Samstag, 17. April 2010

notiz: eyjafjallajökull [update]

"Der unaussprechliche Vulkan stemmt sich nicht nur sprachlich gegen den mainstream, sondern ist konsequent und schreitet auch in der Praxis zur anarchistischen Tat. Vorbildlich ! Bravo !". yo ;-) ein beeindruckender vulkan auf einer sympathischen insel - wunderschöne photos gibt´s hier - mein favorit ist die nummer 17. es ist immer wieder nötig, den größenwahn besonders der "zivilisierten" menschlichen welt auf normalmaß herunterzuholen. und letzteres darf aktuell wortwörtlich verstanden werden.

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edit am 18.04.: ich finde solche ereignisse - wie auch andere naturphänomene wie erdbeben, tsunamis, tornados, hurricanes etc. - deswegen so faszinierend, weil sie trotz all ihrer zwar potenziell traumatischen, aber unpersönlichen gewalt jedes mal eine sehr nachdrückliche erinnerung an unsere spezies vermitteln: nämlich die, dass wir ein untrennbarer teil der gesamten planetarischen bios- und geosphäre sind, und unser gesamtes soziales leben nicht nur in engen wechselwirkungen mit den diesbezgl. aktivitäten steht, sondern schlicht auf dieser basis beruht. ebenso wie bspw. die großen seuchen des mittelalters können auch geologische und meteorologische gewalten nicht nur einzelne gesellschaften, sondern im extremfall ganze kontinente bzw. ihre menschliche bevölkerung mit krassen und nachhaltigen brüchen in ihrem sozialen leben konfrontieren und den "lauf der geschichte" in völlig andere richtungen lenken. gerade der isländische vulkanismus hat da aller wahrscheinlichkeit nach schon früher mindestens ein prägnantes
beispiel für geliefert:

(...) "Aktuell besteht jedoch noch kein Anlass zur Sorge, dass unser Sommer unterkühlt ausfällt, beruhigt Karsten Haase: "Momentan reicht die Menge an freigesetztem Schwefeldioxid noch nicht aus, um das Klima zu beeinflussen." Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass isländische Vulkane das Wetter in Europa beeinflussten: "1783 fand auf der Insel eine sehr starke Eruption statt, während der enorme Mengen Lava freigesetzt wurden. Ganz Europa war davon massiv betroffen."

Damals brach der Vulkan Laki aus und schickte seine Schwefelfracht ostwärts: Rund 120 Millionen Tonnen Schwefeldioxid könnten damals den Himmel getrübt haben, schätzt der britische Geologe Colin Macpherson von der University of Durham - das Dreifache dessen, was Europas Industrie im Jahr 2006 produzierte. Die Folgen waren verheerend: Auf Island starben tausende Menschen an einer Hungersnot, weil Felder verwüstet wurden und das Vieh starb. Großbritannien und weite Teile Kontinentaleuropas lagen unter einer quasi konstanten Nebeldecke und mussten 1783/84 durch einen extrem kalten Winter, der ebenfalls viele Opfer forderte. Womöglich wurde sogar die Französische Revolution durch die vulkanischen Kalamitäten mit ausgelöst: Die dadurch verursachten Wetterextreme vernichteten Ernten und töteten das Vieh, was die verarmte und ausgezehrte Bevölkerung schließlich zum Aufstand trieb." (...)


nebenbei gesagt, ist der verlinkte artikel, aus dem das obige stammt, eindeutig einer der besten mir bekannten, die bisher zum aktuellen ausbruch und seinen folgen veröffentlicht worden sind - tipp! davon abgesehen, lässt sich bei der betrachtung des gesamten irdischen vulkanismus vor dem hintergrund der aktuellen folgen der isländischen asche lebhaft vorstellen, wie die heutigen hochindustrialisierten gesellschaften regelrecht kollabieren würden, wenn zb. einer der bekannten
supervulkane wie der yellowstone in den usa ausbrechen würde - ereignisse, die schon öfter in der vergangenheit zu zuständen geführt haben, die sich aus menschlicher sicht nur als globale katastrophe bezeichnen lassen; incl. mehrjährigen drastischen klimaveränderungen mit allen folgen für flora und fauna. die heutige welt ist nicht zuletzt von solchen ereignissen nachhaltig geprägt worden - eine art schöpferische zerstörung.

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aktuell ist auf island kein ende des ausbruchs abzusehen, und auch die meteorologischen bedingungen sprechen nicht dafür, dass sich die aschewolken schnell verflüchtigen würden. kein wunder also, dass die luftfahrtbranche langsam sehr nervös wird und laut diversen medienberichten beginnt, das flugverbot in frage zu stellen. hier bahnt sich ein schwerer konflikt zwischen profitinteressen und menschenleben an, der direkt auf weitere anstehende, strukturell ähnliche großkonflikte in unseren gesellschaften in den kommenden jahren verweist - ganze industriezweige und wirtschaftsgebiete werden u.a. durch peak oil in ähnliche situationen geraten, wenn deutlich wird, dass die materielle basis bestimmter industrien einfach nicht mehr aufrechterhalten werden kann. wenn der vulkan die nächsten wochen und monate weiter aktiv wäre, käme es auch immer wieder zu passenden wetterlagen, in denen die asche nach europa gelangen würde - die folgen für den luftverkehr - den ich persönlich zu großem teilen für überflüssig und ersetzbar halte - wären ein desaster. von daher ist das derzeitige gemotze schon verständlich, aber nicht nur den betreffenden managern, sondern auch den inzwischen wieder auf der bildfläche erscheinenden verschwörungstheoretikern sei dieser
bericht aus finnland vom vergangenen freitag empfohlen, in dem die finnische luftwaffe von eigenen erfahrungen mit der asche (incl. photos) am vergangenen donnerstag berichtet - die haben schlicht sehr viel glück gehabt mit ihren maschinen.

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bestenfalls kann der vulkan bei entsprechenden bedingungen hier in wichtigen teilbereichen, die auf dem luftverkehr beruhen - u.a. tourismus, just-in-time-produktion etc. - für ein phase der längeren entschleunigung sorgen. und das wäre dann mal eine wirklich beeindruckende einmischung natürlicher gegebenheiten ins menschliche treiben, zumal es zumindest bisher keine todesopfer gefordert hat. schlimmstenfalls sind dieser ausbruch wie auch die auffällig vielen schweren erdbeben der letzten monate aber auch das indiz für eine phase global gesteigerter geologischer aktivitäten, die sich dann zu folgen akkumulieren können, die nicht mehr als entschleunigung, sondern nur noch als gegen-die-wand-fahren-lassen der menschlichen gesellschaft generell bewertet werden können. machen könnten "wir" dagegen garnix, und so bleibt - wiedereinmal - im angesicht der naturgewalten als vielleicht wichtigste lektion die demut übrig, die uns in aller wünschenswerten deutlichkeit an unseren platz im gefüge der natürlichen beziehungen erinnert - wenn nötig, auch mit dem holzhammer.

Donnerstag, 15. April 2010

notiz: georg schramm - eine trauerrede

hatte mir schon am dienstag in der "anstalt" gefallen; er verpackt da eine harsche kritik in ungewöhnliche formen. zwei tage später aktueller denn je, und wenn man sich die statements unserer sog. "regierenden" anhört, befürchte ich, dass ich die rede künftig wöchentlich so zwei-, dreimal immer wieder ins blog stellen muss...

Sonntag, 11. April 2010

assoziation: nicht wirklich fröhliche gedanken an einem dämmernden frühlingssonntagabend

"klassische" gefühle von innerer leere überkommen mich heute immer wieder, habe mich scheint´s zu sehr den zuständen gewidmet. und das bedeutet ja keinesfalls bzw. noch nicht mal überwiegend die distanziert-objektivistische betrachtung, sondern die zustände gehen an die nieren - irgendwie eine treffende metapher - und bringen die neuronen in hirn und nervensystem/-en (nicht das enterische vergessen) ihrerseits in zustände, die sich dann als bedrückende und belastende emotionen und gedanken manifestieren. aber schreiben kann ja zumindest manchmal therapeutische wirkung entfalten - nun denn.

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als fortsetzung meiner kleinen letztjährigen reihe mit dem versuch, die
folgen der (ökonomischen) krise hierzulande etwas mehr zu fassen zu bekommen, kann ich ganz persönlich feststellen, dass ich die von mir heimlich befürchteten auswirkungen gerade im sozialen bereich mehr und mehr auch in meinem umfeld wahrnehme - es ist deutlich die tendenz vorhanden, sich auf die "allerprivatesten" dinge, umstände, situationen und orte zurückzuziehen. "politik" (als sammelbegriff für alles "öffentliche") wird zusehends gar nicht mehr oder aber nur noch mit kurzen zynismen kommentiert und wahrgenommen. der wunsch, eine zusehends unbegreiflichere und vor allem auch bedrohlichere welt einfach mittels türzuschlagen "draußen" stehen zu lassen, ist ja verständlich (und ich setze das - immerhin inzwischen meist sehr bewusst - selbst ein, um die nötigen ruhepausen zu finden). andererseits: was sagt es über die zustände unserer welt aus, wenn "wir" uns zunehmend defensiv verhalten, zurückziehen und die einzige "utopie" noch darin besteht, "privat" möglichst angenehm über die runden zu kommen?

mal abgesehen davon, dass letzteres gar nicht funktionieren kann ("die welt" wird beizeiten alle scheinbar fest verschlossenen türen schlicht eintreten und aus den angeln heben), erzählt das beobachtete für mich auch laut und deutlich von allgemeiner überforderung. ein burn-out bzw. das, was sich hinter dieser diagnose alles verbergen kann, ist nichts, was alleine am (lohn-)arbeitsplatz entsteht - es ist eine frage aller lebensbereiche und ein symptom für eine umfassende dysfunktionalität - zunächst im weiteren und nahen sozialen beziehungsgeflecht, dann bzw. parallel zwangsläufig auch individuell psychophysisch.

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es ist eine gefährliche situation, wenn sich solche zustände nicht nur vereinzelt manifestieren, sondern als quasi symptomatisch für die verfassung ganzer gesellschaften wahrgenommen und auch hingenommen werden. dieses letztere nun lässt sich mit einigem recht als ausdruck auch von umfassenden legitimations- und letztlich sinnkrisen betrachten - medial wird sich diesen alarmzeichen dann am beispiel eines
nachbarlandes zb. so genährt:

(...) "In Frankreich kriecht gelbe Galle durchs Land. Das Volk misstraut allem und jedem: dem Staat, den Parteien, den Medien. Den Kirchen sowieso. Erst recht den Unternehmen. Und untereinander hegen viele Franzosen ebenfalls Argwohn. Nur ein Fünftel von ihnen glaubt noch, man könne sich gemeinhin auf Mitmenschen verlassen." (...)

mal alle berechtigten fragen nach der plausibilität und repräsentativen aussagekraft von studien wie solchen, auf denen das zitierte beruht, aussen vor gelassen: ist das nicht eigentlich genau das, was - nicht nur in frankreich - zu erwarten ist? alle genannten institutionen erscheinen zunehmend hohl, wenn nicht gleich als ausdruck organisierter zweifelhafter zwecke bis offener kriminalität, vor allem im antisozialen sinne gemeint. nur keine missverständnisse: als sympathisant des anarchistischen gedankens habe ich keine probleme damit, dass sich mehr und mehr systemtragende institutionen und ihre repräsentanten zusehends selbst unmöglich machen und teils regelrecht demontieren (banken und kirchen sind dafür nur sehr auffallende beispiele) - ich finde das eigentlich eine höchst überfällige und sehr begrüssenswerte entwicklung.

das problem: es ist weit und breit nichts wahrzunehmen, was das entstehende vakuum wirkungsvoll und vor allem positiv füllen könnte. sprich: selbstbestimmte und selbstregulierende kollektive entwicklungen zur beantwortung der wichtigsten gesellschaftlichen probleme, beruhend auf authentischer individualität. selbst wenn ich mich an meinen eigenen, in der vergangenheit hier mehrfach geäusserten verdacht klammere, dass wirklich neue politische entwicklungen sich unter umständen in formen vollziehen werden, die historisch bisher unbekannt waren und von daher vielleicht auch nur schwer wahrzunehmen sind, so bleibt doch der eindruck einer allumfassenden defensiven und abwehrenden grundhaltung, und zwar ganz pauschal "der welt" gegenüber, hartnäckig in meinem kopf sitzen.

