Samstag, 9. Oktober 2010

notiz: lesetipps zum wochenende - von behavioristischen anreizen, marilyn monroe, interessierten babys und dem wachstumswahn

bevor ich mich wieder den harrenden und fälligen fortsetzungen widme (btw: sollten Sie jemals selbst als blogautorIn arbeiten, würde ich Ihnen empfehlen, nicht zuviele baustellen auf einmal aufzumachen...), hier nun ein paar kommentierte links zu interessanten texten - und wie so oft bei derartigen zusammenstellungen finde ich, dass es durchaus rote fäden gibt, die alle gleich angesprochenen themen gar nicht mal so untergründig verbinden.

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"Neofeudaler Elitedünkel":

(...) "Wenn wie jetzt über die Höhe der Unterstützung für erwerbslose Menschen gestritten wird, hat sich seit der von Gerhard Schröder verkündeten "Agenda 2010" ein Glaubensdogma etabliert: Arbeitslose brauchten Anreize, so heißt es, damit sie wieder eine Arbeit annähmen.

Dieses Glaubendogma geht davon aus, dass Arbeitsplätze im Prinzip angeblich genügend vorhanden wären, das eigentliche Problem sei vielmehr die Lustlosigkeit der Arbeitssuchenden. Von sich heraus habe der Mensch, so die Unterstellung, auf gar nichts Lust - außer regungslos auf dem Sofa zu liegen. Erst wenn ein finanziell messbarer Anreiz vorliege, würden Gehirnzellen und Gliedmaße in Bewegung gesetzt. (...)

Dieses Menschenbild entspricht (...) jener Psychologie aus dem euphorischen Industriezeitalter, die das naturwissenschaftliche Kausalitätsgesetz umstandslos auf die Erforschung menschlichen Verhaltens zu übertragen versuchte. Sinnbild für dieses Denken ist der pawlowsche Hund, der auf einen akustischen Reiz so voraussehbar reagiert wie eine Maschine: ohne Reiz keine Reaktion.

Dieses Modell passte einst gut zum Regime der Arbeitshäuser und Besserungsanstalten, die für "umherziehendes Gesinde" eingerichtet wurden. Der Mensch sollte - mit Zuckerbrot und Peitsche - an den neuen Rhythmus der Maschine angepasst werden. Der Rückgriff auf den Verhaltensmodus von Tieren verwundert da kaum, denn die mechanische Psychologie kannte keine Seele. Zwischen der Wahrnehmung einer Information (Reiz) und dem darauf folgenden Handeln (Reaktion) fehlte die vermittelnde Persönlichkeit. Die neoklassische Ökonomie, auf der die Anreiz-These basiert, griff dieses Menschenbild auf, um zu begründen, warum der Mensch nur durch ständigen Wettbewerbsdruck zur Leistung bereit sei." (...)


interessanter text, auch wenn ich die kategorien, in denen da gegen diese erkennbar
behavioristischen strategien argumentiert wird - aufklärung, kant, bibel - für zu kurz greifend halte. den befund hinsichtlich der "neoklassik" unterschreibe ich weitgehend (siehe auch zum "institutionellen autismus" der wirtschaftswissenschaften), finde aber vor allem auffällig, wie in diesem beschriebenen menschenbild eigentlich unübersehbar vor allem eine grundsätzlich soziopathische wahrnehmung aufschimmert.

der zugrundliegende objektivistische modus kann bekanntlich bzw. wie schon früher näher erläutert in der welt weder einen immanenten sinn wahrnehmen noch generieren, in bezug auf letzteres höchstens simulationen. neben anderen konsequenzen ergibt sich daraus eine gerne übersehene, nämlich eine
existenzielle langeweile- (auch angesprochen in den basisbeiträgen zur "als-ob-persönlichkeit"). diese spezifische langeweile, basierend auf einem fundamentalen wahrnehmungsdefekt, ist es unter anderem, die echte soziopathen zu ihren teils äusserst riskanten (auch für sie selbst) aktionen motiviert - ein surrogat für jene gleichfalls existenzielle zufriedenheit (oder vielleicht besser: das glücksgefühl), welches authentisch sein könnende menschen bei ihren bewegungen in der welt verspüren können. letzteres eben auch bei erfüllender arbeit.

das "Fehlen der vermittelnden Persönlichkeit" ist dabei ein schlüsselsatz, welches sowohl hinsichtlich der behavioristischen ansätze als auch der soziopathie entscheidend ist. hier wird letztlich eine unbestreitbare eigenwahrnehmung derjenigen sichtbar, die oben benannte ansätze und daraus folgende menschenbilder vertreten, ausformulieren und in "politische" forderungen umsetzen. im vorletzten absatz des artikels wird das wie folgt ausgedrückt:

(...) "Die Manager unserer Skandalbanken bestätigen ihr Menschenbild hingegen auf zynische Weise. Ohne sechsstellige Bezüge oder millionenschwere Boni hätte ihnen womöglich der Anreiz gefehlt, mit jenen aberwitzigen Finanzluftschlössern zu handeln, mit denen sie die Welt vor zwei Jahren bis an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds brachten. Heißt das, unsere Boni-Banker sind von Natur aus faul? Würden sie ohne Spitzengehälter nur träge auf dem Sofa liegen? Zumindest gesteht diese Anreizelite damit ein, dass sie selbst kein Konzept von Arbeit besitzt, das auf der Freiheit der autonomen Persönlichkeit beruht." (...)

das "von Natur aus" halte ich in diesem fall für eine unglückliche, da falsche assoziationen aufrufende, formulierung. aber die fragen dürften generell zu bejahen sein. mit einem fehlenden konzept beruhend "auf der Freiheit der autonomen Persönlichkeit" hat das allerdings ebenfalls weniger zu tun; in ihrer eigenen wahrnehmung sind die betreffenden durchaus "frei" und eher zu sehr "autonom", macht dieser begriff im kontext doch nur sinn, wenn er für eine weitgehende beziehungslosigkeit als synonym gesetzt wird.

auffällig ist aber nicht nur in diesem fall, sondern in vielen bereichen der gesellschaftlichen organisation dieses fast komplette leugnen der menschlichen fähigkeiten der selbstorganisation und -regulierung, für die stattdessen das bekannte bild des faulen, gierigen und letztlich bösen menschen als dominierende vorstellung breit installiert ist. ich halte das u.a. wie schon früher oft genug für eine deutliche projektion seitens derjenigen, die mit diesem mist operieren; und im falle der "wirtschafts-" und sonstigen experten, die u.a. für die hartz-iv-gesetze mitverantwortlich sind, dürfte es ähnlich aussehen wie bei den bankstern beschrieben.

ein weiteres (extremes) beispiel für das gemeinte bietet unser heutiges justiz- und strafwesen, welches belegbar durchgängig die situation nur ständig verschlimmert (beispiele dazu sind in etlichen früheren blogbeiträgen zu finden) und womöglich durch diese art der behandlung mit dazu beiträgt, (funktionelle) soziopathen zu erzeugen. insgesamt geht es hier um etwas, was in einem
interview mit der autorin martha stout ("der soziopath von nebenan") wie folgt beschrieben wurde (ich greife das ganze interview zukünftig nochmal ausführlicher auf):

(...) "TR: Wie behandelt man einen Soziopathen?

Stout: Wenn er sich tatsächlich in Therapie befindet, ist das eine eher mechanische Sache, normale Therapieformen greifen kaum. Es geht darum, das Verhalten zu kontrollieren. Soziopathen werden ganz anders motiviert als normale Menschen. Es hat etwas Erzieherisches: "Wenn Du das machst, gehst Du ins Gefängnis" oder "Das Verhalten hat diese materiellen Konsequenzen für Dich". Es geht um sehr, sehr einfache, grundlegende Dinge – A folgt auf B, wie ein Lehrer vor kleinen Kindern.

Ich habe mich einmal mit einem Mann unterhalten, der ein Programm für Menschen leitet, die wegen Alkohol am Steuer mehrfach verhaftet wurden. Ihm wurde irgendwann klar, dass sich darunter viele Soziopathen befanden. Er stellte seinen Ansatz daraufhin um: Früher versuchte er den Leuten zu erklären, dass sie anderen Menschen durch ihr Verhalten Schaden zufügen oder sie sogar töten könnten. Es stellte sich aber heraus, dass das diesen Delinquenten ziemlich egal war.

Inzwischen erzählt er seinen Kandidaten einfach die kalten, harten Fakten: Sie werden jedes Mal verhaftet, verlieren ihren Führerschein, sie werden nicht mehr mobil sein und so weiter. Das war die einzige Chance, ihr Verhalten zu ändern."


sehen Sie das (tatsächlich behavioristisch anmutende) prinzip? und schauen Sie sich mal um, wo das überall angewendet wird oder aber durchschimmert (nebenbei: in den obigen sätzen von stout steckt auch die erklärung dafür, warum appelle an "ethik & moral" großen teilen unserer "eliten" so selbstverständlich an einem ohr hinein und sofort wieder am anderen hinaus gehen. es hilft auf dieser ebene wirklich nur, ihnen die "kalten, harten fakten" für sie selbst deutlich vor augen zu halten).

wenn man sich genauer anschaut, wer in den heutigen gesellschaften die macht hat, wirksame (nicht unbedingt positive) konzepte für das miteinanderleben zu entwickeln und vor allem durchzusetzen, wird sehr schnell deutlich, dass wir es mit einer entwicklung zu tun haben könnten, die anlässlich des themas "managergehälter" vor einiger zeit bei telepolis von einem user
so umschrieben worden ist:

(...) "Scheint wohl ein kleines Problem mit unserem Anreizsystem zu geben. Wenn Skrupel Karrierekiller sind, brauchen wir uns nicht zu wundern,
wenn unsere Elite eine negative Selektion wird und sich aus immer
mehr Soziopathen zusammensetzt, die prompt anfangen, die ganze
Gesellschaft zu einem Biotop für sich und Ihresgleichen umzuformen."


und der letzte satz bringt es auf den fatalen punkt. ich behaupte, dass sich der kommentar in der "taz" letztlich um nichts anderes als eine der vielen konsequenzen der "versuchten umformung" dreht.

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die "zeit" hat eine recht interessante rezension einer offensichtlich ebenfalls interessanten neuen sammlung mit bislang unveröffentlichten materialien von norma jeane mortenson, besser bekannt als
marilyn monroe:

»Allein!!!!!!

Ich bin allein – ich bin immer allein

egal was…«


wer das buch von mertz gelesen hat, dürfte sich an seinen abschnitt über die monroe (und romy schneider) erinnern; ebenfalls gilt "mm" schon seit längerem in vielen arbeiten der borderline-literatur als ein geradezu "paradigmatischer fall", sowohl was ihre traumatische biographie als auch ihren gesellschaftlichen "erfolg" (bei maximalem persönlichem unglück) anbelangt. zu ihren heutigen potenziellen nachfolgerinnen mehr
hier.

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neues aus der
säuglingsforschung:

(...) "Man dachte, Babys seien nicht in der Lage, zwischen Vorstellung und Realität zu unterschieden, und Zusammenhänge verstünden sie sowieso nicht. Das ist falsch." (...)

das zeichnete sich allerdings schon länger ab, aber es schadet keinesfalls, sich immer wieder von den hartnäckigen vorstellungen von babys als "hilflosen nichtsmerkern" zu verabschieden, zumindest vom letzteren (danke an w-day für den hinweis :-)

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zum ende ebenfalls schon bekanntes (und nicht zuletzt hier im blog schon oft thematisiertes), wieder einmal von
harald welzer:

(...) "Jetzt tritt etwas Unerwartetes auf den Plan, und das heißt Endlichkeit. Endlichkeit ist einer Kultur, die von der Fiktion unendlichen Wachstums besessen ist, unheimlich und fremd. So sehr, dass sie alle Energie darauf verwendet, die Fiktion eines Status quo zu schaffen, in dem die Gesetze der Zeit gelten, als alles noch funktioniert hat. Diese Gesetze hießen: Wachstum schafft Wohlstand, Bildung erlaubt Aufstieg, von allem gibt es für alle mehr, die Zukunft ist besser als die Gegenwart. Heute müssen sich gerade die frühindustrialisierten Länder wie Deutschland mit dem befremdlichen Gedanken anfreunden, dass ihre Zukunft vermutlich schlechter sein wird als die Gegenwart, weshalb die anderen Gesetze plötzlich auch alle nicht mehr gelten." (...)

file under "exponentielles wachstum" und "systemkrise".

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trotz allem: ich wünsche ein schönes herbstwochenende.

gastbeitrag: henri zu "stuttgart 21"

"...Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen...."

Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, wer wach durch die Zeit schreitet, der, ja der wird irgendwann wahrnehmen, dass uns, uns allen, die beiden letzten Jahrhunderte gerade auf den Kopf fallen.

Die Exzesse jener kaum vergangenen Geschichte haben nicht nur unzählige Opfer gezeugt, nein sie haben auch in den Köpfen der Überlebenden, seien sie nun Täter oder Opfer ihre Narben in der Seele hinterlassen - bis ins vierte Glied!

Mit diesen traumatisierten, geschädigten, beschädigten, defizitären, defekten Mitmenschen müssen die Nachgeborenen nicht nur umgehen; jene gehen vor allem mit ihnen um.

