weil´s dringlich ist, um einmal mehr ein allgemeines mediales schweigen zu brechen.
wenn Sie mal in den deutschsprachigen google news unter "spanien" recherchieren, kommt zur stundedasdabei heraus - lauter meldungen über handball, fussball, formel eins, doping - und zwischendrin ein paar jubelartikel über boomende spanische aktien und überhaupt die "wirtschaftliche stärke" des landes.
macht man die gleiche recherche noch ergänzt um das keyword "demonstration", so kommtdas hierzum vorschein - immerhin sieben artikel beschäftigen sich mit den ereignissen, die seit ca. zwei tagen in spanien eskalieren. vielleicht bis auf (mit einschränkungen) die "taz" und "euronews" ist dabei kein einziges medium zu sehen, welches hierzulande wirklich eine größere verbreitung besitzt.
(...) "Die Facebook-Revolte ist in Spanien angekommen. Unter dem Motto "Echte Demokratie – Jetzt!" versammeln sich seit dem Wochenende in allen größeren Städten des Landes Zehntausende von Jugendlichen.
In Madrid demonstrierten am Sonntag rund 40.000 Menschen, in Barcelona etwa halb so viele. In weiteren 58 Städten wurden Kundgebungen abgehalten. Selbst an britischen Universitäten kam es zu spontanen Solidaritätsaktionen spanischer Auslandsstudenten. Die Veranstalter zählten insgesamt 130.000 Teilnehmer. In mindestens 27 Städten richteten die Jugendlichen Protestcamps ein. Das in Madrid wurde in der Nacht auf Dienstag von der Polizei geräumt.
"Wir haben keine Zukunft", heißt eine der Hauptklagen der Teilnehmer. Spanien hat eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Bei jungen Menschen ist sie mehr als doppelt so hoch. Immer mehr junge, spanische Akademiker suchen ihre Zukunft im Ausland." (...)
das ist erstens darum bemerkenswert, weil ich nach berichten von mir bekannten leuten, die das land gut kennen und auch kontakte haben, bisher immer das bild einer mehrheitlich ziemlich apathischen jugend dort hatte. und zweitens scheint die "taz"-reduktion auf eine art jugendrevolte nicht zu passen, wenn man sich die kommentare nicht nur dort betrachtet, sondern auch an anderen stellen recherchiert - hier eine anmerkung zur "taz":
es ist nicht nur eine "jugendrevolte"--- bei den landesweiten demonstrationen waren arbeitslose, arbeiter*innen, hausfrauen und hausmänner usw.- ein querschnitt durch die gesamte bevölkerung
das "reduzieren " auf die jugend versucht seit montag die spanische presse, um einen "zündfunken" zu vermeiden --- die bewegung breitet sich aber - auch durch das gewaltsame räumen der puerta del sol - weiter aus --- es kann durchaus schon der "funke" gelegt sein, der "einen steppenbrand auslösen kann"
kurze impressionen aus dem abendlich-nächtlichen madrid am sonntag:
beispreeblickgibt´s was längeres zum thema, u.a. mit einigen links und vor allem einer übersetzung des manifestes "wahre demokratie jetzt!":
"Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, um denjenigen die uns umgeben eine bessere Zukunft zu bieten.
Einige von uns bezeichnen sich als aufklärerisch, andere als konservativ. Manche von uns sind gläubig, andere wiederum nicht. Einige von uns folgen klar definierten Ideologien, manche unter uns sind unpolitisch, aber wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich uns um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos.
Und diese Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden – tägliches Leid, ohne jegliche Hoffnung. Doch wenn wir uns zusammentun, können wir das ändern. Es ist an der Zeit, Dinge zu verändern. Zeit, miteinander eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Deswegen treten wir eindringlich hierfür ein: (...)
weiterlesen bitte bei spreeblick; die haben sich dankenswerterweise die arbeit gemacht.
undtelepolishat einen wirklich brauchbaren hintergrundartikel zu bieten, aus dem dann u.a. endgültig deutlich wird, dass es sich hier um eine so bisher in spanien nicht dagewesene bewegung jenseits aller parteien und auch gewerkschaften handelt, deren forderungen mindestens zum teil an bisherige gesellschaftliche fundamente gehen.
und vor dem hintergrund bleibt bei der frage von weiter oben, ob das bisherige mediale schweigen hierzulande nun eher zufall oder absicht ist, eigentlich nur eine möglichkeit realistisch.
*
edit am 18.05.: ganz frisch vom gestrigen nachmittag:interview zu #spanishrevolution- auf deutsch, direkt aus dem land zur situation, zielen und zusammensetzung der protestierenden sowie dem alleuropäischen medialen schweigen (es ist offensichtlich kein nur deutsches vorgehen). auf twitter lässt sich der hashtag im link verfolgen; und beifeynsinnwird kräftig gesammelt.
*
edit 2 am 18.05.: ein mir bisher unbekanntes blog will heutelive berichten, und hat neben einigen weiteren links auch videos vom gestrigen abend parat. (massen-)medial finden sich heute morgen erstmals berichte bspw. in "stern" und "focus", wobei die alle auf der gleichen dpa-meldung beruhen. ansonsten ist bei derartigen situationen indymedia meist ganz brauchbar:
indymedia valencia und euskadi/baskenland sind z.zt. nicht erreichbar. für alle, die kein spanisch sprechen, bleiben bis auf weiteres die üblichen übersetzungstools eine möglichkeit. ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass bei andauernden weiteren protesten sehr bald eigene themenblogs zur situation in spanien entstehen, bei denen dann auch direkt übersetzt wird - so selten wird die sprache auch hierzulande nicht gesprochen.
*
edit 3: ein ziemlich gutgemachtes mobilisierungsvideo:
alles in allem bin ich wirklich überrascht - wie schon angedeutet, stand spanien auf der liste meiner persönlichen erwartungen hinsichtlich europäischer massenbewegungen gegen die linie der durchgesetzten elitären diktate keinesfalls ganz oben. meiner wahrnehmung nach hat das land trotz zeitlichem abstands von jahrzehnten immer noch mit den folgen und resten der franco-diktatur zu kämpfen (was ich bekanntlich nicht verwunderlich finde), und ebenfalls sind die sozialen strukturen dort, bedingt durch die familiären traditionen und auch die katholische kirche, nicht unbedingt aufstandsfreundlich.
seitdem ich 2008 mit den "krisennews" begonnen hatte, tauchte spanien nur vereinzelt auf - militante auseinandersetzungen rund um fabriken blieben ebenso einzelfälle wie innerhalb der letzten beiden jahre die gewerkschaftlich organisierten generalstreiks.
was von aussen allerdings jetzt zu sehen ist, sieht tatsächlich nach etwas neuem aus - jenseits der etablierten parteien, die offensichtlich durchweg als gegner wahrgenommen werden, und auch jenseits der gewerkschaften besitzt ein teil der (aktuellen; es ist ja nicht klar, was da unter umständen je nach entwicklung noch dazukommt) forderungen durchaus systemändernden charakter. den berühmten tropfen zum überlaufen bildeten in diesem fall offensichtlich die landesweiten kommunalwahlen am nächsten wochenende, bei denen die beiden einzigen relevanten parteien sich nicht zu blöde waren, über hundert bereits einschlägig wegen korruptionsfällen bekannte politiker aufzustellen (aber vermutlich haben die auch gar kein anderes personal mehr). das hat offensichtlich eine menge leute endgültig sehr, sehr wütend gemacht...
das ganze passt potenziell natürlich auch bestens in dieses bisher von geschichtlich erschütternden ereignissen nicht gerade arme jahr. und es bieten sich eine vielzahl an denkbaren weiteren entwicklungen innerhalb der nächsten tage und wochen an. die wichtigsten fragen sind dabei für mich zunächst die: wie weit und breit kann sich die mobilisierung in spanien selbst ausdehnen? wie reagieren die spanischen "eliten"? und vor allem: wie wird die europäische rezeption der ereignisse ausfallen? portugal hatte eine ähnliche unabhängige (= ohne parteien und gewerkschaften) initiative ja schon einmal im märz, allerdings nur für einen tag. jetzt, wo das land faktisch ebenso wie griechenland als protektorat von iwf und eu verstanden werden muss - wie wird da eine mögliche massenbewegung beim großen nachbarn wirken? wie wird das signal in griechenland verstanden? in italien ist der twitter-hashtag #spanishrevolution angeblich heute der tophashtag, wie werden die ereignisse dort und auch in irland sowie großbritannien wirken - allesamt länder, wo es seit langem eine latente und partiell auch immer wieder im vergangenen jahr sichtbare unruhe gibt?
die eu-"eliten" können sich das eigentlich in der derzeitigen situation nicht leisten, in einem mitgliedsstaat vom kaliber spanien eine tatsächlich oppositionelle bewegung ausbreiten zu lassen, womöglich mit sichtbaren erfolgen. andererseits wären sie schön blöd, hier mit reiner repression zu antworten - das würde die gesamte hütte dann wohl in hellen brand stecken. was bleibt, ist zunächst das alte "teile-und-herrsche-spiel", wie es in den letzten wochen in griechenland und vielen anderen eu-staaten zu sehen ist. vor allem die rassistische karte ist hier beliebt, und könnte in spanien vermutlich auch mit einigem erfolg gespielt werden.
letzteres scheint mit blick auf mögliche sympathisierenden stimmungen hierzulande auch jene erbärmliche kreatur im sinn zu haben, die da heutegeifernd und zeterndden altbewährten joker vom "faulen südländer an sich" auf den tisch warf. naja, wenn dieses pack den eigenen untergang näher kommen fühlt, werden sie am ende alle masken fallen lassen. das ist nichts neues, aber darauf sollte man mental gut vorbereitet sein.
*
noch als info: um das ganze hier nicht umfangmässig zu lang werden zu lassen, packe ich kleinere updates in die kommentare unten. ergänzungen, anmerkungen etc. sind natürlich jederzeit erwünscht.
immer noch geht es mir grundsätzlich gerade so, wie anfangs der letzten beiden beiträge skizziert - aber inzwischen ist mir selbst klarer geworden, dass diese partielle schreibblockade auch zu einem großen teil aus einem gefühl "alles viel zu viel!" stammt - ist ja nicht so, dass ich keine nachrichten mehr wahrnehme oder meine üblichen recherchezüge durchs netz zu den themen, die mich besonders interessieren, eingestellt hätte. aber mir persönlich geht es so, dass ich so drastisch wie vielleicht niemals zuvor in den letzten monaten den begriff informationsoverkill mal wirklich mit einem seinszustand assoziieren kann. syrien, libyien, überhaupt die ganzen arabischen und afrikanischen aufstände? fukushima? die weiter schwelenden finanz- und wirtschaftskrisen? das ölige debakel im golf von mexico? peak oil, die frage von ressourcen / rohstoffen und damit einhergehenden bereits laufenden und künftigen krisen überhaupt? der zustand der menschlichen spezies überhaupt?
kaum sind zu einem bereich mal gefühlt etwas tragfähigere gedanken entstanden, passieren mindestens in drei anderen thematischen gebieten wieder dinge, die dringend der näheren beschäftigung bedürfen; und / oder es tauchen auf einmal informationen auf, die wiederum ganz neue lichter werfen. ganz neu ist dieses phänomen ja nicht, aber wie gesagt: persönlich habe ich noch nicht ansatzweise so eine dadurch induzierte art lähmung verspürt wie zur zeit.
*
ich weiß nicht mehr, wo ich vor jahren den sinngemäßen satz gelesen habe, der einzige wirklich angemessene seinszustand in der konfrontation mit der existierenden menschlichen welt sei die melancholie. inzwischen kann ich damit mehr anfangen als früher, auch wenn ich oft genug - und ich finde, glücklicherweise - einfach nur wütend bin beim anblick dieses gebirges aus erbärmlichkeit, niedertracht und dummheit, welches unsere spezies in der kurzen zeit ihres daseins innerhalb der evolutionären zeitleiste bereits erzeugt hat. beim gleichzeitigen erahnen dessen, das alles so anders sein könnte...
für mich eine wirklich wunderschöne musikalische umsetzung des oben gemeinten - und damit willkommen in der welt von deep house! für mich schon seit jahren neben detroit-techno und drum`n´bass mit der bevorzugte stil von elektronischer musik. nicht zufällig - vor längerer zeit schrieb ich mal in einem ähnlichenzusammenhang:
"ich höre musik sehr stimmungsabhängig, und meine vorlieben für funk, jazz, und die meisten sparten elektronischer musik haben sowohl etwas mit rhytmus zu tun als auch mit den jeweils assoziierten inneren bildern, besonders bei den beiden letzteren stilen."
*
hatte ich damals den detroit-techno aufgrund seiner geschichte und den erzeugten atmosphären deutlich zu den (für mich) traumatischen tönen sortiert, mit dem potenzial zur transformierenden bearbeitung unerträglicher realitäten, so empfinde ich bei deep house etwas anderes im vordergrund. sind die allermeisten house-stile doch sowohl im guten wie im schlechten der inbegriff von zeitgenössischer party-musik - und das wort "party" verwende ich hier im durchaus negativen sinne von oberflächlichkeit, beliebigkeit, rücksichtslosem hedonismus, narzissmus und egozentrismus.
und es ist eine ironie der geschichte, dass ausgerechnet in dieser musik mit dem deep house so etwas wie ein - hm, dialektischer umschlag stattgefunden hat - vieles der housemusic seit ende der 1980er erscheint im nachhinein von den dort vermittelten stimmungen wie der perfekte musikalische ausdruck des rasend gewordenen neoliberalismus. als eine art subgenre existierte deep house eine ganze zeit eher unauffällig mit, und wurde vor etwa zehn jahren hierzulande versuchsweiseso definiert:
(...) "Es geht um Tiefe und Wärme. Um die Beschwörung eines zurückgenommenen, repetitiven Grooves. So einer, der sich Zeit lässt, um zu kommen. (...)
Eine Fusion von Techno und Soul. Eine Verfeinerung von Garage, dem New Yorker Nachfolger von Disco mit wilderen, elektrifizierten Beats.
Doch wo Garage oder Disco House den klassischen Songstrukturen von Strophe und Refrain treu bleiben, dehnt Deep House einfach die Zeit, seziert dabei rhythmische und harmonische Strukturen wie in einem anatomischen Lehrfilm. Beseelte Stimmen deuten den Song dabei oft nur an. Hochdosiertes Soul-Extrakt. Wie ein Flaschengeist kann es im entkorkten Zustand für kurze Momente Urgewalten entfachen. Andeutung, Verzückung, Steigerung, Glück." (...)
*
ich würde ja die attribute um intensität, weite, verlassenheit, trauer und sogar bedrohlichkeit erweitern - ich kenne deep house-tracks, die das deutlich rüberbringen.
und natürlich eine überwältigende und oft genug paradoxerweise gleichzeitig sehr warme melancholie. das meinte ich mit dialektischem umschlag: musik für clubabende und euphorische, tagelange partys bis zum exzess tastet sich plötzlich zu den realitäten jenseits dessen vor - ich habe hier tracks auf cd, die nicht zufällig titel tragen wie alone again oder into this lonely crowd. im moment der größten euphorie, irgendwann am frühen morgen, schleicht sich die erkenntnis heran - all das war eine berauschende show, all die glücklichen verschwitzten gesichter um mich herum sind letztlich unerreichbar - was auf gegenseitigkeit beruht. der daraus entstehende enorme blues mit seinen extrem widersprüchlichen gefühlen stellt für mich persönlich letztlich das im- oder auch ganz explizite berührende hauptthema von deep house dar.
*
nicht nur bei den entsprechenden videos bei yt, sondern auch auf vielen covern von cds und lps aus dem bereich finden sich auffällig viele motive von menschenleeren landschaften, oft genug (traum-)strände, aber auch seen, weite himmel, wolken, leere bis zum horizont. ebenfalls großstadtpanoramen, in denen allerdings meist auch keine menschen erkennbar sind. die repetitive eindringlichkeit der beats bildet zusammen mit den oft genug schwer hypnotischen flächen (solche empfinde ich persönlich meist von herzzerreissender schönheit - als ich den ersten track oben, deep love, das erste mal gehört habe, war ich schlicht sprachlos bei diesen flächen. im passenden moment können auch durchaus tränen fliessen) letztlich den schlüssel, um innere räume, deren unbekannte weiten, aufzumachen zu können (eine eigenschaft, die ich beim detroit techno und bei vielen drum`n´bass-tracks auch feststelle.) für diese räume lassen sich die benannten bildmotive durchaus als versuchte annäherung begreifen. und diese räume sind immer nur zugänglich im sinne eines ganz individuellen und zutiefst persönlichen erlebens. bittersweet - ich würde solche räume oft genug sehr gerne in all ihrer mysteriösen großartigkeit teilen. aber - alone again.