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wenn ich denn die grundstimmung vieler zeitgenossen unserer epoche in ein paar worten zusammenfassen sollte, würde ich etwas in der art von passiv-gleichgültiges, gleichzeitig latent aggressives misstrauen wählen - zusammen mit der eingangs schon erwähnten allgemeinen tendenz zum rückzug in scheinbar private refugien bietet das ein bild, welches ich bei einem einzelnen menschen als ausdruck einer larvierten depression bezeichnen würde - "larviert" meint hier eine besondere form von versteckt, besser halb-versteckt oder noch nicht voll ausgeschlüpft, weil die depression zwar schon wahrnehmbar ist, aber der betroffene noch zu gleichgültigem funktionieren in der lage ist, wozu auch oberflächliches "spasshaben", meist unter einfluss verschiedenster psychoaktiver substanzen, gehören kann. die kurzfristige "begeisterung" für inhaltlich entleerte und oberflächliche events aller art, die immer wieder neu medial produziert wird, steht dabei für die pseudokollektiven formen des letzteren und bildet dabei gleichfalls nur die andere seite der medaille von dem, was in der letzten zeit hierzulande seitens der selbsternannten "eliten" an plumpen und altbewährten ressentiments wahlweise gegen "die griechen", "die moslems", "die arbeitsscheue hartz-IV-unterschicht" oder sonstwen versucht wird zu schüren - der versuch, die durchaus wahrnehmbaren destruktiven aggressionen wiederum in formen von gegenseitiger aufhetzung konstruierter pseudokollektive zu steuern und zu kontrollieren. aber auch hier ist mein eindruck der einer bestimmten wahllosigkeit - auch, wenn dahinter alte und traditionelle versuche der fragmentierung zwecks machterhaltung stehen, so glaube ich nicht, dass das so funktioniert wie in der unheilvollen vergangenheit - zumindest nicht in den bekannten formen.

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die da heissen: nationalismus, rassismus, sexismus und alle varianten von sozialdarwinistischen bis eugenischen ideologischen konstrukten. sicher schwirren von diesen ladenhütern machtstützender ideologien an allen ecken und enden fragmente durch die gegend; sicher sind auch die seit jahrzehnten unübersehbaren modernisierungsversuche - "wie mache ich diesen alten dreck kompatibel zum modernen zeitgeist?" - teils von mehr oder weniger großem erfolg gekrönt - und trotzdem bleibt vor allem der eindruck einer großen gleichgültigkeit, die sich wie mehltau auf das ganze gesellschaftliche leben gesenkt hat.

und so ist auch die überschrift
wie in alten zeiten des blogs, welches dankenswerterweise das folgende zeitzeugnis dokumentiert hat -

tote soldaten


- rein oberflächlich betrachtet zwar treffend (wenn man sich in den entsprechenden archiven die todesanzeigen der jahre 1939 - 45 in deutschen zeitungen betrachtet, so gibt es da nur ein paar variationen derart, dass damals von "stolzer trauer" und "für führer und vaterland" die rede war), aber bei genauerem hinsehen mutet den versuchen der erzeugung von so etwas wie nationalistischer, gar militaristischer ernsthafter bzw. erhabener (kriegs-)unterstützung (von begeisterung gar nicht zu reden), und sei´s in form von "nationaler trauer und betroffenheit", doch eher etwas absurdes an - das allermeiste wirkt inszeniert, wie show, fake und simulation. leer.

was ja nun gerade in diesem kontext nicht das schlechteste ist - die gemetzel im namen solch fiktionaler konstrukte wie "nation" u.a. bilden bekanntlich zu einem großen teil die historie der spezies. heute aber scheint es so zu sein, dass die wirkungen des totalitären kapitalismus - vereinzelung bzw. all die (verkäuflichen) formen der pseudoindividualität, allgemeine fragmentierung, beschleunigung etc. - zusammen mit seinen massenmedialen vermittlungsebenen bestimmte, pathologische psychophysische und in der vergangenheit verbreitete menschliche strukturen mitsamt ihren spezifischen fiktionalen kompensationsversuchen alá "nation", "gott" etc. ebenfalls unterminiert bzw. durch noch zu bestimmendes anderes abgelöst haben (hier dürfte übrigens eine motivation jener "echten", d.h. reaktionären, konservativen liegen, die sich selbst nicht mehr in der aktuellen kapitalistischen variante wohlfühlen und teils schon verzweifelt versuchen, die "alten werte" wie familiensinn, "patriotismus" usw. mit allen zugehörigen sog. tugenden - disziplin, formale höflichkeit etc. - neu zu definieren und zu füllen.)

dieser gerade zwangsweise sehr grob skizzierte vorgang haut also reale und fiktionale, "alte" kompensatorische ebenen der kollektiven und individuellen sinngebung gleichzeitig zu klump. wobei letztere seitens der "eliten" regelmässig wiederzubeleben versucht werden, was aber offensichtlich nicht so recht gelingen will - wenn, dann (ausser für die ganz gestörten) nur noch als unglaubwürdige farce. der große rest bleibt gleichgültig oder konsumiert bspw. den "neuen patriotismus" anlässlich von irgendwelchen sportevents ähnlich wie eine tv-show.

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ich hoffe, dass Sie mir ungefähr folgen können - ich versuche gerade, etwas genauer zu fassen zu bekommen, was mir seit langem als vager und diffuser eindruck immer wieder durch meine wahrnehmung geistert. bei der frage an mich selbst, wie ich das umrissene denn nun selbst finde und was das womöglich für konsequenzen hat, bin ich sehr zwiegespalten. einmal finde ich, dass bereits deutlich zu sehen ist, in welche richtung eine gesellschaft driftet, die von solchen tendenzen wie dargestellt bestimmt wird - bereits öfter thema hier, ist das stichwort wieder einmal
mafiasierung - bandenbildung:


(...) "Doch der wirklich gefährliche Teil der Mafia ist unsichtbar, vor allem in Ländern, in denen sie investiert. Nehmen Sie die sizilianische Mafia. Hochintelligente, bürgerliche Verbrecher: Ärzte, Mittelständler oder Juristen, die immer erfolgreicher gesellschaftliche Schlüsselpositionen besetzen und ihre Kinder auf die Universität schicken. Oder schauen wir auf die russische Mafia, die in einem kapitalistischen System stark geworden ist, das nach unseren Schätzungen heute zu 70 Prozent vom organisierten Verbrechen betroffen ist und nun große Teile der Weltwirtschaft beeinflusst. (...)

SZ: Wie muss man sich diese wirtschaftliche Betätigung vorstellen?

Scarpinato: Wie eine Tumorzelle, die wächst und streut. Diese kriminelle Zelle erwirbt ein Hotel oder ein Restaurant; dort werden fünf, sechs Menschen platziert, die das Geschäft im Sinne dieser Clans nutzen und ausbauen. Natürlich darf man das nicht kleinreden, wenn die 'Ndrangheta in Bochum eine Pizzeria eröffnet, aber es ist ein Entwicklung, die sich durch Ermittler gut kontrollieren lässt. Im Vergleich zu unseren wirklichen Problemen ist es ein Witz.

SZ: Was ist das eigentliche Problem?

Scarpinato: Wir müssen aufhören, so zu tun, als beschränke sich die Mafia auf wenige Krisenregionen. Es geht um ganze Staaten, die unterwandert werden. Indem die Mafia dort Verbündete an zentralen Stellen platziert. Das kann der Vertreter einer Schweizer Bank, ein Politiker oder ein Mailänder Spitzenanwalt sein. Ein Schulterschluss zwischen traditioneller Mafia und Funktionären. Und derzeit entwickelt sich die organisierte Kriminalität zu komplexen kriminellen Großsystemen, die undurchschaubar werden.

SZ: Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Einige deutsche Ermittler halten das auch für Panikmache.

Scarpinato: Die Probleme zeigen sich aber an vielen Stellen. Etwa in Russland, wo sich das organisierte Verbrechen mit Personen aus Politik, Wirtschaft oder Finanzwelt zusammengetan hat. Das Kapital, das global verschoben wird, ist enorm. Zudem sehen Analysten mit Sorge die Bedeutung des chinesischen und indischen Wirtschaftswachstums für das organisierte Verbrechen. Wenn sich diese Raten aufrecht erhalten lassen, haben die Chinesen in 20 Jahren dieselbe Kaufkraft wie der Westen. Das würde nicht nur bedeuten, dass China das neue Dorado des Drogenkapitalismus wird, sondern auch dass illegale Märkte die legalen an Bedeutung übertroffen haben. Alle alten Mafia-Geschichten sind nur noch Folklore." (...)


ich greife das mafia-thema hier nicht umsonst immer wieder auf, weil ich finde, dass sowohl die ausbreitung "der mafia" (als sammelbegriff für alle adäquaten globalen strukturen) als auch die zunehmende ununterscheidbarkeit zwischen "legal" und "illegal" gerade im ökonomischen und politischen bereich etwas ist, was einerseits von sehr vielen mit der materie professionell befassten konstatiert wird, andererseits aber in der möglichen bedeutung größtenteils schwer unterschätzt wird. allgemeine vereinzelung und gleichgültigkeit bei parallel laufenden deutlichen tendenzen zur totalitären verdinglichung von allem lebendigen laufen in letzter konsequenz auf verschiedenste, "regional angepasste" (suchen Sie im blog einmal nach "maras") mafiöse strukturen als extreme verfallsform des sozialen hinaus. auf dieser ebene sind alle formalen und fiktionalen normen von "moral" und "ethik" auf ihren eigentlichen gehalt reduziert - nämlich gar keinen. die angebliche "ehre" der mafiosi ist sichtbar nur noch ein ganz dünnes feigenblatt; real befinden sich in solchen strukturen nur noch lauter einzelkämpfer, die einen rücksichtslosen kampf um ihr eigenes überleben - mittels aufstieg in der jeweiligen machtpyramide - austragen. wenn man sich übrigens die antiutopie des neoliberalismus betrachtet, so lässt sich die mafia durchaus als verwirklichung des dortigen antisozialen freiheitsbegriffes verstehen - eigentum und vertrag als einzige basis jeglicher sozialität. dem kann jeder mafiosi zustimmen - "verträge" bzw. ihre gestaltung bestimmt der stärkere, und die fiktion "eigentum" wird in diesem szenario der totalen verdinglichung eh zum einzig "sinnstiftenden" element.

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man kann eine derartige gesellschaft als soziopathische dystopie betrachten, ebenfalls als eine variante von dem, was marx glaube ich als "frühe akkumulation" bezeichnet hat - eine ungebremste profit- und raubmaschine. das für ein solches szenario selbst deutlich fiktionale konstrukte und formale gesetze und normen staatlicher, religiöser oder sonstiger "traditioneller" herkunft hinderlich sind, liegt auf der hand. das mafiöse gesellschaftsideal sieht im kern eher so aus wie das, was unter "wilder westen" aus den frühen tagen der usa bekannt ist - incl. recht des stärkeren, lynchjustiz, und totaler freiheit für jegliche egozentrische anwandlung. heute hat das die form des failed state - nicht zufällig entspringen die maras den mittelamerikanischen, die piraten in ostafrika den dortigen (bürger-)kriegszonen.

ein deutlicher fehlschluß liegt für mich aber nun darin, aus dem obigen heraus eine stärkung der benannten "traditionellen" institutionen - an erster stelle die nationalstaaten - zu fordern. und das nicht nur deswegen, weil auch viele staatliche strukturen heute rund um den planeten als mafiös besetzt gelten müssen, sondern weil genau diese auf altbekannten fiktionen gebauten und angelehnten konstrukte wie staaten, nationen und institutionalisierte religionen erst überhaupt den boden für diese extremen formen der antisozialität bereitet haben. auf (philosophischen) fiktionen beruhende gesellschaftliche normen, nach objektivistischen kriterien waltende justiz und religiös begründete moralsysteme tragen allesamt die tendenz zur offenen und qualitativ soziopathischen antisozialität in sich - während sich die ersteren als historische auslaufmodelle im rahmen der zugrundliegenden traumatischen matrix (= die wirkungen der durch unsere geschichte hindurch akkumulierten individuellen und kollektiven gewalt in der spezies) betrachten lassen, stellt die offene soziopathie (und ihre potenziell antisozialen satelliten in form strukturell verwandter psychophyischer zustände) eher eine art endzustand der möglichen menschlichen entwicklung in dieser matrix dar - solche individuen sind u.a. per empathielosigkeit, unfähigkeit zur angstwahrnehmung und beziehungsunfähigkeit GANZ UND GAR NICHT ZUFÄLLIG gerade unter besonders gewalttätigen, also potenziell traumatischen sozialen bedingungen, besonders funktionsfähig. die soziopathische struktur als menschliche option scheint ein logischer, auch durchaus evolutionärer versuch zu sein, die spezies unter traumatischen bedingungen quasi über die runden zu bringen.

bedauerlicherweise lässt sich diese psychophysische mutation nur noch als "mensch neuen typs" betrachten, weil ihr so ziemlich alles fehlt - an erster stelle die liebesfähigkeit - was uns menschen als soziale wesen ausmacht. und so paradox es klingt: dazu gehört auch die fähigkeit, sich überhaupt traumatisieren lassen zu können! denn ein trauma kann nur an bestimmten bruchlinien innerhalb der psychophysis ansetzen und verwandelt dort primär vertrauen in misstrauen, (zer-)stört derart auch die allgemeine beziehungsfähigkeit, produziert rückzug in fiktionale welten, isolation - ganz allgemein gesagt, wird der objektivistische modus zur kompensation der verschütteten / verlorenen sozialen fähigkeiten extrem aktiviert und darüber der eigentlich "gesunde autismus" innerhalb unserer struktur zu einem pathologischen zustand.

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am anfang hatte ich von der großen gleichgültigkeit geschrieben, und die ist für mich ebenfalls ein immanenter ausdruck der traumatischen matrix, die unser aller leben bis heute bestimmt. und wie ich in den vergangenen beiträgen der letzten wochen zum thema der gewalt in totalen institutionen schon angemrkt hatte, ist das, was aktuell alles sichtbar geworden ist, nur als ein teil dieser matrix zu
begreifen:

(...) "Der Bundesgerichtshof freilich hat noch 1988 "eine gelegentliche Tracht Prügel" für zulässig erklärt. Die Züchtigung mit einem "stockähnlichen Gegenstand" sei, so sagten die fünf hohen Richter im genannten Fall, "nicht pauschal zu verdammen". Es müssten, so urteilten sie allen Ernstes, alle "objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens geprüft werden". Die Untaten des Kindes mussten also zur Dicke des Schlauches und der Zahl der Schläge ins Verhältnis gesetzt werden. So war es Recht - nein, nicht bis 1800, nicht bis 1900, sondern bis zur großen Rechtsänderung von 2000.

Ist das verdrängt - aus Scham über das Vergangene, aus Stolz über das Erreichte? Die lange Geschichte der alltäglichen Prügelei in Schule und Familie ist erst vor einer historischen Sekunde zu Ende gegangen.

Es ist bezeichnend, dass zwei Jahrtausende lang "Frau Grammatika", also die Symbolfigur für Schule und Unterricht, mit der Rute in der Hand gezeigt worden ist. Und zwei Jahrtausende lang hieß das, was heute elterliche Sorge heißt, elterliche Gewalt. Martin Luther hat sie so geschildert: "Die Mutter stäupte mich um einer geringen Nuss willen, dass das Blut hernach floss." Aber, so fügte er an, die Eltern "meinten’s herzlich gut". Diese Art von Güte ist noch nicht ausgestorben.

Das Recht des Ehemanns, die Ehefrau zu züchtigen, wurde erst 1947 offiziell aufgehoben; das Recht des Lehrherrn zur väterlichen Zucht der Lehrlinge wurde erst 1951 abgeschafft; die schulischen Körperstrafen, also die von Lehrern verabreichten Ohrfeigen, Kopfnüsse und Tatzen, wurden in der Bundesrepublik erst 1973 umfassend verboten. Erst seit 1998 sind "körperliche und seelische Misshandlungen" im Bürgerlichen Gesetzbuch für unzulässig erklärt.

Und erst seit dem Jahr 2000 steht dort der klare Satz, der Kindern ein "Recht auf gewaltfreie Erziehung" gibt. Dagegen gab es vor einem Jahrzehnt massive Widerstände. Es sei, so hieß es, dem "Kindeswohl wenig förderlich, wenn Selbstverständlichkeiten ständig wiederholt würden". Selbstverständlichkeiten? Die Eiszeit der Erziehung ist soeben erst zu Ende gegangen. Sie war eine Art Scharia im Westen. Die Misshandlungsskandale, die heute entdeckt werden, sind ihr Nachhall." (...)


mal abgesehen davon, dass die realität nicht nur für viele kinder und nicht nur in anderen regionen, sondern auch in diesem land bekanntlich immer noch so aussieht, dass es fraglich erscheint, bei den "skandalen" von heute von einem "nachhall" zu sprechen, geht bei dieser nötigen und sachlich durchaus richtigen darstellung eines völlig unter: nämlich dass die in juristische normen gegossenen veränderungen in jedem fall gegen den gesellschaftlichen mainstream und die relevanten teile der "eliten" sowieso erkämpft werden mussten - und das gilt eigentlich für alle "zivilisatorischen" errungenschaften, mit denen sich der "freie westen" bis heute zur abgrenzung und selbsterhöhung gegenüber anderen kulturen selbstgefällig schmückt. egal ob arbeiterInnenrechte, stellung der frau oder eben respekt vor kindern: jedes noch so kleinste fitzelchen positiver entwicklungen musste unter teils großen opfern den jeweiligen historischen machteliten aus den händen gezerrt werden; oft genug hiess das auch: kompromisse zu ertragen, weil die eigene macht nicht ausreichend war.

und das, was da dann letztlich alles in gesetzbücher und deklarationen gepackt wurde, ist selbstverständlich nicht davor gefeit, mit einem mal wieder ausradiert zu werden. immer noch stellen diese formen lediglich prothesen für mehr oder weniger gewünschtes soziales verhalten dar - und die notwendigkeit, mit strafandrohungen im falle des nichtbefolgens zu arbeiten, unterstreicht einmal mehr, dass die einzige - relative, aber stärkste denkbare - tatsächliche sicherung dessen, was allgemein als menschenrechte bezeichnet werden kann, nur darin liegt, die traumatische matrix und ihre per unendlich erscheinender individueller und kollektiver re-inszenierungen fortdauernde existenz in möglichst vielen menschen möglichst weitgehend aufzulösen. was dann ohne zweifel auch entsprechende gesellschaftliche konsequenzen hätte.


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ich komme nun langsam zum ende dieses nicht zufällig in der rubrik "assoziation" erscheinenden beitrags. hatte ich weiter oben - im teil zur mafia - von eigener zwiespältigkeit im angesicht der eingangs skizierten wahrnehmungen geschrieben und die mafiasierung als eine zu beobachtende entwicklung dargestellt, so fehlt noch sozusagen die andere seite: könnte es sein, dass innerhalb der erwähnten gleichgültigkeit auch eine tendenz der grundsätzlichen abwendung von den existierenden strukturen vorhanden ist, die sich in einer sozusagen ernüchterten, aber dadurch auch realistischeren einschätzung der eigenen mittel und kräfte ausdrückt? ich kann und will damit nicht meine eigenen, leider negativen eindrücke relativieren oder zurücknehmen, bin aber der meinung, dass sich sehr wohl gerade aktuell durch die thematisierung überhaupt - sowie teils durch ihre art und weise - der gewalt gegen kinder / jugendliche - auch solche tendenzen, wenn auch sozusagen im hintergrund, wahrnehmen lassen. heute leben immerhin zumindest relevante teile von ein paar generationen in den westlichen staaten, für die weder elterliche gewalt noch militärische dressur einen nicht zu hinterfragenden regelfall darstellten. starke minderheiten haben bisher historisch immer als katalysatoren positiver sozialer entwicklungen gewirkt - und je weniger eigene traumatische biographien diese mit sich schleppen müssen, umso mehr steigt die option für ähnliche prozesse.

ich bin mir aber durchaus nicht im klaren darüber, ob das nun eine realistische, wenn auch unwahrscheinliche möglichkeit ist oder aber eine art wunschdenken.
nötig wäre ersteres allemal, um die finsternis zumindest ein bißchen zu vertreiben.

Dienstag, 6. April 2010

notiz: die frauen und mädchen in afghanistan...

...werden ja nicht nur hierzulande von befürwortern des westlichen kriegseinsatzes dort quasi als kronzeuginnen dafür benannt, warum dieser einsatz angeblich unverzichtbar, humanitär und freiheitsbringend sei - gerade für den weiblichen teil der dortigen bevölkerung, die unbestritten unter dem talibanregime eine unmenschliche existenz fristen mussten. andererseits sind den gleichen befürwortern die guten westlichen kontakte zu einem regime wie dem im klerikalfaschistischen, ultrapatriarchalen und plump sexistischen saudi-arabien in aller regel aber sowas von egal, das die instrumentalisierung der frauen in afghanistan vor diesem hintergrund um so schärfer heraustritt.

und nicht nur die eben genannten ignorieren bis heute weitgehend die eigenen stimmen der von ihnen genannten zielobjekte (das hat durchaus mehrere bedeutungsebenen) der westlichen menschenliebe. würden sie das nicht so halten, müssten sie nämlich zu kenntnis nehmen, dass gerade solche frauen in afghanistan, die selbstbewusst und mutig genug sind, öffentlich aufzutreten, sehr begründet oppositionell gegen die islamistischen fundamentalisten, die nicht primär religiös orientierten warlords und die westlichen truppen stehen.

aber was nicht passt, wird gerade von den predigern des freedomanddemocracy (TM) ohne weiteres passend gemacht, wenn´s nicht in den eigenen kram passt. bedeutet auf einer niedrigen stufe meist konkret: totgeschwiegen.

alle anderen sollten sich aber nicht nur intensiv mit den inhalten der frauen von


RAWA - Revolutionary Association of the Women of Afghanistan

beschäftigen, sondern auch deren existenz überhaupt breiter in das öffentliche bewusstsein bringen. ich wünsche mir den obigen link an ganz vielen stellen im netz.

Montag, 5. April 2010

notiz: und nochmal - auf den müllhaufen der geschichte, aber subito !

"Darunter steht auf dem Regal ein Foto des Teenagers Barry in Uniform. Dem 18-jährigen Katholiken mit irischen und mexikanischen Wurzeln, der auszog, gegen das "Böse" zu kämpfen. "Schon auf der katholischen Highschool haben sie uns eingetrichtert: Kämpft gegen die Kommunisten, schützt die vielen Glaubensbrüder in Vietnam", sagt Barry Romo. Er meldet sich freiwillig."

("Nachts, wenn die Toten zurückkommen")

"Und auch über das Töten? Auch das wird immer häufiger Alltag eines deutschen Soldaten. Was sagen Sie als Geistlicher dazu, wo doch das biblische Gebot das Töten verbietet?

"Als Militärgeistlicher unterstütze ich ja nicht das Töten. Ich bin für die Menschen da, und die Soldaten der Bundeswehr sind keine Killermaschinen, sondern Menschen, die bei der Erfüllung ihres Auftrags in Gewissensnöte kommen können. Viele fragen sich, wie es ist, wenn sie schießen müssen. Was, wenn sie dabei töten? Damit setzen sie sich auseinander - und beantworten die Frage für sich so, dass sie es jedenfalls theoretisch mit ihrem Gewissen vereinbaren können."


(aus einem interview mit einem katholischen militärpfarrer bei der bundeswehr in afghanistan)

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es ist ja nicht so, dass speziell die katholische kirche "nur" wegen ihrer besonders gegen kinder gewaltaffinen institutionellen struktur in die tonne gehört, obgleich das alleine schon völlig ausreichen würde - nein, auch was das sog. kriegshandwerk, das
segnen der waffen, die bereitstellung pseudomoralischer korsette (wie oben im zitat) für zweifelnde sowie die ideologische unterfütterung von kriegen und diktaturen ("für gott, kaiser und vaterland") im allgemeinen betrifft, hat die katholische sekte derart viel historisches unheil angerichtet, das sie längst - wenn´s das denn gäbe - ein wahrhaftiges gottesgericht mit blitz, donner und sintflut mehr als verdient hätte. da solche fiktionalen gebilde wie götter den vorteil haben, dass man sie bei bedarf wie das kaninchen aus dem zaubererhut hervorziehen kann, und dieser trick auch bei allen großen und kleinen sekten weltweit sozusagen zum fundamentalen handwerkszeug gehört, lässt sich gegen derlei treiben bis auf weiteres u.a. nur die methode einsetzen, ihnen den jeweils sichtbaren dreck solange unter die nase zu reiben, bis der gestank schier unerträglich wird - und das gilt von "scientology" bis hin zum vatikan.

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perfide und infam hatte ich letzteren schon genannt - und was in den paar tagen seit diesem letzten beitrag alles folgte, unterstreicht dieses urteil auf eine art und weise, die neben wuterzeugend schon regelrecht ekelerregend ist. einen klopper nach dem anderen hauten die kostümierten mumien heraus, gefolgt von an den haaren herbeigezogenen ausreden, lächerlichen dementis, abstrusen rechtfertigungsversuchen und ständigen belegen einer wachsenden paranoia. und nein, ich habe gerade keine lust mehr, mich hier noch so nüchtern auszudrücken wie das die "frankfurter rundschau" in einem kommentar tut:

(...) "Vom Propaganda-Vorwurf an die Kritiker ("Geschwätz des Augenblicks") über die Solidaritätsadresse an den Papst bis hin zum Antisemitismusvergleich hatte Rom alles zu bieten, was zu einem ordentlichen PR-Desaster gehört." (...)

ja, als "pr-desaster" lässt sich das alles auch begreifen, und für den konzern "katholische kirche", der ja als hauptprodukte "seelenheil" und "moral" unters volk bringen will, ist das derzeitige geschehen aus einer sozusagen betriebsökonomischen sicht ein ähnliches debakel wie durchdrehende gaspedale für einen autokonzern. aber dieser blickwinkel ist zu beschränkt - darum jetzt noch mal die widerlichkeiten des wochenendes der reihe nach.