Ein kurzer Blick auf das "leitende" Personal nicht nur dieser Republik, nicht nur der oder jener Corporation zeigt, dass die derart behinderten längst fast alle Entscheidungspositionen eingenommen haben. Da passte wohl Schlüssel zum Schloss. Und so haben wir es bei den aktuellen Auseinandersetzungen mit Funktionsträgern zu tun, die sich eben genau dadurch auszeichnen. Sie erfüllen eine Funktion.

Funktionäre. (Ein Funktionär ist im reinsten Wortsinne eine Reiz-Reaktionsmaschine, die von aussen gesteuert wird.)

Man schaue sich nur einmal das
Interview von Frau Slomka mit MP Mappus auf ZDF an.

Mappus ist nicht in der Lage wirklich in der ersten Person zu reden:

"man muss das sehr ernst nehmen" (die Proteste) anstatt 'wir nehmen das sehr ernst', oder

"es war unser Anliegen, den Dialog zu suchen" anstatt ' wir suchten den Dialog' etc..

(Sollten wir ihm den Besuch eines coachings zu small-talk empfehlen, wo ihm beigebracht wird, dass es besser rüberkommt, 'eigene Emotionen' nicht in der dritten Person, sondern in der Ich-Form zu formulieren?)

Bei alledem fällt Mappus' teigiger, pastöser, fast teilnahmsloser Gesichtsausdruck auf, gelegentlich eine Folge mangelnder dortiger Muskelbetätigung, wie sie auch bei Mimik-blinden vorkommt.

Dann
beschwert Rech sich über die Instrumentalisierung von Kindern, welches er den Protestierenden unterstellt.

Hier schallt es 'haltet den Dieb!'. Vermutlich unterstellt man dem Anderen zuerst das, was man selber dächte...

'KINDER' ist ja vor allem ein manipulativer Zugang zur Emotion des Publikums. Von tätschelnden Potentaten bis zu Surrogat-SurrogatInnen selbst leyenhaftester Provinzialität wird das täglich exerziert. Dieses Instrumentalisieren unterstellt er also dem Bürger. Seine Aufregung dürfte allerdings nicht Ausdruck einer moralischen Entrüstung sein, sondern eher Ausdruck des Frustes, dass da der Gegner (vermeintlich) die eigenen Kampfmittel benutzt.

'Wer hat denen das erlaubt? Das ist doch unsere Attitüde! Wo sind die denn gelistet? Was sagt das Ordnungsamt dazu?'

"Im äussersten Notfall sind dann auch Wasserwerfer.." Diesen 'äussersten Notfall' kann wohl nur ein Apparatschik wie Rech so sehen. Bestünde Gefahr dass er auffliegt? Das rauskommt, dass es in Stuttgart 'nur' um eine Bilanzverschiebung zu Gunsten des Börsenwertes der DBAG ging und geht?

Das die Provisionen alle schon geflossen sind? Das demgemäss alle Beteiligten nun in der Lieferpflicht sind? Das die unlauteren 'Gewinne' der DBAG aus dem Verkauf des Gleisvorfeldes schon längst die Bilanz des Konzerns geschönt haben - also weg sind?

Zu fragen ist auch, warum man in Stuttgart die Hilfe von Einsatzkräften aus anderen Bundesländern brauchte.

Wenn es denn 'nur' 1000 bis 2000 Demonstranten gewesen waren, wie die
Polizei selbst sagte: warum brauchte man dann externe Hundertschaften? Diese musste man schon Tage vorher bestellen. Da kann man nicht um 8:00 Uhr in Hamburg anrufen und um 16:00 sind die dann in Stuttgart im Einsatz. Das hat einen elendiglich langen Vorlauf. Und es kostet Geld. Geld, das nicht mal BW heute hat. Haben 1000 bis 2000 Demonstranten die BW-Polizei schon aus der Vorausperspektive so überfordert, dass diese Unterstützung brauchte? Können die ausser hochdeutsch auch anderes nicht? Oder ist das ganze ein widerlich hinterf... eingefädeltes Komplott?

Stellen wir uns nur mal vor, die Finanzkrise hätte dem Börsengang der DBAG nicht ein vorzeitiges Ende bereitet.

Dann wäre das Bild noch ein prägnanteres. 'Staat sichert Privatkonzern das Einfahren seiner dem Steuerbürger hinterzogenen Mittel mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols'. Das jetzt ist sozusagen nur der Plan B, eine weichgespülte Variante, derer sich die (un-)Verantwortlichen nur mit halber Kraft widmen. Daher auch deren Unverständnis über den Aufruhr. (Kinder, ihr habt ja keine Ahnung, wie es hätte auch anders kommen können..)

Sehr häufig fällt gerade bei Stuttgart 21 der Begriff 'Konservativ'. Was wird da über Werte schwadroniert, wenn Interessen gemeint sind.

Den Protagonisten wird dann Zynismus unterstellt. Zu viel der Ehre, wie ich meine. Zu befürchten ist, dass jene den Unterschied gar nicht ermessen können. So wenig wie den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend, zwischen nichts falsch gemacht und alles richtig gemacht.

Diese Einsicht macht mir Angst.

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(zum thema gastbeiträge mehr
hier.)

neue rubrik: gastbeiträge

immer wieder erreichen mich erfreulicherweise neben den kommentaren im gästebuch auch mails mit anmerkungen, hinweisen auf interessante themen und artikel, zustimmung und kritik sowie vereinzelt auch ganzen texte. da letztere meist über einen "reinen" kommentar hinausgehen, habe ich mich jetzt dazu entschlossen, ihnen hier einen eigenen raum zu geben.

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bedingungen? nicht viele - natürlich sollten beiträge von leserInnen hier mit den sonstigen blogschwerpunkten kompatibel sein; ebenso ist vermutlich klar, dass ich texte mit rassistischen, nationalistischen ... etc. parolen in den müll befördere. inhaltlich konträres zu bspw. meinen eigenen thesen ist ansonsten kein problem, wenn es denn argumentativ gefüllt ist. ferner sollten quellen und zitate belegbar und kenntlich gemacht sein.

ich werde inhaltlich natürlich nichts verändern, behalte mir aber jeweils eventuelle rechtschreibkorrekturen vor, v.a. wenn sie zu ansonsten zu verständnisproblemen führen können (und nein, kleinscheibung ist auch keine vorbedingung). sollten in diesem zusammenhang auch einmal größere grammatikalische umstellungen in textteilen oder sätzen nötig sein, werde ich vorher mit dem/der jeweiligen autorIn kontakt aufnehmen. deshalb sollte mindestens eine gültige mailadresse vorhanden sein; völlig anonyme zuschriften haben deshalb nur geringe bis keine chancen auf veröffentlichung.

die namenswahl - der name wird in der überschrift auftauchen - bleibt selbstverständlich den autorInnen überlassen; ob klar- oder nickname, ist mir persönlich dabei egal.

soweit kurz zu den spielregeln. sollten sich weitere notwendigkeiten ergeben oder zeigen, werde ich das an dieser stelle hinzufügen.

Montag, 4. Oktober 2010

notiz: krisennews spezial - herbst in europa (prügel in stuttgart; schüsse in barcelona; unruhen in amsterdam)[1]

ich komme derzeit nicht wirklich dazu, die reihe der krisennews so weiterlaufen zu lassen wie in den vergangenen gut zwei jahren, in denen sich über vierzig folgen ergeben haben. das hat aber keinesfalls etwas damit zu tun, dass ich "die krise" (v.a. in ihrer ausprägung als ökonomischer absturz) nun etwa für "überwunden" o.ä. halten würde - nein, neben der erkennbaren strategie des reinen zeitgewinns von elitärer seite aus sowie der ebenfalls wahrnehmbaren vertiefung auf so ziemlich allen gesellschaftlichen ebenen (in dieser hinsicht gibt es allerdings - noch - länderspezifische unterschiede im verfallsprozeß), spielt hier hauptsächlich der umstand eine rolle, dass ich versuchen will, mehr das gleichgewicht zwischen dem "eigentlichen" focus dieses blogs einerseits und der wie gering auch immer vorhandenen möglichkeit des herstellens von gegenöffentlichkeit durch die weitergabe weitgehend unterschlagener informationen andererseits zu wahren. in den ersten und spektakulären phasen der (wirtschafts-)krise ist das im nachhinein aus meiner sicht etwas ins trudeln geraten.

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nun hatte ich ja öfter schon angemerkt, dass ich damit rechne, zukünftig auch reaktionen bzw. krisenfolgen zu sehen, die aus den bisher gewohnten wahrnehmungsrastern hinsichtlich politischer aktionen herausfallen. in diesen tagen jedoch scheint mich die realität diesbezgl. lügen zu strafen - ich fühle mich jedenfalls sehr an meine eigenen ersten erfahrungen mit demonstrationen in den
frühen 1980ern erinnert:

"damals war´s nicht nur in westdeutschland unruhig, sondern ebenso in holland, großbritannien, italien, der schweiz... - hausbesetzungen, anschläge, straßenunruhen, anti-akw-proteste und die startbahn west in frankfurt prägten ebenso wie die revolution in nicaragua und der guerillakrieg in el salvador eine länderübergreifende bewegung, deren stärke in ihrer vielschichtigkeit lag, die aber gleichzeitig viele - v.a. kulturelle - momente einer klassischen jugendbewegung nicht überschreiten konnte."

der letzte satz weist schon auf einen starken unterschied zur aktuellen lage hin - von einer (dazu noch inhaltlich eindeutig "links" ge- und bestimmten) "jugendbewegung" kann aktuell keine rede sein. ein zweiter wesentlicher, und vielleicht der für die zukunft entscheidende, unterschied liegt in der allgemeinen politisch-sozialen konstallation - damals waren die verhältnisse u.a. durch die blockkonfrontation west - ost bestimmt, die gesellschaften befanden sich dadurch in einer lage mit grundsätzlich begrenzten handlungsoptionen (wie gerade bei denjenigen ländern zu sehen, die sich in diesen jahrzehnten eine oft genug befreiungsnationalistische revolution erkämpften [nicaragua wurde oben schon genannt], damit aber nicht ihren eigenen weg gehen konnten, sondern durch die realen weltweiten machtbedingungen zur wahl zwischen den blöcken gezwungen wurden - die sich selbst "blockfrei" bezeichnenden staaten in dieser zeit waren das bestenfalls und ausnahmsweise in teilen; das damalige jugoslawien und auch cuba könnten dafür als beispiele stehen), weil so ziemlich alle relevanten themen irgendwann im strom der fixierung auf die erwähnte scheinbare systemkonkurrenz wahrgenommen wurden und irgendwann immer eine grundsatzentscheidung verlangt oder aber von außen getroffen wurde - auch die erwähnte bewegung der frühen 80er wurde sehr schnell vom mainstream in ihren meisten teilen als "moskauhörig" und "unterwandert" betrachtet, ein schicksal, was sie in dieser epoche mit eigentlich allen oppositionellen strömungen teilte, sobald diese eine gewisse relevanz erreichten.

aber wie gesagt: dieser spezielle und sehr dominierende umstand ist zwischenzeitlich bekanntlich komplett weggefallen; der totalitäre kapitalismus ist als einziges übriggeblieben und tritt gerade in seine finale phase ein (über die vielfältigen gründe für dieses urteil ist in anderen beiträgen hier ausgiebig zu lesen). das aber bedeutet, dass sich auch die innerhalb dieser situation entstehenden widerstandsbewegungen sehr anders verorten und begreifen müss(t)en als bisher gewohnt, ohne damit auf die erfahrungen und lehren ihrer vorläufer zu verzichten. anhand von drei beispielen aus diesen tagen möchte ich das mal versuchen, deutlicher zu machen.

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als ich mir donnerstagnacht die szenen aus stuttgart ansah ...