*
und warum ich das jetzt alles schreibe? zum einen, um vielleicht den einen oder die andere mit einer musik bekannt zu machen, die wirklich verborgene schätze zu bieten hat. dann aber ist das für mich gerade der perfekte soundtrack zu diesem kuddelmuddel, welches ich am anfang beschrieben habe. und deshalb werde ich in der kommenden zeit öfter beiträge damit sozusagen illustrieren, um eine weitere informationsebene zu installieren. bestimmte widersprüchlichkeiten lassen sich so womöglich deutlicher und verständlicher rüberbringen als mit manchmal einfach hilflosen worten.
und wo ich gerade widersprüchlichkeiten schrieb: auch das thema verzicht ist bei musik aus strom, deren existenz ohne eine recht weit entwickelte technologie nicht denkbar wäre, ein durchaus relevantes, in diesem fall speziell für mich.
ich werde mich übrigens nicht an eine ganz starre definition des genres halten, wenn ich zukünftig hier öfter tracks einstelle - es gibt fliessende grenzen genauso zu vocal house, house mit latin-einflüssen sowie dem ganzen bereich, der sich nu jazz nennt. aber welche schublade man nun auch aufmacht - diese musik kann in verschiedener hinsicht einlook to the futuresein.
passend zum heutigen datum - vor 66 jahren endete der zweite weltkrieg formal; in anderer hinsicht ist er noch lange nicht beendet - bin ich über das obige wort gestolpert, und zwar im zusammenhang mit diesem mir bisher unbekannten gleichnamigenforum:
"Das Forum Kriegsenkel bietet Interessierten und Betroffenen die Möglichkeit, sich auszutauschen und sich über die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges bis in die dritte Generation zu informieren.
Die Generation der circa zwischen 1960 und 1975 geborenen ist nach dem Krieg in Gesellschaften aufgewachsen, die versuchten, den Krieg hinter sich zu lassen, oft mit wirtschaftlichem Ehrgeiz oder auch durch Emigration. (...)
Doch hinter den Fassaden der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Neuorientierungen, der „heilen Welten“, war und ist die Generation der Kriegsenkel umso subtiler von den Wirkungen des Nationalsozialismus und des Krieges betroffen: Denn faschistische Gewalt, Traumata, Ängste, Minderwertigkeitskomplexe und Aggressionen wurden nach dem Krieg weitestgehend dort ausgelebt und weitergereicht, wo die Öffentlichkeit keinen Zutritt hatte: In der Familie.
Über Jahrzehnte wurden und werden familiäre Verstrickungen während der Zeit des Nationalsozialismus tabuisiert und über Kriegserlebnisse geschwiegen. Ein ganzes Kapitel deutscher Familiengeschichte wurde somit auf Jahrzehnte verdrängt. Nicht selten leidet die Kriegsenkel-Generation dadurch an immer wiederkehrenden Blockaden, diffusen Ängsten, dem Gefühl der Heimatlosigkeit, bleiernen Schuldgefühlen oder depressiven Verstimmungen, ohne sich erklären zu können, wo die Probleme ihren Ursprung haben können." (...)
einige der dortigen bisher veröffentlichtenlebensgeschichtenhaben in mir spontane beklemmungen ausgelöst - ich kenne viel zu viel von dem, was da steht, selbst.
aber für den moment möchte ich mich mit dem hinweis auf dieses forum begnügen, und gleichzeitig nochmals auf die älteren beiträge hier verweisen, die sich ausführlich mit dem thema beschäftigen: das wären einmal die traumageschichte(n) zur (pseudo-)diagnose"vegetative dystonie", zum anderen die längeremaileiner frau, die ebenso wie ich der "dritten generation" angehört und entsprechende biographische erfahrungen machen musste.
ziemlich lustlos und mit halbfertigen beiträgen auf dem buckel, dazu etliche gesundheitliche probleme, die sich in den letzten monaten die klinke in die hand gaben - das waren bzw. sind die gründe für die längere pause, die ich so nicht vorgesehen hatte. aber ich hatte hier auch niemals vor, das schreiben zu einer zwangsveranstaltung werden zu lassen. insofern war die pause zumindest auch erquickend.
die halbfertigen beiträge beziehen sich auf die diskussionen zu den letzten artikeln, und das sind wahrlich weite felder, die da der bearbeitung harren - das werde ich nun gemächlich, aber beharrlich, angehen - die aufgeworfenen fragen und ihre konsequenzen finde ich durchaus essentiell für alle überlegungen, wie sich die derzeitigen antisozialen verhältnisse qualitativ und tiefgreifend ändern lassen.
*
nicht nur indirekt gehören dazu auch fragen zu einem komplex, der in der vergangenheit hier schon öfter thema war - die mafia, aka das organisierte verbrechen, seine reale dimension, bedeutung, wirkungskräfte und vor allem seine verbindungen zu den "legalen" bereichen staatlicher und ökonomischer macht. ich habe früher glaube ich eher implizit schon öfter deutlich gemacht, dass ich finde, dass dieser bereich in seinen auswirkungen auf das gesamte soziale leben weltweit auch und gerade von linken jeder coleur deutlich unterschätzt bzw. falsch eingeschätzt wird, oder im schlimmsten falle sogar - analog zum mythos der piraten - die protagonisten der mafia (das wort gebrauche ich hier als synonym für alle weltweit existierenden analogen organisationen) irgendwie doch als "verbündete" betrachtet werden, weil sie ja (sinngemäß) "auch gegen den staat" agieren würden und "das eigentum" angreifen würden. die unreflektierten (popkulturellen) mythen von "verwegenheit, unabhängigkeit und gegenwehr gegen staatliche zumutungen" besorgen ein übriges. nichts aber könnte falscher und gefährlicher sein als solche, eher implizite annahmen, die ich v.a. aus privaten gesprächen innerhalb meiner "bewegten zeiten" immer wieder mit erstaunen vernommen habe.
*
zur zeit ist in der geschichtsreihe der zeitschrift "geo", der "geo epoche", als aktuelles heft die nummer 48 mit dem oberthemamafiaerhältlich. und dieses heft kann ich durchaus ohne größere probleme allen empfehlen, die sich einmal näher mit den geschichten der organisierten kriminalität in diversen ländern befassen möchten; auch als einstieg in weitergehende studien eignet es sich.
neben der sizilianischen mafia - der cosa nostra, die für italien den schwerpunkt bildet - werden auch kurz entwicklung und verhältnis zur ersteren von camorra (rund um neapel) und der kalabrischen ´ndrangheta skizziert, wobei die sizilianischen familien mit ihren us-amerikanischen ablegern bis heute historisch am relevantesten sind.
so ziemlich alle artikel sind sehr informativ und auch spannend zu lesen, enthalten aber durchaus auch realistische schilderungen der teils unfaßbaren brutalität, mit der in diesen kreisen vorgegangen wird. die länderschwerpunkte liegen auf italien, den usa, china und hongkong (die triaden), japan (yakuza), großbritannien, dem vorrevolutionären kuba (es lässt sich eine menge über die verhältnisse lernen, aus denen später fidel castro und die revolution entstanden sind), das (erledigte) kolumbianische kokainkartell von medellin unter pablo escobar, sowie der sowjetunion und der heutigen russischen mafija.
ich habe beim lesen festgestellt, dass ich viele historische tatsachen schlicht nicht wusste bzw. noch nie etwas von den jeweiligen ereignissen gehört habe. und als ein fazit muss ich sagen, dass jegliche geschichtliche darstellungen der gesellschaftlichen entwicklungen im 20. jahrhundert besonders von italien und japan, aber auch den jahrzehnten seit 1920 in der sowjetunion bis ins heutige russland, die das organisierte verbrechen nicht angemessen berücksichtigen, nicht nur unvollständig, sondern sogar verzerrend sind und ein völlig falsches bild von außen liefern. ich vermute, dass sich das über weitere staaten und regionen ebenfalls sagen lässt, aber bei den genannten ländern springt einem das bei der lektüre geradezu ins gesicht.
*
desweiteren wird an mehreren punkten deutlich, woher die weiter oben genannten linken illusionen über das organisierte verbrechen eigentlich stammen - tatsächlich haben nicht nur die sizilianische mafia, sondern auch bspw. die vorläufer der chinesischen triaden teils noch bis ins 19. jahrhundert ursprünge, die ansatzweise als eine art selbstschutzbünde gegen staatliche übergriffe und auch gegen jeweils regionalen ungebremsten kapitalismus angesehen werden könnten; dazu kam auch oftmals - wie in sizilien - etwas, was sich mit antikolonialistischen motiven, aber auch nationalistischen ressentiments beschreiben ließe. im 20. jahrhundert schließlich lieferte die kommunistische partei der sowjetunion bereits ansatzweise unter lenin, voll entfaltet dann im stalinismus, ein katastrophales beispiel für etwas ab, was mit mechanistisch interpretiertem marxismus nur unvollständig umschrieben ist - wer solschenizynsarchipel GULAGgelesen hat, wird sich sicher an seine ausführlichen darstellungen und schilderungen der kriminellen innerhalb des lagersystems, ihre dortige rolle und vor allem an ihre bevorzugung seitens des regimes gegenüber allen als "politisch" bezeichneten (ein attribut, welches durchaus wahllos vergeben wurde, aber eben nicht an kriminelle) erinnern - der grund dafür wurde u.a. im terminus "sozial nahestehende elemente" seitens der stalinisten deutlich, die damit marxsche ideen so auslegten, dass kriminalität innerhalb einer "sozialistischen" gesellschaft nicht existieren kann, da nur im kapitalismus möglich - und die noch existierenden kriminellen eigentlich nur eine art "rückstand" aus dem überwundenen system seien, denen man innerhalb der lager ihre "wahre proletarische natur" zum bewusstsein bringen müsse - eine vorstellung, über die sich nicht nur die kriminellen köstlich amüsiert haben (und deren konsequenzen sie weidlich genützt haben), sondern auch eine, die für mich etliches über die stalinisten selbst verrät (ebenso wie über stalin persönlich, der aus einem durchaus passenden milieu stammte).
jedenfalls ist die geschichte der urkas und suki als originäre produkte des gulags (und dieser umstand kommt bei solschenizyn durchaus nicht deutlich heraus, vermutlich seiner eigenen unwissenheit geschuldet) von den 1920er bis ungefähr die 70er jahre ein einziges trauerspiel, dessen verlauf bereits einen relevanten kern des späteren zusammenbruchs des "realsozialistischen" experiments enthält - zwischen parolen und sozialer realität klafften in diesem bereich mit die nur stärksten denkbaren lücken.
die heutige russische mafija ist dabei keine bruchlose fortsetzung dieser strukturen, aber ohne den hochgradig antisozialen humus der originären sowjetischen züchtung in meinen augen auch nicht denkbar. und das ist alles durchaus auch ein stück authentischer "linker" geschichte, aus der es zu lernen gilt.
*
mir ist bei alldem durchaus schon klar, dass der begriff "kriminalität" durchaus immer definitionssache und keinesfalls unabhängig von der jeweiligen gesellschaftsformation "für sich" stehen kann. das "legale" treiben von konzernen, staaten, banken, militärs, politikerInnen und geheimdiensten lässt sich mit guten gründen in vielerlei hinsicht ohne weiteres als kriminell betrachten; ebenso als organisiertes verbrechen und auch als terroristisch - das wort "atommafia" zb. sollte ruhig wörtlich genommen werden. ich denke aber erstens, dass sich dinge wie
(auftrags-)morde
zwangsprostitution
menschenhandel
organhandel
ohne weiteres unabhängig von jedem gesellschaftlichen system nur als symptome vorhandener hochgradiger antisozialität begreifen lassen, während so "klassische" geschäftsbereiche der mafia wie drogenhandel und auch glücksspiele und wetten relativ einfach ins leere laufen zu lassen wären - wenn sie nicht nur unter den heutigen bedingungen so wahnsinnige profite abwerfen würden.
zum anderen aber ist die frage hoch relevant, ob und wie weit es überhaupt noch sinn macht, die heutigen "eliten" der verschiedenen gesellschaftlichen bereiche einerseits und die mafiösen strukturen andererseits noch scharf zu trennen. ich habe dazu schon öfter in der vergangenheit meine deutliche meinung geäussert, und fühle mich nach der "geo"-lektüre eher noch bestärkt. ein paar beispiele, die mir persönlich bisher unbekannt waren, mögen das gemeinte illustrieren:
im sehr interessanten bericht über den "mythos von chicago" namens al capone auf s. 45: "Im März 1930 erscheint er auf dem Titel des `Time Magazine´, eine Rose im Knopfloch und ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Und die Zeitschrift `Liberty´ druckt ein Interview, in dem er einem verzückten Gesellschaftsreporter erläutert, `wie Al Capone dieses Land regieren würde´: mit harter Hand gegen den drohenden `Bolschewismus´ (...) am besten mit Hilfe eines `amerikanischen Mussolini´".
im bericht zu den chinesischen triaden wird anhand einer sehr detallierten darstellung einer frühen "kernzelle", der "grünen bande" von shanghai mehr als überdeutlich, wie diese tausendköpfige struktur sowohl von kapitalisten als auch - politisch einhergehend - von nationalisten zur niederschlagung imaginierter "bolschewistischer" strömungen und realer sozialer bewegungen, damals arbeiter- und gewerkschaftsaufstände, nicht nur benutzt wird, sondern alle drei gruppen - bande(n), unternehmer/firmenbesitzer, politische nationalisten - eine art bündnis eingehen, in dem die einzelnen teile nicht mehr zu unterscheiden sind.
gleiches gilt grundsätzlich auch für japan - auf s. 151 im heft ist klartext zu lesen: "Die Yakuza verbindet viel mit den militanten Gruppen der Ultranationalisten, die eine Alleinregierung des Kaisers und die Expansion Japans fordern - sowie eine Rückkehr zur alten, strikten Hierarchie der japanischen Gesellschaft. So nah stehen sich Ultranationalisten und Yakuza, dass ihre Gruppen zunehmend kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind."
diese sätze wurden zwar im hinblick auf das frühe 20. jahrhundert geschrieben, aber grundsätzlich hat sich nichts daran geändert - überhaupt musste ich mein bild von japan, bereits nach fukushima ins wanken gekommen, nochmals stark revidieren - ich hatte noch nie etwas davon gehört, dass die yakuza bis 1992 (!) ganz offiziell und unter staatlicher billigung, nicht nur öffentliche stadtteilbüros mit sprechzeiten unterhielten, sondern auch mitgliedszeitungen herausgaben und wichtige personelle veränderungen innerhalb der banden in pressekonferenzen öffentlich bekannt gegeben wurden. ich hatte ja in der vergangenheit schon berichte zitiert, nach denen in japan die verflechtungen zwischen "legaler" ökonomie, politischem apparat und mafia besonders eng sind - aber inzwischen frage ich mich, wo überhaupt noch eine trennlinie gezogen werden soll. auch, wenn der japanische staat seit den 1990er jahren offensichtlich versucht, den spielraum der yakuza einzuengen.
*
aber genug der beispiele (zu denen auch ein langer text zur vorgeschichte des aufstiegs von berlusconi gehören könnte, aber lesen Sie´s einfach selbst). es ist eine fülle von material und informationen, die zumindest bei mir für etliche aha-effekte sorgten. und nicht nur aus diesem grund würde ich trotz des durchaus happigen preises sagen, dass sich diese investition lohnt.
kritikpunkte hätte ich folgende: einmal fehlt mir die berücksichtigung bzw. ein vergleich der klassischen mafiösen strukturen mit historisch neueren phänomenen wie zb. den mittelamerikanischen maras; überhaupt hätte ich organisierte jugend- wie auch motorradgangs alá "hells angels" mit in die darstellung aufgenommen. dann wäre die explizite darstellung der psychosozialen hintergründe bzw. der psychophysischen quellen für bandenphänomene durchaus relevant gewesen, auch wenn in vielen darstellungen schon eine ahnung durchschimmert, aus was für gewalttätigen milieus sich die jeweilige mafia letztlich speist. drittens hätte ich gerade den vergleich in ökonomischer hinsicht zwischen "legalen" und "illegalen" strukturen und geschäftsfeldern expliziter gemacht - auch diesbezgl. steht zuviel "zwischen den zeilen". viertens - und da ist das heft völlig unterbelichtet - sind so ziemlich alle dargestellten strukturen massive männerbünde, wozu es auch einiges anzumerken gäbe.
(zur überschrift empfehle ich das video am ende. ansonsten war dieser beitrag bereits am gestrigen abend zur veröffentlichung gedacht, was aber dann an technischen problemen scheiterte.)
die fälligen antworten zu einigen kommentaren der letzten beiträge muss ich verschieben - einerseits wieder mal aus zeitgründen, weil ich mich ausserstande sehe, die auf dem tisch liegenden themen "mal eben so" und quasi nebenbei abzuhandeln. nein, das wird zeit brauchen. zum anderen habe ich mir selbst mediale auszeiten verordnet, und stattdessen lieber viel zeit im frühling der letzten tage verbracht. wobei ein gefühl kommenden unheils ständiger und unerfreulicher begleiter gewesen ist.
dieses gefühl verschwand natürlich nicht nach ein paar stunden herumstöberns im netz, im gegenteil - gerade gestern waren die nachrichten mal wieder so derart dystopisch-surreal, dass ich mich frage, was eigentlich all die noch vorhandenen sci fi- und social fiction-autoren zukünftig noch schreiben wollen...
drei news, die für mich besonders relevant sind: erstens werden Sie am heutigen tag eventuell bereits zeuge der finalen hochstufung des fukushima-GAUs auf "ines-7" sein - die gerüchte und meldungen verdichten sich in diesen stunden, und es wäre zusammen mit der ebenfalls angekündigten ausweitung der evakuierungszone das erstemal, dass die japanischen behörden nach wochen der desinformation so etwas wie realitätssinn zeigen würden. über die möglichen gründe dafür darf spekuliert werden.
zweitens liesse sich partieller realitätssinn auch einer durch und durch antisozial agierenden institution unterstellen, nämlich dem "internationalen währungsfond" iwf - der grund dafür ist eine faktischeanerkennung der realität von peak oil:
(...) "Der Internationale Währungsfond, der in den kommenden Tagen zu Beratungen über steigende Rohstoffpreise zusammenkommt, warnt vor zunehmenden Knappheitsrisiken auf dem Ölmarkt. Der IWF empfiehlt politischen Entscheidern weltweit, "sicherzustellen, dass ihre Ökonomien mit unerwarteten Veränderungen in der Ölversorgung und bei Ölpreisen umgehen können". (...)