*

die rede des "persönlichen predigers" von ratzinger, cantalamessa, hatte ich ja schon im letzten beitrag kommentiert. nachdem die internationale kritik immer heftiger wurde, hat der vatikan das ganze als "nicht repräsentative einzelmeinung" und
bedauerliches missverständnis versucht zu dementieren:

(...) "Indes bemüht sich der offizielle Vatikan um Schadensbegrenzung. "Ich dementiere auf die strikteste Weise, dass dies ein vom Vatikan angeregter Vergleich zwischen dem Antisemitismus und der derzeitigen Situation die Pädophilie betreffend wäre", erklärte Lombardi. Das Zitat habe allein ein "Zeugnis der Solidarität" von einem Juden sein wollen. Dies habe absolut kein Angriff auf die jüdische Welt sein sollen und sei auch "kein passender Vergleich", so der Vatikansprecher." (...)

auch cantalamessa versuchte sich selbst mit der sinngemässen aussage zu dementieren, dass er ja nur "einen solidarischen brief eines jüdischen freundes" zitiert hätte (den er übrigens nicht nennen will; und seltsam genug: wenn denn dieser angebliche freund tatsächlich so solidarisch ist, warum spricht er dann nicht selbst?); ratzinger hätte von der predigt "nichts gewusst" (und hat sie sich kommentar- und auch sonst ziemlich regungslos angehört) und überhaupt hätte er das "natürlich" alles gar nicht so gemeint (wie´s sowohl bei großen organisationen von überlebenden der innerkirchlichen gewalt in den usa als auch bei vielen jüdischen gruppen / organisationen angekommen ist). festzuhalten bleibt für mich zweierlei: die besondere perfidität, die darin liegt, dass, was man sich selbst nicht auszusprechen traut, dann einen - womöglich (!) noch imaginären - , scheinbar "neutralen" dritten sagen zu lassen. und eben auch die durchschimmernde feigheit der ganzen funktionäre, die im gleichen moment als sie merkten, was ihre institution da für einen rohrkrepierer produziert hat, versuchten, alles kleinzureden bzw. zurückzunehmen. hat glücklicherweise nach meinem eindruck nicht ganz so funktioniert, wie es sich die kostümierten vielleicht vorgestellt haben.

*

letzteres lag zu einem nicht geringen teil auch an dem, was kurze zeit später ein weiterer funktionär meinte von sich geben zu müssen - sodano heisst er, und ist jetzt für folgende
unverschämtheit bekannt:

(...) "Umso ungewöhnlicher war es, dass einer der einflussreichsten Kardinäle in Rom, der Dekan des Kardinalskollegiums, zu Beginn der Messe das Wort ergriff und den Papst der rückhaltlosen Unterstützung versicherte. Vom "unbedeutenden Geschwätz dieser Tage" würden sich die Gläubigen nicht beeinflussen lassen, sagte Kardinal Angelo Sodano. "Die Kirche ist mit dir", versicherte der 82-Jährige dem Papst - und das gelte nicht nur für Kardinäle und Bischöfe auf aller Welt, sondern vor allem für die 400.000 Priester, die im Dienst der Kirche stünden. Der Papst sei "der makellose Fels der heiligen Kirche Christi". (...)

das "unbedeutende geschwätz dieser tage" sieht zb. so aus -
"Ich verwalte meinen Körper nur noch" - oder auch so: Scham fressen Seele auf. vom ozean der "stinknormalen" prügel, demütigungen und ängste innerhalb (ja, nicht nur!) kirchlicher institutionen gar nicht zu reden. sodano hat immerhin klartext geredet und überdeutlich gemacht, was von den vielen rhetorischen schuld- und reuebekenntnissen seitens der sekte in der letzten zeit wirklich zu halten ist (ich finde es übrigens keinen zufall, dass es sehr ähnlich auch besonders im herbst und winter 2008 von einer anderen, ebenso nutzlosen, überflüssigen und destruktiven gesellschaftlichen gruppe zu hören war: die bankster und ihr gesinde in der sog. "politik" wimmerten und jammerten ähnlich "voller reue" herum, bevor sie dann im großen und ganzen kollektiv den beweis dafür antraten, dass es schuld- und reuebekenntnisse von leuten eines solchen kriminellen kalibers kostenlos für alle - und besonders für sie selbst - im grabbeltisch am ausgang gibt - quasi zur allgemeinen sedierung).

*

und nicht nur vor dem hintergrund des obigen werden auch die am wochenende gefallenen salbungsvollen erklärungen und versprechungen verschiedener hiesiger kirchenfunktionäre - "bischöfe" - zurechtgerückt (innerhalb der hierarchischen kirchenlogik und -struktur müssten sie sich, wenn sie es denn ernst meinen würden, ebenso ernsthaft mit ihrem obersten "weltlichen" chef und seinem apparat anlegen - dafür gibt es nicht das geringste anzeichen) - nein, auch die unterstützung dieser leute für den notorischen mixa widerlegt ihre frommen wünsche auf das allerdeutlichste. die fragen am ende dieses
beitrags stellen sich nach den jüngsten äusserungen mixas nochmals verschärft:

(...) "Mixa kann sich indes nach eigenen Angaben nicht an die Personen erinnern, die ihm Misshandlungen vorwerfen. Zugleich erneuerte der Bischof sein Angebot, mit ihnen zu sprechen.

Mixa sagte der "Welt am Sonntag": "Diese Leute können sich doch gar nicht mehr an mich erinnern." Angesprochen auf die aktuellen, in Zeitungen veröffentlichten Fotos der Personen fügte er hinzu: "Ich erinnere mich auch nicht mehr an sie."

Er wolle sich weiterhin "gerne mit den Betroffenen zu persönlichen Gesprächen treffen, um zu erfahren, was ihnen widerfahren ist", sagte er der "Bild am Sonntag". Er werde für sie beten, denn für ihn als Seelsorger seien sie Opfer, denen offenbar Unrecht geschehen sei." (...)


also doch eine (praktische) amnesie? ein durchaus beliebtes mittel bei angehörigen von "eliten" jedenfalls; oft genug schon bewährt bei kriegsverbrechen, waffengeschäften, korruptionsfällen und parteispenden - "ich bin klein, mein herz ist rein, mein hirn ist leer und meine geldbörse schwer" - mixa würde sich damit bei einer ganzen armee sehr illustrer gestalten einreihen, die plötzlich und unerwartet einfach ihre erinnerung "verloren" haben - bevorzugt vor irgendwelchen untersuchungsauschüssen, oder aber ganz generell in der öffentlichkeit.

schier unerträglich ist jedenfalls weiterhin seine herablassende attitüde gegenüber seinen opfern - perfide und infam sind auch hier angemessene worte. wäre ich selbst betroffen, würde ich ihm seine gebete persönlich vor die füße spucken.

mir kommt es übrigens nach ansicht des fr-artikels so vor, als hätten in der zwischenzeit neben den zehn in meinem damaligen beitrag schon genannten betroffenen jetzt weitere ihren mut zusammengenommen - schilderungen ähnlich den folgenden sind zumindest für mich neu:

(...) "Derweil berichtete ein 40-jähriger Mann aus dem Rosenheimer Raum, der von Mixa in der Grundschule unterrichtet worden war, dem in Ingolstadt erscheinenden "Donaukurier" (Samstagausgabe) über Misshandlungen durch den heutigen Bischof. "Mixa war nicht nett, er hat uns an den Haaren und den Ohren gezogen", wird der Mann zitiert. Er sei ganz anders gewesen, als der Augsburger Bischof sich in den Medien darstelle, behauptete der Mann. Es sei Zeit, dass die Dinge ans Licht kämen.

Ein weiterer, in Innsbruck lebender Mann sagte dem Blatt, von Mixa geschlagen worden zu sein, weil er aus dem Heim abgehauen gewesen sei. Als die Polizei ihn zurückgebracht habe, habe er sich "vom damaligen Stadtpfarrer Mixa" wortlos eine gefangen. Eine Frau aus Weilach behauptete, Mixa habe sie im Firmunterricht geschlagen, danach habe sie ihm die Hand küssen müssen." (...)


aber klar, alles "lügen", "unbedeutendes geschwätz" von bösen menschen, die der heiligen kirche und ihren heiligen kostümträgern aus zielichtigen gründen ans bein pissen wollen. natürlich kommen dafür dann auch prompt entprechende
gemeindeschafe als zeugen zum vorschein:

(...) "Gewalttätige Übergriffe des damaligen katholischen Stadtpfarrers von Schrobenhausen hätten sie niemals miterlebt, schreiben knapp 20 Bürger, die damals Ministranten waren oder sich als Jugendliche in der Pfarrei St. Jakob engagierten, in einem Offenen Brief. Sie können sich auch nicht vorstellen, dass Mixa zu solchen Übergriffen fähig gewesen wäre." (...)

die können sich offensichtlich so einiges nicht vorstellen - mit etlicher wahrscheinlichkeit deshalb, weil sonst ihre scheinheilige idylle zusammenbrechen würde. ich glaube mixa nach wie vor kein einziges wort.

*

um die dimensionen des ganzen widerwärtigen schauspiels, welches die katholische sekte gerade bietet, einigermaßen zu komplettieren, sei hier noch kurz auf zwei interessante artikel hingewiesen: einmal die zeit mit der aufschlußreichen und detaillierten darstellung der mittel, methoden und handelnden personen in einem deutlichen fall von vertuschung in den usa -
Geheimprotokoll belastet wichtigsten Mitarbeiter des Papstes; zum anderen spon mit einem einblick in die derzeitige situation in mittel- und südamerika:

(...) "In der Kathedrale von Mexico City begann die Karwoche mit einem Eklat: Die Oppositionspolitikerin Julia Klug legte vor dem Gotteshaus ein Tuch aus, auf dem Parolen gegen Kardinal Norberto Rivera und den Papst prangten: "Benedikt und Norberto Rivera schützen Vergewaltiger! Was sind das nur für Gottesvertreter?", war auf dem Banner zu lesen. (...)

Mexiko fühlt sich besonders betroffen: Marcial Maciel Degollado, der vor zwei Jahren verstorbene mexikanische Gründervater des einflussreichen Ordens Legionäre Christi, aus dem sich eine große Zahl des Priesternachwuchses rekrutiert und der im Vatikan längst glänzend vernetzt ist, verging sich jahrzehntelang an Jungen und Mädchen, mehr als 70 angebliche Missbrauchsopfer haben sich gemeldet.

Als Kardinal und Chef der Glaubenskonkregation leitete Joseph Ratzinger im Jahr 1997 eine Untersuchungskommission im Vatikan, die alle Vorwürfe gegen Maciel aufklären sollte. Maciel, der eine "Einladung" der Kongregation nach Rom erhalten hatte, erschien nicht - aufgrund seiner schlechten Gesundheit wurde das Verfahren eingestellt. Er wurde jedoch in ein Kloster verbannt. Die Legionäre Christi hielten es inzwischen für geboten, sich offiziell und "zutiefst erschüttert" von ihrem Gründer Maciel - der übrigens mindestens drei Kinder zeugte - loszusagen." (...)


auch interessant - und beunruhigend - ist die darstellung der evangelikalen fundamentalistischen sekten, die in das vakuum drängen, welches die katholen zunehmend produzieren. pest oder cholera ist in keinem fall, egal in was für bereichen, eine akzeptable wahl.

*

soweit die mir nötig erscheinenden nachträge speziell zur kk. ein kleiner, aber durch ein paar eigenarten besonders widerlicher ausschnitt aus dem ganzen bild der gewalt gegen kinder und jugendliche, welches in diesem
kommentar umrissen ist. und das wird hier weiterhin thema bleiben.

Samstag, 3. April 2010

notiz: perfide und infam = vatikan

fast wäre mir die gestern stattgefundene fortsetzung der unendlichen geschichte entgangen, nämlich ein beleg absolut geschichtsvergessener bösartigkeit und des-selbst-zum-opfer-machens seitens der katholischen sekte - bei der karfreitagspredigt im hauptquartier ließ der "persönliche prediger" des ratzinger alle masken fallen:

(...) "Der persönliche Prediger von Papst Benedikt XVI. hat die im Zusammenhang mit der Missbrauchsaffäre gegen die katholische Kirche und ihr Oberhaupt erhobenen Vorwürfe mit dem Antisemitismus verglichen. Die Juden seien in der Geschichte Opfer kollektiver Gewalt geworden, und die Anschuldigungen gegen die Kirche und den Papst erinnerten an die "schändlichsten Aspekte des Antisemitismus", sagte Pater Raniero Cantalamessa bei einem Karfreitagsgottesdienst im Vatikan. Ein jüdischer Freund habe ihm geschrieben, dass er die "gewaltsamen und konzentrierten Angriffe" auf die Religionsgemeinschaft und ihr Oberhaupt mit Abscheu verfolge. (...)

Nach scharfer Kritik aus dem Ausland hat sich der Vatikan vom Antisemitismus-Vergleich eines hohen Geistlichen in der Missbrauchsdebatte distanziert. Ein solcher Vergleich könne zu Missverständnissen führen, sagte Vatikansprecher Federico Lombardi am Freitagabend der Nachrichtenagentur AP. Die Äußerungen von Raniero Cantalamessa seien nicht die offizielle Position des Vatikans." (...)


nachdem sie also gemerkt haben, dass dieses absolut unverschämte manöver einer organisation, die nicht nur selbst in ihrer langen unheilvollen geschichte immer wieder antisemtismus geschürt hat, sondern dazu noch nach dem wk2 diversen nazis mithalf, den kopf aus der schlinge zu ziehen, ausserhalb ihres clubs der wahnhaften zwangsvorstellungen nicht sooo begeistert aufgenommen wird, distanzieren sie sich von sich selbst.

aus der vielzahl entsprechender kommentare im forum des "standard" sei nur
einer als repräsentativ zitiert - das spart mir an dieser stelle einen enormen wutausbruch:

"Diese selbstgefällige Vatikanbrut schafft es, in einem Vergleich gleichzeitig die Opfer der Shoah und die Missbrauchsopfer der sadistischen Pfarrer zu verhöhnen."

grenze endgültig erreicht und überschritten. diese sekte gehört abgewrackt auf den müllhaufen der geschichte.

Mittwoch, 31. März 2010

notiz: schwarz vor augen... [2. update am 01.04.]

...wird´s zumindest mir, wenn ich mir kommentare wie die folgenden betrachte:

"ich wurde "misshandelt". Als Messdiener und im Religionsunterricht vom Pfarrer, im weiteren Unterricht von den Lehrerinnen und Lehrern und zu Hause von den Eltern. Es gab nämlich Ohrfeigen schon für die kleinsten "Vergehen", bei denen die heutigen Erziehungsberechtigten nichteinmal mit den Schultern zucken würden. Und meinen Schulkameraden erging es genau so. Mensch, lasst mal die Kirche im Dorf und erklärt nicht jede Ohrfeige zur Misshandlung.


Schreibt Jahrgang 44"


"Die Christen sollten sich wieder an das Wort Gottes, Sprüche 8,23 einnern.

Die Wiedereinführung der Prügelstrafe (Rohrstock auf das Gesäß - aber keine Faustschläge ohne sonstigen Mißhandlungen) würden den Kindern und den Jugendlichen von heute wohltun und
"anständige" Menschen aus ihnen machen."

(der satz "keine faustschläge ohne sonstigen mißhandlungen" steht da so im original; ein haarsträubendes beispiel für das, was klaus theweleit als "halluzinatorische wunscherfüllung" bezeichnet - der kommentator hat da wohl aus versehen völlig offen geschrieben)

(...) "Hat Mixa jemand getötet, zusammengeschlagen, sexuell belästigt? Wohl nicht! Ohrfeigen in Familien und teilweise in der Schule gehörten noch zu meiner Kindheit zur Normalität! Wenn auch nicht in jeder Familie u. Schule. Vielleicht hat man damals noch gewußt, was in den Sprüchen Salomos steht: "Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist, aber laß dich nicht hinreißen, ihn zu töten. Großer Grimm muß Strafe leiden, denn willst du ihn steuern, so wird er noch größer. Höre auf Rat und nimm Zucht an, daß du hernach weise seist." Spr. 19,18-20.
Ist das grundsätzlich falsch ?"

"Sicher, mit Faustschlägen sollte niemand traktiert werden. Aber Ohrfeigen waren früher ganz normal! Und legal dazu. Das sollte man wieder einführen, besonders an Schulen wie der Rütli-Schule! Wir sind zu weich geworden, verschwunden
preussische Zucht und Ordnung!"

*

so also einige statements aus dem
forum von "spon" zu den heute bekannt gewordenen schilderungen mehrerer ehemaliger heimkinder bezgl. gewalttätiger übergriffe des notorischen bischofs mixa gegen sie in der vergangenheit - ausführlich in der sz:

(...) "Der Kreis der ehemaligen Heimkinder, die dem Augsburger Bischof Walter Mixa körperliche Züchtigung vorwerfen, wird größer. Jutta Stadler aus Pfaffenhofen bestätigt die in der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch veröffentlichten Beschuldigungen und schreibt in einer eidesstattlichen Versicherung: "Er hat mir mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen." Der SZ liegen damit sechs eidesstattliche Erklärungen vor, in denen berichtet wird, dass Walter Mixa in seiner Zeit als Stadtpfarrer Heimkinder in Schrobenhausen geschlagen habe.

Jutta Stadler lebte von 1968 bis 1977 im Kinder- und Jugendhilfezentrum St. Josef in Schrobenhausen. Die 47-Jährige legt großen Wert darauf, mit vollem Namen genannt zu werden, "damit ich dieses Thema endlich abschließen kann". Sie berichtet davon, dass Mixa als damaliger Stadtpfarrer "öfters sein Auto" zum Kinderheim gebracht habe. "Dieses musste dann von jeweils vier Kindern stundenlang geputzt werden", schreibt sie. Jutta Stadler bestätigt auch brutale Übergriffe zweier Klosterschwestern, die damals als Erzieherinnen tätig waren. "Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken", sagt sie. Als sie einmal ihr Essen nicht aufessen wollte, habe ihr eine Schwester die heiße Suppe "über den Kopf gegossen". (...)


aus einer anderen
erklärung:

(...) ""Herr Mixa hat mir im Laufe der Jahre mindestens 50-mal die Hose heruntergezogen und mit einem Stock fünf- bis siebenmal kräftig auf das Gesäß geschlagen", sagt Markus Tagwerk (Name geändert). Der 41-jährige Familienvater lebte von 1972 bis 1982 in dem Kinderheim. Heute arbeitet er selbst als Erzieher, "aber antiautoritär", wie er betont.

Weil er für eine kirchliche Einrichtung arbeitet und Repressalien befürchtet, will er seinen Namen nicht in der Zeitung veröffentlichen. In seiner eidesstattlichen Erklärung schreibt er: "Einmal hat er (Mixa, Anm. d. Red.) einen Kochlöffel genommen. Dieser ist abgebrochen, dann nahm er die Hand." Während der Schläge soll Mixa laut Tagwerk gesagt haben: "Kind Gottes, nimm diese Strafe", oder: "In dir ist der Satan, den werde ich dir schon austreiben." (...)


bei ansicht der letzten sätze kam mir wieder dieser
beitrag in den sinn, den ich vor einigen wochen als ersten zu alldem geschrieben habe, was jetzt (nicht nur) hinsichtlich der praktiken der hiesigen katholischen kirche im umgang mit kindern und jugendlichen an den tag kommt:

(...) "Wie der Bayerische Rundfunk mittlerweile erfahren haben will, soll der Augsburger Bischof Walter Mixa in Bayern einen Exorzisten zur Teufelsaustreibung beauftragt haben." (...)

das lässt sich nur noch zynisch kommentieren, tut mir leid - offensichtlich sehen gestalten wie mixa überall den teufel am werk, dem man(n) dann eben auch ganz handgreiflich zu leibe rücken muss - jemand ohne amt und würden würde sich heute bei derlei tun mit solchen " begründungen" wie von mixa gegenüber den kindern sehr schnell in der geschlossenen abteilung der nächstgelegenen psychiatrischen klinik wiederfinden. es ist schlicht unerträglich mit anzusehen, wie solche formen von schon regelrecht klassisch zu nennendem religiösen wahn incl. destruktiven ausagieren seitens des staates und teilen der öffentlichkeit nicht nur hingenommen, sondern auch noch durch passivität oder gar - siehe oben - verbale unterstützung gerechtfertigt werden.

gleichzeitig ist das ganze aber auch eine lektion in der hinsicht, wie die zugehörigkeit zu einem beliebigen teil der sog. "elite" selbst offene wahnzustände im klinischen sinne durch eben die funktion in genannten "ämtern und würden" mitsamt allem zugehörigen formalen und mystifizierendem faulen zauber regelrecht vernebelt und verschwinden lässt - die geschichte der "eliten" rund um den globus ist voll von beispielen durchgeballerter adliger, völlig gestörter religiöser verkünder, wahnsinniger politiker, total abgedrehter wirtschaftsdynastien - vom militär erst gar nicht zu reden; und nicht zuletzt ist auch im gesamten sog. künstlerischen und teils auch wissenschaftlichen bereich historisch bis heute die wahrscheinlichkeit übergroß, es bei einigermaßen bekanntheit immer auch mit beispielen für diverse psychophysische verfallszustände zu tun zu haben - im blog sind für so ziemlich alle eben aufgeführten gruppen entsprechende (und durchaus repräsentative!) belegfälle zu finden (okay, den adel habe ich bislang weitgehend aussen vor gelassen).

und wie schrieb es j.e. mertz in seinem borderline-buch in einigen seiner besten und treffendsten anmerkungen zu den "funktionseliten", zu denen auch solche figuren aus der höheren religiösen hierarchie wie mixa gezählt werden müssen?
"Wer einigermaßen unauffällig und effizient funktioniert, insbesondere in herausgehobener Position, kann nicht wirklich, nicht ernsthaft krank sein, weil er nicht krank sein darf."

und an anderer stelle:

"Ich kann keinen einzigen vernünftigen Grund finden, warum psychisch kranke Personen ihre Krankheit nicht im Medium des gesellschaftlich historischen Geschehens artikulieren und realisieren (materialisieren) sollten, sei´s als Kunstwerk, exakte Wissenschaft, politisches Projekt oder eben als Menschentötungsfabrik. (...)

Das Symptom wird auf der Bühne der Geschichte und mit geschichtlichen Mitteln aufgeführt. Es stimmt einfach nicht, dass der Wahnsinn immer nur am wahnsinnigen Menschen haften bleibt und ausschließlich in den dafür zuständigen Institutionen verwaltet und unter Verschluß gehalten werden könnte. Das ist allenfalls eine beruhigende Mystifikation. Die große und weltmächtige Seite des Wahnsinns wird weitgehend ignoriert, man tut so, als gäbe es diese Seite nicht, man will nichts davon wissen und nichts damit zu tun haben. Man hält dem Wahnsinn sozusagen die gesellschaftliche Bühne frei, bis zum nächsten Auftritt."


und die angesprochene krankheit lässt sich auch in form einer (religiösen) sekte materialisieren, sei angemerkt.

*

wer hier schon länger mitliest, wird sich darüber im klaren sein, dass ich unter "wahnsinn" nun eben nicht das übliche klischeebild des "sabbernden psychotikers in der zwangsjacke" verstehe (von dem sich fast jede/r leicht abgrenzen kann), sondern eher ansätze favorisiere, die uns das, was unter dem begriff firmiert, unangenehm nah auf die pelle rücken lassen. hinsichtlich einer gestalt wie mixa, der sich ja durchaus ohne "auffälligkeiten" innerhalb der gesellschaftlichen konventionen bewegen kann, tendiere ich aber tatsächlich dazu, aufgrund der sichtbaren struktur im hintergrund - extrem fiktionaler (religion) bis halluzinatorischer ("teufel") inhalt der ideologie, scharf ausgeprägte machthierarchien in der institution selbst, die im übrigen in vielen bereichen die klassischen formen einer
totalen institution aufweist, sowie - erschwerend - züge eines angeblich göttlich verliehenen delegiertenmandats und besonderer auserwähltheit - , die grenzen zwischen den zwei früher genannten qualitativ grundsätzlich verschiedenen psychotischen zuständen (einmal das klassische modell; zum anderen das, was im extrem vom soziopathen verkörpert wird) durchlässiger zu sehen und eine seltsame und bösartige mischform anzunehmen. die simulativen fähigkeiten und das instrumentell-intelligente kalkül zwecks ausagieren der antisozialen tendenzen sind ebenso vorhanden wie symptome einer ganz typischen, im religiös verbrämten gewand auftretenden stinknormalen psychotischen grundstruktur, incl. paranoiden anwandlungen, wahrnehmungen halluzinatorischer qualität (wer ernsthaft anderen mit exorzismus auf den leib rücken will und derart dämonenglauben demonstriert...) und narzisstisch erscheinenden zügen.

"wahnsinn" ist letztlich "nur" ein synonym für: gestörte bzw. stark beeinträchtigte realitätswahrnehmung. und unter dem aspekt sollten nicht nur leute wie mixa betrachtet werden.

*

das ich bei den eingangs dokumentierten zitaten nicht komplett rot gesehen habe, liegt u.a. auch daran, dass nicht nur bei "spon" sondern inzwischen auch bei anderen berichtenden medien wie "zeit", "fr" u.a. eine doch relevante zahl der kommentierenden mehr als deutliche worte findet - ein regelrecht vernichtendes
urteil von einem, der die verhältnisse mit am besten kennen dürfte:

(...) "Inzwischen aber ist das Klima derart vergiftet, dass man einem katholischen Geistlichen ersteinmal jede Schandtat zutraut. Dass es soweit gekommen ist, haben die Verantwortlichen in den Kirchenleitungen sich selber zuzuschreiben. Jetzt rächen sich Wegschauen, Leugnen und Vertuschen, wie sie über Jahrzehnte praktiziert wurden.

Bei aller grundsätzlichen Sympathie für eine Kirche, der ich selber lange Zeit angehörte, auch als Priester, kann ich nur sagen: Sie hat es nicht besser verdient."


dazu ist verstärkt etwas zu sehen, was sich bereits in den vergangenen wochen abzeichnete - es werden sehr viele persönlich-biographische fragmente veröffentlicht, speziell auf die zeiten von 1950 bis ca. mitte der 80er jahre bezogen - erfahrungen aus staatlichen sowie religiösen schulen und heimen, aber auch schilderungen des "ganz normalen" familienlebens. was da zu lesen ist, ist ein grosses puzzlestück beim versuch, zu begreifen, warum "wir" heute mehrheitlich so ticken, wie wir´s eben tun. das ist, zumindest für mich, nichts neues, aber in derart geballter form doch schmerzlich. die innere psychosoziale struktur dieser gesellschaft wird in wesentlichen teilen sichtbar, alice miller und lloyd deMause werden x-fach in ihren beschreibungen der tieferen dynamiken der (westlichen) gesellschaften bestätigt. es sind formen und wirkungen der traumatischen matrix in aller deutlichkeit zu sehen, wie sie bisher nur erahnbar waren. und das bild ist noch verheerender, als ich es selbst vermutet und befürchtet habe.

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edit, leider kein aprilscherz: in einer öffentlichen
erklärung gibt mixa am ende das folgende von sich (nachdem er natürlich "nie" undsoweiter):

(...) "Ich bin gerne bereit, mit Männern und Frauen, die in ihrer Jugendzeit im Kinderheim St. Josef in Schrobenhausen gelebt haben, über ihre Erinnerungen, Erlebnisse und Vorwürfe zu sprechen, um zuzuhören und zu erfahren, was sie in ihrer Kindheit belastet hat." (...)

zu dieser herablassenden gnädigkeit jenes "herrn" fällt mir nun absolut nichts mehr ein, ausser dem punkt, dass bei bestimmten - besonders von ihrem tun überzeugten - gewalttätern immer mal wieder amnesien bezgl. ihrer eigenen vergangenheit beobachtet werden und sie wirklich ernsthaft überrascht sind, wenn sie von dieser vergangenheit per vorwurf/anklage eingeholt werden (eine andere möglichkeit, nämlich die, dass er darauf setzt, dass seine ehemaligen opfer durch eine persönliche konfrontation wiederum in ein schockinduziertes abhängigkeitsverhältnis verfallen, möchte ich noch nicht als option in betracht ziehen - das wäre ein gipfel an kalkulierender niedertracht, der bereits soziopathische "qualität" hätte. aber vielleicht bin ich da selbst auch nur zu naiv.)

wie dem auch sei: der ganze satz ist einfach schlicht unglaublich. und ja, ich glaube ihm kein einziges seiner salbungsvollen worte.

und noch ein nachtrag, da gerade erst gesehen -
''Mixas Erklärung ist verlogen und unverfroren'':

(...) "Zwei der sechs Betroffenen sind bei der Nachricht über Mixas Stellungnahme aus allen Wolken gefallen. Hildegard Sedlmair aus Stadtbergen bei Augsburg zeigte sich nur "geschockt". Der Mann "belügt sich selbst", sagt sie.

Auch Jutta Stadler aus Pfaffenhofen ist "fassungslos", wenn sie den ersten Satz der Erklärung liest. Darin heißt es: "Ich bin zutiefst erschüttert über die Anschuldigungen, die mir gegenüber erhoben werden". Als "verlogen und unverfroren" bezeichnet sie Mixas Äußerungen, in denen er seine "Sorge um das Wohl und die Zukunft von Kindern, Jugendlichen und Familien" betont. Sie seien, so der letzte Satz der Stellungnahme, "ein vorrangiges Anliegen meiner seelsorgerischen Arbeit seit eh und je."

Ein annehmbares Gesprächsangebot sehen beide Frauen in den Äußerungen des Bischofs nicht. Bevor Jutta Stadler überhaupt zu einem Gespräch mit dem Bischof bereit wäre, müsste dieser erst einmal eingestehen, dass er sie geschlagen hat. "Ich spreche auf keinen Fall mit jemandem, der mich als Lügner hinstellt." (...)


dem ist vorläufig nichts weiter hinzuzufügen. ich weiß gar nicht, was ich schlimmer finden würde: tatsächlich etwas wie die weiter oben benannte amnesie; die unerschütterliche überzeugung, vor seinem halluzinierten "gott" immer das richtige getan zu haben, oder aber kaltes kalkül eines machtmenschen, der den apparat einer weltweit agierenden sekte hinter sich weiß und jetzt aufs ganze geht. alle drei varianten wären ohne weiteres jeweils als ausdruck einer psychopathologischen struktur zu bezeichnen.

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ein weiterer nachtrag -
ohne kommentar:

(...) "Auch von schweren körperlichen Züchtigungen mit einem Stock, mit dem Teppichklopfer und mit einem Ledergürtel ist die Rede. Den Gürtel, so sagt eines der früheren Heimkinder, habe Mixa aus der Hose gezogen und dann damit zugeschlagen. (...)

Vier weitere ehemalige Heimzöglinge, darunter eine Frau, haben sich an eine Lokalredaktion im Bistum Augsburg gewandt und schlimme Erfahrungen mit Mixa aus dessen Schrobenhausener Zeit geschildert. Alle berichten von heftigen Ohrfeigen, einer von Prügeln mit dem Gürtel. Eine Journalistin sagte gegenüber unserer Redaktion, sie habe bisher trotz der eidesstattlich vorgebrachten Vorwürfe gegen Mixa daran geglaubt, dass der Bischof unschuldig sei. »Was ich jetzt selbst von Betroffenen gehört habe, lässt mich aber sehr zweifeln.« (...)

Sonntag, 28. März 2010

assoziation: zu einigen erstaunlichen aspekten eines popkulturellen urknalls

und nun zu etwas ganz anderem - nein, eher zu einer der anderen seiten der medaille namens "herrschende verhältnisse".

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wenn bisher hier die rede auf die welten des showbizz kam, dann meist in eindeutigen kontexten - ob sich das bspw. nun auf
heidi klum und ihre anorektischen supermodels bezog, mögliche borderline-tendenzen bei leuten wie angelina jolie oder auch die traumatische biographie eines michael jackson - stets ging es um den versuch der darstellung dessen, wie sich der ganz normale gesellschaftliche wahnsinn in vielfältigen formen gerade auch in (pop-)kulturellen bereichen manifestiert, ausdrückt und ein -teils verwirrendes, weil verzerrtes - spiegelbild seiner selbst liefert. das ist meiner meinung auch letztlich beim gleich folgenden beispiel nicht groß anders; dennoch gibt es ein paar unterschiede, die ich ziemlich interessant finde. auch deshalb, weil es sich - bisher - um ein spezifisch "deutsches" phänomen handelt.

*

"Vergangene Woche ist Lena Meyer-Landrut in Berlin gewesen, da sind sie bei n-tv fast ein bisschen ins Schleudern geraten. Die Nachricht traf den Nachrichtensender offenbar ebenso unvorbereitet wie den Rest der Republik, es folgten hektische Minuten. Die laufende Politikberichterstattung wurde unterbrochen, die Moderatoren im Studio erklärten, Lena Meyer-Landrut sei jetzt in Berlin und schalteten live in die Innenstadt. Eine wackelige Kamera zeigte Lena am Brandenburger Tor, Lena vor Geschäften, Lena auf einer Bank. Am unteren Bildrand lief immer wieder ein Schriftzug entlang, auf dem stand: «Lena auf Visite in Berlin.» Das war auch der Tenor der Berichterstattung eines einigermaßen aufgewühlten Kommentators." (...)

das obige ist die einleitung zu einem presseartikel mit dem titel
Verliebt in die Hoffnung auf ein besseres Morgen , aus dem ich auch im späteren verlauf noch öfter zitieren werde - alleine die überschrift ist bemerkenswert und auch in gewisser hinsicht treffend. lena meyer-landrut also, das "neue deutsche fräulein wunder", in das sich "die republik verliebt" hat (ebenfalls alles pressezitate der letzten tage). eine republik, in der wir es u.a. gerade mit massiven legitimationskrisen zu tun haben - "die politik" insgesamt, banken, kirchen... - überall bröckelt nicht nur der lack ab, sondern es fallen ganze steine aus den tragenden institutionellen mauern heraus. und eine gesellschaft, in der eine eigentümliche apathie herrscht, was ihre eigene gegenwart und zukunft anbelangt. vor diesem hintergrund finde ich das, was da alles rund um eine achtzehnjährige frau passiert, ziemlich spannend.

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persönlich bin ich das erstemal vor ca. zwei wochen in einem zeitungsartikel auf sie aufmerksam geworden, und zwar durch die sinngemässe aussage, "die lena" sei so verdammt authentisch - wen wundert´s, dass mich besonders dieses wort zu ersten recherchen gebracht hat?

können Sie sich meine einigermaßen fassungslose überraschung vorstellen, als ich nach recht kurzer zeit feststellte, dass ich selbst - entgegen jeglicher eigener erwartung und nach ansicht einiger videos von und interviews mit ihr im netz - beeindruckt war? das stürzte mich wirklich in einige verwirrung - ich bin weitgehend tv-abstinent, hasse besonders castingshows (über die sowieso einiges anzumerken wäre; georg seßlen war´s glaube ich, der ende 2008 in einer kleinen reihe in konkret sehr schön herausgearbeitet hat, warum diese art shows perfekt in das zeitalter von hartz-IV und prekären arbeitsverhältnissen passt - und das liegt nicht nur am zugrundeliegenden motiv der selektion) wie die pest; nehme den "grand prix" bzw. "eurovison song contest" seit jahren gar nicht wahr oder nur ausnahmsweise als mehr oder weniger belustigenden trash; höre überwiegend elektronische instrumentalmusik - und da saß ich nun, sah mir im netz mit vergnügen auftritt nach auftritt einer singenden schülerin in einer castingshow für eben diesen contest an - und versuchte dahinterzukommen, was zum teufel mich da so offensichtlich berührt. mittlerweile glaube ich, eine antwort gefunden zu haben - aber dazu später.

*

weil die blanken fakten bereits ein wichtiger teil der ganzen geschichte sind (und weil ich vermute, dass nicht wenige leserInnen hier vielleicht zwar schon über den namen gestolpert sind, dann aber müde abgewunken haben), hier noch einmal die geschichte im schnelldurchlauf:

irgendwann vor ein paar monaten fährt eine schülerin kurz vor dem abitur zu den vorcastings für die auswahlshows "unser star für oslo", nach eigener aussage völlig "auf eigene faust" und mit der motivation, sich mal von "professionellen" hinsichtlich ihrer gesanglichen fähigkeiten beurteilen zu lassen. abgesehen von ein paar auftritten in einer schulband hat sie keinerlei erfahrungen. sie wird von tausenden mitausgewählt, tritt irgendwann im februar als letzte in der ersten show auf, hat vorher auf ihrem eigenen gewählten coversong gegen die ratschläge der initiatoren - sinngemäß "zu ungewöhnlich" - bestanden - "sonst fahr´ ich halt wieder" - und - bumm.

Lena Meyer-Landrut - My Same
Found at abmp3 search engine

dieser song war tatsächlich der urknall in dem sinne, dass sie damit und besonders mit der art ihrer performance sofort vielen leuten auffiel - als ich in der letzten woche mal versucht habe, die ganze entwicklung anhand der netzdaten zu rekonstruieren, liess sich das verifizieren. der rest ist heute schon (musik-)geschichte: bis zur finalen show coverte sie primär mehr oder weniger "independent"-material (u.a. the cure, the bird and the bee u.ä.), wurde wieder und wieder gewählt - und beendete die auswahl mit ihrem geradezu zwangsläufigen sieg sowie den ersten songs, die wirklich neu waren und speziell für den contest geschrieben wurden.

was daraus aktuell geworden ist: alle drei finalsongs mit erscheinen sofort unter den top-five der charts, "goldene schallplatte" (150.000 verkäufe) knapp eine woche nach veröffentlichung für das "oslo-lied" satellite, inzwischen drei millionen aufrufe für das entsprechende video alleine auf you tube, über 60.000 fans bei facebook, aufploppende lena-foren und -blogs im netz, aberhunderte von presseartikeln, nach ihrem sieg ein empfang im rathaus mit oberbürgermeister und unter grösserer öffentlicher anteilnahme, rasant ausbreitende tv-präsenz... kurz: ein klassischer hype von allerdings wirklich ungewöhnlichen dimensionen.

*

don´t believe the hype - sicher. und auch ist richtig, was zb. der folgende
kommentar aus der "taz" auf dem punkt bringt:

"Endlich Oslo! Endlich Lena Meyer-Landrut!

Vorbei der Stress am Arbeitsplatz, vorbei die Missbrauchsskandale im TV, die ganze korrupte Politikschose, vorbei das Klimageschimpfe, die nie enden wollende Wirtschaftskrise und ihre drohenden Folgen, vorbei das Elend auf der Welt.
"Endlich mal wieder richtig ABSCHALTEN!"

Vorbei die elende belastende feministische Kritik am Sexismus und extremen Schönheitswahn. An blutjungen, perfekten Dingern, die quirlig auf der Bühne rumstolpern und mit den Wimpern klappern, um dann von Raab angebaggert, Bohlen erniedrigt oder dem schmierigen Stalker verfolgt wird.
"Wir sind modern und sexy - und wir haben Spaß"

Vorbei auch das elende Gefühl in einer kranken Gesellschaft der totalen Konkurrenz leben zu müssen, in der man nicht mal bei besten Freunden weiß ob man ihnen immer richtig vertrauen kann.
Sich wie im Hamsterrad fühlt, um es dem Chef recht zu machen, der dann wegen schnelleren Hamsterrädern anderer pleite geht.
"WIR sind eine große Familie"

Vorbei auch unsere verkackte Geschichte, die logischerweise bis heute andauert. Verdammt all das erzeugte Leid der Alten, über das man lieber nicht mehr sprechen möchte.
"Wir sind wieder wer - und wir sind hier im HEUTE"

Vorbei dieser ganze Hippiekram von Kulturkritik und ewiger Ernsthaftigkeit. Von Menschen, die immer nur vom Elend reden müssen. anstelle auch mal fröhlich zu sein, wenn sie Raab, Bohlen und v.a. Lena Meyer-Landrut sehen.
Es gibt auch schöne Seiten an der Welt.

365 Tage im Jahr.
24 Stunden am Tag abrufbereit - IM FERNSEHEN!
Schalt dich richtig krass und lange weg!
Für nur 17,10 im Monat die volle Dröhnung frei Haus."


alles durchaus treffend - und trotzdem: gerade die linke - im weitesten sinne - hat in der vergangenheit mehrheitlich speziell auf mainstream-(pop-)kultur mit oft gar nicht mal unberechtigter (im sinne von verständlicher) herablassung reagiert, dafür aber den preis gezahlt, die relevanten informationen über die eigene gesellschaft, die regelmässig in solchen massenphänomenen stecken, nicht wahrzunehmen. meiner erinnerung nach war es che guevara, der sinngemäss sagte, dass es mit die erste pflicht eines revolutionärs sei, wahrzunehmen, was real vorhanden ist. und in diesem fall ist ein teil der realität bspw. die repräsentativität einer aussage wie der folgenden, ebenfalls aus dem entsprechenden kommentarteil der "taz":

"Die junge Dame ist ein Erlebnis und ich hoffe, sie bleibt so. Es macht Spaß ihr zuzuhören und das ist für mich der Faktor, nach dem ich gewählt habe.

Woran das hängt kann ich nicht sagen, aber es scheint vielen so zu gehen."


die frage "woran hängt´s denn" ist dabei für mich die interessante - zunächst ist festzuhalten, dass sich die "bezaubernde wirkung" der lena m-l nicht unbedingt durch das bloße hören ihrer songs einstellt (auch wenn ich persönlich ihre stimme durchaus angenehm finde), sondern besonders dann, wenn dazu ein visueller und bewegter eindruck von ihr vorhanden ist - und der stellte sich bisher oftmals so dar (nochmal ein zitat aus dem anfangs verlinkten "Verliebt in die Hoffnung..."):

(...) "Wenn Lena auftritt und singt, dann sieht sie meist ein bisschen ungelenk aus. Ihre Beine stellen sich hin und wieder kurz zu einem X, ihre Bewegungen sind ein bisschen ruppig, ihre Gestik unbeholfen. In der Summe mag all dies nicht perfekt sein, aber weil Lena keinen Hehl aus ihrer Nicht-Perfektion macht, wirkt sie irgendwie anmutig. Und weil sie versteht, was sie singt, weil sie sich bemüht zu erzählen, was das Lied sagen will, werden ihre Bewegungen zu einer Art Ausdruckstanz ihres Gesangs. Sie ist authentisch, sie ist sie selbst. Das vor allem." (...)

oder wie sie es selbst ausdrückt:

"ich tanze so, wie ich tanze - so tanze ich"

das im besagten artikel eine seite vorher zu lesen ist...

(...) "Wenn die Jugend nicht weiß, wogegen sie rebellieren soll, muss sie sich eben selbst inszenieren. Das gelingt Lena so gut, dass man vor Staunen kaum den Mund geschlossen halten kann." (...)

...mag dabei ausdruck des unausgesprochenen konsens vom (irr-)glauben daran sein, dass authentizität immer nur als inszenierung / simulation daher kommen könne, besonders im öffentlichen raum. auf letzteres bezogen, mag das im regelfall so sein; allgemein aber ist das schlicht unsinn.

nochmal aber zurück auf die visuelle ebene: das es offenbar notwendig ist, sie zu hören und dabei zu sehen, lässt sich durchaus als ersten hinweis darauf betrachten, welche wirkungsebenen hier beteiligt sind. und dabei geht´s noch nicht mal um ihr durchaus hübsches äusseres (damit steht sie unter jungen frauen nicht alleine da), auch nicht um eine primär irgendwie sexuelle ebene (im gegenteil finde ich, dass sie an ausstrahlung verliert, wenn sie - wie bei einigen ihrer letzten tv-auftritte - betont als vamp im hautengen kleid und geschminkt mit roten lippen daherkommt), sondern tatsächlich um ihre art zu sein.

was ich damit meine, wird vielleicht besser nachvollziehbar durch den folgenden zusammenschnitt:



kurz: wenn sie aufgeregt ist, ist sie aufgeregt (mit immer wieder interessanten wortfindungsstörungen ;-), wenn sie sich freut, freut sie sich, wenn sie - und so weiter. alles, von der ausdrucksvollen mimik bis zur gestik, spricht einfach nur davon, dass hier jemand ohne sich groß darüber gedanken zu machen, mehr oder weniger situationsangemessen, d.h. ohne grössere, aus der eigenen selbst- und fremdwahrnehmung resultierende verzerrungen, reagiert und agiert. in längeren interviews, in denen sie etwas ruhe hat, verschwinden die benannten wortfindungsstörungen völlig, und dann ist zu sehen, dass sie durchaus reflektiert mit sich und ihrer situation umgehen kann. dazu eine immer wieder durchschimmernde selbstironie - als mir das alles langsam bewusster wurde, war mir auf einmal auch klar, dass meine erwähnte verwirrung zu einem teil daher rührte, weil mir die gefühle, die ich bei der wahrnehmung der lena m-l spüre, nicht unbekannt sind. sehr ähnliche habe und hatte ich immer dann, wenn ich in meinem leben mit menschen zusammen gekommen bin, die ich als im einklang mit sich selbst (ein synonym für authentizität) wahrgenommen habe, mithin also als von der traumatischen matrix um uns herum relativ wenig be- und geschädigt. von solchen menschen gibt es offenbar so wenige hier, dass sie in meiner wahrnehmung regelmässig in form eines peaks auffallen. sie haben eine entspannte (und entspannende) ausstrahlung, vermitteln eine oft untergründige alltagsfreude, können sich einlassen und machen es einem bspw. auch leicht und selbstverständlich, in ihrer anwesenheit ohne angst eigene fehler und defizite einzugestehen.

ein user in einem fanforum bringt das wesentliche in eigenen worten auf den punkt (und nein, ich habe das nicht geschrieben, auch wenn ich es ähnlich formulieren würde):

"wenn ich auch mit recht von lena bezaubert bin, ist mir ihre art nichts fremdes oder gar verrücktes, wie man es oft bezeichnete. so wie sie zb. in dem ard-interview reagierte, verhält man sich unter guten freunden auch. mit ihrem charme macht sie jedes gegenüber zu ihrem freund und ist dabei so unbekümmert und present, das man ihr ihre gedanken, gefühle und worte einfach abnimmt.
ich kann lena auf den kopf zusagen das sie mit sehr viel liebe und nähe aufgewachsen ist und fühle mich da sehr an meine eigene kindheit erinnert. bis zum heutigen tag erlebe ich es immer mal wieder, das man lebens- und menschenliebe für naivität hält, mit der abschottung und ahnungslosigkeit vor der sogenannten realität zu erklären versucht. wer aber die wirkliche kraft von güte, liebe und weisheit erfahren durfte, erkennt das böse als traurige mangelfolge, die bedrohung in der dummheit.

sich selbst so annehmen zu können wie man ist und keine scheu davor zu haben damit bei jedem auch guten gewissens bestehen zu können, stünde uns allen gut zu gesicht. auch ich bin gross-geliebt worden, einfach dafür das es mich gab. das hat jedes kind verdient und jedes menschlein sehnt sich so sehr danach.
authentizität scheint mir in unserer gesellschaft ein rares gut zu sein. viel eher wird versucht sich seiner eigenen maske gerecht zu werden, statt tatsächlich sich selbst.

lena strahlt offensichtlich die liebe aus, die sie auch selbst erfahren durfte und bekommen hat. das sie ein sehr inniges verhältnis mit ihrer mama hat, hat mir das noch mal voll bestätigt." (...)


mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen - die vermutung, dass ihre familienverhältnisse im positiven sinne behütet (gewesen) sind, hatte ich ebenfalls bereits recht früh. und das sie diesen raum, wie ihre gesamte privatsphäre, in der öffentlichkeit freundlich, aber sehr bestimmt auf ihre eigene art versucht abzuschotten, ist nachvollziehbar und verständlich. mir würde als äquivalent auf der ebene der sog. stars am ehesten jodie foster einfallen, die mit ihrem privatleben ähnlich behutsam umgeht - und ebenfalls eine sehr warme und authentische ausstrahlung vermittelt.

*

neben ihrer - altersgemäßen- leichten überdrehtheit mit daraus folgenden komödiantischen momenten halte ich das obige für das zentrale moment beim phänomen "lena". das in dem erwähnten fanforum das jüngste mitglied meines wissens ein neunjähriges mädchen ist, während sich beim empfang in hannover auch 80jährige großmütter getummelt haben und sich in diversen onlineforen besonders häufig männer dies- und jenseits der 40 als "hingerissen" bezeichnen, unterstreicht meiner meinung nach diese these durch die unterschiedlichkeit der von lena m-l begeisterten noch.

(...) "Lena ist eine Art Antipode zur ernsten Biederkeit der 80er Jahre, zum oberflächlichen Hedonismus der 90er, zur Perspektivlosigkeit der 00er-Jahre. Dass Nachrichtensender wegen ihr die laufende Berichterstattung unterbrechen, dass ihr von allen Seiten verliebte Artikel zugetragen werden, dass sich ihre Singles verkaufen als käme nichts mehr nach ihr, hat auch damit zu tun, dass sie, wenigstens in diesem Frühjahr, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft verkörpert. Insofern ist das, was in sie hineinprojiziert wird, vielleicht am Ende doch politisch.

Wenn heute von «der Jugend» die Rede ist, dann meist im negativen Kontext: Komasaufen, Ausbildungsplatzmangel, Jugendarbeitslosigkeit, Jugendarmut, Jugendkriminalität. Fast ist es, als habe die Gesellschaft die Hoffnung in die Jugend, die sie selbst hervorgebracht hat, etwas verloren. Und dann kommt eine wie Lena.

Eine, die so ist, wie man sich die Gesellschaft von morgen wünscht: gebildet, talentiert, aufrichtig und trotzdem fähig zur Selbstironie. Wahrhaftig. Sie könnte die Gunst der Stunde nutzen und mit Macht eine Karriere als Society-Sternchen vorantreiben. Stattdessen macht sie erst mal Abitur. Überdies ist sie mit einem Selbstvertrauen ausgestattet, das jeder Herausforderung standzuhalten scheint. Man könnte sie sich auch als Ärztin vorstellen, oder als Maybritt Illner." (...)


naja, das letzte würde ich nun nicht gerade als kompliment betrachten - und sicher fungiert sie auch als projektionsfläche. aber ich glaube, zumindest bisher resultiert ihre wirkung tatsächlich vorwiegend aus dem, was ich oben versucht habe zu skizzieren.

und das ist in mindestens zweifacher hinsicht erstaunlich: einmal in regelrecht niederschmetternder weise, weil die eigentlich schlichte selbstverständlichkeit, sich in der welt im einklang mit sich selbst bewegen zu können, offensichtlich in dieser gesellschaft so aufsehenerregend ist, dass dafür nachrichtensender ihr programm unterbrechen und sich diese eigenschaft massenhaft verkaufen lässt. für das zeitalter der fakes und simulationen eigentlich nichts überraschendes, aber dennoch unschön, mitansehen zu müssen, wie weit und tief sich das simulative bereits verbreitet hat.

(...) "In einem Land, dessen Prominenz aus Politik, Sport und Show im Wesentlichen aus Angepassten, Floskelmaschinen und Selbstdarstellern besteht, ist sie eine ziemliche Ausnahmeerscheinung. Es ist, als sehne sich das Land nach Wahrhaftigkeit, und Lena ist so etwas wie die vorübergehende Verkörperung dieser Sehnsucht." (...)

zum anderen aber: im gegensatz zum ganzen - ja, störungskatalog, der sich gerade im showbusiness nicht nur im pathologischen narzissmus, suchtproblemen und diversen anderen diagnostischen kriterien manifestiert, erscheint lena m-l im vergleich dazu von geradezu blühender gesundheit. und das sie trotzdem beliebt werden konnte, könnte vielleicht auf einen paradigmenwechsel in teilen der öffentlichen wahrnehmung hindeuten, den ich erstmal als unbestimmt positiv empfinden würde.

*

natürlich gibt es bei ihren öffentlichen auftritten auch schon unübersehbare ansätze einer maske für eben diese öffentlichkeit, und gerade bei auf die sekunde durchgeplanten events aller art kommt ihre persönlichkeit auch bereits unter die räder der verwertungsmaschinerie - umso erstaunlicher, dass sie´s - bisher - immer noch schafft, sich ihre räume, wenn auch teils nur noch fragmentarisch, irgendwie zurückzuholen. zu befürchten ist leider, dass sie gerade in ihrer rolle der quasi "nationalen delegierten" für den songcontest, ausgepresst wird wie eine zitrone bis zum letzten - nutzbaren - tropfen. entgegen aller vernunft würde ich mir wünschen, dass ihre geschichte in diesem fall ein echtes happy end bekommen würde.

*

bei alldem kein wunder, dass sie durchaus polarisierend wirkt und quasi als gegenpol zu aller bewunderung regelrecht hass hervorruft, bis hin zu wünschen, sie zu entführen und in einen keller zu sperren - den link zu diesem nicht zufällig an natascha kampusch erinnernden szenario spare ich mir an dieser stelle; wer will, kommt durch entsprechende recherche selbst drauf. ob das nur neid auf ihren - vergänglichen - kommerziellen erfolg ist (für den sie womöglich selbst einen zu hohen preis bezahlen muss), bezweifle ich; eher halte ich tiefere ebenen für beteiligt, bei denen primär auf ihre authentizität reagiert wird - die kann nicht nur im positiven extreme reaktionen auslösen.

noch ein anderes fass machte besonders die "welt" auf, das fachblatt für den gehobenen bürgerlichen sozialdarwinisten, in dem in den vergangenen monaten figuren wie westerwelle, sarrazin und gunnar heinsohn ihren ganz eigenen contest unter dem motto "wer ist deutschlands dümmster sozialrassist?" veranstalteten. dort wurde teils alle zwei tage ein artikel nach dem anderen über lena m-l herausgehauen, mit zwar verschwurbelt vorgetragenen, aber doch klaren
tendenzen:

(...) "Man könnte sagen: Lena Meyer-Landrut hat die Deutschen, ihre sogenannte bürgerliche Mitte, von der heute alle reden, ausgesöhnt mit Pop und Fernsehen. In der ARD und auf ProSieben. Nicht dass die verunsicherte Mitte sich nicht gern an „Deutschland sucht den Superstar“ ergötzte, an verzweifelt singenden Verlierern. „Unser Star für Oslo“ allerdings verbreitete die frohe Botschaft des gehobenen Milieus.

Das war zwar weniger unterhaltsam, aber ungemein beruhigend für kultiviertere Adressaten. „DSDS“ treibt die armen Schweine durchs mediale Dorf. „USFO“ zeigte, dass mit den Kindern alles stimmt, solange sie behütet aufwachsen, gefördert werden und geliebt wie Lena Meyer-Landhut. Trotz Privatfernsehen und Stefan Raab, trotz MySpace oder Facebook." (...)


einmal ist der aufgemachte gegensatz zwischen dem "proll-tv" ála "dsds" typisch; nicht, dass denen das nicht gefallen würde, aber es gleichzeitig auch irgendwie schmutzig, weil unkultiviert. schaut sie euch nur an, diese loser, wie sie sich erniedrigen - das ist perfide im quadrat und hat strukturell etwas vom gleichen herrenmenschenblick, mit denen im wk2 die nazis auf die kriegsgefangenen der roten armee schauten - "das sind unkultivierte schweine", und zwar nicht deswegen, weil sie unter erbärmlichen umständen zu hunderttausenden in die lager gepfercht wurden und buchstäblich vor hunger das gras fraßen, sondern weil die so sind. in anderen artikeln der gleichen zeitung kommt das noch etwas deutlicher zum vorschein.

zum anderen aber wird dort lena m-l konsequent alle authentizität als inszeniert ausgelegt. und das macht durchaus aus einer machtperspektive sinn - obwohl ständig als rhetorische forderung medial herausgeblasen - "eigenverantwortung", "mach dein eigenes ding", "tritt selbstbewusst auf" etc. - , ist eine natürliche selbstbewusstheit mit der entsprechenden fähigkeit zur verantwortlichkeit für sich selbst und andere, wie sie lena m-l in ihrem alter bereits ansatzweise verkörpert, doch zutiefst unerwünscht und suspekt - menschen mit dieser eigenschaft lassen sich nämlich unter umständen weder leicht in allgemein prekäre verhältnisse zwingen noch widerstandslos dazu abrichten, all die elitären verbrechen einfach so hinzunehmen. ihnen fehlen die minderwertigkeitsgefühle und elementaren selbstzweifel, mittels der so viele so gut manipuliert werden können. sie werden bei solchen zumutungen einfach schneller bereit und fähig sein, sich zu wehren.

lena m-l hatte dank ihrer herkunft offensichtlich noch keinen größeren kontakt zu dieser seite auch ihrer welt, wird die jetzt aber durch die vermarktungsmaschinerie, in der sie sich befindet, auf eine sehr spezielle art und weise kennenlernen. und fängt bereits an, grenzen zu setzen. das dürfte von etlichen leuten durchaus als unerwünschtes vorbild empfunden werden.

insofern: auch, wenn von lena m-l zukünftig nicht die kleinste "politische" äusserung zu vernehmen sein wird, so ist doch bereits die art und weise ihrer öffentlichen existenz per se tatsächlich im weiteren sinne politisch.

darum: viel erfolg auf Deine art, lena!

notiz: blanke inkompetenz bei gerichtsgutachten

aus österreich kommt die folgende meldung:

"Misshandeltes Baby: 20 Monate Haft für Vater
Am Freitag ist erneut jener Vater vor Gericht gestanden, der seiner sieben Woche alten Tochter 24 Knochen gebrochen haben soll. Das nicht rechtskräftige Urteil: 20 Monate unbedingte Haft. (...)

Das Baby wurde Anfang Dezember 2008 mehrmals untersucht. Am Freitag waren die beiden medizinischen Gutachter Regina Gatternig und Karl Fritz am Wort. Sie hatten sich die Befunde von Anfang Dezember genau angeschaut.

Der Mann gab zu, dem Säugling den Kopf verdreht zu haben, weil er nicht trinken wollte. Zudem gestand er, dem Mädchen den Brustkorb zusammengedrückt zu haben, und rechtfertigte sich mit Überforderung." (...)


so weit, so schlecht und trostlos - aber nicht um zustand und mögliche motivationen des täters soll es gerade gehen, sondern um eine bodenlose ignoranz von "professioneller" seite:

"Dass der Mann das Kind so stark geschüttelt hatte, dass es ein Schädel-Hirn-Trauma davontrug, schlossen die Mediziner aus, ebenso psychische Folgeschäden. Das Kind könne das noch nicht realisieren, sagte Gatternig."

bitte wie?!? "Das Kind könne das noch nicht realisieren". so ein satz von einer medizinerin und gerichtsgutachterin ist im jahr 2010 nichts weiter als eine persönliche bankrotterklärung und die öffentliche zurschaustellung eines katastrophalen informations- und wissensdefizites. jahrzehnte der pränatal- und säuglingsforschung sowie der psychotraumatologischen arbeit sollten eigentlich so eine absurde äusserung schlicht undenkbar gemacht haben - offensichtlich gibt es aber "professionelle", die sich ungefähr auf dem stand der 1950er jahre befinden.

das schlimme daran ist, dass sie damit nicht unbedingt alleine stehen könnte, sondern es womöglich eine kluft gibt zwischen der allgemein "erwachsenenmedizin" einerseits sowie der pädiatrie und den bereichen von psychiatrie und psychologie, die sich mit babys und (klein-)kindern beschäftigen, andererseits. während bei den letzteren i.d.r. der stand so ist, wie zb.
hier zwar sehr "populär", aber durchaus brauchbar, zusammengefasst:

(...) "Dachte man noch Anfang der fünfziger Jahre, ein Neugeborenes könne keinen Schmerz empfinden, so weiß man heute, daß der Schmerzsinn schon lange vor der Geburt ausgebildet ist. Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat reagieren Föten empfindlich auf Berührungsreize am Mund. Nicht viel später verfügen sie über eine differenzierte Geruchs- und Geschmackswahrnehmung. So kann man bei Neugeborenen feststellen, daß sie den Geschmack süßer gegenüber saurer Flüssigkeiten bevorzugen. Auch scheinen sie den Geruch des eigenen Fruchtwassers oder des Schweißes der eigenen Mutter gegenüber dem Geruch von fremdem Fruchtwasser bzw. Schweiß zu präferieren.

Die Hörfähigkeiten sind zum Zeitpunkt der Geburt ebenfalls gut entwickelt. Säuglinge interessieren sich für Geräusche und Musik, besonders aber für die menschliche Sprache." (...)


oder auch
hier:

(...) "Es ist ein Mythos, dass Früh- und Neugeborene keine Schmerzen haben oder sich nicht mehr an die Schmerzen erinnern können", sagt Professor Franz-Josef Kretz, Anästhesist am Klinikum Stuttgart. "Diese Märchen sind schuld daran, dass die Schmerztherapie in der Kinderheilkunde noch immer ein Stiefkind ist", klagt der Intensivmediziner.

Stattdessen ist bewiesen, dass Kinder bereits ab der 22. Schwangerschaftswoche im Mutterleib - also dann auch Frühchen - Schmerzen empfinden. Erfahrungen von Kinderärzten zeigen, dass Babys bei einer schmerzhaften Behandlung mit Schreien, Abwehr und Blaufärbung (Zyanose) reagieren. Studien belegen außerdem, dass Kinder ein Schmerzgedächtnis haben. Denn wer in den ersten Lebenswochen Schmerzen ausgesetzt war, zeigt später eine größere Schmerzempfindlichkeit." (...)


- , braucht es anscheinend für die ersteren und offensichtlich auch teile der pädiatrie sowie perinatalen medizin immer noch mehr beweise, um sich vom oben angesprochenen unheilvollen mythos zu verabschieden - anders lässt sich eine meldung wie
diese aus dem jahr 2008 nicht interpretieren:

(...) "Für Ärztinnen und Ärzte, die Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder betreuen, ist nur annäherungsweise einschätzbar, ob und wie viel Schmerz die kleinen Patienten empfinden. Britische Wissenschafterinnen zweifeln nun im Fachjournal "PLoS Medicine" an, dass die gegenwärtig zur Anwendung kommenden Beurteilungskriterien ausreichend sind. Wie die Forscherinnen schreiben, wird der Schmerz derzeit hauptsächlich anhand von körperlichen Reaktionen und Verhaltensmerkmalen eingeschätzt – wie etwa einer Veränderung des Gesichtsausdrucks.

Das Team um Rebeccah Slater führte Messungen der Gehirnaktivität durch, um auf diesem Weg Aufschlüsse über das Auftreten von Schmerzen zu erhalten. Diese Messungen verglichen die Wissenschafterinnen mit den aktuellen Kriterien der Schmerzerfassung, also Hinweisen auf körperlicher und Verhaltensebene. Dabei kamen Slater und Kolleginnen zu dem Schluss, dass die Schmerzen von Säuglingen gegenwärtig möglicherweise unterschätzt werden." (...)


die gründe dafür genauer zu betrachten, wäre einmal ein lohnendes unterfangen - auch wenn ich fürchte, dass die ergebnisse alles andere als positiv für teile der "professionellen" zunft wären. für den moment aber bleibt mir nur, das angesprochene gutachten als das zu bezeichnen, was es real ist: ein ganz professionelles stabbrechen über ein kaum begonnenes leben - egal ob (bestenfalls) aus unwissenheit oder aber anderen, versteckten und destruktiven motiven.

das baby könnte mit entsprechender unterstützung wahrscheinlich selbst noch einiges von der massiv traumatischen gewalt zukünftig bewältigen - aber dazu müsste diese überhaupt erst einmal gesehen und anerkannt werden.

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