kontext 7: "wolfsgesellschaft" - oder eine selbsterfüllende prophezeiung
in der heutigen online-ausgabe der zeit findet sich ein interview mit dem englischen autor j. g. ballard, dessen science fiction im grenzbereich zur "puren" phantastischen literatur ich hin und wieder ganz gerne lese. was er allerdings im interview für positionen bezieht, ist für mich ein beispiel dafür, wie mächtig die wirkungen von ideologien erstens sein können, und wie diese ideologien zweitens auf einem realen kern basieren - oder besser: auf bestimmten wahrnehmungen, welche nicht (mehr) als produzierte wahrgenommen werden (können).
gerade "katrina" hat allüberall, zumindest in diesem land, die beschwörungen des starken staates ausgelöst, ohne den wir alle schnurstracks zu einer art rücksichtslosem und mordlüsternen tier werden würden. die - zumindest nachdem, was den verschiedensten medien, auch augenzeugenberichten, so zu entnehmen ist - zweifellos stattgefundenen gewalttätigkeiten in den tagen unmittelbar nach dem sturm sind aber von ihrem ausmaß her sehr wahrscheinlich erstens nicht repräsentativ für das verhalten der mehrheit aller betroffenen, und spiegeln zweitens - und genau dieser punkt gehört mit zu denen, die ständig unterschlagen werden - das bereits vor der katastrophe stattfindende tägliche desaster in den slums und armenvierteln von new orleans wieder (eine imo sehr gute zusammenfassende analyse mit diversen links zum thema findet sich hier). das soziale gewaltverhältnisse dieses ausmaßes tatsächlich sehr materielle psychophysische folgen in den ihnen unterworfenen individuen auslösen können, hat sich noch nicht allzusehr herumgesprochen (was ich damit meine, lässt sich u.a. hier nachlesen, wie diese prozesse z.t. funktionieren, im buch "Die bedrohte Intelligenz". ) (edit am 9.9.: neben dem gerade erwähnten buch enthalten auch die in der literaturliste angeführten arbeiten von judith herman und joachim bauer einige informationen und beispiele zum thema neurophysiologische bzw. -anatomische veränderungen nach traumatischer man-made-violence)
die erwähnten beschwörungen des starken staates (deren hämische untertöne in deutschland unüberhörbar sind, und die imo tatsächlich etwas fest verankertes in diesem lande widerspiegeln, was sich in begriffen wie antiamerikanismus oder auch einer letztlich völkischen variante von kapitalismus"kritik" nur ungenau begreifen lässt) im zusammenhang mit der ebenfalls beschwörende züge annehmenden rituellen benutzung des wortes anarchie für das post-apokalyptische new orleans (nichts, aber auch nichts könnte weiter von der ordnung ohne herrschaft bzw. menschlichen selbstregulation der eigenen sozialen existenz, für die das wort anarchie berechtigt steht, entfernt sein als die dortigen zustände !) erinnern mich einerseits daran, dass gerade in deutschland einige nur zu gut bekannte versionen des starken staates im sinne von zwangsgemeinschaften sehr lange sehr beliebt waren (und z.t. noch sind), andererseits an meine zeit als freiwilliger bewohner einer therapiestation in einer staatlichen psychiatrischen klinik. da gab´s einen geläufigen witz, der sich im ausruf "struktur, struktur, gebt mir eine struktur!" zutreffend manifestierte - strukturen in dem sinne, dass zeit und raum von außen aufgeteilt und mit sinn versehen werden - eine geregelte lohnarbeit galt und gilt dabei nicht nur in psychiatrischen kliniken als das non-plus-ultra für eine(n) durchschnittliche(n) bewohner(in) der westlichen lebenswelten (der rest des lebens ist unausgesprochen, aber sehr wohl gefühlt, zweitrangig und soll sich quasi im anschluß an die erfüllung dieser hauptbedingung von selbst finden). derartiges gibt ganz offensichtlich sicherheit, und es ist imo nicht zu weit hergeholt, in solchen teilverhältnissen wie auch im verhältnis staat-untertanen insgesamt etwas von den strukturen zu vermuten, die uns allen als eltern-kind-verhältnisse quasi in den leib geschrieben sind.
was aber manifestiert sich in all dem tatsächlich, woher kommt dieses mißtrauen gegen sich selbst? damit bin ich wieder bei ballard, der u.a. folgendes sagt:
(...)
