcher perspektive betrachtet, keinen sinn - es macht aber dann einen sinn, wenn die ureigene menschliche körperlichkeit eben nicht mehr oder nur noch fragmentarisch als eigenes selbst empfunden wird bzw. werden kann - die bewegung hin zu fiktiven sphären, in denen die heimat ebenso fiktiver selbstentwürfe oder der konstruktion von mächtigen wesen zu suchen ist, stellt sich aus dieser perspektive als eine determinierte, also unfreie und defensive reaktion auf tatsächlich unerträgliche realitäten dar. und das ist eben vielleicht auch am besten in jenen feministischen strömungen zu sehen, die ernsthaft in der "befreiung" von der eigenen körperlichkeit letztlich eine tendenz weiterführen, die ebenso ein nietzsche in seinem konzept vom "übermenschen" bereits entwirft. zufällig ist das weder im einen noch im anderen fall - gerade frauen haben eine vielfältige und leidvolle erfahrung mit angriffen auf die eigene subjektivität und körperlichkeit (bei männern dürfte das imo ebenfalls eine rolle spielen, wobei hier die bereits sowieso weiter fortgeschrittene entfremdung von eigener körperlichkeit und sinnlichkeit eine rolle spielt)."

und hinsichtlich der sog. poplinken, von denen in einer ihrer verfallsformen nur noch ein durchaus positiver, aber "irgendwie kritisch" gemeinter bezug auf sog. "bewusstes konsumieren" übriggeblieben ist (dazu gehören auch durchaus alle fragen des sog. styles), findet sich hier ein passendes zitat einer rezension des buches
"fake for real":

(...)"Das Bedenkliche daran ist, dass in die Simulation politischen Handelns nur allzu gerne eingewilligt wird. Judith Mair und Silke Becker, altersmäßig der als apolitisch gescholtenen Generation Golf zugehörig, ziehen in ihrem Buch "Fake for real. Über die private und politische Taktik des So-tun-als-ob" erleichtert den Schluss, dass die Ära der "Objektivitätsapostel" mit ihren ideologischen Scheuklappen endgültig überwunden sei. Statt großen Posen in der politischen Arena empfehlen die beiden Autorinnen smartes Verhalten in der Warenwelt: "Als aktive Konsumenten sind wir zugleich immer auch konsumierende Aktivisten, die sich aus einem gut bestückten Freizeitparksortiment und Supermarkt das herauspicken, was ihrer ,politischen Gesinnung' nahe kommt."

Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis vieler Menschen in den Dreißigern, die statt von Bebel von Baudrillard gelernt haben, politische Gesinnung nur noch in Anführungszeichen denken zu können. Der Austausch von widerstreitenden Positionen, die Geltungsansprüche von Welterklärungsmodellen wird mit Kusshand den "immergleichen selbsternannten Diskurshoheiten" (Mair/Becker) überlassen. Man selbst wähnt sich in der pfiffigeren Position und verfolgt amüsiert das Politainment der Titanic-Partei und die situationistischen Einflüsse bei Guido Westerwelle.

Die schonungslose Analyse hat man drauf, klar, doch um das Eingeständnis, über die jahrelangen Dekonstruktionsarbeiten irgendwie auch seinen Politikbegriff verloren zu haben, drückt man sich noch herum."(...)


das traf schon damals - vor fast vier jahren - genau den punkt, der bei robert kurz jetzt genauer ausgeführt wird.

umso ärgerlicher finde ich, dass er - sozusagen auf einer weiteren metaebene - das zugrundliegende problem der zentralen verleugnung der tatsache, "das menschen beziehungswesen aus fleisch und blut" (mertz) sind, und die nichtberücksichtigung der konsequenzen aus dieser elementaren basis für alle nur denkbare sozialität ebenfalls weiterführt, und zwar mit folgendem absatz aus dem interview:

(...)"Für eine neue soziale Emanzipationsbewegung geht es nicht mehr darum, ein „objektives Subjekt“ wachzuküssen, sondern ohne ontologische Rückversicherung die Subjektform überhaupt zu kritisieren und als kapitalistische Daseinsform zu dechiffrieren. Die Form „Subjekt“ kann immer nur ein Agent des „automatischen Subjekts“ von Kapitalverwertung sein und darf nicht mit dem Willen zur emanzipatorischen Aktion verwechselt werden, der sich selbst konstituieren muss und keine ontologische Grundlage haben kann. Das ist schwer zu denken, weil gerade die postmoderne Linke die Kritik des Subjekts aufgegeben hat (so ist der späte Foucault zur Beschwörung des partikularisierten Subjekts zurückgekehrt). Diese Kritik ist vor allem deshalb gescheitert, weil sie nicht mit der Kritik der politischen Ökonomie vermittelt war."(...)

ich betrachte das "subjekt" im kapitalismus immer als ein als-ob-subjekt, weil es sich von seinen dominierenden psychophysischen funktionsweisen her betrachtet eher um ein schwer beschädigtes subjekt handelt, welches diese beschädigungen - die sich vor allem im gesamten bereich der sozialen beziehungen manifestieren - kompensatorisch versucht, mittels verdinglichung/objektivierung seiner selbst und auch aller anderen, genauer gesagt alles lebendigen anderen, auszugleichen - es geht also um überlebensversuche, die bei einer postulierung des subjekts als "eigentlich überflüssig" an stärke und verzweiflung nur noch zunehmen werden. die sog. subjektform, die kurz als identisch mit der "kapitalistischen daseinsform" begreift, ist aus meiner perspektive eigentlich keine authentische subjektform mehr, besser gesagt, es ist ihre totale negierung: nämlich der
soziopath (unabhängig davon, unter welchen namen diese extreme manifestation der kapitalistischen normen in körperlicher gestalt nun historisch bisher aufgetreten ist). hier haben wir den meiner meinung nach einzigen tatsächlichen fall, in dem das subjekt aufgrund psychophysischer prozesse tatsächlich zu einer art objekt im totalitären, d.h. allumfassenden sinne, und damit zur kapitalistischen daseinsform, geworden ist.

es bedarf zu einer tatsächlichen emanzipation bei den meisten menschen also eher des zurückdrängens der objektivistischen, konstruktivistischen und simulativen prozesse, was ich gleichbedeutend mit gesundung begreifen würde - und zwar nicht mit einer gesundung im sinne kapitalistischer verwertungs- und leistungsfähigkeit, wie hoffentlich klar sein sollte. wir brauchen gerade mehr authentische subjektivität und auch individualität, um zur authentischen kollektivität zu kommen!

User Status

Du bist nicht angemeldet.

US-Depeschen lesen

WikiLeaks

...und hier geht´s zum

Aktuelle Beiträge

Es geht ihm gut? Das...
Es geht ihm gut? Das ist die Hauptsache. Der Rest...
Grummel (Gast) - 23. Jan, 21:22
Im Sommer 2016 hat er...
Im Sommer 2016 hat er einen Vortrag gehalten, in Bremen...
W-Day (Gast) - 23. Jan, 14:49
Danke, dir /euch auch!
Danke, dir /euch auch!
Grummel - 9. Jan, 20:16
Wird er nicht. Warum...
Wird er nicht. Warum auch immer. Dir und wer sonst...
Wednesday - 2. Jan, 09:37
Ich bin da, ein Ping...
Ich bin da, ein Ping reicht ;) Monoma wird sich...
Grummel - 15. Sep, 16:50
Danke, Grummel. Das Netzwerk...
Danke, Grummel. Das Netzwerk bekommt immer grössere...
Wednesday - 13. Sep, 10:02
Leider nicht, hab ewig...
Leider nicht, hab ewig nix mehr gehört.
Grummel - 12. Sep, 20:17
Was ist mit monoma?
Weiss jemand was? Gruß Wednesday
monoma - 12. Sep, 14:48
Der Spiegel-Artikel im...
Den Spiegel-Artikel gibt's übrigens hier im Netz: http://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-45964 806.html
iromeister - 12. Jun, 12:45
Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

Suche

 

Status

Online seit 7223 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Besuch

Counter 2


assoziation
aufgewärmt
basis
definitionsfragen
gastbeiträge
in eigener sache
index
kontakt
kontext
lesen-sehen-hören
notizen
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren