Freitag, 7. Oktober 2005

kontext 9: "einfach irre", oder was?!?

das folgende stellt gewissermaßen einige anmerkungen dar, und zwar zu den entsprechenden kommentaren hier. natürlich ist der ausdruck in der überschrift oben als phrase nicht unproblematisch und lädt zu verschiedenen mißverständnissen geradezu ein. eines davon könnte z.b. in einer simplifizierung doch recht komplexer (wenn auch deshalb nicht unverständlicher) sozialer verhältnisse liegen. meist in der form von personalisierung, wie es z.b. am deutlichsten sehr gerne mit der person adolf hitlers als quasi alleinschuldiger/-verantwortlicher hinsichtlich nazi-deutschlands betrieben wird:

"Die Hitlerforschung laboriert seit je an einem Dilemma: Entweder wird das Phänomen Hitler aus seiner psychischen Abnormität erklärt - was die Frage offenlässt, wie ein einzelner eine so große öffentliche Wirkung haben konnte. Oder man erklärt Hitlers Aufstieg aus den sozialhistorischen Umständen seiner Zeit - wobei man dann doch nicht um die Einsicht herumkommt, daß ohne seinen pathologischen Vernichtungswillen der Massenmord nicht möglich gewesen wäre."

so beschreiben die autoren von hitler - karriere eines wahns (siehe auch literaturliste) im vorwort die sich immer noch konträr gegenüberstehenden historischen forschungsansätze aus ihrer sicht. die kluft dazwischen versuchen sie mit ihrem ansatz zu überbrücken, indem hitler einerseits mit hilfe von vielfältig vorhandenen zeitzeugenberichten und biographieforschung einerseits sozusagen nachträglich eine gründliche psychiatrische anamnese und diagnose gestellt wird, andererseits aber auch nach den quasi ankoppelungspunkten seiner persönlichen pathologie beim damaligen begeisterten publikum gefragt wird - und letztlich also auch die pathologischen strukturen innerhalb dieses publikums untersucht werden. die dabei entstehenden ergebnisse lassen sich, wie es vielleicht schon zu erwarten gewesen ist, keinesfalls in der "klassischen" psychiatrischen diagnostik unterbringen, die dann auch von den autoren um ein eigenes modell erweitert wird - sie kommen letztlich zu dem schluß, dass es sich bei hitler um einen realitätstüchtigen psychotiker, genauer um eine sonderform von schizophrenie, gehandelt hätte. und arbeiten dabei kurioserweise zentral mit dem begriffspaar "privates" vs. "öffentliches selbst", wobei das letztere bei hitler ihrer meinung nach u.a. von zügen wie paranoia und einem grandiosen narzißmus geprägt gewesen sei und das "private selbst" im laufe der zeit regelrecht "erdrückt" hätte. auch die von anderen psychiatern gestellte diagnose einer narzißtischen borderlinepersönlichkeit wird von ihnen untersucht, und paradoxerweise ist ihre ablehnung dieser diagnose vielleicht gleichzeitig richtig und falsch - richtig deswegen, weil die von ihnen dargestellte argumentation der entsprechenden diagnostik sich tatsächlich im engen orthodox-psychoanalytischen korsett bewegt und schlicht nicht überzeugend ist bzw. extrem konstruiert wirkt. und falsch aber eventuell deswegen, weil sich eine borderline-diagnose auch anders begründen lässt - und wenn statt der begriffe privat und öffentlich das paar authentisch vs. simulativ benutzt wird, kommt dabei ziemlich genau das heraus, was ein gewisser herr mertz unter zuhilfenahme der gedanken von christa rohde-dachser so beschreibt:

"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´


kleine zwischenfrage: nichtkontakt und eine zone des absoluten alleineseins - welches wort kommt Ihnen dabei in den sinn?
mertz weiter:

"Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offenischtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."

(beide zitate oben aus: j. erik mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)


mit ihrem dualistischen selbst-modell retten die autoren des hitler-buches also womöglich das eindimensionale psychosekonzept der orthodoxen psychiatrie und müssen fast zwangsläufig zur "schizophrenie"-diagnose gelangen, auch wenn sie dazu den eh schon sehr strapazierten begriff schizophrenie noch weiter inhaltlich ausdehnen müssen. tatsächlich aber wird bei dem von ihnen angehäuften material zu hitler, dessen umfang und qualität bereits alleine schon das buch lesenswert machen, eigentlich überdeutlich, dass es sich bei ihm um eine durch und durch beziehungslose persönlichkeit gehandelt hat, die allerdings selbst - in grenzen - an die authentizität der eigenen kontakte geglaubt hat. nach dem selbstmord seiner "geliebten" geli raubal im jahre 1931 soll er kommentiert haben:

"Bisher hatte ich noch Bindungen zur Welt, - offenbar hatte ich sie noch, ich wußte es gar nicht. Jetzt ist alles von mir genommen. Jetzt bin ich ganz frei, innerlich und äußerlich. Vielleicht hat es so sein sollen. Jetzt gehöre ich nur noch dem deutschen Volk und meiner Aufgabe."

(matussek, matussek, marbach "hitler - karriere eines wahns", s. 195; siehe literaturliste)


nach diesem zeitpunkt wurde von verschiedensten beobachtern eine extrem zunehmende (oder vielleicht sich völlig offenbarende?) "fremdheit und kälte gegenüber den anderen" sowie der "verlust der letzten reste zwischenmenschlicher empathie" konstatiert - eine anscheinend neue qualität der beziehungslosigkeit, die sich jedoch berechtigt anzweifeln lässt, wenn man sich das verhältnis von hitler zu geli rauball genauer betrachtet. einmal wurde sie von ihm wie eine gefangene "gehalten", wenn auch unter luxuriösen bedingungen. zum anderen aber existieren berichte von sado-masochistischen handlungen, zu denen er sie gezwungen haben soll. und auch, wenn letztere berichte mit vorsicht zu betrachten sind, so wird doch überdeutlich, dass hitler selbst hier, bei der "größten liebe seines lebens", eine mehr oder weniger völlige unfähigkeit zu einer nichthierarchischen und tatsächlich menschlichen beziehung gezeigt hat. seine anderen frauen"beziehungen", besonders die zu eva braun, zeigen das nur um so deutlicher und krasser auf, was bereits bei der angeblichen großen "liebe" deutlich wird:

"Unzweifelhaft jedoch ist die Tatsache, daß Geli von Hitler als sein Besitz angesehen wurde,..."

("hitler-....", s. 193)


ich frage mich immer, wann sich endlich herumsprechen wird, dass menschen andere menschen, die auch als menschen wahrgenommen werden, unmöglich besitzen können /wollen. diese besitzidee könnte ihre basis in einer konstellation "ich vs. mein körper" als selbstwahrnehmung haben - und hat bereits dann, wenn nämlich diese konstellation in der selbstwahrnehmung dominant ist, eine gewisse pathologische qualität (ja, ganz recht, unser westliches normalbewußtsein...). anders: "besitzen" lassen sich nur dinge - oder eben menschen, die durch eine defekte wahrnehmung in dinge verwandelt werden. was mich zu einer etwas überraschenden assoziation bezgl. sogenannter "eifersuchtsmorde" bringt, die angeblich immer durch "übergroße liebe" verursacht werden. vielleicht existieren auch hier zwei qualitativ grundsätzlich verschiedene zustände von eifersucht: einmal eine authentisch-menschliche form, die durch schmerz über zurückweisung und (getriggerte) verlustgefühle (trauer!) auch älterer herkunft gekennzeichnet ist. und zum anderen eine "als-ob-eifersucht", bei der das wort liebe völlig fehl am platze ist, und die sich eben durch die kränkung durch den verlust eines für einen selbst wertvollen objektes auszeichnet. liebe lässt los, wenn auch unter schmerzen - die immer wiederkehrenden morde jedoch lassen ganz und gar nicht los, vernichten das ding lieber, und erkennen damit auch nicht die existenz einer anderen persönlichkeit als eigene qualität an. und das ist von liebe welten entfernt, wie ich finde.

zurück zu hitler: neben der pseudobeziehung zu geli raubal, die sich mit guten gründen als pseudo bezeichnen lässt, wird von den autoren der erwähnten untersuchung primär seine mutterbeziehung als "echt" herausgestellt und das an seiner anscheinend extremen trauer bei ihrem tod festgemacht (eine mutter übrigens, die ihn "vergötterte" und ihm einen völlig unrealistischen status eines "supersohnes" gab - eine mögliche quelle einer fetten narzißtischen problematik, schon klar - allerdings stellt sich auch hier die frage, ob sich wirklich von einer beziehung im menschlichen sinne sprechen lässt. bei arno gruen ist zum verhältnis von hitler zu seiner mutter etwas ziemlich anderes zu lesen:

"Dr. Eduard Bloch, der Arzt, der 1907 Hitlers Mutter behandelt hatte, berichtete später, er habe `nie einen jungen Menschen gesehen, der vor Schmerz und Gram so namenlos unglücklich gewesen wäre wie der junge Adolf Hitler´ beim Begräbnis seiner Mutter (genau darauf beziehen sich matussek et al., anmerk. mo). Doch was steckt hinter einer solchen hysterischen Ergebenheit, die wir von vielen Konformisten kennen? (...) Rudolph Binions Analyse ist eher zuzustimmen (...). Er zog die Aufzeichnungen dieses Arztes heran, die im Hauptarchiv der NSDAP gefunden wurden, und konnte die gespaltene Natur von Hitlers `Mutterliebe´ zeigen. Hitler war zwar außerordentlich um seine sterbende Mutter besorgt, bestand jedoch auf der wirkungslosen, aber furchtbaren Jodoformbehandlung, die seine Mutter sehr quälte und ihren Tod beschleunigte."