Ballard: Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder und Enkel. Dieser Planet dreht sich gefährlichen Zeiten entgegen. Es gibt viele Arten von Krieg und Terror, aber das Schlimmste ist, dass Gewalt einen unterschwelligen Reiz auf uns ausübt. Wenn wir sie erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir endlich zugeben, dass der Mensch nicht komplett zivilisierbar ist. Bedauerlich, aber wahr.
ZEIT: David Cronenberg verfilmte 1996 Ihren Roman Crash, einen Highway-Thriller über Todestrieb und Selbstzerstörungssehnsüchte. Die meisten Opfer von New Orleans sehen allerdings nicht aus, als würden sie das Desaster genießen.
Ballard: Aber wir Zuschauer. Wir leben in masochistischen Zeiten. Unsere Gesellschaften sind getrieben von widerstreitenden psychopathologischen Impulsen. Und große Naturkatastrophen wie Katrina passen perfekt zu unserer apokalyptischen Grundstimmung. Man muss sich klarmachen, dass wir in weitgehend säkularen Gesellschaften leben: Gott ist tot. Und diese großen Kataklysmen wie Katrina oder der Tsunami im Fernen Osten übernehmen nun die Aufgabe Gottes. Sie sind die gewaltige Kraft, die uns bestraft für unser unmoralisches Leben. Das kann sehr befriedigend sein, solange man nicht selbst betroffen ist.
ZEIT: In Ihrem jüngsten Roman Millennium People sagt der Anführer einer Revolte: »Es gibt ein tiefes Bedürfnis nach sinnloser Action.«
Ballard: Nach sinnloser Gewalt! Leider. Wir leben in bürgerlichen Verhältnissen, doch wir sind keine rationalen Kreaturen. Die deutsche Geschichte beweist das. Oder nehmen Sie Sowjetrussland, ein albtraumartiges Dystopia, basierend auf einer brillanten Idee. Die europäische Aufklärung, die mit Newton und Voltaire begann, die erfolgreich den Glauben an den menschlichen Verstand predigte und unsere Philosophie, unsere Politik dominierte, ist wohl doch gescheitert. Der Mensch, man sieht es in New Orleans, handelt nicht notwendigerweise zu seinem Besten.
(...)
der schlechte witz an dieser schon tausendmal gehörten falschen gleichung "der mensch (was nebenbei auch die unterschiedlichen rollen von männern und frauen bei diesem trostlosen spielchen unsichtbar macht) = grundsätzlich bestie = muss sich selbst mit verstand und rationalität quasi selbst zügel anlegen und züchtigen, was sich leider niemals hundertprozentig umsetzen lässt= das chaos sickert durch" besteht darin, dass es sich tatsächlich um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt, welche der ach-so-aufgeklärte westen bis heute nicht begreifen kann und will.
es ist dieses vermutlich die erfolgreichste ideologie aller zeiten, welche sich u.a. in der christlichen feindschaft allem körperlichen gegenüber, in der glorifizierung der erwähnten rationalität, im patriarchalen mann-frau-verhältnis, in freud´s annahme eines "todestriebs" und letztlich auch im bei der in uns allen in unterschiedlichem ausmaß vorhandenen inneren spaltung zwischen "kopf und bauch" widerspiegelt mit dem populären mißtrauen gegenüber letzterem, um nur die folgenreichsten bereiche zu benennen. und diese ideologie beruht durchaus auf authentischen wahrnehmungen, was sie leider so erfolgreich und einleuchtend werden ließ. nichtsdestotrotz: was in all diesen dualistischen verhältnissen (welche sich imo auf ein einziges, nämlich den dualismus im menschen, zurückführen lässt) deutlich wird, ist die erfolgreiche produktion bzw. installierung eines als "böse" empfundenen "inneren" - das "tier", welches beherrscht werden muss. böse und zum tier wird dieses innere aber tatsächlich nur dann, wenn die psychophysischen voraussetzungen und grundlagen für ein tatsächlich menschliches leben permanent mißachtet und nicht berücksichtigt werden (was in dieser kultur bis heute der regelfall ist, trotz aller sichtbaren verbesserungen). b. brechts spruch vom reißenden strom, den alle gewalttätig nennen, aber niemand das ihn einengende flußbett, bringt diesen zustand auf den punkt. das "böse" und die daraus folgende gewalt haben dabei imo sehr viel mit der autistischen option des menschlichen seins zu tun - fortsetzung demnächst in diesem blog.