Ein Wachstum der Ölfördermenge von 1,8% wie in den Jahren 1981 bis 2005 erscheint laut IWF unwahrscheinlich, vielmehr wird vor einer Stagnation oder gar einem Absinken der Produktion gewarnt. Der IWF erkennt in seinem Bericht an, dass insbesondere ältere Ölfelder die Fähigkeit einzelner Produzenten begrenzen, zusätzliche Produktionskapazitäten verfügbar zu machen." (...)
drittens hat es in griechenland einen ziemlich spektakulärentv-auftrittdes "heimlichen nationalheldens"mikis theodorakisgegeben, dessen wirkungen noch nicht abschätzbar sind - die wichtigsten aussagen sind diejenigen, dass er von einer ökonomischen junta spricht, die in griechenland - unter beteiligung des gerade erwähnten iwf - faktisch mit einem staatstreich die regierung übernommen hätte, und gegen die er englisch übersetzt das folgende empfiehlt:
(...) "It needs a peaceful revolution by the people. (...) We need a revolutionary government." (...)
yo, das ist schlicht ein revolutionsaufruf - und zwar von jemandem, dessen worte in dem land durchaus gewicht haben. es empfiehlt sich, immer wieder ebenso einen blick nach griechenland zu werfen wie nach spanien, porugal, irland, großbritannien - in den ländern sind ebenso wie in vielen arabischen und (nicht nur mehr nord-!) afrikanischen staaten sehr interessante gärungsprozesse wahrzunehmen, von denen uns einige mit großer sicherheit im laufe der nächsten monate um die ohren fliegen werden, und zwar wieder mal völlig verdientermaßen.
*
warum ich den letzen satz so formuliere, beantwortet jetzt blumfeld - gerichtet an jene sedierte und insozialer tranceversunkene bevölkerungsmehrheit hierzulande, deren energie sich im panischen blöken "ich WILL..." erschöpft...
"Ihr habt alles falsch gemacht
Habt Ihr nie drüber nachgedacht?
Gebt endlich auf - Es ist vorbei"
ich werde bis zum wochenende nicht groß dazu kommen, ausführlich zu schreiben - deshalb an dieser stelle schon mal danke für die ausführlichenkommentarezu den letzten "bleiernen zeiten", die ich in der nächsten folge mit aufgreifen will.
heute bleibt der hinweis auf informationen, die einige der letzten beiträge hier ergänzen und fortführen. die thematiken öl und atomenergie lassen sich dabei ganz gut zusammen betrachten und auch vergleichen, stellen sie doch erstens sozusagen die "speerspitzen des fortschritts" dar, zumindest in der logik der auf fossilen energien beruhenden kapitalistischen industriezivilisationen. zweitens wird in beiden bereichen mit enorm giftigen stoffen hantiert, was gleichzeitig nichts anderes aussagt als die tatsache, dass diese "unsere zivilisation" im wahrsten sinne des wortes auf gift beruht. und drittens drängt es sich bei den menschengemachten megadesastern namens "deep water horizon" und "fukushima" geradezu auf, die (bisher wahrnehmbaren) folgen zu vergleichen und unterschiede und parallelen zu betrachten.
*
hinsichtlich derneuen und alten ölverschmutzungen im golfhatte ich ein paar tage in jeder hinsicht funkstille, und ich musste mich jetzt erst mal selbst zum letzten stand der dinge schlau machen. wirklich erfreulich ist dieser stand nicht; so ist erstens anzumerken, dass weiterhin und offensichtlich immer mehr tote tiere, und zwarnicht nur seeschildkröten, auf die sich der verlinkte artikel focussiert, an der us-golfküste angeschwemmt werden. zweitens gibt es nicht wirklich etwas aufschlußreiches über die ölteppiche der vergangenen wochen zu berichten; in dem artikel klingt es jetzt so, als würde die beobachtete große verschmutzung auf see ebenfalls der ominösen quelle vor der küste vor louisiana zugerechnet werden, aus der ja nach angaben der verantwortlichen firma "nur fünf gallonen" ausgetreten seien. nach analysen von satellitenaufnahmen der betroffenen region sollen es real aber mehr als 640.000 gallonen (etwas über 2,4 millionen liter) frisches öl sein, die da jetzt zusätzlich zu den altlasten von bp und anderen im golf herumschwappen. diese widersprüchlichen aussagen kann ich hier nicht auflösen, nur dokumentieren.
während staatliche und private institutionen weiterhin öffentlich ankündigen, die toten tiere würden "nach allen seiten und ergebnisoffen hinsichtlich der möglichen todesursachen" untersucht werden, so ist mit der nahenden wiederkehr des jahrestages des ölGAU am 20. april eine verstärkte tätigkeit von "pr-spezialisten" in der golfregion zu beobachten, die medial vor allem auf weitere tiefseebohrungen ("energie und jobs") sowie tourismus ("baden ist unbedenklich") und fischerei ("fisch essen ist unbedenklich") focussieren. die stimmung in der bevölkerung am golf scheint da sehr ambivalent zu sein; es sind einfach inzwischen erstens zu viele menschen krank geworden, und zweitens sorgen die nicht erst seit ein paar wochen stattfindenden sichtungen toter tiere für weitere sorgen. insgesamt ist besonders aus staat und wirtschaft die tendenz zum kleinreden und verharmlosen deutlich und nicht überraschend. wie das bei einer bevölkerung ankommt, die die teils drastischen gegenbeweise ständig im alltag erleben muss, bleibt abzuwarten.
letzteres liesse sich vielleicht dann ähnlich auch tausende kilometer weiter westlich an der japanischen küste sagen, aber bevor ich noch auf zwei artikel zum aktuellen atomaren GAU hiweise, möchte ich die leserInnen nochmals aufjenes fast völlig unbekannte detail der ölförderunghinweisen, welches zwischen beiden themen einen ganz direkten und sozusagen handfesten zusammenhang knüpft, und zwar in chemisch-physikalischer hinsicht- die nüchternen sätze bei wikipedia fassen das wichtigste nochmals zusammen:
(...) "Im Dezember 2009 wurde der Öffentlichkeit bekannt, dass bei der Erdöl- und Erdgasförderung jährlich Millionen Tonnen radioaktiv verseuchter Rückstände anfallen, für dessen Entsorgung größtenteils der Nachweis fehlt. Im Rahmen der Förderung an die Erdoberfläche gepumpte Schlämme und Abwässer enthalten NORM-Stoffe (Naturally occurring radioactive material), u. a. das hochgiftige und extrem langlebige Radium 226 sowie Polonium 210. Die spezifische Aktivität der Abfälle beträgt zwischen 0,1 und 15.000 Becquerel (Bq) pro Gramm. In Deutschland, wo etwa 1000 bis 2000 Tonnen Trockenmasse im Jahr anfallen, ist das Material laut der Strahlenschutzverordnung von 2001 bereits ab einem Bq pro Gramm überwachungsbedürftig und müsste gesondert entsorgt werden. Die Umsetzung dieser Verordnung wurde der Eigenverantwortung der Industrie überlassen, wodurch die Abfälle letztlich über Jahrzehnte hinweg sorglos und unsachgemäß beseitigt wurden. Es sind Fälle dokumentiert, in welchen Abfälle mit durchschnittlich 40 Bq/g ohne jede Kennzeichnung auf einem Betriebsgelände gelagert wurden und auch nicht für den Transport besonders gekennzeichnet werden sollten.
In Ländern mit größeren geförderten Mengen von Öl oder Gas entstehen deutlich mehr Abfälle als in Deutschland, jedoch existiert in keinem Land eine unabhängige, kontinuierliche und lückenlose Erfassung und Überwachung der kontaminierten Rückstände aus der Öl- und Gasproduktion. Die Industrie geht mit dem Material unterschiedlich um: In Kasachstan sind weite Landstriche durch diese Abfälle verseucht, in Großbritannien werden die radioaktiven Rückstände in die Nordsee geleitet. In den Vereinigten Staaten gibt es in fast allen Bundesstaaten aufgrund der radioaktiven Altlasten aus der Erdölförderung zunehmend Probleme. In Martha, einer Gemeinde in Kentucky, hat das Unternehmen Ashland Inc. tausende kontaminierte Förderrohre an Farmer, Kindergärten und Schulen verkauft, ohne diese über die Kontamination zu informieren. Es wurden bis zu 1100 Mikroröntgen pro Stunde gemessen, so dass die Grundschule und einige Wohnhäuser nach Entdeckung der Strahlung sofort geräumt werden mussten." (...)
wie schrieb ich eingangs oben? "eine zivilisation, auf gift gebaut" - das muss auch durchaus wortwörtlich genommen werden.