(arno gruen, "der wahnsinn der normalität", s. 154; siehe literaturliste)


und damit werden ausnahmslos alle von hitler bekannten und durch verschiedenste zeitzeugen dokumentierten zwischenmenschlichen verhältnisse zu fiktionalen und simulativen nichtbeziehungen. eine wandelnde katastrophe, dieser mann - aber hervorgebracht und gefördert durch ebenso katastrophale soziale verhältnisse einer kultur, die sich einbildet, eine "hochzivilisation" zu sein.

*
und natürlich: die frage danach, wieweit seine anhängerschar selbst innerhalb dieser defekten realitätsform funktionierte, birgt klarerweise bis heute für uns als nachkommen der betroffenen generationen eine ziemliche brisanz, holt sie doch ein anscheinend historisches ereignis direkt auf die ebene ganz persönlicher und existenzieller fragen. und da wird´s dann eben sehr schnell ungemütlich bis bedrohlich. von daher ist aber die arbeit der autoren der betreffenden hitlerbiographie imo um so bedeutender einzuschätzen, auch wenn sie meines wissens bis heute ebensowenig größere resonanz gefunden hat wie bereits erwähnte gewisse andere arbeiten. wozu wieder mertz die klarsten worte findet, zumindest was das sichtbare versagen der sog. fachleute angeht:

"Der intelligente und simulativ geschickte Antisoziale, der zu Macht gekommen ist, wird kurzerhand per definitionem zu einem Ding der Unmöglichkeit deklariert, d.h. die Hitlers und Himmlers werden in einem sehr seltsamen Outplacingverfahren aus dem psychopathologischen Spektrum einfach ausgeschlossen und damit letztendlich in den gesunden Sektor verschoben. Als ob sich die innerhalb der wissenschaftlichen Psychopathologie operierenden Mitglieder der Funktionseliten, stellvertretend für alle anderen Mitglieder gegen jedwedes psychopathologisches Verdachtsmoment grundsätzlich verwahren wollten. Die Funktionselite wäscht sich quasi selbst rein, versucht es wenigstens, und die Wissenschaft ist dabei behilflich. Wer einigermaßen unauffällig und effizient funktioniert, insbesondere in herausgehobener Position, kann nicht wirklich, nicht ernsthaft krank sein, weil er nicht krank sein darf."

(mertz, "borderline...",s. 57)


nun werden sich vielleicht gerade bei hitler genügend stimmen finden lassen, die eine ernsthafte psychopathie noch in erwägung ziehen - der bursche war einfach in jeder hinsicht zu extrem. anders aber sieht´s dann schon mit den sog. demokratischen führern und erst recht mit bspw. angehörigen der wirtschaftlichen "eliten" aus, obwohl gerade in diesen bereichen eine echte notwendigkeit besteht, sich die handelnden protagonisten ganz genau anzuschauen.

das selbst bei einem explizit nichtpsychiatrischen blick sehr schnell einiges auffällige sichtbar wird, lässt sich z.b. bei einem bestseller der 1970er jahre, ihr da oben - wir da unten von bernt engelmann und günter wallraff, in hunderttausenfacher auflage verlegt, nachvollziehen. ging es den beiden dort ursprünglich um ein besitz- und persönlichkeitsprofil der damaligen westdeutschen gesellschaftlichen, v.a. wirtschaftlichen "eliten", so ziehen sie ziemlich am ende ihrer recherchen - bei der darstellung des damaligen skandals um den "gerling-konzern" und den bankrott der "herstatt-bank", folgendes fazit:

"Die FAZ verschweigt (in einem dokumentierten kommentar zum erwähnten skandal, anmrk. mo), daß Gerling nur ein - besonders offensichtlich gewordenes - Beispiel für die Möglichkeiten, ja Affinitäten von Machtmißbrauch und Unternehmerwillkür innerhalb der sogenannten `Freien Marktwirtschaft´ darstellt. Die vielen Hunderte und Tausende kleinen und großen Gerlings sollen weiterhin möglichst frei und hemmungslos ihrer Profitleidenschaft unkontrolliert nachgehen. Unterschlagen und verdrängt wird, daß Gerlings Verhalten geradezu symptomatisch ist für Alleinherrscher dieser Größenordnung. Alfried Krupp, der alte Flick, Quandt, Melitta-Bentz, Siemens-Clan, Oetker und wie sie alle heißen, zeigen politisch wie psychopathologisch oft ganz ähnliche Verhaltensmuster."

(engelmann/wallraff "ihr da oben - wir da unten"; rororo, reinbek 1976; s. 293; isbn 3 499 16990 8)


erstmalig 1973 erschienen, ist die damalige zeit der patriarchalischen alleinherrscher über solche bis heute - in form von aktiengesellschaften meist - existierenden markenunternehmen zwar vorbei, an der psychopath(olog)ischen grundstruktur jedoch scheint sich nicht viel geändert zu haben. das buch ist quasi von vorne bis hinten eine beschreibung schwerer psychiatrischer auffälligkeiten, bei denen die betroffenen einzig durch geld und machtposition vor jenen konsequenzen geschützt sind, die ein normalsterblicher in solchen fällen recht schnell vom sozialen umfeld zu erwarten hätte. gerling ist für derartige verhaltensweisen ein besonders eindrückliches beispiel, aber es finden sich ganze familien mit symptomatiken - beispiel der kruppclan:
  • alfred krupp, der eigentliche firmengründer, "brachte das Werk wiederum (wie sein vater, anmerkg. mo) an den Rand des Bankrotts, und nur durch enorme Staatszuschüsse und -kredite konnte die <vaterländische Anstalt> gerettet werden, zum anderen starb auch er in völliger geistiger Umnachtung, nachdem er zuvor bereits (...) deutliche Symptome manisch-depressiven Irreseins gezeigt hatte."
  • sein einziger sohn, fritz krupp kümmerte sich um das unternehmen überhaupt nicht, frönte stattdessen deutlich pädophilen neigungen und "endete 1902, nachdem seine <Ausschweifungen>, wie man es damals nannte, publik geworden waren, durch einen - selbstverständlich vertuschten - Selbstmord. Er starb ohne männlichen Erben; die inzwischen zum größten Stahl- und Waffenproduzenten Mitteleuropas gewachsene Firma Friedr. Krupp wurde Alleineigentum seiner Tochter Bertha, und diese heiratete 1906 den Legationsrat Gustav von Bohlen und Halbach, den Kaiser Wilhelm (...) Allerhöchstderoselbst zum Krupp beförderte (...)." gustav krupp von bohlen und halbach wurde von seinen nächsten angehörigen "taffy" genannt, und...
  • ..."Taffy wurde indessen ein waschechter Krupp: Auch er zeigte früh Symptome von Geistesgestörtheit, insbesondere eine krankhafte Pedanterie, die selbst die Bewirtung von Gästen einem auf Sekunden genau eingeteilten Protokoll unterwarf. Auch lernte er Fahrpläne auswendig und machte eine Staatsaffäre daraus, wenn ein - von ihm gar nicht benutzter - D-Zug mit zwanzig Sekunden Verspätung seine Kontrollposten passierte. Später verfiel auch er in geistige Umnachtung."
(alle zitate aus engelmann/wallraff, "ihr da oben...", s. 8/9)

vielleicht sollte noch hinzugefügt werden, dass es sich bei krupp um jene firma handelt, die im ersten weltkrieg durch den verkauf von waffen an beide kriegführenden seiten stinkreich geworden ist (und etlichen deutschen soldaten durch "qualität made in germany" ein invalidenschicksal, wenn nicht den tod, "bescherte" - soldaten , die genau die "ordnung" verteidigen sollten, die eine solche firma erst hervorbrachte); und sowohl am aufstieg hitlers als auch massenhaft von späterer zwangsarbeit und wiederum krieg nocheinmal profitierte, und sehr schnell nach dem zweiten wk wieder präsent war und macht und einfluß vergrößerte. eine "erfolgsgeschichte", die stellvertretend für viele andere derartige geschichten steht.

"houston, we have a very big fuckin´ problem...!"