... musste ich sehr schnell an die großen konflikte in der alten brd der späten 1970er (damals begann der widerstand im wendland / gorleben) sowie den 80ern - startbahn west frankfurt, waa wackersdorf - denken. nein, das was da jetzt gerade in stuttgart passiert, ist in vielerlei hinsicht weder neu noch erst- oder einmalig. die drei obigen namen stehen ebenfalls für eine massive sog. bürgerliche beteiligung, in allen drei fällen sogar für eine u.a. durch die damaligen polizeieinsätze erzeugte unterstützung der militanten fraktionen bzw. auch eigene militanz bis hin zu oma und oppi. der erste schritt für eine solche entwicklung könnte seit donnerstag durch die reaktionen von politik und polizei eingeleitet worden sein. ebenfalls nichts neues ist die staatliche gewalt gegen kinder und jugendliche - stellvertretend sei hier nur der 16jährige olaf ritzmann genannt, der 1980 von der polizei nach einer demonstration in hamburg gegen den damaligen kanzlerkandidaten franz-josef strauss vor eine u-bahn getrieben wurde (mehr zu diesem und anderen fällen von tödlicher polizeigewalt auf demonstrationen in der brd
hier). in diesem link wird auch auf zwei tote nach polizeieinsätzen in wackersdorf hingewiesen, von denen es sich in dem einen fall um eine 68jährige rentnerin handelte, die nach einem gasangriff einen herzinfarkt erlitt. es tauchen mittlerweile immer mehr berichte auf, nach denen entweder gestern oder aber bei einem früheren einsatz in sachen "s21" ebenfalls eine ältere frau eine herzattacke erlitt und auf dem weg ins krankenhaus verstarb. eindeutig verifizieren kann ich das bis zur stunde allerdings noch nicht, aber eine derartige parallelität der ereignisse würde mich zumindest nicht wundern - erst recht nicht, wenn man sich bspw. einen solchen augenzeugenbericht mit den nichtreaktionen der zuständigen institutionen in medizinischen notfällen betrachtet.

solche berichte weisen auch schon auf einen wesentlichen unterschied zu früheren zeiten hin: damals war so etwas nur in (linken) printmedien mit geringer auflage und/oder flugblättern zu lesen; massive staatliche an- und übergriffe wurden nur - meist mit zeitlicher verzögerung - von einigen politmagazinen alá "monitor" oder "panorama" aufgegriffen; vielleicht klemmten sich noch "spiegel" und die "frankfurter rundschau" dahinter. massenwirksam war das alles nur begrenzt, und so konnten die unglaublichsten dinge ohne größeres aufsehen passieren. das ist im netzzeitalter so nicht mehr möglich, und nicht zuletzt aufgrund der präsenz von handykameras, twitter und co. sind selbst im mainstream texte zu lesen, an die ich mich aus früheren zeiten so nicht erinnern kann: als beispiele sei auf diesen
kommentar bei "n-tv" verwiesen, und selbst eine explizite boulevardzeitung wie der "berliner kurier" ist am schimpfen:

"Staatsmacht völlig durchgeknallt? Bei der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens am Donnerstagabend ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten vor. Am Tag danach verschanzte sich die Politik gestern hinter Law-and-Order-Floskeln." (...)

da es wie gesagt in vergangenheit schon mehrfach ähnliche ereignisse mit allen und noch schlimmeren aspekten wie jetzt in stuttgart gab, bei denen die gleichen oder aber vorläufer der benannten medien zuverlässig und regelmässig ganz andere töne anschlugen, muss in diesem fall einiges anders sein - und das dürfte zumindest teilweise tatsächlich mit der schwierigkeit für die medien zusammenhängen, die massenhaft verbreiteten o-töne und szenen zu übergehen und so erfolgreich zu lügen und realität zu verdrehen wie in früheren zeiten. ein punkt, den die "neuen medien" trotz aller kritik durchaus für sich verbuchen können.

ein anderer punkt ist aber der, dass ähnlich wie im verlinkten "n-tv"-kommentar meistens explizit darauf hingewiesen wird, dass es sich ja bei den zielen der polizeilichen aufmerksamkeit eben nicht um "die sonstigen chaoten" bzw. den "schwarzen block" gehandelt hätte, sondern um "ganz normale bürgerInnen". implizit wird damit deutlich selektiert - die "chaoten" besitzen offensichtlich keine sog. "bürgerlichen rechte" mehr, und werden die knüppel und das gas schon irgendwie verdient haben (und ich schätze, eine nicht kleine zahl derjenigen, die da in stuttgart gerade ganz praktische lektionen in staatsbürgerkunde erhalten, dürfte eben bis zu den aktuellen erfahrungen für diese sichtweise beifall geklatscht haben). was aber fast in vergessenheit geraten ist bzw. den meisten überhaupt niemals bewusst gewesen sein dürfte: die form des "schwarzen blocks" hat sich über jahre entwickelt, und zwar als reaktion auf eben die vielfältig gemachten erfahrungen mit eben solchen polizeilichen angriffen wie jetzt auch in stuttgart. vermummung und identische klamotten verhindern eine identifizierung und damit verfolgende repression, helme und arm- sowie beinschoner dienen wie auf der anderen seite dem eigenen körperlichen schutz. der "schwarze block" ist also zunächst eine rein defensive reaktion auf staatliche gewalt (zu den durchaus vorhandenen problematischen seiten solcher blöcke mehr
hier).

die starke betonung der eigenen gewaltlosigkeit seitens der "s21"-bewegung (was das generell und warum für ein fataler irrweg sein kann, ist im ersten link ganz oben genauer nachzulesen) sowie parolen wie "wir sind das volk" oder auch das absingen der nationalhymne während polizeilicher räumungen sind in dieser form ebenfalls etwas, was in früheren konflikten ähnlicher struktur so nicht nur nicht zu beobachten gewesen ist (es ist bis jetzt keinerlei ernsthafte militante fraktion erkennbar, nicht mal in dem sinne des ursprünglichen militanzbegriffs, der zunächst primär eine bestimmte einstellung / haltung meint, und nur sehr sekundär und nicht zwangsläufig daraus folgend mögliche aktionen auch mit einem gewissen gewaltfaktor), sondern geradezu als unvorstellbar erscheint. das könnte ein hinweis darauf sein, wie sehr sich die diskurse der vergangenen beiden jahrzehnte über "nötigen patriotismus" und "unverkrampftes nationalbewusstsein" bereits gesellschaftlich festgesetzt haben. und das ist durchaus eine gefahr: bereits in der vergangenheit haben sich rechte strömungen unter dem schlagwort "heimatschutz" bereits (erfolglos) an die anti-akw-bewegung anzudocken versucht. das könnte in diesem fall aufgrund der sehr veränderten gesamtgesellschaftlichen rahmenbedingungen (zu denen nicht nur der "neue patriotismus" sondern auch bspw. sarrazin gehört), anders als in der vergangenheit laufen.

die früher erfolgte intervention von linken und linksradikalen in solchen konflikten verlief dagegen oft genug nach einem denkmuster, welches verkürzt ungefähr so aus sah: man muss "die bürger" nur ausreichend aufklären und agitieren, um ein bewusstsein für die größeren zusammenhänge (in denen solche projekte wie die startbahn, wackersdorf oder auch s21 immer eingebettet sind) zu schaffen und derart (hoffentlich) irgendwann zusammen zur revolution schreiten zu können.

das das nicht funktioniert, dürfte historisch ausreichend belegt sein. und mehr als jedes flugblatt kann ein polizeiknüppel auf dem eigenen kopf zum ausgangspunkt für eine veränderte wahrnehmung der eigenen situation und rolle in diesem staat werden - betonung auf "kann", weil eine andere - und die staatlicherseits erwünschte und beabsichtigte - reaktion durchaus in verängstigung, einschüchterung und rückzug liegen kann. eine schock-strategie im kleinen sozusagen. in beiden fällen ist es für eine emanzipatorische politik nötig, angebote zu machen, die bei den ganz eigenen erfahrungen der aktivistInnen ansetzen und keine hierarchie installieren (was den möglicherweise vorhandenen erfahrungsvorsprung in vielen bereichen weder negiert noch entwertet - die eigenen erfahrungen sollten sehr wohl vermittelt werden, aber ohne es sich dabei auf einem fiktiven hochsitz gemütlich zu machen und von oben herab rezepte zu verteilen).

das sich gesellschaftlicher widerstand regelmässig anhand von in raum und zeit sehr konkret an einem ort oder in einer region verortbaren projekten entzündet, ist nicht schwer nachvollziehbar: im gegensatz zu abstrakten (im sinne von nicht direkt sinnlich erfahrbaren) schweinereien wie bankerboni und finanzkrisen sind monströse bauwerke und herausgerissene bäume sehr konkret erfahrbar und mit vielfältigsten emotionen verbunden, gerade wenn sie im ureigenen räumlichen lebensbereich stattfinden. die real vorhandenen verbindungen einer solchen ebene mit den abstrakten strukturen dahinter wahrnehmbar zu machen (im aktuellen fall wären das bspw. der klüngel von bauwirtschaft und landespolitik, der charakter der bahn als profitorientiertes unternehmen, die von elitärer seite verwendete begriffe von "fortschritt", "wachstum" und "mobilität" sowie die verachtung, die im umgang mit großen teilen der bevölkerung hier genauso sichtbar wird wie bspw. bei "hartz-IV") und sich dementsprechend selbst immer weiter zu bilden und nötige bündnisse zu anderen gesellschaftlichen oppositionellen kräften herzustellen, ist eine aufgabe, an der sich letztlich auch der weitere weg der "s21"-bewegung abzeichnen wird. wenn sie sich auch nur teilweise auf einen derartigen entwicklungsprozeß einlassen kann, wird sie trotz der wahrscheinlichen durchsetzung des ganzen projektes (inzwischen steht sowohl für landes- als auch bundesregierung zu viel auf dem spiel) als erfolgreich zu bezeichnen sein, weil derart der schritt von der "ein-punkt-bewegung" zur nötigen fundamentalopposition für viele beteiligte zumindest in die nähe rückt.

die staatlichen reaktionen besonders ab freitag sind dabei durchaus interessant - die beteiligten beginnen gerade ein schauspiel, das nicht ganz zufällig an das spielchen nach dem love-parade-desaster in duisburg erinnert - teile der bundespolitik beschuldigen die landespolitik und umgekehrt, letztere versucht immer noch, offen erkennbare absurde schuldzuweisungen an die demonstranten weiterzuschieben. die herrschaften sind offensichtlich auf dem falschen fuß erwischt worden und aufgrund ihrer defekten realitätswahrnehmung erkennbar unfähig, sich andere realitäten jenseits ihrer fiktionen vorstellen zu können (sie haben sogar bisher schwierigkeiten, als taktisches mittel auch nur einigermaßen überzeugende simulationen von möglichkeiten bürgerlicher partizipation zu entwicklen - das ist der hauptgrund, warum ich glaube, dass dieses projekt auf jeden fall durchgesetzt werden soll, selbst um den preis des verlustes einer landesregierung. es ist eine mischung aus kalten technokraten und gleichzeitig provinziellen politk-darstellern, die ausser ihren parteikarrieren und allerlei gutdotierten pöstchen nichts substanzielles vorzuweisen und also auch keinerlei relevante persönliche perspektiven haben. solche leute können nur einen als-ob-demokratiebegriff haben, sehen das als normalität an und nehmen proteste egal welcher art zwangsweise als persönlichen angriff wahr. und so verhalten sie sich auch, was die möglichkeit eröffnet, dass sich für einige bisher "brave staatsbürgerInnen" auch hier überraschende neue einsichten in das wesen nicht nur ihrer herrschaft auftun. wäre nicht das schlechteste, bei den nächsten demonstrationen in stuttgart auch mal delegationen aus dem wendland oder wackersdorf sprechen zu lassen. die erkenntnis des "oops, das ist ja anderswo genauso [gelaufen]" ist durchaus eine wertvolle).

zur zeit halte ich die entwicklung jedenfalls noch für ziemlich offen, und es wird spannend sein zu sehen, wie sich die dortige situation entwickelt.

Samstag, 2. Oktober 2010

notiz: es gibt zwar wirklich nix zu feiern dieses wochenende, aber immerhin auf einigen tischen wirklich gutes essen...

sehr schön, das - greift gleich einen ganzen haufen an zusammenhängen nachvollziehbar auf:

(...) "Heute abend gegen 20 Uhr besuchten wir den größten Bio Supermarkt Europas; im Prenzlauer Berg (Berlin) gelegen. Die ca. 20 Personen betraten die LPG in der Kollwitzstraße und verlasen ein Flugblatt für die umstehenden, sich bewußt ernährenden Anwohner_innen. Gleichzeitig füllten, die sonst auf Discounter angewiesenen Besucher_innen, sich ihre Körbe an den „üppigen Bio-Fleisch-, Bio-Wurst-, Bio-Feinkost- und Bio-Käsetheken“ und spazierten anschließend unbehelligt aus dem „Bio-Paradies“.

Wir lassen uns nicht mehr länger durch „Regelsätze“ und „400 Euro Jobs“ vorschreiben, was wir essen und trinken dürfen, wie wir leben und wie wir unsere Zeit gestalten. Wir nehmen uns was wir brauchen, heute, morgen und jeden Tag...


Hier der Text der verlesen wurde:

Gesunde, regionale Lebensmittel für alle!

3,49 Euro pro Person sieht Hartz IV für Essen und Trinken am Tag vor. Je 1,58 Euro für Mittagessen- und Abendessen und 78 Cent für Frühstück, Getränke inklusive. Nicht vorgesehen ist eine Flasche Wein zum Abendessen. Alkohol und Zigaretten sind nach dem neuen Entwurf von Ursula von der Leyen ganz aus dem Regelkatalog gestrichen. Sind ja auch ungesund. Stattdessen bekommen Hartz IV Berechtigte monatlich 2,99 Euro für Mineralwasser. Denn der Flüssigkeitsverlust von gerechnet 12 Liter Bier muss laut den sorgenden Ministerialbeamten ja auch ausgeglichen werden. Gesund ernähren kann mensch sich davon nicht. Regionale, biologisch angebaute Produkte, wie sie in diesem Bio-Supermarkt zu finden sind, bleiben denen vorbehalten, die es sich leisten können. Begründet wird der niedrige Regelsatz auch damit, dass der Abstand zu den geringsten Löhnen nicht so groß sein darf. Klar - erstmal wird das Land zum größten Niedriglohnsektor in Europa umgestaltet, Jobs gibt es fast nur noch über Leiharbeitsfirmen, befristet und schlecht bezahlt. Und dann muss diese Entwicklung auch noch dafür herhalten, die Hartz IV-Bezüge niedrig zu halten.

Hartz-IV-Bezieher_innen und andere Überflüssige haben also nicht die Möglichkeit, für sich und ihre Kinder gesunde, biologisch und regional angebaute Lebensmittel zu kaufen. Sie werden abgespeist mit Lidl, Aldi und CO. und wenn nach drei Wochen das Geld alle ist, können wie ja auch zur Tafel gehen. Dort landen die Reste der Lebensmittelkonzerne, die unter unwürdigen Bedingungen produzieren lassen, die Gewinne steigern durch schlechte Löhne und sich mit der Tafel auch noch den Mantel der Barmherzigkeit umhängen. Auch Biosupermärkte nutzen übrigens das System, Lebensmittel in großen Mengen produzieren zu lassen und drängen damit kleinere Läden und Einzelanbieter vom Markt. Auch in Biosupermärkten gibt es schlechte Bezahlung, fragen Sie mal in ihrem Laden nach!

Wir wollen gesunde Lebensmittel für alle! Deshalb besuchen wir heute hier diesen Supermarkt. Die Überflüssigen lassen sich nicht mehr abspeisen mit dem abgeschmackten Versprechen künftiger Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Die Überflüssigen stehen für den Teil der Menschen auf der Erde, deren Alltag seit jeher aus Erwerbslosigkeit, Armut, Hunger und Krieg besteht. Die Überflüssigen sind Menschen in den Industriestaaten, die vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen werden. Sie sind das Ziel des Klassenkampfs von oben und der aktuelle Armutskampagne in Deutschland, sie sind Erwerbslose, deren Rechte weiter beschnitten werden, sie sind Flüchtlinge, die ins Asylbewerberleistungsgesetz fallen, sie sind allein erziehende Frauen, die in Niedriglohnjobs gedrängt werden, sie sind die Alten, die ihre Winterschuhe beim Sozialamt erbetteln müssen, sie sind die Kranken, die die weiter steigenden Ausgaben für Gesundheit nicht haben. Die Überflüssigen brechen aus der 2-Raum-Couchtisch-Haltung aus und machen selbst Programm. Sie stupsen sich aufmunternd zu, während sie auf die Trutzburgen der Kapitalfundamentalisten zustürmen - denn sie haben eine ganze Welt zu gewinnen.

Geschrieben „Die Überflüssigen“, Berlin am 1.Oktober 2010!"

Montag, 27. September 2010

basis: "gender trouble" (und einiges mehr) [1]

die inhaltliche und auch sonstige entwicklung in den kommentaren zum beitrag mehr körperkontakt! hat mich dazu bewogen, einmal einige meiner grundsätzlichen positionen hinsichtlich der angesprochenen themen bzw. die umstände deutlicher zu machen, aus denen heraus ich zu diesen positionen komme. da das gleichzeitig auch "historisch" gesehen einiges mit der inhaltlichen ausrichtung dieses blogs zu tun hat, veröffentliche ich das als basis-beitrag. fast schon überflüssig zu sagen, dass ich da teils ziemlich weit ausgreifen werde...

*

und mit letzterem fange ich gleich mal an, und zwar in gestalt eines zeitsprungs. bekanntlich jährt sich am kommenden wochenende zum zwanzigsten male das datum des dritten oktobers in seiner funktion als neue "nationalfeiertag" - "einheit" und so. das privileg oder eher das unglück (wie man´s nimmt), diese feierei einer kollektiven halluzination namens "nation" auszurichten, hat in diesem jahr wieder einmal die hiesige beschauliche großstadt. nach 1994 das zweitemal, und ebenso wie damals wird es diverse
proteste gegen diesen überflüssigsten feiertag von allen und das, wofür er steht, geben. im gegensatz zum ersten male betrachte ich das aktuell mit einiger (sympathisierender) distanz, aber darum soll´s jetzt gerade nicht weiter gehen. jedenfalls haben einige emsige aktivistInnen zum aktuellen anlaß vieles an damaligen linken und linksradikalen/autonomen texten und materialien hervorgeholt, u.a. ein vierseitiges flugblatt mit dem titel am dritten oktober den backlash feiern? ohne uns! (das ganze ist beim einscannen sichtlich durcheinandergeraten; die dritte seite des pdf ist eigentlich die zweite und umgekehrt).

ich erwähne das deshalb, weil ich vor 16 jahren am text nicht ganz unwesentlich beteiligt gewesen bin - also sozusagen ein kleines "outing". ja, ganz recht, Ihr blogautor war vor langer zeit einmal mehrere jahre in einer jener gruppen, die zumindest hierzulande unter dem (übrigens unzutreffenden) sammelbegriff "männergruppen" tendenziell immer gerne zielpunkte für hohn und spott von mehr oder weniger ahnungslosen zeitgenossen - gewesen sind, weil bis auf einige ausnahmen sämtliche fraktionen von dem, was sich zwischen mitte der 1980er und mitte/ende der 90er jahre in bestenfalls selbstironischer art & weise als "männerbewegung" bezeichnet hat, inzwischen ihre aktivitäten entweder eingestellt oder faktisch unsichtbar gemacht haben (ausnahmen sind hierbei einige therapeutisch bis esoterisch orientierte und inhaltlich aus meiner sicht sehr fragwürdige gruppen und "professionelle" angebote).

warum ich hinsichtlich der bezeichnung "männergruppen" oben von "unzutreffend" geschrieben habe, begründet sich darin, dass damit eine unzulässige und real niemals vorhandene homogenität suggeriert wird (ähnlich bei der rede von "dem" feminismus). historischen tatsachen wird es eher gerecht, von teils völlig inkompatiblen ansätzen und praktiken auszugehen, und wir haben damals einen nicht gerade kleinen teil unserer zeit auch damit verbracht, uns mit männern aus dem eher "grün-alternativen" milieu heftig zu streiten, weil es dort maßgeblich therapeutisch-esoterische tendenzen gab, die darauf hinaufliefen, sich eine rechtfertigung alá "ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin - du-darfst" zu konstruieren. das in faktisch demagogisch-diffamierender art und weise angewandte zerrbild des "softies" hatte den einzigen realistischen gehalt tatsächlich in dem genannten milieu, wobei dieses rollenkonstrukt ursprünglich noch aus der "ersten welle" von hauptsächlich selbsterfahrungstätigen männergruppen in den frühen 1970ern stammt, die sich durchaus als erster reflex auf die damals noch existierende feministische bewegung im westen und deren diskussionen verstehen lassen.

jedenfalls bin ich selbst irgendwann ende der 80er in die damals schon existierende gruppe gekommen und habe das als einen wichtigen teil meiner damaligen politischen arbeit begriffen. "wir" waren insgesamt recht langlebig, und das dürfte trotz einer gewissen personellen fluktuation auch zum einen damit zu tun haben, dass es trotzdem von beginn an auch eine überdauernde kontinuität bei den mitgliedern gab. zum anderen aber lag das auch daran, dass - im gegensatz zu vielen, nicht nur in der damaligen autonomen linken, verbreiteten mythen (wie sie bspw. auch
che drüben immer mal wieder gerne auspackt - stichworte "selbstkasteiung" und "moralin") - sich die konstanz vor allem über die eigenen motivationen und inhalte herstellte - ich persönlich war schon lange vorher im weitesten sinne antimilitaristisch aktiv gewesen, hatte u.a. beratung für kriegsdienstverweigerer gemacht, später selbst total (in diesem fall hieß das abbruch des "zivilen ersatzdienstes") verweigert und mich schon früh angefangen, für den nationalsozialismus zu interessieren und dabei gemerkt, dass ich besonders für die ausserordentliche destruktivität der nazis innerhalb der damals verbreiteten "klassisch" linken faschismustheorien keine befriedigenden antworten finden konnte, was mich in folge irgendwann zu theweleits "männerphantasien" brachte - ein augenöffner in der situation, der mich zu der zeit enorm prägte.

und so kam es, dass nicht nur ich in der gruppe von beginn an ziemlich selbstverständlich mit einem verständnis der begriffe wie patriarchat & sexismus arbeitete, welches auch entscheidend von unterschiedlichen feministischen ansätzen bestimmt war, aber ebenfalls von - hm, "männerspezifischen" (passt nicht ganz, aber mir fällt gerade nix anderes ein), d.h. unseren eigenen vielfältigen erfahrungen und ansichten definiert wurde. im oben vorgestellten flugblatt wird bspw. ganz gut deutlich, dass wir die begriffe patriarchat und sexismus keinesfalls etwa als synonyme verstanden / benutzt haben (was ansonsten durchaus breit auf und von allen seiten praktiziert wird), sondern dass das letztere (in strengem sinne die unterdrückung / diskriminierung aufgrund des biologischen geschlechts) zwar im ersteren enthalten ist, und zwar als ganzes, aber das sich das so nicht umgekehrt sagen lässt - ich mache es mir in diesem fall mal einfach und zitiere das entscheidende aus einem ein paar jahre alten beitrag aus einem telepolis-forum:

"(...), weil das bewußtsein über die unterschiede zwischen patriarchat (ein gesellschaftliches system, welches u.a. auf als "männlich" codierten
denk- und verhaltensweisen sowie den entsprechenden emotionalen
reaktionen beruht) einerseits und sexismus (als konkretes gewaltverhältnis bezogen auf ein soziales/biologisches geschlecht) andererseits allgemein nicht eben sonderlich ausgeprägt ist. im aktuellen patriarchat existieren frauen und männer als opfer UND täterInnen - zb. gegen andere männer/frauen, gegen kinder und alte - alle täterInnen bewegen sich jedoch in einem zutiefst mit den "werten" "klassischer männlichkeit" codierten und deformierten bezugsrahmen. sexismus ist davon nur ein teil, und bleibt bis auf weiteres aufgrund der gesellschaftlichen realitäten als konkrete benennung der männlichen gewalt gegen frauen vorbehalten." (...)


nun lässt sich als erstes anmerken, dass es "das" patriarchat ebenfalls als homogenes system so nicht gibt - weltweit lassen sich eher verschiedenste variationen beobachten, ob die extremformen wie islamistische patriarchate (zb. unter den taliban in afghanistan), die machistischen gesellschaften mittel- und südamerikas oder die historisch recht neue form, die wir hier seit ein paar jahrzehnten im westen beobachten können. zweitens wird aufmerksamen stammleserInnen wahrscheinlich schon aufgefallen sein, dass im zitat bereits das sichtbar ist, was ich hier im blog an verschiedensten beispielen als täter-opfer-dialektik (das militär als eine der "männlichsten" institutionen eignet sich dabei für die visualisierung des oben skizzierten patriarchatsbegriffes besonders, und eben nicht zufällig auch für die täter-opfer-dialektik) versucht habe aufzuzeigen. und drittens gibt es da den begriff "männlich codiert", und damit ist eine nur allzu bekannte ganze palette an attibuten assoziiert:

rationalität, vernunft, intellektualität, rhetorische brillanz, (selbst-)kontrolle, stärke, autonomie, beherrschtheit, coolness, überlegenheit, "kultur", "geistiges leben" etc.etc.

die als "weiblich" codierten gegenparts spare ich mir an dieser stelle. es stellt sich aber eigentlich sofort die frage, was denn nun genau an den obigen attributen das spezifisch "männliche" sein soll? und warum sie überhaupt mit einem geschlecht assoziiert sind. in der realität ist es durchaus so, dass erstens zweifelhaft ist, ob all diese attribute wirklich nur als positiv bezeichnet werden sollen, zweitens alles auch bei frauen vorhanden ist, und es sich drittens eindeutig um eigenschaften handelt, als deren quelle innerhalb der menschlichen psychophysischen struktur der
objektivistische modus verortet werden kann. zugespitzt: innerhalb dieser struktur ist der mann als objektives kulturwesen in einen binären gegensatz zur frau als subjektives naturwesen gestellt (in diese kategorie fallen wahrnehmungsmässig übrigens auch kinder, alte menschen, homosexuelle... alles, was nicht als "vollwertig männlich" empfunden wird im sinne der genannten attribute). ich glaube übrigens, dass diese grundlegende binäre spaltung selbst auf die tierwelt angewandt wird - bei betrachtung der enbleme und gerätenamen gerade beim militär, aber auch zb. bei rockerclubs wimmelt es nur so von stolzen adlern und falken, von tigern, pumas, panthern und leoparden, während der posende und aufmerksamkeitsheischende jungmann, der seinen kampfhund ausführt, nur schwer vorstellbar ist beim entenfüttern oder beim kuscheln mit einem kleinen kätzchen. die großen raubtiere sind es, die als "männlich" gelten - eher am rand und sozusagen eine stufe tiefer werden dann auch giftige wesen wie schlangen und skorpione als symbole der mannhaftigkeit benutzt, meiner beobachtung nach allerdings primär bei gangs aller art, die mit ihrer eigenen outlaw-version der männlichkeit arbeiten. die wiederum mit der gesellschaftlich akzeptierten mainstreamversion in ewiger konkurrenz steht (wobei es durchaus möglich ist, dass es sich bei der "outlaw"-variante um die eigentlich originäre version handelt, die dazu fließende grenzen zur offenen soziopathie aufweist).

aber zurück zur frage, wieso diese genannten - und im kern völlig willkürlich erscheinenden - zuschreibungen überhaupt existieren. ist´s eher ein ausdruck von ideologie, sind´s nur alles soziale konstruktionen, wie es besonders seit den 90ern in den postmodernen gender-diskursen heisst? oder gibt es dafür eine reale, und damit ist auch körperlich-materiell gemeint, basis?