*
hatte ich im letzten beitrag vom alltag als katastrophe geschrieben, so lassen sich die folgendeninformationenrund um "tepco", die japanische regierung(spolitik) und die dortigen medien durchaus in der rubrik einordnen - der artikel beginnt mit einem wahren paukenschlag, wie ich finde:
"Seine Welt sind Fakten, und als der 54-jährige Yu Tanaka, Professor für Ökologie an der Rikkyo Universität, vor knapp einem Jahr eher zufällig über eine Studie der Universität Tokio stolperte, traute er zunächst seinen eigenen Augen nicht. Im Auftrag des Elektrokonzern Tepco, einem der größten Stromkonzerne der Welt und Betreiber des Atomkraftwerks von Fukushima, hatten seine Akademikerkollegen das Potenzial erneuerbarer Energien in Japan untersucht. Das sensationelle Ergebnis der Studie: Das Land wäre in der Lage, mit Windkraftanlagen, Solarstrom, Geothermik und Maschinen, die Elektrizität aus Ozeanwellen gewinnen, leistungsfähigen Batterien und einem „schlauen Stromnetz“ den gesamten Energiebedarf des Landes zu decken.
Aber der Tepco-Konzern, der ein Drittel der gesamten Stromversorgung Japans produziert, hatte nicht nur die Veröffentlichung der Studie verhindert. Wenn Yu Tanaka in Vorträgen auf die Studie über das immense Potenzial der erneuerbaren Energien verwies, wurden seine Aussagen von den Medien verschwiegen. „Stromkonzerne wie Tepco sind die wichtigsten Werbesponsoren der japanischen Medien“, sagt Tanaka.
Der japanische Staat garantiert den Energieriesen des Landes das 3,5-fache Einkommen der Baukosten von Kraftwerken. Für Unternehmen wie Tepco gehörten Atomkraftwerke mit ihren gigantischen Investitionen deshalb zu den lukrativsten Projekten." (...)
und so weiter und so fort, lesen Sie´s. wobei: so wirklich überraschen kann zumindest mich inzwischen eigentlich nur noch der jeweilige grad der frechheit, mit der die mafiösen strukturen gleich welcher coleur - und egal, ob "legal" oder "illegal" - inwischen vorgehen. das aber ist dann ein punkt, der direkt auf uns, besser, unsere duldung dieses fortgesetzten kriminellen bis terroristischen (in diesem kontext wird das wort übrigens einmal wirklich sachlich angemessen nutzbar) treibens aufmerksam macht.
um die unrühmliche rolle "offizieller institutionen" und ebenfalls der medien geht es auch im zweiten linktipp für heute, der unter dem titelIAEA und WHO halten Berichte zurücknicht nur anhand der aktuellen situation, sondern auch durch einen erweiterten rückblick auf das verhalten von beiden besonders hinsichtlich der folgen des GAUs von tschernobyl das fazit unterstreicht und begründet, das dort gleich zu beginn zu lesen ist:
"Eines steht fest: Fukushima ist ein Informationsdesaster."
unter anderem, aber auch das. was das für ein licht auf das vielgepriesene und beschworene "informationszeitalter" wirft, ist dann schon wieder ein anderes thema.
während ich heute so durch den ersten wirklichen frühlingstag geradelt bin, habe ich beim anblick des summenden und fröhlichen treibens draussen höchst ambivalente gefühle gehabt - einmal viel stärker als in vergangenen jahren eine mir durchaus vertraute, schwer in worte zu fassende sehnsucht, die sich nicht umstandslos als fernweh (schöne worte beide) entschlüsseln lässt, sondern darüber hinaus auch viele erinnerungen an vergangenes mit sich bringt, welches sich auf eigenartige weise aktuell anfühlt.
diese primär körperliche und passemde wahrnehmungsebene wurde ständig von virtuellen produktionen von gedanken durchzogen, die ebenfalls sehr spontan entstanden - gedanken in die richtung, wieviele all dieser schicken gestylten menschen, oft genug mit sonnenbrille im wehenden haar und handy am ohr, sich wirklich darüber im klaren im sind, dass die gesamte art und weise ihres bisher gewohnten lebens ein sehr fragiles gewebe darstellt, welches sich nicht nur seit längerer zeit in erschütterten schwingungen befindet, sondern bereits an diversen stellen löcher und risse aufweist. ich musste in den letzten wochen immer wieder mal an die aus vielen trickfilmen und comics wohlbekannte situation des wanderers denken, der, die augen starr nach oben gerichtet, den rand eines klaffenden abgrunds bereits überquert hat und jetzt auf nichts mehr geht, die unbarmherzigen gesetze der schwerkraft einzig durch seine reduzierte wahrnehmung einen moment anscheinend ausser kraft setzend. Sie werden wissen, wie das üblicherweise weitergeht: früher oder später kommt ein erstaunter, dann schnell entsetzter blick nach unten und whooosch!
*
ich habe mich trotz der gefahr gewisser irritationen durch den titel dieser kleinen reihe dazu entschieden, ihn beizubehalten. das hat in diesem fall nichts mit einer durchaus vorhandenen sarkastischen oder zynischen ader meinerseits zu tun, sondern damit, dass ich das strahlende wrack in fukushima als weiteres einer ganzen reihe von menetekeln betrachte, die in den vergangenen jahren erschienen sind. und ich bin durchaus auch inspiriert vom vorgehen desaushilfshausmeisters, der den GAU in japan schon seit einigen folgen gleichrangig neben der aufständen in nordafrika und arabien behandelt. mittlerweile kann ich dabei durchaus sinn sehen, weil zwischen den derzeitigen ereignissen durchaus gar nicht mal so untergründige beziehungen bestehen, wenn man sich die situation der menschlichen gesellschaften global genauer betrachtet. aus diesem grund folge ich auch dem beispiel des hausmeisters und will versuchen, beides zusammen zu betrachten.
*
als beispiel für das zuletzt gemeinte will ich mich zentral mit zwei kommentaren beschäftigen, die in dieser woche veröffentlicht wurden und die mit zum besten gehören, was ich seit langem im hiesigen medialen mainstream gelesen habe. beide beschäftigen sich u.a. mit einer haltung, die ich auch sehr vielen der anfangs erwähnten schicken menschen zuschreiben würde - in einemkommentarbei "spon" wurde das wie folgt formuliert:
"Wieso wollt ihr immer anderen vorschreiben wie sie zu leben haben.
Ich WILL Auto fahren
Ich WILL Erdbeeren im Winter." (...)
es lassen sich ganze abende mit der mediation über diese sätze verbringen. wer genau ist "ihr"? was wird vorgeschrieben? wieso ist sich der verfasser augenscheinlich überhaupt nicht im klaren über die - hm, dialektik in seiner beschwerde? (sein umgesetzter WILLEN führt im- und explizit umgekehrt zu massiven, sogar teils sehr bedrohlichen einschränkungen des lebens von anderen.) und vor allem: was für eine art "ich" ist es, das da empört nach auto und erdbeeren kreischt und sich offensichtlich durch den bloßen gedanken an verzicht existenziell getroffen und eingeschränkt fühlt?
alles so fragen, für die ich in der vergangenheit schon im blog versucht habe, antworten zu skizzieren. die beiden kommentare nun, die jetzt folgen, geben ebenfalls implizite und sehr weitreichende antworten, die dem verfasser des obigen sehr wahrscheinlich kein stück gefallen werden - und nicht nur ihm. aber ich persönlich sehe solche leute inzwischen durchaus in der position des weiter oben erwähnten comicwesens über dem abgrund. das wäre nur dann tragikomisch, wenn diese sich derart manifestierende haltung nicht auch bedeuten würde, dass solche leute in ihrer bodenlosen ignoranz ganze gesellschaften mit über den abgrund zerren. "ich WILL aber!" was sie aller wahrscheinlichkeit nach in letzter konsequenz bekommen werden, ist im besten falle ein aufstand, im schlechtesten ein zustand zwischen dystopie und anomie. aus einer (rein imaginären) neutralen perspektive muss ich sagen, dass beides voll und ganz verdient wäre, wobei meine präferenzen deutlich sein sollten.