Dienstag, 4. Oktober 2005

kontext 8: indirekte verbindung posttraumatischer zustände mit autismus?

zufällig bin ich über diese zusammenfassung eines bloggers gestolpert, die dieser wohl zur illustration einer ganz anderen geschichte genutzt hat - und trotzdem ist da etwas sehr wichtiges gut erfaßt:

"In Krisen zeigen die meisten Menschen Abwehr- und Fluchtreaktionen, die aus der Tierwelt übernommen sind. Der Herzschlag beschleunigt sich, die Muskeln spannen sich, das Gehirn wird bis auf vegetative Funktionen abgeschaltet. Leider führt das manchmal dazu, dass wir uns in einer Krise, die weder durch Angreifen noch durch Flucht gelöst werden, absolut irrational verhandeln. Wir operieren mit einem IQ auf Höhe der Zimmertemperatur. Unter anderem werden Emotionen, die instinktiv durch Körpersprache vermittelt werden, nicht mehr erkannt. Man wird für kurze Zeit zum Autisten."


temple grandin - siehe hier - führt ihren eigenen erfolg in ihrem beruf u.a. darauf zurück, dass sie sich perfekt in tierisches bewußtsein hineinversetzen könne, da sie selbst z.t. in diesem kontext funktionieren würde.

der traumaforscher und -therapeut peter levine geht in seinem ansatz von folgendem aus:

"Es beruht auf Verhaltensbeobachtungen in der Tierwelt. Der zugrunde liegende biologische Mechanismus geht auf das Jäger-Beute-Verhalten zurück, einen ursprünglichen Reiz-Reaktions-Zyklus mit grundsätzlich drei Optionen: Flucht-, Angriff- und Totstell-Reflex.
Tiere in freier Wildbahn sind zwar häufig lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt, werden jedoch nicht nachhaltig traumatisiert, da sie über angeborene Mechanismen verfügen, die es ihnen ermöglichen, die hohe, im Überlebenskampf mobilisierte Stress-Energie wieder abzubauen. Zwar sind wir Menschen mit grundlegend gleichen Regulationsmechanismen ausgestattet, doch wird die Funktionsfähigkeit dieser instinktgeleiteten Systeme häufig durch den „rationalen“ Teil unseres Gehirns gehemmt und außer Kraft gesetzt.

Dies kann bei uns Menschen dazu führen, dass die vom Körper im Alarmzustand bereit gestellte Überlebensenergie vom Nervensystem nur unvollständig oder verzögert aufgelöst wird. Der Organismus reagiert in der Folge weiterhin auf die Bedrohung der Vergangenheit. In diesem Falle sind die in der Gegenwart zu beobachtenden Reaktionsweisen, Verhaltensmuster, Überzeugungen, Gedanken und Gefühle der Person oft noch mit den erschreckenden Erfahrungen der Vergangenheit gekoppelt."


mein eigener eindruck läuft auf ähnliches hinaus, wenn sich zum beispiel eine ständige erregung des vegetativen nervensystems, dissoziative phänomene, selbstverletzende aktionen sowie verlust an weltvertrauen insgesamt mit einer grundsätzlichen isolation als folge sowohl bei menschen mit ptbs-diagnose als auch autistInnen wiederfinden lassen. möglicherweise lässt sich über die oben thematisierte verbindung einiges besser verstehen.

und überlegen Sie einmal, wie´s eigentlich in hierarchisch strukturierten gesellschaften wie unserer mit der nur oberflächlich kontrollierten und verwalteten gewalt aussieht.

notiz: übel wird mir...

...bei der auffällig-unauffälligen "berichterstattung" über ein wahres menetekel. welches offensichtlich nicht nur hierzulande die große mehrheit nicht so recht wahrnehmen will. erinnern Sie sich an 1989? jene flüchtlinge wurden damals wahrgenommen, diese verschwinden irgendwo unter den gleichgültigen auslandsnachrichten:

"In den frühen Morgenstunden des gestrigen Montags haben erneut um die 700 Schwarzafrikaner aus Marokko den Grenzzaun gestürmt, der die spanische Enklave Melilla von Marokko trennt. An zwei Stellen gelang es ihnen, die Sperrgitter auf einer Länge von jeweils 20 Metern niederzureißen. 350 Menschen gelangten nach Melilla und damit in die EU." (...)

Vier Polizeibeamte und drei Soldaten wurden durch Steinwürfe verletzt. Über 135 Flüchtlinge zogen sich nach Angaben des spanischen Innenministeriums bei dem Durchbruch Verletzungen zu. 130 wurden ambulant verarztet. Fünf wurden ins Krankenhaus eingeliefert, vier davon wurden operiert.
(...)
In den angrenzenden marokkanischen Wäldern leben unter unwürdigsten Bedingungen tausende von schwarzafrikanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa. Imbroda beschwerte sich außerdem über die Abordnung von 500 Legionären der spanischen Armee an die Grenze. Kritiker dieser Maßnahme der spanischen Regierung befürchten, dass Soldaten nicht die geeignete Ausbildung haben, um Flüchtlinge ohne Schusswaffengebrauch zurückzuweisen."


ach ja, vielleicht denken Sie bei Ihrem nächsten urlaub mal dran?

"Vor den Kanarischen Inseln kamen unterdessen am Wochenende 19 Afrikaner beim Versuch ums Leben, mit kleinen Booten auf spanisches Gebiet zu gelangen. Ein mit 34 Flüchtlingen besetztes Boot kenterte vor der Insel Fuerteventura. Drei Insassen konnten nur noch tot geborgen werden. 14 wurden im Meer vermisst. Bei Gran Canaria kamen zwei weitere Afrikaner zu Tode."

in abwandlung eines gerade kursierenden mottos könnte es heißen: "wir sind europa" - und der rest muss leider draußenbleiben. aber vielleicht sollte das ganze realistischerweise so ausgesprochen werden: "wir sind die festung europa, eure armut ist uns scheißegal, und wir sind bis auf weiteres einverstanden mit der nutzung u.a. von steuergeldern für die ausrüstung dieser festung, damit wir unseren zusammengeplünderten wohlstand nicht teilen müssen."

ja. wir sind mittäter und -täterInnen. involviert und kompromittiert. meine übelkeit meine ich nicht nur metaphorisch, absolut nicht.

"Im so genannten Meda-Programm stünden für die Sicherung der Grenze zwischen Spanien und Marokko 40 Millionen Euro bereit, sagte eine Sprecherin der Brüsseler EU- Kommission am Freitag. Das Geld sei erst zum Teil ausgegeben, mit dem Rest würden weitere Verstärkungen an den Exklaven Ceuta und Melilla finanziert.(...)

Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" beklagte, Flüchtlinge, die versuchten, über Nordafrika nach Spanien und in die EU zu gelangen, würden von marokkanischen und spanischen Sicherheitskräften sowie von Kriminellen misshandelt."

Donnerstag, 29. September 2005

basis: autismus oder die krankheit der objektivität (1)

so. ich muss sagen, dass es ein echter kampf gewesen ist, diesen beitrag zu verfassen - oft genug bin ich an der letzten zeit an der schieren komplexität dieses themas gescheitert und habe mich gefragt, ob es denn überhaupt möglich, eine blog-taugliche zusammenfassung unter einbeziehung der wichtigsten aspekte zu realisieren. aber z. t. ist das ärgerlicherweise auch meinem eigenen perfektionsanspruch geschuldet. inzwischen habe ich mich entschlossen, diesen anspruch - so weit es möglich ist - zu ignorieren. was hoffentlich nicht dazu führt, inhaltlich zu verkürzend zu werden - gerade bei diesem thema wünsche ich mir von den leserInnen hier aufmerksamkeit und zeit, weil sich darüber große teile der bisherigen beiträge hier womöglich erst so recht inhaltlich erschliessen.

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ich bitte gleichfalls, im folgenden zu berücksichtigen, dass ich trotz vermittlung einer allgemeinmedizinischen grundlage während meiner ausbildung, einer autodidaktischen auseinandersetzung mit diversen aspekten der psychiatrie/psychologie sowie langjähriger (klienten-)erfahrung mit verschiedensten therapieformen/therapeutischen prozessen kein ausgebildeter mediziner bin. an dieser stelle sei auf den begriff "selbstermächtigung" hingewiesen, den ich inhaltlich noch über das modell "aufgeklärter patient" hinausweisend finde. wer sich einmal näher gerade mit der psychiatrie (und auch der professionellen psychotherapie) beschäftigt, wird eine wissenschaftliche disziplin vorfinden, die sich allzuoft und allzusehr in soziale machtverhältnisse nicht nur verstrickt hat (ganz offen bei der nazi-"euthanasie" und der militärpsychiatrie, versteckter bei den sozialen wirkungen diverser krankheitsmodelle), sondern diese auch mit produziert. und sich dabei kritik genau so wie andere wissenschaftliche bereiche mittels esoterischer sprache und elitärem auftreten vom leibe hält. aber gerade, wenn es um das menschliche emotionale leben und unser gehirn geht, gilt meiner meinung in gewissen maßen das folgende auch für die psychiatrie:

"Wir sind ja alle schon das, was die Psychologie zu beschreiben und zu analysieren versucht, wir erfahren und praktizieren es alle Tage und beherrschen diesen `Gegenstand´, der wir ja sind, offenbar ganz ordentlich und haben ihn schon immer einigermaßen beherrscht, lange bevor sich eine wissenschaftliche Psychologie entwickelt hat, die das in Abrede stellt und uns weismachen möchte, sie selbst hätte diesen `Gegenstand´ neu erfunden und sei nun als Erfinder und Patentinhaber dieses fiktiven Menschen berechtigt, letztinstanzlich über diese `Sache´ zu entscheiden".

(j. e. mertz, "borderline...", s. 159; siehe literaturliste)


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der gerade und in vergangenen beiträgen schon öfter erwähnte zitierte autor wird im folgenden noch häufiger eine rolle spielen. letztlich ist es so, dass ich ohne das betreffende buch wahrscheinlich nicht auf die idee gekommen wäre, mich mit dem thema autismus näher zu beschäftigen. aber das ist doch laut titel ein buch zum thema borderline?, ließe sich fragen. ja - aber dieser zusammenhang lässt sich erst dann überhaupt diskutieren, wenn es einen begriff davon gibt, was autismus eigentlich bedeutet. es lässt sich einiges zu mertz und seinem modell anmerken, auch in mehreren punkten entschiedene kritik - trotzdem halte ich seine herausarbeitung der inneren struktur des autismus für plausibel und einleuchtend, und werde mich darauf im folgenden auch beziehen. zum buch insgesamt sei an dieser stelle noch gesagt, dass mir bisher - es ist vor gut fünf jahren erschienen und mittlerweile offensichtlich vergriffen - keinerlei fachspezifische rezension untergekommen ist. eine anfrage beim zuständigen verlag vor gut einem halben jahr ergab lediglich, dass es möglicherweise überhaupt nur drei rezensionen nach veröffentlichung gegeben hat. trotz professioneller recherchekenntnisse gelang es mir nicht, auch nur eine rezension zu gesicht zu bekommen, auch nicht nach recherchen in einer unibibliothek. wenn also hier jemand mitliest, der kenntnisse einer solchen rezension hat, würde ich um eine mitteilung bitten. einige kundenrezensionen sind bei amazon einsehbar, und spiegeln in ihrer teils krassen widersprüchlichkeit durchaus die effekte wieder, die das buch auslösen kann.

dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern. aber die methode des aussitzens ist anscheinend nicht nur in einem gesellschaftlichen bereich als problemlösung beliebt.

ich kann hier keine komplette rezension leisten, werde mich aber nicht nur bei seinen anmerkungen zum autismus, sondern auch zukünftig zu seiner meiner meinung vorhandenen unterschätzung von traumatischen prozessen sowie seinem begriff von psychopathie bzw. seiner definition des psychopathen viel auf dieses buch beziehen. im übrigen gibt es in bestimmten zentralen punkten seiner thesen inhaltliche übereinstimmungen mit anderen autoren wie z.b. arno gruen und - für mich ziemlich überraschend - mit den über zwei jahrzehnte vorher erschienenen "männerphantasien" von theweleit. alle drei stellen z.b. zwei grundsätzlich qualitativ unterschiedliche arten der psychose vor, wenn auch natürlich aus unterschiedlicher perspektive mit unterschiedlicher terminologie. wobei die eine art bekannt unter der bezeichnung "schizophrenie" ist und sich die verbreiteten klischees einer psychose - spektakuläre visionen, halluzinationen, offensichtliche realitäts"verkennung" bzw. existenz in einer eigenen realität - hauptsächlich auf diese, dazu im verhältnis recht seltene, form beschränken.

die andere art jedoch ist eventuell ein monströses problem für uns alle. und besticht dazu durch eine "objektiv" vorhandene realitätstüchtigkeit, vor allem dann, wenn diese realität sich durch hierarchien und machtverhältnisse auszeichnet. wer dazu mehr von den entsprechenden modellen theoretisch wissen möchte, sollte sich mit den entsprechenden werken der autoren direkt beschäftigen.

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mit dem thema autismus hat das alles aus folgenden gründen etwas zu tun, weil...

"...nur hier, im Kontext des Autismus, der bei weitem wichtigste Faktor der gesamten Psychopathologie, und zwar als isoliertes Ereignis, etwas deutlicher als sonst in unser Blickfeld kommt: Bei diesem wichtigsten Faktor handelt es sich um jenen zentralen Erfahrungskomplex, der unter den Schlüsselbegriffen Bindung, (authentische) Beziehung, (lebendiger) Dialog, Verstehen, Empathie oder (mit Einschränkungen) Rapport abgehandelt wird. Dieser Beziehungsfaktor tritt beim Autismus insofern als isoliertes Ereignis hervor, weil er im Sinne eines Totaldefizits oder eines Totaldefekts vollständig entfällt."

(mertz, "borderline...", s. 98)


vielleicht schauen Sie sich nocheinmal die liste in diesem beitrag an - ich hatte da geschrieben, dass sich so ziemlich alle dort aufgeführten krankheitsmodelle durch eine mehr oder weniger schwere, mehr oder weniger offensichtliche einschränkung bzw. schädigung der beziehungsfähigkeit "auszeichnen". die als solche anerkannten krankheitsbilder des autistischen spektrums definieren sich quasi darüber, aber auch die erwähnten persönlichkeitsstörungen besitzen bei näherer betrachtung einen quasi- oder pseudoautistischen anteil, wenn es um die jeweiligen beziehungsfähigkeiten geht (die ptbs und dissoziative ps nehmen eine gewisse sonderstellung ein). professionelle aus den bereichen der behindertenpädagogik z.b. oder auch aus der psychiatrie werden hier vermutlich einhaken wollen und sich gegen einen inflationären gebrauch des wortes autismus wenden. ich kenne mittlerweile die position, wie sie z.b. auch im ersten kommentar hier durchscheint, die "eigentlich" nur den kanner-autismus als "echten" autismus anerkennen will, und das ganze phänomen damit im bereich der schweren geistigen behinderung belassen möchte. es geht dabei mal wieder um definitionen, und diesen streit werden wir hier nicht klären können. ich halte es aber für berechtigt, den autismus als allgemeine menschliche - hm, möglichkeit, eben nicht am rand der gesellschaft zu belassen, sondern ihn in die mitte zu holen - und das ist für mich eine erkenntnis aus der lektüre von mertz, der den autismus als seinsoption unter bestimmten sozial produzierten bedingungen definiert. und als elementare möglichkeit eines funktionsmodus bei jedem menschen - bekannt als das objektive bewußtsein aka instrumentelle vernunft. ja, das war und ist immer noch eine echte überraschung für mich, dass sich das ideologische leitbild der westlichen kultur ("ich denke, also bin ich"), die sog. rationale vernunft, als die strukturell autistische hälfte des menschlichen seins entschlüsseln lässt, die nicht per se krankhaft ist, aber bei einem ungleichgewichtszustand als dominierendes prinzip im strengen sinn krankhaft werden kann, was offen autistische menschen selbst zeigen. und eben auch aus den selbstzeugnissen solcher menschen leitet mertz seine diesbezgl. überlegungen her.

wie gesagt, der offizielle mainstream wird dem nicht folgen wollen (was vor allem daran liegen könnte, dass erstens keine allgemein akzeptierte definition des wesens einer authentischen (oder auch: nichthierarchischen) menschlichen beziehung vorliegt; zweitens aus diesem grund zustände für "beziehungen" gehalten werden, die gar keine sind (wir betreten hier den als-ob-simulationsbereich); und drittens eben kein bewußtsein zu den ersten beiden punkten vorhanden ist, auch und gerade nicht in weiten teilen der professionellen psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen institutionen.)

"Zu den tragikomischen Absurditäten der modernen Psychopathologie zählt die Tatsache, dass dieser (authentische) Beziehungsfaktor als Defizit oder Defekt zwar unzähligen Krankheitsbildern zugrundeliegt und den Kernbereich des psychopathologischen Gesamttableaus weitgehend beherrscht, aber erst dann (und keinen Moment früher!) offiziell registriert wird und die ihm gebührende Anerkennung findet, wenn dieser Faktor ganz offensichtlich, auch mit bloßem und ungeschultem Auge erkennbar, vollständig entfällt und sich auch auf Dauer nicht mehr nachweisen lässt."

("borderline...", s. 98)


nun denn.schauen wir uns einmal das als solches definierte "offizielle" autistische spektrum genauer an.

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ich kann hier nur eine komprimierte zusammenfassung der wichtigsten aspekte geben, und empfehle zur intensiveren auseinandersetzung zum einstieg einmal das autismusdossier bei wikipedia, welches imo ganz gut den offiziellen stand wiedergibt, dann zum anderen seiten wie autismus.de, autismus-online, aspiana oder aspergia, die auch die sicht von direkt betroffenen widerspiegeln.

den kanner-autismus als "klassischen" frühkindlichen autismus und als sehr häufig als durch seine intensität in der folge definierte geistige behinderung lasse ich einmal weitgehend außen vor (ebenso den atypischen autismus), weil diese menschen zwar womöglich den autistischen extrempol in jeder hinsicht verkörpern, aber dadurch eben auch fast völlig unfähig zu selbsttändigen handlungen sind und häufig lebenslanger pflege bedürfen. möglicherweise aber sollte dieser extrempol im hinterkopf bleiben, gerade bei der beschäftigung mit den "milderen" autistischen varianten.