ich gehe ja nun bekanntlich aus (für mich selbst) guten gründen davon aus, dass so ziemlich alle relevanten aspekte unserer auch sozialen existenz geprägt, motiviert, geformt und ausgestaltet werden durch unsere materielle körperlichkeit, ihre spezifischen (biologischen) funktionsgesetze, ihre bedürfnisse und auch ihre grenzen sowie - meist in form von krankheiten - ihre immanenten möglichkeiten von fehlfunktionen und defekten. und immer dann, wenn irgendwo derart auffällige binäre spaltungen wie beschrieben auftreten (und gar als "natürlich" wahrgenommen werden), bietet das modell des objektivistischen modus dafür einen der plausibelsten erklärungsansätze, die mir bis jetzt bekannt sind. und konkret auf die obigen fragen gemünzt zitiere ich nochmal aus meinem älteren
amok-artikel:

"konstruierte identitäten, die bis heute den kern der gesellschaftlichen geschlechterstereotypen bilden, sind beliebig austausch- und natürlich auch dekonstruierbar - aber das eigentliche problem versteckt sich eher dahinter: konstruierte identitäten bilden primär krücken für diejenigen, die aufgrund psychophysischer schäden die (körperlichen) grundlagen ihrer eigenen authentischen identität entweder nicht (mehr) wahrnehmen oder aber deren grundlagen erst gar nicht entwickeln konnten. aus dieser perspektive wird deutlich, dass bspw. sebastian b. eine sehr martialische, sehr reduzierte und sehr klassische "männliche" identität eher wie ein kleidungsstück genutzt hat, um die sichtbare tatsache der unfähigkeit zum eigenen authentischen sein quasi zu maskieren. und in diesem punkt unterscheidet er sich keinesfalls von millionen menschen, die sich mit derartigen konstruktionen ebenfalls durchs leben schlagen."

das obige sollte nicht allzuschwer verständlich sein - ausgehend von der jahrhundertealten traumatischen matrix, gehörten und gehören bis heute vielfältige übergriffe bzw. verschiedenste gewaltformen zur üblichen erfahrung fast jedes kindes. das führt zu mehr oder weniger schweren schäden in den körperlich basierten selbst- und fremdwahrnehmungsfähigkeiten, was u.a. wiederum elementare gefühle der angst und unsicherheit mit sich bringt. zur kompensation dieser wahrnehmungsschäden - um überhaupt etwas orientierung zu gewinnen -, und um die existenzielle unsicherheit in einer als feindlich und kalt-fremdartig erlebten welt abzumildern, springt in verschiedenen variationen und intensitäten (im extremfall bereits
pränatal) dann der objektivistische modus ein, wird in der psychophysischen struktur dominant und generiert in dieser position all jene katastrophalen effekte, die nicht nur geschichtsbücher, sondern auch knäste und psychiatrien füllen.

in den fängen des traumas gibt es nicht allzuviele möglichkeiten: unbegriffen und ohne unterstützung bleibt man ein opfer, welches allerdings unter bestimmten bedingungen eine - hm, besondere art der eigenen homöostase erreichen kann, eine fragile pseudostabilität, die durch ausagieren kraft beziehen kann - nicht durch die auflösung des traumas (eine der schmerzhaftesten arbeiten, denen sich menschen unterziehen können). an diesem punkt wird die benannte täter-opfer-dialektik wirksam. und die kann viele facetten haben: eine der wahrscheinlichsten wichtigsten in dem zusammenhang besteht in der konstruktion von mit macht assoziierten pseudo/als-ob-identitäten. so wie oben im beispiel geschildert; "beliebt" und verbreitet sind aber vor allem die kollektiven varianten dieses trauerspiels - "nationale identität" gehört da ebenso hinein wie eben auch das, was wir uns angewohnt haben, unter "mann" und "frau" als quasi natürlich zu betrachten.

in diesem sinne - und nur in diesem - haben die konstruktivisten also recht, übersehen jedoch gleichzeitig die grundlage der objektivistisch produzierten konstruktionen - die basale schädigung der subjekte - , und ziehen ihre fatalen und desaströsen falschen schlüsse, von denen der schlimmste darin liegt, dass es überhaupt keine authentischen identitäten geben würde. aber zu speziell diesem punkt habe ich schon an anderen stellen hier ausgiebig geschrieben.

ich erinnere mich gerade vage an ein bundesweites treffen verschiedener linker und anarchistischer männergruppen, bei dem es in einer veranstaltung zum thema "faschistische männer" zu einer sehr kontroversen diskussion zwischen denjenigen, die kurz gesagt besonders mit foucault - "soziale konstruktion" - argumentierten, und mir und anderen kam, die dabei starke bauchschmerzen hatten. ich konnte den grund für letzteres sehr lange nicht genau festmachen, habe aber damals schon intuitiv für eine argumentation plädiert, die eher an wilhelm reich orientiert war - oder besser gesagt: an der reichschen untermauerung der sicht, dass beim konstruktivistischen ansatz die phänomene der körperlichen ebene und das, was sie repräsentieren (und die sind gerade bei faschistischen männern ganz gut zu sehen, angefangen von ihrer gangart und bewegungsweise) zu sehr unter den tisch fallen, und etwas ganz entscheidendes übersehen wird.

die schlußfolgerungen für mich aus dem ganzen lauten jedenfalls ungefähr so, dass tatsächlich die heute verbreiteten geschlechtlichen identitäten plus die weitaus meisten (nicht unbedingt alle) damit verbundenen zuschreibungen und angeblichen eigenschaften tatsächlich konstrukte in dem sinne darstellen, wie sie auch bspw. von den dekonstruktivistischen feministischen ansätzen der letzten jahrzehnte dargestellt wird. dissens gibt es aber an dem punkt, wo darüber hinausgehend behauptet wird, es gäbe keinerlei authentische männlich- oder weiblichkeit. diese fehlwahrnehmung verdankt sich eher der existenz der traumatischen matrix, aufgrund derer wir bis heute keinerlei realistische vorstellung (höchstens fragmentarische ahnungen) haben können, wie menschen unter sozial nicht pathologischen bedingungen sein könnten. ich glaube, männer und frauen, die sich in ihren körpern wirklich leben, spüren und wohlfühlen können, werden sich in recht unerwarteten weisen voneinander unterscheiden - aber letzteres heisst eben keinesfalls automatisch, daraus unterschiedliche wertigkeiten abzuleiten, wie es bislang die gewohnte praxis darstellt. das ist ein typisches symptom einer pathologischen sozialität.

*

tja, ich habe ja eingangs gesagt, dass ich sehr weit ausholen werde - aber das alles gehört für mich tatsächlich zu denjenigen grundlagen, auf denen ich dann im zweiten oder auch dritten teil konkret auf die ursprüngliche diskussion eingehen werde. als nächstes folgen noch eine fortsetzung zum obigen sowie speziell zum thema sexualisierte gewalt einige worte zu meinem persönlichen background diesbezüglich. wird aber alles vermutlich ein paar tage dauern.

Montag, 20. September 2010

kontext 69: ein finsteres ereignis (und ein mieses gefühl) [2. update]

von einer beziehungstat ist aktuell seitens der polizei die rede - gemeint ist das bis zur stunde immer noch weitgehend unklare tödliche geschehen am gestrigen frühen abend:

"Eine Frau ist im baden-württembergischen Lörrach in ein Krankenhaus gestürmt und hat um sich geschossen. Vier Menschen sind tot, darunter die Täterin selbst. Vor dem Amoklauf hatte sich eine Explosion in einem Haus gegenüber der Klinik ereignet, in dem später zwei Leichen gefunden wurden." (...)

war in ersten meldungen noch von einer toten frau und einem toten kind die rede, die in dem erwähnten haus aufgefunden wurden, so ist inzwischen von einem toten mann die rede. möglicherweise also dadurch die wertung seitens der ermittler als beziehungstat. und möglicherweise (!) auch ein gedanklicher kurzschluss, wenn denn denen nicht noch mehr bekannt sein sollte - ich kann mir die gedankenkette "toter mann und kleines kind + bewaffnete, flüchtende und schießende frau = beziehungstat. anders geht´s gar nicht" lebhaft vorstellen. und ich frage mich auch, was wäre, wenn wir die geschlechter in der obigen gleichung jeweils gegeneinander ersetzen würden - wäre dann auch noch die rede von einer beziehungstat? oder würde das wort "amok" im vordergrund stehen? wobei ich selbst finde, dass eben auch die männlichen "amok"-täter in gewisser weise beziehungstäter darstellen, wenn auch in einem etwas anderen sinne als dem "klassischen".

das nur mal als erste gedanken zu einem ereignis, bei dem ich aufgrund der manifestierten destruktiven energie und besonderen umstände (explosion, eine bewaffnete frau mit einer - lt. den meisten meldungen zu dieser stunde - maschinenpistole) noch nachfolgende updates in den nächsten tagen vor mir sehe. (gut, die maschinenpistole ist zu einer kleinkalibrigen "sport"pistole geschrumpft - mit ca. 300 schuß munition und einem messer bewaffnet, ist das allerdings trotzdem als potenziell verheerende ausrüstung zu betrachten).

*

und das miese gefühl? rührt eigentlich aus zwei quellen, einmal dem ereignis selbst, zum anderen aber auch hinsichtlich meiner eigenen
kassandrarufe in der vergangenheit:

(...) "5. ist amok ein "männliches" phänomen?

bis auf weiteres tatsächlich ja. zwar gibt es auch affekttaten von frauen, hauptsächlich im sog. häuslichen beziehungsbereich. aber diese besondere art der öffentlichen gewalt, schwerbewaffnet und grundsätzlich wahllos, ist bisher eine männliche domäne. ich glaube allerdings, dass es nur noch eine frage der zeit ist, bis sich das ändert: ähnlich wie bei den essstörungen, von denen seit kurzer zeit inzwischen auch zunehmend mehr und mehr männer betroffen sind, während gleichzeitig prügelnde mädchengangs deutlich machen, dass eine emanzipation, die sich in abstrakter (objektivistischer) "gleichstellung" erschöpft, keine wirkliche emanzipation darstellt. nicht frauen in polizei und bundeswehr stellen ein indiz für tatsächlichen gesellschaftlichen fortschritt dar, sondern die realisierung von verhältnissen, in denen polizei und armeen zunehmend mehr und mehr beschäftigungslos werden würden, würde so einen fortschritt bedeuten." (...)


keine wirklich schöne sache, wenn die entwicklung einer gesellschaft so vorhersagbar zu werden scheint...

eine spekulation gestatte ich mir dann doch, nachdem ich obigen absatz gerade wieder gelesen habe: vielleicht handelt es sich hier auch um etwas, was tatsächlich zunächst als beziehungstat begann und sich schnell zu einem amok(artigen) zustand entwickelte. aber wie gesagt, zu dieser stunde reine spekulation. im übrigen kann ich mich gerade an keinen derartigen fall mit einer so bewaffneten täterin hierzulande erinnern; ich hatte
hier vor einigen jahren mal einen damals medial unter "amok" vermerkten angriff einer "angetrunkenen frau" in halberstadt auf mehrere passanten / radfahrerInnen mit einem messer verzeichnet - aber sonst völlige fehlanzeige. und es wäre eine durchaus fatale und völlig überflüssige entwicklung, zukünftig neben den mokkern (zu diesem begriff siehe john brunner) auch noch verstärkt deren weibliche variante erwähnen zu müssen.

*

edit 1: die geschichte wird langsam
deutlicher:

(...) "Die mit einer Pistole bewaffnete Frau habe zunächst ihren früheren Lebensgefährten sowie ein fünf Jahre altes gemeinsames Kind getötet" (...)

weiteres vermutlich im laufe des tages.

*

edit 2: der meines wissens letzte stand von heute macht noch mehr
deutlich:

(...) "Die Amokläuferin von Lörrach ist vermutlich mit der noch frischen Trennung von ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn nicht klargekommen. Es liege nahe, „dass eine Beziehungsproblematik Auslöser für die Tat war“, sagte der der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer am Montag in Lörrach. Die von Polizisten getötete 41- jährige Sportschützin habe zuletzt „psychisch angespannt“ gewirkt. In der Klinik, in der sie einen Pfleger erschoss, hatte sie vor sechs Jahren eine Fehlgeburt. Die Rechtsanwältin Sabine R. brachte ihren Mann um, als der 44- jährige Schreiner am Sonntagabend den Sohn bei ihr in der Lörracher Innenstadt abholen wollte. Sie waren seit Juni getrennt. Der Junge lebte bei seinem Vater und war über das Wochenende zu Besuch bei seiner Mutter. Den bisherigen Ermittlungen zufolge wurde er erschlagen." (...)

ich möchte mir wirklich nicht vorstellen - obwohl es aus grundsätzlichen erwägungen nötig erscheint - welche "beziehungsproblematik" eine frau zu solch einer tat bringen kann. das sieht jedenfalls nach einer vorgenommenen tabula rasa aus - "gut bewaffnet" den ex-partner und das gemeinsame kind zu töten, die eigene umgebung in brand setzen, um dann einen biographisch aller wahrscheinlichkeit nach extrem negativ besetzten ort aufzusuchen, um dort weiter zu wüten.

wäre es bei der tat in dem büro/ der wohnung geblieben, würde die wertung "amok" so nicht getroffen werden können. die nach dem doppelmord stattgefundenen und offensichtlich tatsächlich wahllosen angriffe auf ihr unbekannte stützen jedoch zumindest oberflächlich betrachtet meine gestrige spekulation oben. und der ganze ablauf der tat erinnert ebenfalls an den im gleichen zeitraum wie "winnenden" stattfindenden amok von
alabama - hier hatte der täter damals ebenfalls zuerst opfer im engsten sozialen umfeld (familienmitglieder) heimgesucht, bevor ihm unbekannte in die schußlinie gerieten. die zukunft wird zeigen, ob dieses spezielle muster - eine sehr persönliche "abrechnung" mutiert zu einem echten amok - einen trend anzeigt.