gerade "katrina" hat allüberall, zumindest in diesem land, die beschwörungen des starken staates ausgelöst, ohne den wir alle schnurstracks zu einer art rücksichtslosem und mordlüsternen tier werden würden. die - zumindest nachdem, was den verschiedensten medien, auch augenzeugenberichten, so zu entnehmen ist - zweifellos stattgefundenen gewalttätigkeiten in den tagen unmittelbar nach dem sturm sind aber von ihrem ausmaß her sehr wahrscheinlich erstens nicht repräsentativ für das verhalten der mehrheit aller betroffenen, und spiegeln zweitens - und genau dieser punkt gehört mit zu denen, die ständig unterschlagen werden - das bereits vor der katastrophe stattfindende tägliche desaster in den slums und armenvierteln von new orleans wieder (eine imo sehr gute zusammenfassende analyse mit diversen links zum thema findet sich hier). das soziale gewaltverhältnisse dieses ausmaßes tatsächlich sehr materielle psychophysische folgen in den ihnen unterworfenen individuen auslösen können, hat sich noch nicht allzusehr herumgesprochen (was ich damit meine, lässt sich u.a. hier nachlesen, wie diese prozesse z.t. funktionieren, im buch "Die bedrohte Intelligenz". ) (edit am 9.9.: neben dem gerade erwähnten buch enthalten auch die in der literaturliste angeführten arbeiten von judith herman und joachim bauer einige informationen und beispiele zum thema neurophysiologische bzw. -anatomische veränderungen nach traumatischer man-made-violence)
die erwähnten beschwörungen des starken staates (deren hämische untertöne in deutschland unüberhörbar sind, und die imo tatsächlich etwas fest verankertes in diesem lande widerspiegeln, was sich in begriffen wie antiamerikanismus oder auch einer letztlich völkischen variante von kapitalismus"kritik" nur ungenau begreifen lässt) im zusammenhang mit der ebenfalls beschwörende züge annehmenden rituellen benutzung des wortes anarchie für das post-apokalyptische new orleans (nichts, aber auch nichts könnte weiter von der ordnung ohne herrschaft bzw. menschlichen selbstregulation der eigenen sozialen existenz, für die das wort anarchie berechtigt steht, entfernt sein als die dortigen zustände !) erinnern mich einerseits daran, dass gerade in deutschland einige nur zu gut bekannte versionen des starken staates im sinne von zwangsgemeinschaften sehr lange sehr beliebt waren (und z.t. noch sind), andererseits an meine zeit als freiwilliger bewohner einer therapiestation in einer staatlichen psychiatrischen klinik. da gab´s einen geläufigen witz, der sich im ausruf "struktur, struktur, gebt mir eine struktur!" zutreffend manifestierte - strukturen in dem sinne, dass zeit und raum von außen aufgeteilt und mit sinn versehen werden - eine geregelte lohnarbeit galt und gilt dabei nicht nur in psychiatrischen kliniken als das non-plus-ultra für eine(n) durchschnittliche(n) bewohner(in) der westlichen lebenswelten (der rest des lebens ist unausgesprochen, aber sehr wohl gefühlt, zweitrangig und soll sich quasi im anschluß an die erfüllung dieser hauptbedingung von selbst finden). derartiges gibt ganz offensichtlich sicherheit, und es ist imo nicht zu weit hergeholt, in solchen teilverhältnissen wie auch im verhältnis staat-untertanen insgesamt etwas von den strukturen zu vermuten, die uns allen als eltern-kind-verhältnisse quasi in den leib geschrieben sind.
was aber manifestiert sich in all dem tatsächlich, woher kommt dieses mißtrauen gegen sich selbst? damit bin ich wieder bei ballard, der u.a. folgendes sagt:
(...)
Ballard: Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder und Enkel. Dieser Planet dreht sich gefährlichen Zeiten entgegen. Es gibt viele Arten von Krieg und Terror, aber das Schlimmste ist, dass Gewalt einen unterschwelligen Reiz auf uns ausübt. Wenn wir sie erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir endlich zugeben, dass der Mensch nicht komplett zivilisierbar ist. Bedauerlich, aber wahr.
ZEIT: David Cronenberg verfilmte 1996 Ihren Roman Crash, einen Highway-Thriller über Todestrieb und Selbstzerstörungssehnsüchte. Die meisten Opfer von New Orleans sehen allerdings nicht aus, als würden sie das Desaster genießen.