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und dann der bereich, der inzwischen vielleicht am relevantesten ist: der sog. asperger-autismus.
von asperger-betroffenen liegen inzwischen verschiedene selbstzeugnisse vor. am bekanntesten sind dabei die arbeiten von temple grandin , einer us-amerikanischen professorin und (asperger-)autistin, die weltweit als expertin für humane viehhaltung und -schlachtung (in den usa arbeitet die hälfte aller schlachthöfe nach von ihr ausgearbeiteten methoden - eine leistung, die ich mit sehr gemischten gefühlen betrachte) anerkannt ist. grandin hat bis heute mehrere bücher veröffentlicht, es existieren im netz interviews mit ihr (eines davon wird gleich noch genauer vorgestellt werden). ihre schilderungen gelten allgemein - auch unter betroffenen - als weitgehend zutreffende beschreibungen des autistischen lebens. eine art selbstbiographie ist in deutschland 1997 unter dem titel "ich bin die anthropologin auf dem mars" mit einem vorwort des neurologen oliver sacks veröffentlicht worden, und aus diesem buch wird auch von mertz ausgiebig zitiert. nun ist es so, dass ich originalquellen grundsätzlich bevorzuge, aber dieses buch von t. grandin so vergriffen wie sonstetwas ist - und ein angebot neulich lautete auf vierzig euro (für ein taschenbuch...) über ein antiquariat. das ist momentan schlicht und einfach nicht drin, und darum werde ich auf die von mertz zitierten passagen zurückgreifen, wobei ich immer noch davon ausgehe, das original irgendwann einmal vorliegen zu haben. ich sehe aber keinerlei gründe für die annahme, dass die zitate bei mertz nicht korrekt wiedergegeben sind. zusammen mit weiteren aussagen im erwähnten interview mit ihr ergibt sich ein nachvollziehbarer eindruck davon, was autismus in einer einigermaßen realitätstüchtigen variante - zitat oliver sacks: "Tatsächlich war Temple bei unserer ersten Begegnung...zunächst derart `normal´ (oder derart geschickt in der Simulation von Normalität), daß es mir schwerfiel zu erkennen, daß sie autistisch war." - eigentlich ausmacht, oder besser: wie er die menschliche existenz ganz grundsätzlich beeinflusst.

"Das erste Anzeichen dafür, daß ein Baby möglicherweise autistisch ist, besteht darin, daß es sich bei Berührung versteift und sich dagegen wehrt, gehalten und gehätschelt zu werden. Es kann extrem empfindlich auf Berührungen reagieren, indem es sich entzieht oder schreit...Wenn ich gehalten wurde, kämpfte ich, um mich zu befreien, aber wenn man mich alleine in dem großen Kinderwagen ließ, machte ich selten Theater."

"Meine Mutter erkannte zum ersten Mal, daß es ein schlimmes Problem mit mir gab, als ich nicht wie das kleine Mädchen im Nachbarhaus zu sprechen begann."

(t. grandin zitiert nach mertz, s. 102/103)


in den verschiedenen "offiziellen" (asperger-)autismus-darstellungen taucht eine erstmalig bemerkte auffälligkeit häufig im zeitraum von drei bis vier jahren auf, und mertz bemerkt zu recht, dass es schon seltsam erscheint, warum die mutter oder andere bezugspersonen auf das verweigern der von babys ansonsten existenziell eingeforderten zuneigung und wärme anscheinend nicht reagieren, sondern erst dann, wenn später "objektive" leistungen in wichtigen kulturtechniken nicht oder nur spärlich vom kind erbracht werden. das lässt einige spekulationen über möglicherweise versteckte vorhandene autistische tendenzen bei den betreffenden müttern zu, würde auch zur genhypothese passen - oder zum mertz´schen ansatz der pränatalen umprogrammierung. in einer rezension eines buches über sog. "schattensyndrome" findet sich dieser absatz:

"In den achtziger Jahren fuehrten Ritvo und seine Kollegen Anne M. Brothers, B. J. Freeman und Carmen Pingree eine epidemiologische Untersuchung ueber alle autistischen Personen durch, die damals im Staat Utah lebten. Das Ziel der Untersuchung lag darin, nach Faktoren zu suchen, zum Beispiel vorgeburtlichen Einfluessen, einem Gehirntrauma usw., die als moegliche Ursachen fuer Autismus in Frage kamen, sowie das Risiko fuer Familien mit einem autistischen Kind im Hinblick auf ein zweites oder drittes Kind abzuschaetzen. Bei diesen Gespraechen mit den Eltern autistischer Kinder stiessen sie jedoch auf ein unerwartetes Ergebnis: einige dieser Eltern wirkten selber autistisch. Einige flatterten mit den Haenden, wiegten den Koerper hin und her oder gingen auf Zehenspitzen, andere waren sozial isoliert, und zwei von ihnen erklaerten offen heraus, sie seien genauso autistisch wie ihre Kinder. Wie sich herausstellte, waren sie es tatsaechlich. Unabhaengige Untersuchungen durch andere Diagnostiker bestaetigten die Diagnose des Autismus bei elf Elternteilen - bei neun Vaetern und zwei Muettern. Waehrend heute die Vorstellung eines autistischen Elternteils vielleicht nicht so aussergewoehnlich erscheint, war der Gedanke noch vor wenigen Jahren revolutionaer. Ritvo stellte danach fest: 'Wenn Sie mir vor 10 Jahren gesagt haetten, es gebe autistische Menschen, die verheiratet sind und Kinder haben, dann haette ich geantwortet: 'Sie sind verrueckt, die leben doch alle in Anstalten.' Nach der Untersuchung von Utah aenderte er jedoch seine Ansicht: 'Wie bei den meisten Krankheiten scheint es auch eine leichte Form des Autismus zu geben, die im Erwachsenenalter mit Ehe, Elternschaft, befriedigender Heterosexualitaet und beruflicher Leistung vertraeglich ist.'" (S. 238) Damit ist das Schattensyndrom des Autismus eingefuehrt, das allerdings im Grunde schon durch Asperger (1944) angelegt wurde, aber im engeren Sinne auch wiederum nicht zum Autismus gezaehlt wird. Wie schon mehrfach kritisiert, zieht sich das babylonische Begriffschaos wie ein roter Faden durch die nun gut 200 Jahre alte moderne Psychiatrie. "Zur Zeit herrscht das klassische Schattensyndrom des Autismus unbestreitbar bei Maennern vor." Sie sind eigenwillige, unkonventionelle, unangepasste, beziehungsarme Aussenseiter. "Technikertypen haben diese Eigenschaft laengst bei sich entdeckt. ... Auch die Verbindung zwischen dem Autismus und der Computerwelt ist nicht unbeachtet geblieben. Das Magazin Time brachte einmal einen Artikel, in dem Bill Gates [der Gruender der Firma Microsoft] mit der beruehmten autistischen Gelehrten Temple Grandlin verglichen wurde (zu den autistischen Eigenschaften, die ueber Gates mitgeteilt wurden, gehoerten das Wiegen des Oberkoerpers, ein staendiges Wippen, die Vermeidung des Blickkontaktes und die mangelnde soziale Faehigkeit, sich an einem Gruppengespraech zu beteiligen)." (S. 239).

(zitiert nach: Sponsel, Rudolf (DAS). Buchbesprechung - Rezension: Ratey, John J. & Johnson, Catherine (dt. 1999, orig. 1997). Das Schattensyndrom. Neurobiologie und leichte Formen psychischer Stoerungen.Rezensionen. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen;
- der ganze artikel ist zwar eine ziemliche bleiwüste, steckt aber voller interessanter informationen u.a. zum vergleich mit schizoiden persönlichkeiten, möglichen veränderungen der neurophysiologie, dem zusammenhang mit dem aufmerksamkeitsdefizitssyndrom sowie auch auffälligkeiten in den propriozeptiven und vestibulären fähigkeiten).


*
"Wenn man mich alleine ließ, wurden meine Gedanken zerstückelt und ich geriet in einen hypnotischen Zustand. Ich konnte stundenlang am Strand sitzen und zusehen, wie der Sand durch meine Finger rieselte. Ich studierte die einzelnen Sandkörner, die zwischen meinen Fingern durchrannen. Jedes Sandkorn war anders, und ich war wie eine Wissenschaftlerin, die die Körner unter einem Mikroskop studierte. Während ich ihre Formen und Konturen einer genaueren Prüfung unterzog, versank ich in Trance, die mich für die Anblicke und Geräusche rund um mich unempfänglich machte...Andere Methoden, um mich gegen die Welt abzuschotten....bestanden darin, daß ich rhythmisch hin und her wippte oder mich im Kreis drehte."

(grandin zitiert nach mertz, s. 105/106)


ich denke mal, ich bin nicht alleine mit meinem eindruck, dass hier haargenau eine mögliche form dessen beschrieben wird, was als dissoziation bekannt ist - und gerade im kontext borderline, posttraumatische belastungsstörung und erst recht bei der dissoziativen ps aka multiplen persönlichkeit ein thema ist. und ebenso - in einem ganz anderen kontext - beim thema drogen und auch bei schamanistischen ritualen wiederzufinden ist. mertz geht auf das thema dissoziation unter diesem namen leider nicht ein, kommentiert aber obigen absatz wie folgt:

"Auch uns sind diese Vorgänge in gewisser Weise sehr vertraut (...) Es ist eine im Modus des objektiven Kontrollbewußtseins operierende Ichfunktion, die hier mit besonders stark verengten und fixierten Aufmerksamkeitsfenstern spielt. Wenn wir die Feinheiten eines winzigen Areals unserer Hautoberfläche sehr konzentriert studieren oder die Bewegungen einer Fliege, die gerade auf unserem Schreibtisch gelandet ist, dann operieren auch wir in diesem autistischen Modus. Der einzige Unterschied zwischen uns und dem Autisten besteht darin, daß wir auch anders können, während der Autist in diesem Modus ein Leben lang gefangen bleibt (...) Die geradezu marsianische Andersartigkeit der autistischen Erfahrungswelt beruht nicht auf dem, was der Autist tatsächlich tut und erfährt, sondern auf dem, was er nicht tun und erfahren kann. Durch diesen defektartigen Verlust verändert sich allerdings das Funktionsganze (...) Die verbleibenden Funktionen müssen die verlorene Funktion kompensieren. Im Falle des strukturellen Autismus, der durch den Totalausfall der authentischen Beziehungsoptionen charakterisiert ist (klassischer, z.B. frühkindlicher Autismus), konzentriert sich das hypertrophierende (überdimensional erweiternde, aufblähende; anm. mo) objektive Kontrollbewußtsein bevorzugt auf unbelebte Objekte."

(und jetzt folgt ein wichtiger und entscheidender satz):

"Der Realitätsbezug des Autisten ist ein ausschließlich objektiver und gegenstandsmanipulativer: Das gegenstandsmanipulative Grundschema wird später, unter dem Zwang der Verhältnisse (sozialer Druck), auf lebendige und (inter)personale Ereignisfelder projiziert und dort (inter)agiert."

(s. 106)


"gegenstandsmanipulativ" lässt sich hier wortwörtlich verstehen: eine autistische wahrnehmung ist unfähig, lebendiges zu erkennen (und diese unfähigkeit, wie in anderen beiträgen hier schon öfter angedeutet, hat eine materielle, körperliche basis - und bezieht den eigenen körper übrigens mit ein!) und kann lediglich anhand "objektiver" formaler kriterien erkennen, ob es einen z.b. einen unterschied zwischen schaufensterpuppen und lebenden menschen gibt - eindrucksvoll beschrieben in diesem forenbeitrag bei tp:

"...daß ich regelmäßig Modepuppen im Kaufhaus mit echten Menschen verwechsele...(...)"

das der betreffende auch noch als programmierer arbeitet, hat schon etwas ironisches an sich. aber zur wahrnehmung: es ist im wahrsten sinne des wortes eine dingwelt, eine welt von objekten ohne inneren zusammenhang (dieser vor allem emotional und kinästhetisch erlebbare zusammenhang beruht auf u.a. körperlich basierten wahrnehmungsfähigkeiten, wie zb. die weiter oben erwähnten propriozeptiven und vestibulären wahrnehmungen, nach neueren forschungen ist auch ein ausfall der spiegelneuronsysteme zu erkennen, eine basis für empathie), die sich hier abbildet. und damit ist ein sehr krasser und sehr qualitativer und sehr konsequenzenreicher unterschied zur gesunden bzw. vollständigen menschlichen wahrnehmung gegeben. es sind in letzter konsequenz verschiedene welten, die sich aus der radikal unterschiedlichen wahrnehmung ergeben.

"Der autistische Mensch operiert, und darauf kommt es an, ausschließlich im Modus dieses gewöhnlichen und an sich gesunden objektiven (objektivierenden) Kontrollbewußtseins. Die autistische Kontrolle zielt dabei ab auf die Herstellung einer sinnvollen Ordnung in all dem kontinierlich einströmenden Erfahrungsmaterial (der sinnlich-körperlich basierten welt, in der wir alle leben, ob wir´s letztlich wahrnehmen können oder nicht - diese welt ist materiell und objektiv vorhanden; anm. mo), das für den Betroffenen `keinen Sinn macht´. Der Autist (...) versucht außerdem, seine Erfahrungswelt (...) objektiv zu beherrschen (prognostisch und manipulativ)."

weiter mit temple grandin:

"Ich beobachte ständig...doch ich gehörte nie dazu...Noch heute findet mein ganzes Denken vom Standpunkt einer Beobachterin aus statt...Meine Bilder (Vorstellungsbilder) ähnelten denen anderer Menschen, aber ich stellte sie mir stets als Beobachterin vor. Die meisten Menschen sehen sich selbst in ihren Vorstellungen als Beteiligte (T.G. irrt hier: der intakte Mensch beherrscht beide Optionen, J.E.M.)...Mein ganzes Leben bin ich eine Beobachterin gewesen, und ich habe mich immer wie jemand gefühlt, der die Dinge von außen betrachtet...Unter Einsatz meiner Visualisierungsfähigkeit beobachte ich mich selbst aus der Distanz. Ich bezeichne das als `meinen kleinen Forscher in der Ecke´, als wäre ich ein kleiner Vogel, der mein Verhalten aus der Höhe betrachtet...Dr. Asperger bemerkte, daß sich autistische Kinder ständig selbst beobachten. Sie betrachten sich selbst als Objekt des Interesses."

(s.106/107)

"Vor kurzem besuchte ich einen Vortrag, bei dem es eine Sozialwissenschaftlerin erklärte, der Mensch denke anders als Computer. Bei der anschließenden Dinnerparty erklärte ich der Wissenschaftlerin..., daß meine Denkmuster den Arbeitsschritten eines Computers ähnelten und ich in der Lage sei, meinen Denkprozeß Schritt für Schritt zu erläutern. Ich war einigermaßen schockiert, als sie mir erklärte, daß sie unmöglich beschreiben könne, wie ihre Gedanken und Emotionen verbunden seien...Ich speichere Informationen im Kopf wie auf einer CD-ROM. Wenn ich mich an jemand erinnere, spiele ich in meiner Vorstellung ein Video von dieser Person ab...Wenn ich lese, übersetze ich die geschriebenen Wörter in Farbfilme oder speichere einfach ein Foto der geschriebenen Seite, um sie später zu lesen. Wenn ich das Material wieder abrufe, sehe ich in meiner Vorstellung eine Kopie dieser Seite...Meine Gedanken bewegen sich...von videoähnlichen, spezifischen Bildern zu allgemeinen Konzepten...ich bediene mich seit jeher der Visualisierung und der Logik, um Problem zu lösen...Normalerweise erscheinen meine Erinnerungen in strikter chronologischer Reihenfolge (...)"

(s. 108)


hier werden die möglichen kompensationen des ausfalls eines entscheidenden teils der wahrnehmung sichtbar, verstanden als eher ungewöhnliche neurologische fähigkeiten wie zb.einem eidetischen (fotografischen) gedächtnis. auch synästhesie scheint bei autistischen menschen öfter vorhanden zu sein, ebenso findet sich ein link zum thema hochbegabung. all das ist - in relation - gehäuft zu beobachten, jedoch nicht zwingend - längst nicht alle als solche diagnostizierten autistischen menschen entwickeln irgendwelche besonderen fähigkeiten. wobei es eine lohnende sache ist, sich mal die biographien sog. genies innerhalb der westlichen kultur näher anzuschauen. beispiele: michelangelo, einstein (und andere), oder eben auch bill gates. zum ebenfalls "unter verdacht" stehenden isaac newton, der vielleicht als d e r repräsentant des naturwissenschaftlichen weltbildes gelten kann, plane ich einen eigenen beitrag.

in bereich der fiktiven personen gerade aus der populärkultur sind zb. mr. spock von der enterprise sowie sherlock holmes als koksende denkmaschine sehr deutlich im autistischen spektrum verortet. beim letzteren wird zudem die gerade von t. grandin thematisierte ständige beobachtung skizziert:

"Seinem kalten, präzisen, bewundernswert ausgeglichenen Geist waren alle Gefühlsregungen und besonders diese (es geht um liebe, anm. mo) fremd. Er war meiner Meinung nach die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber als Liebhaber wäre er falsch am Platz gewesen. Von den zarteren Gefühlen sprach er einzig mit Spott und Hohn."

und dann wird der in den holmes-geschichten immer als etwas tölpelhaft gezeichnete dr.watson wieder einmal durch die logischen schlußfolgerungen von holmes verblüfft, der daraufhin anmerkt:

"Du siehst, aber du beobachtest nicht. Der Unterschied ist klar. Du hast doch zum Beispiel oft die Stufen gesehen, die vom Hausflur in diese Wohnung führten?"
"Gewiß."
"Wie oft wohl?"
"Viele hundertmal, möchte ich meinen."
"Und wie viele Stufen sind es?"
"Wie viele? Keine Ahnung!"
"Eben! Du hast sie gesehen, aber nicht beobachtet. Genau, was ich sage. Ich hingegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe (...)."

(arthur conan doyle, sherlock holmes-geschichten "ein skandal in böhmen"; manesse im dtv, münchen 1994; s.7, 10/11; isbn 3-423-24006-7)


was sich als zwanghafte kontrolle eines weitgehend sozial beziehungslosen mannes interpretieren lässt, der allerdings formale sozialkontakte perfekt simulieren kann. auch von einer freundschaft mit dr. watson kann eigentlich eher nicht die rede sein, da holmes durchgängig immer in einer dominanten und überlegenen, etwas herablassenden position gezeichnet wird, was nicht unbedingt eine freundschaft im eigentlichen sinne ausmacht.
sein berühmter gegenspieler prof. moriarty hingegen lässt züge eines intelligenten psychopathen erkennen, unterscheidet sich jedoch in seinen fähigkeiten interessanterweise nicht allzusehr von holmes, letztlich ist es nur der kontext, in dem sie beide ihre kognitiven wundermaschinen einsetzen, der sie voneinander trennt und sie zu gegenspielern macht.