*

was bleibt neben der immer mit solchen taten verbundenen beklemmung? ausnahmsweise nicht die "killerspiel-debatte"; ansonsten betreiben die weitaus meisten medien das übliche nach solchen ereignissen: sie fragmentieren und lösen zusammenhänge auf, damit ja niemand auf die idee kommt, weitere fragen zu stellen. und ebenfalls üblich und schon öfter gehört sind derartige
statements:

(...) "Dass so etwas bei uns hier passiert, hätte ich nicht für möglich gehalten", sagt ein älterer Mann. Hier in Lörrach, da leben sie doch in einer heilen Welt, dachten sie. Hier, wo die berühmte lila Schokolade produziert wird, wo die Schweiz und Frankreich nur einen Steinwurf entfernt sind, da gibt es keinen Hass. "Ein Amoklauf bei uns? Nein", meint eine Frau, "das kennt man doch sonst nur aus den Großstädten." (...)

beim letzten satz rutschten meine augenbrauen hoch - so, man "kennt das sonst nur aus großstädten"? die durcheinandergewürfelte liste der orte der bekannten "amok"-taten in den letzten jahren sieht hinsichtlich ihrer auf- und abgerundeten einwohnerInnenzahl mit stand vom 31.12.2009 so aus (quelle wikipedia):
  • erfurt: 203.900
  • winnenden: 27.500
  • emsdetten: 35.600
  • ansbach: 40.400
  • lörrach: 48.200
ich frage mich inzwischen ernsthaft, ob das nur ein etwas bizarrer zufall ist - von erfurt einmal abgesehen, wobei die wertung "großstadt" jenseits des formalen kriteriums für diese stadt eher nicht ernsthaft gebraucht wird. es sind jedenfalls bisher eindeutig die provinziellen kleinstädte, die offenbar das ideale milieu für derartige taten darstellen. vielleicht wäre es aus präventionsgründen sinnvoller, anstatt eines "killerspielverbotes" solche provinzstädte vorsichtshalber zu plätten...?

Sonntag, 19. September 2010

assoziation: mehr körperkontakt!

diesen titel trägt ein ziemlich guter text auf einer mir bislang unbekannten seite - die für mich wesentlichen auszüge:

(...) "Das Problem, mit dem wir es angesichts des verkrampften Umgangs mit Sexualität in unserer Kultur zu tun haben, ist eigentlich nicht so sehr, dass der Sexualität die Liebe und Wertschätzung fehlt, sondern andersherum: dass den liebevollen und wertschätzenden Beziehungen jegliche körperliche Ausdrucksmöglichkeit fehlt.

Uns fiel nämlich auf, dass nicht nur Sexualität, sondern jede Art von körperlichem, liebevollem Kontakt zwischen Menschen in unserer Kultur stark tabuisiert ist, sobald sie außerhalb intimer Paarbeziehungen stattfindet. Niemand fasst sich an, niemand kuschelt miteinander, niemand hält sich im Arm, niemand streichelt sich gegenseitig – das alles ist nur unter expliziten Liebespaaren erlaubt. Was im Umkehrschluss heißt: Sobald es zu körperlicher Nähe kommt, steht die Frage nach einer Liebesbeziehung und damit nach expliziter Sexualität im Raum. (...)

Selbst bei guten Freunden und Freundinnen sind wir oft verkrampft, sobald es um einen körperlichen Kontakt geht, der über ein flüchtiges Küsschen zur Begrüßung hinausgeht. Sich gemeinsam auf ein Sofa kuscheln und einen Film schauen ist normalerweise nicht möglich. Auch nicht, gemeinsam in einem Bett zu übernachten, sich zu streicheln, Händchen zu halten, sich im Arm zu halten (von Extremsituationen wie großer Verzweiflung vielleicht abgesehen). Noch schlimmer ist es bei Bekannten: Sich bei einem Arbeitskollegen über die Schulter beugen, um auf seinen Bildschirm zu schauen, wird schnell zur heiklen Angelegenheit. (...)

Diese Kultur der Körperlosigkeit in Beziehungen läuft den menschlichen Bedürfnissen entgegen. Denn es ist kaum möglich, ohne körperliche Nähe, ohne Angefasst werden, Streicheln, Kuscheln, Umarmt werden, gut zu leben. Deshalb müssen wir alle so verzweifelt auf eine Zweierbeziehung hoffen. Deshalb ist die Einsamkeit alter Menschen so unerträglich. Wir stellten bei unserem Gespräch fest, dass das unsere größte Angst vor einem eventuellen Single-Dasein ist: auf die Möglichkeit körperlicher Nähe verzichten zu müssen. Nicht das Geld macht uns Sorgen, nicht das Ausgelastet sein, nicht das Eingebundensein in Freundschaften und ein soziales Netz, letztlich auch nicht der pure Sex – das alles ist auch außerhalb der klassischen Zweierbeziehung zu haben. Kuscheln, Küssen, Streicheln, sich Körperlich geborgen Fühlen aber nicht.

Eine Gesellschaft, die die menschliche Sehnsucht nach Körperkontakt so extrem einschränkt und mit Tabus gelegt, muss sich eigentlich nicht wundern, wenn sich destruktive und gewalttätige Formen von Sexualität entwickeln." (...)


letzteres ist allerdings mit wahrscheinlichkeit nicht nur auf die sexuelle ebene beschränkt. das fasste der us-amerikanische psychologe rollo may schon 1969 in seinem buch "love and will" in die folgenden worte:

"When inward life dries up, when feeling decreases and apathy increases, when one cannot affect or even genuinely touch another person, violence flares up as a daimonic necessity for contact."

(in sinngemäßer übersetzung: wenn das innenleben vertrocknet, gefühle verschwinden und sich apathie ausbreitet, wenn man andere menschen nicht mehr erreichen und sogar im tatsächlichen sinne nicht mehr berühren kann, dann flammt als ein letzter dämonischer versuch, eine berührung erzwingen zu wollen, gewalt auf.)

mir ist dieses zitat das erste mal als abschluß einer recht blutigen krimikurzgeschichte begegnet. und tatsächlich: wenn man dieses modell einmal als schablone über unsere gesellschaftliche realität legt, sieht es augenscheinlich etwas danach aus, als ob das motiv der erzwungenen berührung in vielen fällen untergründig beteiligt ist.

nun hat rollo may als vom
existentialismus beeinflusster psychologe seine sätze in einer epoche geschrieben, in der besonders diverse variationen der psychoanalyse - von freud angefangen bis hin zu den "dissidenten" wie erich fromm und auch wilhelm reich - ebenfalls noch up to date waren und ihren focus bekanntlich besonders auf die in ihren entstehungszeiten tatsächlich noch "klassisch" unterdrückte sexualität legten, die in einem fatalen sinne oft genug mit der gesamten körperlichkeit des menschen gleichgesetzt wurde (diesen verhängnisvollen fehler hat meiner meinung nach auch wilhelm reich begangen, so sehr ich ihn auch generell für wichtige arbeiten schätze).

heute haben wir es jedoch mit phänomenen zu tun, die sich unter dem begriff der verdinglichten (und verdinglichenden) selbst- und fremdwahrnehmung zusammenfassen lassen. da wäre einmal die heutige allgegenwärtige übersexualisierung der gesellschaft, in der, wie ich zum thema
amok früher einmal geschrieben hatte...

"... in der sexualität tatsächlich zu einer art alles dominierendem platzhalter für die mehr und mehr fehlende vielfalt von lebendigen und liebevollen menschlichen beziehungen geworden ist, zu allem überfluß auch noch zusehends unter die räder der "marktgesetze" geraten ist - äußere attraktivität konform der jeweiligen mainstreamproduzierten nachfrage mitsamt der fähigkeit, das eigene image gut zu verkaufen, erhöhen die eigenen chancen, von anderen als investitionswürdiges (zeit, aufmerksamkeit) objekt der begierde wahrgenommen zu werden ..."

... und die sich heute zu einem sehr destruktiven gesellschaftlichen faktor entwickelt hat, zugespitzt in den diversen formen von (gewalt-)pornographie bis hin zu sexualisierter gewalt . im engen wechselspiel damit und sich mit der zwanghaften sexualisierung gegenseitig verstärkend/bedingend sind die schon erwähnten wahrnehmungsstörungen und -defizite zu sehen, auch hier an erster stelle die einbußen an empathiefähigkeit, die nicht nur für die eingangs im vorgestellten text erwähnten ebenen von nicht primär sexuellem körperkontakt eine grundlegende voraussetzung darstellt. und die eben auch für viele hier in der vergangenheit schon diskutierten phänomene wie bspw. kindsmorde, schulmassaker ("amok") und "happy slapping" eine basale grundlage bildet.

*

da sich die obigen themen allesamt um innere kernbereiche der menschlichen sozialität drehen, ist es aus meiner sicht schon dringend nötig, hier etwas orientierung zu gewinnen, weil sonst die agierenden destruktiven kräfte und prozesse nicht in ihrem wirken verstanden werden können. unter der realistischen annahme, dass wir es in den heutigen gesellschaften mit einer wahren epidemie von beziehungskrankheiten (prinzipiell besitzt jede "psychische" [psychophysische] störung/krankheit als kern eine beziehungsstörung, zuerst innerhalb des eigenen selbst, falls denn letzteres überhaupt vorhanden ist) zu tun haben, mal der versuch, ein paar der angerissenen punkte zu ordnen:
  • als erstes eine binse: nicht alles, was nach sex aussieht, ist tatsächlich sexuell. drastisches beispiel wären hier vergewaltigungen, bei denen es immer zentral um macht geht. und bei denen sekundär auch ein motiv wie dasjenige von rollo may beschrieben eine rolle spielen könnte.
  • beziehungskrankheiten können als symptome sowohl eine weitgehende sexuelle abstinenz als auch eine recht wahllose und teils massiv selbst- und fremdgefährdende komponente sexuellen ausagierens mit schon zwanghaften zügen aufweisen. am deutlichsten zu sehen ist beides (!) bei vorgeschichten sexualisierter gewalt, bei denen die opfer dann später auch dazu neigen, ihre traumata zu re-inszenieren (teils dann mit vertauschten rollen). dieser punkt ist auch genau derjenige, der mich solche zeitgeistphänomene wie "bdsm" mit einigem misstrauen betrachten lässt. selbst wenn den protagonisten ihre motivationen bewusst sein sollten, so lässt sich derart kein trauma wirklich auflösen. eher wird hier nur immer und immer wieder neu ausagiert, und gleichzeitig die fehlkoppelung von sex = machtposition = lust ständig reproduziert und ganz im wirksinne eines verhaltenspsychologischen verstärkers verankert. das hat mit irgendetwas emanzipatorischem nicht nur nichts zu tun, sondern arbeitet dem direkt entgegen.
  • wie auch die verbreitete trennung von sex und liebe. eine der fatalsten spaltungen überhaupt, die einerseits die sexualität mit einer bedeutung auflädt, unter der sie nur früher oder später kollabieren kann (weil sie zwangsweise umstandslos mit allgemeiner menschlicher erfüllung gleichgesetzt wird), während andererseits der allgemeine mangel an liebe (und das nicht im sinne der zweierbeziehung, sondern auf alle sozialen beziehungsebenen bezogen) vielleicht als das besorgniserregendste symptom unserer zeit überhaupt begriffen werden muss. gleichzeitig ist die spaltung auch mehrfach verräterisch: es ist auffällig, dass eine derart herausgehobene sexualisierung bevorzugt innerhalb quantifizierbarer dimensionen abgehandelt und wahrgenommen wird - wie oft, mit wievielen, "eroberungen" besonders begehrter "objekte" etc. - und so auch deutlich wird, dass es dabei keinesfalls um einen, vielleicht den intensivsten, ausdruck zwischenmenschlicher nähe geht, sondern um eine narzisstisch aufgeladene bestätigung des eigenen, objektivistisch konstruierten images, welches gleichzusetzen ist mit der gesellschaftlich präsentierten maske. andererseits steckt selbst in vielen dieser praktiken auch vermutlich das, was im may-zitat so treffend auf den punkt gebracht wurde. und nein, dazu muss nicht unbedingt "sichtbare" gewalt vorhanden sein. während die anonymität und kälte, mit der diese marktkonforme sexualität oft genug daherkommt, schon den kern offener gewalt impizit enthält, so ist doch gleichzeitig oft genug noch ein verzweifelter rest der suche nach authentischer menschlicher nähe vorhanden, die aber - weil weitgehend unbegriffen und im wortwörtlichsten sinne sprachlos - sich nur noch in deformierten ausdrücken manifestieren kann.
  • den sonderfall bei diesem ganzen komplex bilden wie so oft wiedereinmal die "echten" sozioapathen aka als-ob-persönlichkeiten. ganz kurz gesagt, kommt hier alles sexuelle völlig mechanistisch daher, wird einzig und alleine in quantifizierbaren mustern wahrgenommen und hat nicht mal einen hauch mit authentischer zwischenmenschlicher nähe zu tun. alle diese eigenschaften machen aber paradoxer- und bezeichnenderweise strukturell soziopathische leute auf dem heutigen sexmarkt zu bevorzugten objekten und konsumenten gleichzeitig, weil die motive des unverbindlichenden, der anonymität und verdinglichenden / verobjektivierenden wahrnehmung des gegenübers durchaus, nicht zuletzt durch die massenhaft verbreitete pornographie, bruchlos kompatibel mit den nachgefragten eigenschaften von "sexpartnern" im mainstream sind. das alles ist im wesentlichen nur die wiederspiegelung der sonstigen auffälligen kompatibilitäten von soziopathen mit den normen und praktiken des totalitären kapitalismus.
*

bei betrachtung all dieser punkte kommt mir auch wieder eine gerade laufende
diskussion bei kritik und kunst in den sinn, bei der ich mein unbehagen bisher nur teilweise fassen konnte. inzwischen aber scheint mir ein zentraler punkt darin zu liegen, dass hartmut finkeldey und ich jeweils unterschiedliche probleme als priorität ansehen: wenn er in seinem letzten statement u.a. schreibt...