*
in der "süddeutschen" fand sich vor ein paar tagen (für ein paar stunden war das sogar der aufmacher) unter der erfreulich deutlichen überschriftstunde der heuchlerein bemerkenswerter kommentar, der oberflächlich primär auf die "grün" wählenden teile der bevölkerung abzielt, aber real zumindest nach meinem verständnis eine breitseite gegen ganze lebensentwürfe und -modelle darstellt:
(...) "Auch ein Porsche Cayenne eignet sich dazu, das Altglas zum Container zu bringen. Ein Porsche Cayenne ist aber sehr, sehr schlecht für die Umwelt. In der Standardausstattung hat das Auto 290 Pferdestärken. Das ist völliger Wahnsinn. Aber dieser Wahnsinn, den die Porsche AG mit Sitz in Stuttgart-Zuffenhausen produziert, verschafft rund 7500 Vollzeitbeschäftigten in Deutschland einen sicheren Arbeitsplatz.
Wird nun der neue grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der im Wahlkampf eine grünere Automobilindustrie gefordert hat, hingehen und die Porsche-Werke von einem auf den anderen Tag schließen lassen? Konsequent wäre es.
Wenn die Partei der Grünen im Kern des südwestdeutschen Bürgertums angekommen ist,(...) dann wird das Grün der Grünen endgültig zum zeitgemäßen Ausdruck der Widersprüche, in denen der leidlich aufgeklärte Mensch der westlichen Welt heute steckt. Man könnte auch sagen: Es ist die Stunde der Heuchler.
Der global verbreitete urbane Lebensstil ist durch die Ökologie insgesamt in Frage gestellt: Mobilität durch Bildung, Pendelverkehr und Flugreisen, kapitalistische Produktvielfalt, Ästhetik des Konsums, Partizipation durch Wohlstand, leuchtende Städte, Massenmedien, der riesige Stromverbrauch des Internets, beheizte Wohnungen und warme Duschen - all das steht auf dem Spiel oder müsste massiv eingeschränkt werden, wenn die Gesellschaft tatsächlich radikal auf Nachhaltigkeit umgestellt würde." (...)
yeah! ich weiß ja nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich finde das ungeheuer wohltuend, wenn sich im medialen strom dieser zeiten mal zur abwechslung ganze fragmente der authentischen realität wiederspiegeln, statt der ansonsten ständig dargebotenen simulationen und illusionen aus den werkstätten der pr- und marketingabteilungen plus den produkten sedierter journalistInnen.
ich habe dem sachlich nichts zuzufügen ausser der feststellung: genau so ist es. niemand, der auch nur einen hauch von verständnis für die globale situation hat, in der sich unsere spezies befindet, kann ernsthaft widersprechen. was übrigens auch und gerade für viele teile der linken gilt, die sich langsam aber sicher damit konfrontieren müssen, dass auch für das marxsche gedankengebäude grenzen gelten, die sich primär und zwangsläufig durch seine eingebundenheit in westliche denk- und philosophietraditionen ergeben, was darauf hinausläuft, dass deren fundamentale fehler (die ich früher an anderen stellen schon mal umrissen habe) gar nicht anders als von marx mit eingebaut werden konnten. linke ausserhalb europas und der usa haben diese tatsache übrigens schon länger im auge; ich erinnere mich an ein lesebuch in den 90ern, in denen ein tupamaro aus uruguay den bezug auf indigene gesellschaftsmodelle mit der blindheit und auch arroganten abwertung der gesamten europäischen philosophie einschließlich marx für lebens- und gesellschaftsmodelle ausserhalb des westlichen "kulturkreises" begründete. es geht dabei übrigens nicht um die unreflektierte lobpreisung anderer kultureller modelle. aber vor allem der westlich-christlich-europäische naturbegriff ist ein einziges desaster; und prinzipiell auch das damit assoziierte menschenbild - "ich denke, also bin ich" und "macht euch die erde untertan" stellen zwei grelle wegweiser auf dem weg in eine grandiose sackgasse dar, die leider auch in diversen facetten linker politik- und weltmodelle existieren, von denen "die grünen" bekanntlich ursprünglich abstammen, zumindest zu großen teilen.
(...) "Das ist also das Lebensmodell, wenn die Grünen zur Mehrheitspartei werden: Der Mann arbeitet bei Bosch und macht irgendwelche klimaschädlichen Sachen - Bosch ist zum Beispiel der weltweit größte Hersteller von Verpackungsmaschinen für Konsumgüter -, während die Frau, die gegen Stuttgart 21 ist, im Ökosupermarkt leckeren Biokäse aus der Region und vollmundigen Biowein aus Apulien kauft, möglichst Verpackung vermeidend. Die Tochter studiert in Tübingen, demonstriert gegen Atomkraft und wird von ihrem Freund abgeholt, der praktischerweise ein Auto hat und dann mit ihr über die Autobahn rast. Nicht so schön aber wär's, wenn den vielen Indern und Chinesen ihr Wunsch nach einer passablen Wohnung, einem kleinen Auto und einem Besuch im Steakhaus erfüllt würde. So etwas muss auf Regierungskonferenzen unbedingt verhindert werden, idealerweise von grünen Ministern, unsere Kinder werden es uns danken." (...)
wunderschön boshaft formuliert zum einen, zum anderen aber wird zuletzt genau der punkt erwähnt, der am ende ganz basal dazu beitragen wird, den westlichen "way of life" auf seinen verdienten platz auf dem müllhaufen der geschichte zu befördern. mit welchem recht und mit welchen argumenten wollen europa und die usa dem rest der welt deutlich machen, dass das hier besonders in den jahrzehnten seit dem ende des wk2 existierende niveau des materiellen wohlstands eine historische abartigkeit, eine riesige blase darstellt, die aus sehr vielen und absolut zwingenden gründen platzen muss, aber bitte nicht hier bei "uns". und wenn schon, dann wenigstens bei uns als letzte, ohne sich dabei endgültig als jene raffgierigen plünderer und diebe der globalen ressourcen zu demaskieren, die besonders aus europa während der letzten jahrhunderte wie eine plage ausgeschwärmt sind?
wie die erwartbare und berechtigte antwort darauf aussieht, lässt sich bereits in der globalen politk bspw. von ländern wie indien und china betrachten. und ich schreibe "berechtigt", obwohl ich die ökonomische entwicklung dieser und anderer "schwellen"- und "entwicklungs"länder - diverse variationen des selben themas der kapitalistischen modernisierung - in so ziemlich allen aspekten katastrophal finde, nicht nur für die jeweiligen staaten. es ist aber zwingend ein ding der schieren unmöglichkeit, ohne weitreichendes runterfahren, eindämmen, abschalten der westlichen konsumgesellschaften und der damit assoziierten lebensstile von anderen zu fordern, sie sollen den versuch doch bitte unterlassen - und wenn die gründe dafür noch so zwingend sind -, an dieser lebensweise zu partizipieren. auf derartige ansinnen dürfte es mehrheitlich aus den oasen der sahara, aus andentälern, aus afrikanischen steppen und von asiatischen küsten die jeweiligen kulturellen äquivalente des gezeigten vogels geben. der spätestens dann durch andere gesten ersetzt werden dürfte, wenn auch dort überall deutlich wird, dass das durch internet und us-amerikanische soaps imaginierte "paradies" nicht nur keins ist, sondern auch definitiv unerreichbar ist und bleibt.
(...) "Der unersättliche Kapitalismus, der unsere Lebensform garantiert, bildet den Hintergrund für das grüne Lebensgefühl der Mittelklassen; mit fundamentaler Umkehr hat das alles nichts zu tun. Man muss ja schließlich auch Geld verdienen. Deshalb wird auch gerne die Illusion genährt, aus derselben Wachstumsdynamik, die Ressourcen verbraucht, entstünden auch bald jene Erfindungen, die den Ressourcenverbrauch stoppen - und uns zugleich im Wesentlichen so weiterleben lassen wie bisher. Wer wollte das nicht?" (...)
ähm, ich zum beispiel. die versteckten kosten dieses "so weiterlebens", und zwar auch und gerade solche, die sich gar nicht mal primär monetär quantifizieren lassen, sind inzwischen so krass und destruktiv - am schlimmsten in der verwüstung der beziehungsfähigkeiten zu beobachten -, dass jedes gerade von "effizienz", "lebensqualität" etc. als reaktion nur noch grelles hohngelächter verdient.
alles in allem ein erstaunlicher kommentar, gerade vor dem hintergrund der inhaltlichen entwicklung der "sz" in den letzten jahren. und nicht zufällig hat der in ein paar tagen mehr als fünfhundert kommentare nach sich gezogen, dort auch eher ungewöhnlich.