Ballard: Aber wir Zuschauer. Wir leben in masochistischen Zeiten. Unsere Gesellschaften sind getrieben von widerstreitenden psychopathologischen Impulsen. Und große Naturkatastrophen wie Katrina passen perfekt zu unserer apokalyptischen Grundstimmung. Man muss sich klarmachen, dass wir in weitgehend säkularen Gesellschaften leben: Gott ist tot. Und diese großen Kataklysmen wie Katrina oder der Tsunami im Fernen Osten übernehmen nun die Aufgabe Gottes. Sie sind die gewaltige Kraft, die uns bestraft für unser unmoralisches Leben. Das kann sehr befriedigend sein, solange man nicht selbst betroffen ist.
ZEIT: In Ihrem jüngsten Roman Millennium People sagt der Anführer einer Revolte: »Es gibt ein tiefes Bedürfnis nach sinnloser Action.«
Ballard: Nach sinnloser Gewalt! Leider. Wir leben in bürgerlichen Verhältnissen, doch wir sind keine rationalen Kreaturen. Die deutsche Geschichte beweist das. Oder nehmen Sie Sowjetrussland, ein albtraumartiges Dystopia, basierend auf einer brillanten Idee. Die europäische Aufklärung, die mit Newton und Voltaire begann, die erfolgreich den Glauben an den menschlichen Verstand predigte und unsere Philosophie, unsere Politik dominierte, ist wohl doch gescheitert. Der Mensch, man sieht es in New Orleans, handelt nicht notwendigerweise zu seinem Besten.
(...)
der schlechte witz an dieser schon tausendmal gehörten falschen gleichung "der mensch (was nebenbei auch die unterschiedlichen rollen von männern und frauen bei diesem trostlosen spielchen unsichtbar macht) = grundsätzlich bestie = muss sich selbst mit verstand und rationalität quasi selbst zügel anlegen und züchtigen, was sich leider niemals hundertprozentig umsetzen lässt= das chaos sickert durch" besteht darin, dass es sich tatsächlich um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt, welche der ach-so-aufgeklärte westen bis heute nicht begreifen kann und will.
es ist dieses vermutlich die erfolgreichste ideologie aller zeiten, welche sich u.a. in der christlichen feindschaft allem körperlichen gegenüber, in der glorifizierung der erwähnten rationalität, im patriarchalen mann-frau-verhältnis, in freud´s annahme eines "todestriebs" und letztlich auch im bei der in uns allen in unterschiedlichem ausmaß vorhandenen inneren spaltung zwischen "kopf und bauch" widerspiegelt mit dem populären mißtrauen gegenüber letzterem, um nur die folgenreichsten bereiche zu benennen. und diese ideologie beruht durchaus auf authentischen wahrnehmungen, was sie leider so erfolgreich und einleuchtend werden ließ. nichtsdestotrotz: was in all diesen dualistischen verhältnissen (welche sich imo auf ein einziges, nämlich den dualismus im menschen, zurückführen lässt) deutlich wird, ist die erfolgreiche produktion bzw. installierung eines als "böse" empfundenen "inneren" - das "tier", welches beherrscht werden muss. böse und zum tier wird dieses innere aber tatsächlich nur dann, wenn die psychophysischen voraussetzungen und grundlagen für ein tatsächlich menschliches leben permanent mißachtet und nicht berücksichtigt werden (was in dieser kultur bis heute der regelfall ist, trotz aller sichtbaren verbesserungen). b. brechts spruch vom reißenden strom, den alle gewalttätig nennen, aber niemand das ihn einengende flußbett, bringt diesen zustand auf den punkt. das "böse" und die daraus folgende gewalt haben dabei imo sehr viel mit der autistischen option des menschlichen seins zu tun - fortsetzung demnächst in diesem blog.
monoma - 8. Sep, 15:41
noch ein gedanke dazu...
und wenn die kompensationen nicht (mehr) greifen und/oder versagen, wird die grenze zu den kulturell definierten psychischen krankheiten überschritten. wobei diese grenze eben, durch die kulturelle bedingtheit unserer gemeinsamen realitätsnormen, eine recht willkürliche ist. angelegt sind diese extremen zustände der selbst- und weltwahrnehmung grundsätzlich in uns allen - gehört zu unserer grundaustattung sozusagen.
hm. jetzt habe ich gerade den eindruck, womöglich mehr komplizierter als verständlicher gemacht zu haben - aber ich lasse es trotzdem einfach mal so stehen ;-)