"wir haben derzeit eine sehr unheilige Allianz zwischen Therapeuten (denen es zT auch nur um ABMs geht, die ein Interesse daran haben, möglichst viel "Fälle" zu haben - muss man so knallhart sagen!) und neuer Rechter mit ihrer Körperfeindlichkeit."

... dann ist das ziemlich genau die position, die auch leute wie katharina rutschky oder der bei diesem thema unsägliche wiglaf droste in der "mißbrauch-mit-dem-mißbrauch"-kampagne in den 1990ern verbreitet haben. und das fand ich damals schon daneben, weil hier einfach auf dem stand von "1968" argumentiert wird und die - in weiten teilen der politischen rechten bis heute zweifelsfrei vorhandene - tendenz zur sexuellen repression als hauptproblem gesehen wird. und eben das möchte ich in zeiten der allgemeinen übersexualisierung bestreiten. die taten, die bei "kritik und kunst" anlaß für den ausgangsbeitrag bildeten, fanden unter kindern/jugendlichen statt und machen durchaus einerseits die tatsache deutlich, dass in den heutigen jungen generationen die verfügbarkeit und der konsum von pornographie eine sehr negative rolle spielen kann (dazu zusammenfassend mehr beim
psychiatrie-heute-net, ebenfalls eine quasi "regierungsamtliche" studie dazu - beide quellen kommen zu einem ähnlichen, und zwar sowohl für "klassisch" linke wie rechte, unbequemen hauptergebnis: nämlich das das rechte schreckgespenst einer quasi hemmungs- und schamlosen sexualisierung von kindern und jugendlichen per pornokonsum erstens so nicht haltbar ist, während zweitens dieser konsum durchaus negative folgen mit sich bringt, als deren gravierendste die unmöglichkeit beschreiben wird, im vergleich zwischen den scheinwelten des pornos und dem realen eigenen leben quasi nicht den kürzeren zu ziehen. und das kann zu massiven schwierigkeiten für die jeweils eigene sexuelle entwicklung führen), wobei wir in diesem fall diesen möglichen einfluß nicht abschätzen können (es liegt aber nahe, einen solchen einfluß anhand der geschilderten praktiken anzunehmen. solche szenarien entwickeln sich keinesfalls "von selbst". die andere möglichkeit wäre die, dass die betroffenen jugendlichen hier eigene erfahrungen in vertauschten rollen re-inszeniert haben). zum anderen zeigen sich aber auch massive empathiedefizite bei gleichzeitigem sexualisieren von angewandter gewalt, und das spiegelt durchaus entwicklungen wieder, die hier in anderen zusammenhängen bei kindern und jugendlichen auch schon thema waren.

und letzteres betrachte ich inzwischen als zentrales problem - ganz im gegensatz zu vielen linken, die bei diesen fragen immer noch dem irrglauben anhängen, dass "die sexualität" aus den fängen einer rigiden und prüden, religiös beeinflussten bürgerlichen moral zu "befreien" wäre - und dabei völlig übersehen, dass die zeiten der totalen ökonomisierung mitsamt ihren verheerenden folgen für die menschlichen innenwelten die problemstellung massiv verschoben haben - heute ist "die sexualität" in ihrem eigentlichen wesen als ausdrucksmöglichkeit zwischenmenschlicher nähe und zuneigung eher als entkernt zu betrachten. sie hat sich, wie alles andere auch, in ein konsumierbares produkt verwandelt, und wandelt in dieser gestalt ständig in der nähe allerlei grenzverletzungen umher. und das betrachte ich als zentral, nicht das lächerliche gehabe irgendwelcher figuren von rechts, deren absurde thesen im allgemeinen nur noch anlaß zu gelächter geben (ein aktuelles beispiel dafür findet sich
hier).

das es den anschein hat, als würde derlei auf fruchtbaren boden fallen, hat nicht zuletzt auch mit der erwähnten falschen prioritätensetzung zu tun - die rechte greift in ihrer verzerrenden art und weise ein paar symptome der erwähnten produkthaftigkeit von sexualität auf und erweckt dadurch für etliche sich in dieser schwer durchschaubaren lage befindlichenden den eindruck, mittels ihrer rezepte einen ausweg zeigen zu können. das funktioniert analog anderen gesellschaftlichen bereichen aber nur dann und deshalb, weil es bislang keinerlei auf höhe der zeit befindlichen emanzipatorischen ansätze gibt, die hier angemessene antworten und wege aufzeigen könnten. und gerade deshalb finde ich den eingangs verlinkten text gut: weil hier durchaus der versuch sichtbar ist, in dieser situation etwas orientierung zu geben. auch, wenn sich der dortige autorenkreis vermutlich eher weniger als "links" begreift.

Dienstag, 14. September 2010

notiz: noch´n paar studien

(soziologische & psychologische) studien aller art scheinen ja schon geraume zeit zu den bevorzugten instrumenten zu gehören, mittels denen sich nicht nur diese gesellschaft versucht, mit mehr oder weniger erfolg sich selbst auf die schliche zu kommen. und die probleme damit, bspw. von der auswahl der fragen über die zielgruppe(n) bis hin zu den vielfach möglichen statistischen tricks bei der auswertung sollten allgemein bekannt sein. nichtsdestotrotz enthalten sie, wenn das "design" und die ausführung nicht von vorneherein allen einschlägigen standards hohn sprechen, meistens einige kerne der tatsächlichen gesellschaftlichen realität. und mit diesen aspekten im hinterkopf ist es interessant, sich die jüngst veröffentlichten ergebnisse zweier studien zur situation von jugendlichen in diesem land näher zu betrachten.

*

da wäre einmal die schon notorische "shell"-jugendstudie, die jeweils mit einem abstand von drei bis vier jahren durchgeführt wird und in diesem jahr erneut vorliegt. deren ergebnisse führen derzeit im mainstream zu überschriften alá "Viele Jugendliche blicken optimistisch in die Zukunft" (afp), "Pessimistisch wegen Wirtschaftskrise? Iwo!" (stern) oder auch "Optimismus nur in der Mittel- und Oberschicht" (faz).

bereits diese drei beispiele bilden den grundsätzlichen tenor der intrepretationen ab: einmal wird der festgestellte optimismus mehr oder weniger bejubelt, zum anderen im gleichen atemzug
festgestellt, dass dieser optimismus an die klassenzugehörigkeit gekoppelt ist:

(...) "Allerdings klafft bei der Einschätzung der Zukunft die Schere zwischen den Milieus immer weiter auseinander - nicht jeder hält dem steigenden Druck stand. Ob Politikinteresse, Bildungschancen oder soziales Engagement: Die zwölf- bis 25-Jährigen aus sozial benachteiligten Familien zeigen in allen Bereichen deutlich weniger Zuversicht.

Insgesamt 59 Prozent blicken positiv in ihre persönliche Zukunft - 2006 waren es 50 Prozent. 35 Prozent sind unentschieden, sechs Prozent sehen ihre Zukunft düster. Bei sozial benachteiligten Jugendlichen sind nur 33 Prozent optimistisch. 71 Prozent insgesamt sind überzeugt, ihre beruflichen Wünsche verwirklichen zu können. Bei den Jugendlichen aus der Unterschicht sind es nur 41 Prozent." (...)


ich konnte bisher nichts darüber finden, wie im kontext dieser studie eigentlich der begriff "optimismus" definiert wird - auch die
kurzvorstellung der ergebnisse hilft da nicht wirklich weiter - oder soll man den zitierten begriff des "positiven denkens" wirklich dafür als synonym nehmen? das würde dann eher unter autosuggestionen laufen.

aus der ergebnisvorstellung unter "politik" auch das:

(...) "Stabil bleibt die politische Selbsteinschätzung der Jugendlichen: Die Mehrheit ordnet sich etwas links von der Mitte ein. Auch beim Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen hat sich wenig geändert: Hohe Bewertungen gab es für Polizei, Gerichte, Bundeswehr sowie Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen, niedrige für die Bundesregierung, die Kirche, große Unternehmen und Parteien. Kaum verwunderlich, dass in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise das Vertrauen in Banken am meisten gelitten hat. Entsprechend zeigt sich bei den Jugendlichen heutzutage nicht nur Politikverdrossenheit, sondern auch ein ausgeprägter Missmut gegenüber Wirtschaft und Finanzen." (...)

ich kann das, anders als die autoren und die mehrzahl der interpreten, nur als beleg für eine sichtbare fragmentierung der wahrnehmungsfähigkeiten bei vielen kids ansehen. die sog. staatliche exekutive und judikative - polizei, gerichte, militär - derart von der legislative (regierung und die involvierten parteien) zu trennen, macht ein meiner meinung nach absolut illusionäres verständnis von den realen verhältnissen in staat und gesellschaft deutlich, in denen diese trennung an vielen stellen keinesfalls mehr existiert, weil das primat der ökonomie, vermittelt u.a. durch lobbyismus und auch oft genug korruption, längst alle staatlichen sphären dominiert (und im kapitalismus staatliche apparate eh dazu neigen, sich zu reinen erfüllungsgehilfen dieses primates zu machen). in zeiten, wo transnationale konzerne aufgrund ihrer ungeheuren finanziellen macht oft genug ganze staaten in ihre tasche stecken können, mutet die dokumentierte trennung jedenfalls mehr als seltsam an, kann aber u.u. direkt den apolegeten eines "starken staates" in die hände spielen.

ebenfalls wird offenbar nicht gesehen, dass die regierung zwar die bundeswehr in kriegseinsätze schickt, letztere das aber auch vollig widerstandslos mit sich machen lässt und derart als mitverantwortlich gelten muss. erst recht, wenn diese einsätze zukünftig noch mehr als heute vom primat der versorgungssicherung in sachen rohstoffe bestimmt sein werden - und auch und gerade im interesse der scheinbar kritisierten "großen unternehmen" stattfinden werden.

vielleicht gibt es aber sowohl für den groß herausgestellten optimismus als auch für die sichtbar werdenden wahrnehmungsfragmentierungen auch noch einen ganz anderen hintergrund, und den hatte ich vor ein paar jahren schon mal
hier skizziert - würde mich wundern, wenn die studie auch nach diesen möglichen hintergründen bei den teilnehmerInnen gefragt hat.

und "links von der mitte" ist bei der realen position der sog. "mitte" immer noch ein ordentliches stück rechts. insgesamt aber auch kein wunder bei denjenigen generationen, die als gesellschaftliches leitbild nichts weiter als verschiedene grade des totalitären kapitalismus kennen.

*

was diese studie aber auch wiederspielgelt, ist die sozioökonomische spaltung der gesellschaft in der hinsicht, dass sich die jugendlichen aus der unterklasse (aka "prekariat") durchaus über ihre eigene position und zukunft in dieser gesellschaft im klaren zu sein scheinen:

(...) "Einzig bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zeigt sich ein anderes Bild: Hier ist nur noch ein Drittel (33 Prozent) optimistisch. Diese soziale Kluft wird auch bei der Frage nach der Zufriedenheit im Leben deutlich. Während fast drei Viertel aller Jugendlichen im Allgemeinen zufrieden mit ihrem Leben sind, äußern sich Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen nur zu 40 Prozent positiv." (...)

das ist weder unerwartet noch überraschend, nur ist die große frage, was die betroffenen daraus für konsequenzen ziehen werden. die derzeitigen rassistischen diskurse und aktionen in vielen europäischen staaten sind ein indiz dafür, dass von interessierter seite aus versucht wird, massiv destruktive (und system und "eliten" nicht gefährdende) möglichkeiten für eine antwort zu schaffen. auch aus diesem grund ist es notwendig, diesem tun entgegenzutreten.

*

es gibt noch eine weitere jugendstudie, die auf einer quantitativ massiv geringeren, aber möglicherweise (!) qualitativ wesentlich umfassenderen datenbasis beruht, weil hier die ergebnisse mittels tiefenpsychologischer interviews gwonnen werden - mir bisher unbekannt, kommt die
studie des rheingold-instituts - ausgerechnet im auftrag des axel-springer-verlages, abt. musikzeitschriften -, zu etwas anders klingenden ergebnissen. auszüge:

(...) "Das widersprüchliche Bild, das die heutige Jugend in den Berichten der verschiedenen Forschungsinstitute zeigt – für die einen ist sie fügsam, optimistisch, fortschrittsgläubig, für die anderen angstvoll, bedrückt verunsichert – spiegelt insgesamt genau das gespaltene Weltbild der Jugendlichen. Auf der einen Seite sehen sie die Winner, Normalos und Reichen – auf der anderen die Loser, Asis und Hartz IV.