*
ob der folgende kommentar mit dem sehr treffenden titelzurück in die wirklichkeitin der "taz" auch so eine diskussion anstösst? der rundumschlag ist in gewisser weise noch breiter und auch fundamentaler als in der "süddeutschen", werden doch zusätzlich ein paar eigenarten unserer jetzigen lebensrealität angesprochen, die ich hier auch immer wieder im focus habe:
"Die AKW-Katastrophe von Fukushima hat nicht nur die extremen Risiken der Atomenergie aufgezeigt, die skrupellose Profitgier der Stromkonzerne und die Verantwortungslosigkeit der atomkraftfreundlichen Regierungen. Sie hat auch ein Schlaglicht auf die Irrealität unserer alltäglichen Lebensführung in den westlichen Industrienationen geworfen.
Nehmen wir Japan: Ein Land, das seit Jahrzehnten die Mikroelektronik beherrscht, das Millionen von Menschen damit beschäftigt, die Menschheit mit digitalen Spielen, mobilem Internet, elektronischen Zahlungssystemen und anderem Schnickschnack zu beglücken, schafft es nicht, ein sicheres System der Energieversorgung zu errichten. Und offenbar gab es dort bis vor Kurzem kaum jemanden, der sich für diese Fragen interessierte.
Doch Japan ist überall! (...) Die breite Mehrheit unserer Gesellschaft plagt sich dagegen mit ganz anderen Problemen: mit dem Chatten im Internet, dem persönlichen Auftritt bei Facebook, den Leistungsvergleichen vor dem Kauf eines Navis und den günstigsten Flatrates fürs Handy.
Die Katastrophe in Fukushima ist nur die Spitze des Eisbergs. Sie ist das Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung in den führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Die großen, überlebensnotwendigen Fragen treten zunehmend in den Hintergrund menschlichen Denkens und Handelns.
Das hat seine Gründe: In der modernen "Dienstleistungsgesellschaft" lebt der Mensch, von Naturgewalten abgeschirmt, in klimatisierten Bürotürmen und verbringt auch seine Freizeit vor dem Monitor. Der Kontakt zu den natürlichen Bedingungen des Lebens verflüchtigt sich. Sie erscheinen als äußere Selbstverständlichkeiten, die sich der aktiven Beeinflussung entziehen.
Der aufgeblasene postindustrielle Sektor produziert derweil Pseudogüter und Fantasiedienstleistungen: das Design, um die Marke A von der Marke B zu unterscheiden, sogenannte Finanzdienstleistungen, die virtuelles Geld aus einer Datei in die andere verschieben. Kommunikationsberater beraten die Unternehmensberater und lassen ihre Beratungsqualität anschließend evaluieren, um bei einer Zertifizierungsagentur ein Zertifikat zu erwerben. Bestimmt die Hälfte der städtischen Büroflächen könnte man mühelos planieren - und die Menschheit wäre um nichts ärmer.
Zwischen First und Second Life verschwinden die Grenzen. Was ist virtuell, was materiell? Kommt einem Short-Zertifikat auf den DAX gegenständliche Realität zu, oder ist es reine Fantasie? Bedeutet das Getippe im Chatroom Freundschaftspflege oder nur deren Simulation? Es gibt Leute, die studieren das TV-Programm eifriger als ihren Hartz-IV-Bescheid, weil das Leben vor dem Fernseher mit oder ohne Kürzungen irgendwie weitergeht."
jeder satz ein treffer, jede aussage ein fanal und eine anklage zugleich, deshalb zitiere ich hier ausgiebiger als sonst:
"In manchen Fußgängerzonen finden sich kaum noch andere Geschäfte als Handyläden. Der Mensch als Insasse einer entfremdeten Welt begibt sich auf Traumreise. Sein Leben wird zu einem verlängerten Kindergartenaufenthalt, in dem es nie genug Tastaturen gibt, auf denen man spielen kann. Wenn etwas piept oder quietscht, kommt Freude auf.
Je unwichtiger ein Gegenstand für das reale Leben objektiv ist, desto mehr Zeit, Material und Geld verschwendet unsere Gesellschaft für seine Herstellung und Nutzung: Während nur noch 292.500 Menschen damit beschäftigt sind, unser tägliches Brot zu backen, arbeiten in der Werbeindustrie mehr als 550.000 Beschäftigte. Wir können Aktien vom Display unseres Handys aus ordern, aber den künstlich geschaffenen Stress der Arbeit immer weniger bewältigen.
Nach Feierabend Freunde zu treffen, dazu fehlt uns die Muße, weil die Arbeit derart verdichtet ist, dass am Abend das Gehirn seine Schotten dicht macht. Bei der France Télécom sprangen vor zwei Jahren die Mitarbeiter aus Verzweiflung gleich reihenweise aus dem Fenster. Wer acht Stunden am Tag mit kryptischen E-Mails und zermürbenden Meetings traktiert wird, hat danach für Beziehungsdiskussionen keinen Nerv mehr. Die unverbindliche SMS ist das Einzige, was noch geht." (...)
die dargestellte rolle der akw in einer so reduzierten und deformierten art der wahrnehmung unterschreibe ich weitgehend, und der appell am ende ist zwar aus meiner perspektive noch unzureichend, aber dennoch ein nötiger anfang:
(...) "Klar, ein Zurück in die "Müsli-Zeit" kann es nicht geben. Doch die Konsequenz aus der Fukushima-Katastrophe sollte ein neuer Realismus sein: Boykottiert die Unterhaltungsindustrie, führt handyfreie Tage ein und entsorgt endlich die Glotze! Nehmt wieder realen Kontakt zu den Menschen und zur Natur auf und gestaltet euer Leben selber - überall da, wo es geht!"
yay! im grunde wird hier schon ziemlich viel von dem zusammengefasst, was ich neulich in den kommentaren zu einem anderen beitrag mit bezug auf "den kommenden aufstand" schon mal geschrieben hatte und was auch "das unsichtbare komitee" nach meinem verständnis ähnlich formuliert und auf den punkt bringt: der alltag hier ist die eigentliche katastrophe, die alle anderen - ob das nun ölteppiche von der größe ganzer kleinstaaten sind, vor sich hinrauchende akw-ruinen, oder aber die langfristig vielleicht noch schlimmeren, aber unspektakulären prozesse der allmählichen vergiftung ganzer lebensbereiche, aber auch zb. finanzkrisen - hervorbringt. der alltag der weitaus meisten menschen beruht inzwischen - und diese aussage begründe ich primär, aber nicht nur, aus eigenem erleben - auf der gleichen art illusionärer blasen wie das gesamte gesellschaftliche leben westlicher zurichtung. die explosion des virtuellen und objektivistischen ist vor diesem hintergrund eine sehr logische reaktion, wenn auch grundsätzlich leider ungeeignet zur realen problembewältigung, auf eine fundamentale und existenzielle krise, weil sie dem "mehr-desselben-prinip" folgt.
da aber unserer alltag in der regel am engsten und nahesten mit unserem denken und fühlen verbunden ist und dieses auch - selbst bw. gerade in den verzerrungen - getreulich wiederspiegelt, erlaubt diese tatsache auch eine nähere bestimmung des ausmaßes der krise, in der sich die westlichen lebensentwürfe inzwischen ganz offen befinden. es ist nicht nur eine finanzkrise, nicht nur eine wirtschaftskrise, nicht nur eine ressourcenkrise in vielen bereichen - die genannten plus die ökologischen krisen zusammen machen es notwendig, eine systemkrise zu konstatieren. aber selbst dieser befund bringt die sache vermutlich noch nicht auf den punkt - da alles dafür spricht, dass unser alltägliches und gewohntes fühlen und denken selbst in gewaltigem ausmaß fundamental und grundsätzlich falsch ist, neige ich persönlich inzwischen dazu, von einer evolutionären krise auszugehen, weil sie derart tiefe und fundamentale veränderungen in uns selbst, genauer der art unserer selbst- und fremdwahrnehmung und folglich den ganz persönlichen wertesystemen nötig macht, dass ich dafür nirgends auch nur ansatzweise etwas historisch vergleichbares sehe. und wir sind evolutionsgeschichtlich eine wirklich junge spezies, gerade mal am rand des krabbelalters angekommen.
mir ist schon klar, dass dieser gedanke der weiteren erläuterung bedarf, und ich werde in kommenden beiträgen auch drauf zurückkommen. für heute und zu später stunde möchte ich ihn jedoch schon mal in den (virtuellen) raum stellen.
(auch, wenn es sichdabeinur um die bestätigung eines sachverhalts handelt, der meiner meinung nach von den allermeisten menschen bereits "gewusst", aber von vielen nicht wahrgenommen wird...)
(...) "Emotionale Tiefschläge werden oft mit körperlichen Schmerzen verglichen - entsprechende Redewendungen finden sich in den meisten Sprachen. Bei manchen Menschen stellen sich sogar echte körperliche Beschwerden ein. Das kommt nicht von ungefähr, wie eine Studie jetzt ergeben hat. Der Gedanke an den emotionalen Tiefschlag erzeugt demnach in denselben Hirnregionen Aktivität wie die Erfahrung physischer Schmerzreize." (...)