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sehr eindringlich sind die bemerkungen von temple grandin zum sozialen leben:

"Da ich keinerlei soziale Intuition besitze, muß ich mich in meinem Verhalten von reiner Logik leiten lassen, so als gehorchte ich einem Computerprogramm. Ich ordne die (sozialen) Regeln entsprechend ihrer logischen Bedeutung ein. Es ist ein komplexer algorithmischer Entscheidungsbaum."

und jetzt kommt wieder so ein satz, der es in sich hat:

"Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück. Wiederholt haben mir Eltern erzählt, daß ihre autistischen Kinder eine großartige Leistung vollbrachten, als sie jemand anderen darstellten. Sobald das Stück vorüber war, kehrten sie in ihre Isolation zurück...Selbst heute noch sind persönliche Beziehungen etwas, was ich nicht wirklich verstehe."

(grandin zitiert nach mertz, s. 112)


das ist deutlich genug, wie ich finde. auf der deutschsprachigen seite von autismandcomputing findet sich übrigens ein regelrechter katalog mit vorschlägen und instruktionen für autistische menschen bezgl. allgemeinen sozialverhaltens. es klingt wirklich so, als würde sich jemand auf den erstkontakt mit einer völlig fremden kultur vorbereiten. assoziationen hierzu verkneife ich mir für den moment, die bekommen später ihren platz.

dazu finden sich auffälligkeiten und probleme mit den eigenen körperlichen grenzen sowie ein exzentrisches körperschema (definition weiter unten im beitrag).

"Autistische Menschen haben manchmal Probleme mit den körperlichen Grenzen. Sie sind unfähig zu beurteilen, wo ihr Körper endet und wo der Stuhl, auf dem sie sitzen, oder das Objekt, das sie in der Hand halten, beginnt."

(grandin, s. 208)


was sich ebenso als eine folge der beschädigten bzw. ausgefallenen wahrnehmungsfähigkeiten verstehen lässt. weitere aussagen von betroffenen, die das sehr deutlich machen:

„In siebenundzwanzig Jahren hatte ich oft meine eigenen Hände berührt. Es waren einfach Fleischklumpen, Blut und Knochen, die aufgrund von Form, Position, Funktion und Aussehen etwas darstellten, was wir „Hände“ nennen. Es gab keine emotionale Bindung an sie, kein Gefühl, dass sie mir persönlich gehörten, und das Berühren von Händen hatte keine Bedeutung. Es war einfach ein Zusammenstoß von zwei derartigen Objekten im Raum.“

Donna Williams, „Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern.“, S. 185

"Daß ich ein äußeres Körpergefühl hatte, erlebte ich, indem ich sah und hörte, wo mein Körper sich befand. Mein inneres Körpergefühl war, wie alles andere, meistens mono. Wenn ich mein Bein berührte, spürte ich das entweder an meiner Hand oder an meinem Bein, aber nicht an beiden gleichzeitig. Ich nahm den ganzen Körper in Stücken wahr. Ich war ein Arm oder ein Bein oder eine Nase. Manchmal war ein Teil sehr deutlich da, doch der Teil, mit dem er verbunden war, fühlte sich so hölzern an wie ein Tischbein und genauso leblos.“

Donna Williams, Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern, S. 320

„Warum ich so gern liege, will meine Mutter wissen. Wenn ich liege, verändere ich meine Lage wenig. Dabei habe ich mein Körperbild besser im Bewußtsein, als wenn ich herumlaufe. Ich bin mit meiner Aufmerksamkeit dann weniger gefordert. Wenn ich mich bewege, muß ich immer darauf achten, wie meine Lage im Raum gerade ist. Das bereitet Mühe. Wenn ich liege, spüre ich mein Rückgrat. Das hilft mir sehr, mich mit meinem Körper zu orientieren. Ich denke wirklich oft darüber nach, was mein Leben so schwer macht, und es wird immer deutlicher, dass ich mich nicht nur schlecht spüre, sondern auch meinen Körper nicht richtig für die Orientierung im Raum gebrauchen kann.“

Dietmar Zöller, 27. 4. 97


im bereits erwähnten interview vom harvard brain mit temple grandin im jahre 2000 finden sich weitere informationen über die autistische existenz. ein paar auszüge:

"HB: Fühlst Du Dich durch die Tatsache, daß Deine mentalen Prozesse Dir sichtbarer, irgendwie mechanischer?

TG: Einige der Wissenschaftler, die an künstlicher Intelligenz arbeiten glauben, daß sie einen Computer bauen können, der das Gehirn imitiert/dupliziert. Eine Menge Leute sagen, daß sie das nicht können. Ich fühle, daß es möglich ist, weil ich sehen kann, wie eine ganze Menge meiner Denkprozesse ablaufen.
(...)
TG: Das ist genau das, wie es mir ergeht. Ich bekomme keine Informationen von Gesichtern. Wenn ich mit jemandem am Telefon rede, ist das genauso gut, als würde ich ihn sehen; dort kann ich Nuancen auffangen. Dieser ganze Augen-Kram . . .

HB: Es ist wahr, Du schaust mich nicht an.

TG: Augen machen für mich überhaupt keinen Sinn."


und zu ihrer art des denkens sagt sie:

"HB: Der andere Vergleich ist zu Software und Maschinen -- zum WWW, dem Internet, Computern.

TG: Bevor ich den Computervergleich nutzte, sprach ich immer von Photos und Filmen in meinem Kopf. Der Grund, warum ich das Internet als symbolischen Vergleich verwende ist, weil dort draußen nichts anderes ist, was meiner Art zu denken ähnlicher wäre. Die Art, wie die Seiten assoziativ verlinkt sind ist exakt die Art wie ich denke.
Ich sage Leuten, wenn Ihr wirklich verstehen wollt, wie ich denke, warum geht Ihr dann nicht einfach ins Internet und tippt das Wort "Streetcar" ein. Fangt dort an, und seht mal, wohin es Euch führt."


das verhältnis zwischen computern und autismus wird noch genauer beleuchtet werden, es gibt dort verschiedenste zusammenhänge, die schlicht verblüffend sind. und die eine eindeutig bedrohliche komponente enthalten, ebenso wie diese aussage:

"Bei autistischen Personen ist inzwischen eine starke Tendenz, zu sagen, die Welt sollte sich ihnen anpassen."

eine welt, von der gewisse qualitäten einfach nicht wahrgenommen werden können, vor allem solche, die primär sinnlicher art sind und nicht nur im sozialen leben angesiedelt sein müssen:

"Und sie überraschte mich bei unseren Spaziergängen mit ihrer offenkundigen Unfähigkeit, die einfachsten Emotionen zu empfinden. `Die Berge sind hübsch´, sagte sie, `aber sie vermitteln mir kein besonderes Gefühl, wie Sie es anscheinend empfinden...Sie betrachten den Bach, die Blumen, und ich sehe, welch große Freude Ihnen diese Dinge machen. Das kann ich nicht empfinden."

(o. sacks zitiert nach mertz, s. 111)


und es geht hier wohlgemerkt nicht um individuelle vorlieben für diese oder jene landschaft. sondern um die welt im autistischen ichmodus, dessen eigenschaften von mertz auf vielen seiten in vielen facetten analysiert werden. und deutlich wird immer wieder vor allem eines, nämlich die objektwelt, die sich daraus ergibt. alles voll mit dingen, die ständig kontrolliert und manipuliert werden müssen (.u.a. zur angstabwehr). und möglicherweise stellen verschiedene varianten dieses ichmodus auch den kern der krankheiten des spektrums dar, welches unter dem begriff persönlichkeitsstörungen ein viel umzanktes diagnostisches kriegsgebiet bildet. existenzielle ängste spielen bei den meisten ps mit einer ganz wichtigen ausnahme ("echte" psychopathen, die sich aber auch unter dem label der antisozialen ps finden, nehmen nach neuerer forschung ängste durch ihre neurophysiologische struktur bedingt überhaupt nicht wahr, was ihnen leider sehr große handlungsspielräume verschafft; und lassen sich sozusagen als untergruppe der antisozialen ps kennzeichnen. dazu wird noch ein eigener beitrag folgen) eine zentrale rolle, und möglicherweise ist auch Ihnen als leserIn der effekt bekannt, dass das objektive bewußtsein in einem gewissen sinn angstreduzierend wirken kann - benenne und analysiere etwas, und es verliert ein stück seine fremdheit und mögliche bedrohlichkeit.

aber es sollte lediglich ein - nützliches - instrument sein, und nicht die ganze existenz ausmachen und beherrschen. das nämlich hat fatale folgen:

"Der Mensch erscheint in dieser mechanistischen Perspektive als eine Art mangelhafter Robot, dem im Vergleich zu anderen Robotern vielleicht noch ein paar mechanistisch formulierte Sonderleistungen zugestanden werden, die jedoch mittelfristig auch auf maschinellem Wege erbracht werden können. (...) Kurzum, es gibt einen Unterschied zwischen lebendigen und mechanistisch toten Ereignissen. Wer diesen Unterschied nicht kennt, ist de facto sehr krank, und zwar in einem sehr strengen, objektiv-wissenschaftlichen Sinne: Die entsprechende Symptomatik findet sich beispielsweise im autistischen und psychotischen Kontext und wird im Bereich extremer Antisozialität zu einem gesellschaftlichen Problem. In all diesen Fällen ist unter anderem auch diese Unterscheidung für die Betroffenen sehr unsicher oder unmöglich geworden. Diese mangelhafte Unterscheidungsfähigkeit entwickelt spätestens dann tragische Dimensionen, wenn eine lebendiger Mensch von einem anderen Menschen wie eine Sache, wie ein totes Ding behandelt wird, ohne daß sich der Akteur selbst an dieser kategorialen Todsünde, die in der Praxis nicht selten einen tödlichen Ausgang nimmt, irgendwie stören müßte."