Frühere Generationen hatten das Gefühl, durch Ausbildung, durch Arbeit oder wenigstens durch Beziehungs-Management (90er Jahre) eine eigenständige Position in der Welt erringen zu können. Heute sieht die Welt für Jugendliche so aus, dass sie zwischen „Superstar“ und „Hartz IV“ hilflos in der Mitte baumeln. „Werde reich oder stirb traurig“: auf diese Alternative verengt sich der gesellschaftliche Sinn-Horizont, wozu dann unterschwellig Empfehlungen geliefert werden, die soziales Handeln auf Kaufen, Tricksen, Blenden, Klauen, Hauen, Hocken beschränken."


der letzte satz drückt genau solche tendenzen aus, die ich zusammen mit anderen zusammenhängen hier im blog insgesamt als mehr oder weniger "schleichende" soziopathisierung der gesamten gesellschaft bezeichnen würde - egozentrisch und alleine auf den eigenen vorteil (in konsequenz das eigene überleben) bedacht, wird versucht, sich mittels vielfältiger simulativer strategien und fakes sowie direkter antisozialer aktion über die runden zu bringen. ebenfalls lässt sich die dargestellte "friß-oder-stirb"-wahrnehmung tendenziell als klassische borderline-position (im sinne der diagnostischen kriterien der borderline-ps) betrachten, was in diesem zusammenhang auch nicht überraschen kann.

"Viele Jugendliche sehen Erwachsene als Narren oder Heuchler, die so tun, als hätten sie die Lage im Griff, in Wahrheit aber die Kontrolle verloren haben. Auf ihre Vorteile bedacht, lassen Erwachsene die Jugendlichen im Stich: „Keiner kümmert sich um uns, schon gar nicht die Politiker, die kümmern sich nur um andere Länder.“ Erstaunlich! Trotz der von vielen Erwachsenen vorgetragenen Dauer-Bekümmerung fühlen sich heutige Jugendliche elternlos. Sie suchen daher Zweitfamilien auf: In Cliquen, in Gangs oder in Games finden sie die Auftrittsmöglichkeiten, die klaren Hierarchien und einfachen Regeln, die ihnen in „Multikultopia“ fehlen."

bei diesem als zitat dargestellten zentralen satz mir dem "kümmern" und "anderen ländern" frage ich mich ja, wie weit er repräsentativ ist - wobei ich nicht glaube, dass es diese position real tatsächlich nicht gibt. ist jedenfalls interessant zu sehen, wie gerade die springer-medien ganz im sinne dieser sätze agieren bzw. glauben, das zu tun.

auch der nächste befund ist keine überraschung:

"Eine andere Jugend-Strategie zielt auf den Erhalt eines Zustands permanenter Berieselung. Snacks und Drinks als Sinn-Lückenfüller, MP3-Player als Ohren-Schnuller, Events am laufenden Band, Handys und Messenger-Systeme verdrängen die eigenen Ohnmachtsgefühle zusammen mit dem ‚schwarzen Loch’, das aus der Zukunft auf die Einzelnen zukommt. Die Eltern sind nur zu gern bereit, diese Dauerbefütterung bis zum Konsumkoma zu unterstützen, um ihre Kinder zu ruhigen, artigen und verträglichen Geschöpfen zu machen und lästige Fragen aus der Welt zu schaffen, auf die sie selber keine Antwort wissen." (...)

eine der ausgeprägteren varianten von
sozialer trance, kombiniert mit den per werbung/pr vermittelten und übergriffigen normen des komsumimperiums - soll man die anwendung dieser herrschaftstechnologien bereits bei kindern und jugendlichen als besonders schändlich und niederträchtig hervorheben?

die folgend genannten vier eigenschaften, die lt. studie den jugendlichen besonders fehlen würden, hören sich im großen und ganzen plausibel an, auch wenn sie nicht vollständig sein dürften. jedenfalls ist das zusammenfassende fazit recht eindeutig:

(...) "Die Befunde der Jugendstudie sind alarmierend. Daher macht es auch keinen Sinn, die Situation zu beschönigen und eine werbliche Hurra-Jugend-Studie zu verfassen. Die Zeiten des ungebrochenen Jugendkults und der freudig bewegten Loveparade sind vorbei. Auch die Jugendlichen fordern von den Erwachsenen und den Medien Klartext – schonungslose Aufklärung und eindeutige Positionen." (...)

wäre interessant zu wissen - gerade im vergleich mit der "shell"-studie -, aus welchen milieus die befragten stammen. wobei sich die kritischen anmerkungen für mich so anhören, als ob sie auch aus mittel- und oberklasse stammen könnten - nur lässt sich dort die allgemeine und diesem system höchst immanente sinnleere aufgrund der materiellen ausstattung besser kompensieren, was aber auf die dauer eben keinesfalls glücklicher macht.

ganz am ende werden zwei mögliche perspektiven skizziert, und die eine, als pessimistisch benannte, enthält frappierend viele derjenigen befunde, die ich hier bei verschiedensten themen in der vergangenheit auch schon erhoben habe:

(...) "Die Jugendkultur wird im Jahre 2012 hauptsächlich von drei Gruppierungen bestimmt – von Gangs, Träumern und Schläfern. Sie sind Reaktionen gegen die erlebte Lebensangst, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht.

Die Gangs haben die liberalen Freundeskreise entweder ganz ersetzt oder sie tyrannisieren sie. Jenseits der bürgerlichen Ordnung tobt ein heimlicher Bürgerkrieg und beschwört anarchische Zustände. Die völlige Entpolitisierung der Jugend geht einher mit Markierung neuer Kampfzonen durch regionale, nationale oder religiöse Unterschieden. Die unzähligen Banden und Clans werden zu straff organisierten kleinen Parallel-Gesellschaften mit zum Teil fundamentalistischen Zügen.

Die Träumer sind friedlicher. Aufgrund ihre Lebensangst und ihrer Ressentiments gegen Banden oder gegen Frauen haben sie sich weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Sie leben isoliert in ihren virtuellen PlayStation-Welten. Das Internet ist ihr bevorzugtes Tor zur Wirklichkeit, hier versuchen sie, Karriere in ihrem second life zu machen.

Die Schläfer sind vereinzelte Jugendliche, die gewaltsam aus dieser autistischen Lebensführung ausbrechen. Die bisher im Konsumkoma oder in den künstlichen Paradiesen ruhig gestellte, eingekapselte Angst artikuliert sich in gewaltsamen Explosionen: In willkürlichen Gewaltakten, Straßenkämpfen, Randale an Schulen bis hin zu Anschlägen oder Amokläufen wird die erlebte Ohnmacht in Macht verwandelt." (...)


pessimismus? ich würde das entschieden realismus nennen, weil das alles bereits in regionen, die im prozeß der zerstörung der sozialen basis schon fortgeschrittener sind, punkt für punkt zu beobachten ist, allerdings mit einer deutlichen tendenz zu den gangs - mittel- und südamerika sind da nur ein beispiel für. während die "träumer" in den diversen simulativen aka virtuellen welten und die "schläfer" sich durchaus in der hiesigen realität bevorzugt nachweisen lassen (keywords für eine entprechende blogsuche hier wären in dem zusammenhang bspw. amok, maras, oder auch happy slapping).

und solange keinerlei grundsätzliche, qualitative und radikale änderung der prägenden gesellschaftlichen verhältnisse hier in sicht ist, brauchen wir uns über mögliche positive szenarien erst gar nicht weiter zu unterhalten. und das ist keine frage der "freien wahl", geschweige denn der eigenen vorlieben, sondern liegt u.a. an den aus den menschlichen psychophysischen gesetzmässigkeiten folgenden sozialen prozessen. und die dürften zumindest für alle, die noch über einigermaßen funktionierende wahrnehmungsfähigkeiten verfügen, ohne größere probleme aus der oben genannten "pessimistischen" variante im gemeinten sinne abzuleiten und in der realität ebenfalls wiederzufinden sein.

Montag, 13. September 2010

notiz: sarrazin und seine quellen

ich habe mich dagegen entschieden, die folgende info als update bspw. im letzten beitrag anzuhängen, weil mir selbst das bis gestern unbekannt war und ich auch bisher fast nirgendwo entsprechende hinweise gefunden habe. also: es gibt inzwischen eine art "sarrazin-watchblog", wobei die brandsätze generell gegen den "extremismus der mitte" anschreiben wollen. und vor ein paar tagen beschäftigte sich ein beitrag dort mit einer von sarrazins bezugspersonen, wobei mit diesem begriff eher eine derjenigen quellen bezeichnet wird, auf die s. in seinem buch zurückgreift. was da steht, finde ich hochinteressant, und eine kleine recherche ergab zunächst, dass dieser v. weiss bei s. direkt genannt wird (edit 14.09.: diese direkte nennung muss noch überprüft werden), und als weiteres ergebnis als erstes einen recht umfassenden wiki-eintrag:

"Weiss vertritt die These, dass menschliche Intelligenzunterschiede wesentlich durch die Variation eines Gens und die mendelschen Vererbungsregeln zu erklären seien. Soziale und polygenetische Faktoren hätten nur einen sekundären Einfluss. Soziale Klassen und Ethnien unterscheiden sich nach Weiss' Meinung durch verschieden hohe IQ-Mittelwerte, wofür er als Ursache u.a. die Verteilung von Genvarianten innerhalb dieser Gruppen annimmt. Weiss' Thesen haben in der Wissenschaft nur eine Randposition.

Aus den Ergebnissen seiner Intelligenzforschungen zieht er konkrete bildungs-, minderheits-, migrations- und ethnopolitische Schlußfolgerungen. Seine Ausführungen zum Verhältnis von Genetik und Biologie zur Gesellschaft rufen in der Öffentlichkeit überwiegend Ablehnung hervor, einschließlich des Vorwurfes, es handle sich um „Vererbungslehre in NS-Tradition“. Politisch bewegt Weiss sich in rechtsextremistischen Kontexten. Hier tritt er mit fachlichen und nichtfachlichen Aussagen gerne an die Öffentlichkeit. (...)

In der taz wurde Weiss beschuldigt, schon jahrelang „in trüben braunen Gewässern“ zu fischen und mit wissenschaftlich „mehr als umstrittenen“ und in „NS-Tradition“ stehenden Ansichten am rechten Rand Zustimmung zu erhalten. In einem Vortrag 2004 zur bevorstehenden „Rentenkatastrophe“ etwa hatte er die Sorge der Nationalsozialisten für eine „Bestandserhaltung der Deutschen“ als für die Gegenwart vorbildlich gelobt, anderseits Geburtenkontrolle gefordert. „Denn, so Weiss, sinnlose, unbegrenzte Vermehrung gebe es nur noch im Tierreich - und bei der Familie Ussama Bin Ladens sowie jüdischen Fundamentalisten.“ (...)


und so weiter und so fort. mir war der mann bisher völlig unbekannt, aber wenn ich mir seine thesen so anschaue, dann ist tatsächlich ein wesentlicher kern der sarrazinschen thesen quasi in verschärfter form zu finden. und der kontext, in dem sich weiss so bewegt, ist meiner meinung nach mehr als deutlich und eindeutig. das sollte dann doch alles etwas öffentlicher als bisher werden.

*

nachtrag: wo ich gerade beim thema bin, finde ich, dass es noch eine information, und zwar eine positive, gibt, die verbreitet gehört (und in gewisser weise auch schon tendenziell das umfasst, was ich im gestrigen beitrag zum schluß als "ausagieren stoppen" bezeichnet hatte) - die gute alte tradition des
boykotts des schlimmsten hiesigen boulevardblattes wird in hamburg gerade wieder aufgenommen:

(...) az: Warum gibt es in Ihrem Kiosk beziehungsweise Ihrer Bäckerei seit einer Woche keine Bild-Zeitung mehr?

Winfried Buck: Das lag an der Ausgabe von vorletztem Samstag, mit Sarrazin auf dem Titel und dem, was man in Deutschland doch wohl noch sagen dürfe. Die Aussagen waren so extrem rassistisch, populistisch und ausländerfeindlich, dass ich daraufhin die Bild-Zeitung wutentbrannt aus dem Programm genommen habe.

André Krause: Die Bild-Zeitung hat für mich Stürmer-Qualität. Es geht immer gegen die Hartz-4-Empfänger und die Migranten. Ich wollte die Zeitung schon vor zwei Jahren rausnehmen, aber da war ich relativ neu hier und habe sie mit geballter Faust in der Tasche weiter verkauft. Aber als ich die Aktion meines Nachbarn gesehen habe, war für mich klar: Jetzt ist Schluss. (...)


sehr erfreulich, zumal das gedruckte schlagwerkzeug mit den vier buchstaben seit jahrzehnten verlässlich auf seiten der "eliten" besonders alle arten von teile-und-herrsche-spielchen forciert, anheizt und teils auch initiiert.und u.a. diese funktion hat in früheren zeiten, beginnend 1968, auch schon mal mehr nötigen widerstand hervorgerufen als heute. aber das obige ist immerhin ein anfang, und ein sehr nötiger dazu.

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