(mertz, s. 160)


file under pannwitzblick. und ansonsten war es bisher in der zeit der existenz dieses blogs erschreckend einfach, für das, was oben von mertz beschrieben wird, fast täglich beispiele in den medien zu finden. kindermorde , abschiebungen und happy slapping lassen grüßen. unsere sozialen, hochkomplexen und mechanistisch-bürokratisch organisierten strukturen einerseits sowie ein zeitgeist mit betonung auf "flexibilität", simulierter sozialkompetenz und ignoranz von grenzen (auch von eigenen) sowie zeit und räumen andererseits lassen sich als produktionen des erwähnten objektiv-autistischen modus begreifen - eine megamaschine, die außer rand und band geraten ist.

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insgesamt sollte jetzt bei Ihnen ein erster eindruck von ganz wesentlichen punkten des autistischen seinsmodus (ein begriff, der sowohl von betroffenen als auch von mertz benutzt wird) vorhanden sein, und ebenso eine ahnung davon, was daraus für mögliche folgen im sozialen leben entstehen können.

im zweiten teil wird es um die ursachendiskussion gehen, die vorhandene epidemiologie sowie komorbiditäten, gerade hinsichtlich ads und verschiedenen persönlichkeitsstörungen. meine persönlichen assoziationen und eindrücke aus der beschäftigung mit diesem thema werde ich vermutlich in einem dritten teil beschreiben.

Samstag, 24. September 2005

assoziation: tittytainment

ein begriff, der jetzt auch schon gut zehn jahre alt ist, und sich trotz oder wegen der tatsache, dass er eine zynische (und treffende) neuformulierung des alten "brot & spiele" darstellt, nicht durchsetzen konnte. bin vorhin wieder einmal drüber gestolpert. und frage mich ebenso wieder einmal nach der mentalität oder der inneren verfassung dieser leute. erste hinweise auf mögliche antworten stehen in diesem blog.

auszugsweise beschrieben wird im folgenden eine konferenz von ca. 500 politikern, wirtschaftsführern und wissenschaftlern, die im september 1995 in san francisco stattgefunden hat und sich mit den "perspektiven" der welt im 21. Jahrhundert beschäftigte. ist vielleicht ganz nützlich, das im hinterkopf zu haben, wenn einen politik & medien mal wieder mit ihrem fetisch "arbeitsplätze-schaffen-und-bruttosozialprodukt-steigern-um-jeden-preis-dann-wird-alles-gut" in den heulenden wahnsinn treiben wollen.


"Kein Raunen geht da durch den Raum, den Anwesenden ist der Ausblick auf bislang ungeahnte Arbeitslosenheere eine Selbstverständlichkeit. Keiner der hochbezahlten Karrieremanager aus den Zukunftsbranchen und Zukunftsländern glaubt noch an ausreichend neue, ordentlich bezahlte Jobs auf technologisch aufwendigen Wachstumsmärkten in den bisherigen Wohlstandsländern - egal, in welchem Bereich.

Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: "20 zu 80" und "tittytainment".

20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. "Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht", meint Magnat Washington SyCip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen - egal, in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die Diskutanten ein, mag noch hinzukommen, etwa durch wohlhabende Erben.

Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? " Sicher", sagt der US-Autor Jeremy Rifkin, Verfasser des Buches "Das Ende der Arbeit", "die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen." Sun-Manager Gage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, "to have lunch or be lunch", zu essen haben oder gefressen werden.

In der Folge beschäftigt sich der hochkarätige Diskussionskreis zur "Zukunft der Arbeit" lediglich mit jenen, die keine Arbeit mehr haben werden. Dazu, so die feste Überzeugung der Runde, werden weltweit Dutzende Millionen Menschen zählen, die sich bislang dem wohligen Alltag in San Franciscos Bay Area näher fühlen durften als dem Überlebenskampf ohne sicheren Job. Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: reiche Länder ohne nennenswerten Mittelstand und niemand widerspricht.

Vielmehr macht der Ausdruck "tittytainment" Karriere, den der alte Haudegen Zbigniew Briezmski ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. "Tittytainment", so Brzezinski, sei eine Kombination von " entertainment" und "tits", dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinski denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden."

(zitat aus "Die Globalisierungsfalle", s. 12)


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edit: weil´s zum obigen inhaltlich passt...

"Es ist übrigens gar nicht gesagt, dass es den Insassen in einem privat geführten Knast schlechter ginge, und die JVA Köln scheint sich schon jetzt auf diese Zukunft einzurichten, wenn sie sich als ein »Dienstleistungsunternehmen« beschreibt, das »der Öffentlichkeit und den Inhaftierten verpflichtet« sei. Das weckt Hoffnung bei den Kunden, die vorerst nicht befriedigt werden kann: »Eigentlich ist es nicht zu begreifen«, schreibt eine Inhaftierte, »dass Staatsanwälte und Richter den Delinquenten gegenüber so oft einen frechen und pampigen Ton anschlagen. Sie vergessen ganz, dass diese Leute die Grundlage ihrer Existenz bilden und sozusagen ihre Kundschaft sind.« Eine andere fordert – die Kundin ist Königin – mehr Freundlichkeit von den Vollzugsbeamten: »Ich bin keine Mörderin, ich bin Hotelfachfrau …« Gericht und Gefängnis als Dienstleister, das gibt dem Schlagwort »Service-Hölle« einen neuen Sinn (und der Vollzug ist übrigens nicht die einzige Dienstleistung, die nicht zu erhalten ein Vorzug sein könnte).

Das endgültige Absinken und Unbrauchbarwerden eines ganzen Drittels der Gesellschaft sorgt aber noch auf andere Weise dafür, dass sich auch die Wirklichkeit des Gefängnisses verändert. Es verliert seinen Schrecken, wenn draußen eine noch schlimmere Welt wartet. Im Gefängnis hat sich vorläufig noch, wenn auch auf oft groteske Weise, der alte Sozialstaat erhalten, was manch eine begrüßt. »Ein Gefängnis ist eigentlich ein schrecklicher Ort, für mich ist es ein Ort der Sicherheit«, schreibt eine Frau, die zu 15 Jahren Haft verurteilt ist. »Irgendwie bin ich froh, dass ich hier drin bin«, schreibt eine andere. Sie könne nun wieder ruhig schlafen. »Sie fühlen sich hier zum Teil sicherer als in ihrem Umfeld draußen«, berichtet eine »Bedienstete für Sicherheit und Ordnung«. Mit einer allgemeinen Verelendung sind Gewalt und Zwang gewachsen und Chancen gesunken. Bei aller Dürftigkeit der Anstalt sind die in ihr eingeschlossenen Frauen nicht nur einiger Existenzsorgen ledig, sie sind auch vor Nachstellungen, Bedrohungen und Misshandlungen durch Mann, Zuhälter und Familie einigermaßen gesichert; anders als bei den männlichen Gefangenen kommt das »Klatschen« unter Frauen selten vor. Und die meisten von ihnen verpassen draußen keine Karriere mehr."


an anderer stelle dieses artikels ist auch zu lesen, dass u.a. frauen mit borderline-diagnose unter den gefangenen eine größere zahl ausmachen. nun ist mein persönlicher eindruck der, dass bei vorliegen offen traumatischer gewalterlebnisse (der zusammenhang ist bei borderline nicht zwingend, aber überdurchschnittlich häufig zu beobachten) diese diagnose eher zu den in der psychiatriegeschichte schon häufiger zu beobachtenden quasi vertuschungsdiagnosen zu zählen ist, mit denen die konsequenzen gesellschaftlich produzierter gewalt quasi unsichtbar gemacht werden. im oben erwähnten kontext ist es nicht unwahrscheinlich, dass traumatisierte frauen, die sich mittels einer gewalttat aus einer unerträglichen lebenssituation befreien wollten, dann einen großteil ihres restlichen lebens im knast verkümmern. natürlich ohne jegliche chancen auf qualitative verbesserungen.

und wenn die knastsituation schon als "verbesserung" gegenüber draussen erlebt wird ("schutzhaft" im wahrsten sinne des wortes?) - was für ein erbärmliches "draussen" ist das dann eigentlich? und die idee der privatisierten knäste (die sehr wahrscheinlich auch hier kommen werden, wenn grundlegende fehlentwicklungen nicht gestoppt werden) - sind wir schon so abgestumpft, um nicht mehr wissen zu wollen, dass diese knäste innerhalb einer kapitalistischen logik auf möglichst hohen "umsatz" konzipiert sein werden? und jene organisierte kriminalität, die da z.b. 1995 das erwähnte treffen veranstaltet hat, genau die bedingungen dafür schafft, dass dieser "umsatz" auch real werden wird?

*

und nochmal edit: "tittytainment" mal in anderer (wenn auch nicht ganz anderer) bedeutung, vorgeführt von einem gewissen herrn hartz und seinen kumpanen - "Es wurde die entsprechende Zahl Frauen geliefert"
frauen, arbeitskräfte, menschliche verhältnisse - alles nur noch dinge, abrechenbar, kalkulierbar, manipulierbar.

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