geleaktes: eine weitere folge der depeschen sehe ich darin, dass in vielen fällen auch bereits gewusstes, aber bisher ignoriertes und verdrängtes, wieder zum vorschein kommt - in der art der zusammenballung mit den weiteren materialien könnte das bei großen teilen der öffentlichkeit zu interessanten reaktionen führen - später mehr.
aber wenn man sich alleine das treiben von"shell"und dem pharmakonzern"pfizer"in einem land wie nigeria betrachtet, sollte das alleine für ausreichend übelkeit sorgen. sicher, der komplex "shell in nigeria" ist lange und alt bekannt, wenn ich auch für mich sagen muss, dass ich das tatsächliche ausmaß der präsenz von shell dort dann doch überraschend finde - es sollte klar sein, dass es sich bei nigeria nicht mehr um einen souveränen staat handelt, sondern um eine staatssimulation unter maßgeblicher kontrolle von shell, wobei letztere mittels der kontrolle von shell in so ziemlich jeden nigerianischen ministerium sichergestellt wird. es ließe sich auch sagen, dass sich shell dann in der folge dort eine kaste von wahren marionetten hält, die nach außen als "regierend" verkauft wird, sich jedoch im großen und ganzen in der rolle von his masters voice wohlfühlt.
bei so einem szenario ist dann nicht weiter überraschend, dass sich eine gleichfalls international tätige kapitalistische vereinigung wie pfizer auf einem derart bereiteten boden wohl fühlt und die eigenen kriminellen aktivitäten dort für sicher hält, incl. der inanspruchnahme der örtlichen korrupten institutionen im falle des falles. wer bei solchen und ähnlichen zuständen gelangweilt abwinkt "das ist ja alles nichts neues", sollte dann doch den eigenen zynismus- und verdrängungsgrad dringend überprüfen. mich macht jedenfalls das meiste, was bisher aus dem us-bestand bekannt ist, noch wütender als eh schon. und nein, ich glaube nicht, dass die probleme der menschen in nigeria mit einem "souveränen staat" wirklich lösbar wären - aber das wäre möglicherweise ein erster schritt hin zu den allernötigsten verbesserungen der dortigen lebensumstände, weil das die entmachtung der kapitalistischen kolonisatoren bedeuten könnte.
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wl/assange: hinsichtlich der vergewaltigungsvorwürfe muss ich sagen, dass ich mich da zu einer persönlichen wertung aufgrund eines absoluten infooverkills schlicht und einfach nicht in der lage sehe. das netz ist voll von teils sich absolut einanander ausschließenden versionen, behauptungen und (angeblichen) tatsachen - das beispiel der einen betroffenen frau, anna a., reicht dafür schon aus - ich habe berichte gesehen, in denen sie a) als funktionärin der schwedischen christdemokraten, b) mitglied der dortigen piratenpartei, c) feministin, d) anti-abtreibungsaktivistin, e) radikale linke und f) aktiv in der arbeit gegen die castro-regierung auf cuba bezeichnet wird. wahlweise auch noch mit cia-kontakten, wie die geheimrätin weiter unten in den kommentaren zu einem älteren beitrag ausgeführt hat. ebenfalls sind die berichte über die angeblichen abläufe des als vergewaltigung bezeichneten geschehens derart grotesk, dass ich mich schlicht weigere, da noch eine eigene wertung zu wagen. als sicher finde ich im moment nur das folgende: natürlich ist assange als westlich sozialisierter mann keineswegs frei von den üblichen patriarchalen und sexistischen verhaltens- und denkmustern. also ist jede bestrebung, ihn von vorneherein als unbedingt unschuldig anzusehen, unsinnig. zweitens ist das verhalten der schwedischen justiz gelinde gesagt seltsam. drittes ist das ganze timing bei dieser geschichte - wer hat wann wie gehandelt - etwas, was nochmals dringend der genaueren recherche bedarf (so habe ich momentan bspw. nicht die ressourcen zu überprüfen, ob es tatsächlich einen zeitlichen zusammenhang zwischen assanges erster ankündigung des bank-leaks nächstes jahr und der herausgabe der fahndungsorder von "interpol" gab). und viertens steckt darin auch eine wahre bombe, nämlich wiederholt die frage nach dem definitionsrecht von betroffenen frauen. fünftens ist das teils extrem frauenverachtende und sexistische gekreische, wie es teils zb. in den telepolis-foren zu lesen ist, wenn es um diesen aspekt der wikileaksgeschichte geht, schlicht widerlich. und das wäre es selbst dann noch, falls sich anna a. bspw. tatsächlich als agentin herausstellen sollte.
insgesamt wäre etwas zur klärung hilfreich, was zumindest ich nicht einfordern kann und werde: eine persönliche und öffentliche stellungnahme der beiden frauen nämlich. es wäre vielleicht eine aufgabe feministischer frauen / organisationen, da nachzuhaken - ansonsten steht nämlich zu befürchten, dass zukünftig ein gewaltiger flurschaden für viele beteiligte entsteht, wenn es um vergewaltigungen bzw. sexualisierte gewalt auf der ebene von "promis" geht. ich finde diesen ganzen komplex in allen teilen schlicht deprimierend.
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verschwörungen: in den kommentaren von sansculotte zu den beiträgen weiter unten existiert ja schon eine variante; ähnlich ablehnend hat sich in mehrere beiträgen drüben dasopablog geäussert. die argumentation dreht sich zunächst zentral darum, dass das alles ja verdächtig nach der vorbereitung eines angriffs auf den iran aussehen würde. ich habe nun weiter unten in mehreren kommentaren ebenfalls schon etwas dazu gesagt; und muss heute dazu anmerken, dass ich diese hypothese inzwischen für noch größeren unsinn halte als in der letzten woche schon. zu meinen argumenten, die ich nicht wirklich widerlegt finde, kommt zwischenzeitlich noch die tatsache hinzu, dass das thema iran im zusammenhang mit dem leak weitgehend wieder aus den schlagzeilen verschwunden ist - und damit ein für die entsprechende vt zentraler punkt schlicht nicht mehr existiert. und das die veröffentlichung der depeschen aus der botschaft in tel aviv noch bevorsteht, hatte ich ebenfalls schon erwähnt.
das opablog hat in einem beitrag drüben auf einen gewissen oliver jannich verwiesen, seines zeichens ein ultrakapitalist (das wort "libertärer" für solche leute finde ich eine überflüssige und falsche auszeichnung), 9/11-skeptiker und sog. "klimaskeptiker" (das wikileaks damals das sog. "climategate" mit internen e-mails von klimaforschern ins rollen gebracht hat, scheint er inzwischen vergessen zu haben...). ebenfalls in der illustren runde der cia-wikileaks-verschwörungstheoretiker findet sich der notorische peak-oil-leugner und kopp-autor william engdahl. hingegen ist bspw. ein ebenfalls in der szene der 9/11-skeptiker bekannter matthias bröckers sehr begeistert von wl. diese hier bereits sichtbare deutliche spaltung quer durch die fraktionen finde ich einen der interessanteren aspekte des leaks. es ließe sich fortsetzen mit dem berühmt-berüchtigten "alles-schall-und-rauch-blog" (pro wl), der sog. infokrieger-szene (contra), dann den einzelnen positionen in der republikanischen partei in den usa, wo sich bspw. eine sarah palin und ein ron paul (ultra"libertärer") ebenfalls schroff gegenüberstehen. hierzulande wittern einige kommunistische splittergrüppchen ebenfalls eine "imperialistische verschwörung" (gegen wen auch immer), und selbst die szene der sog. antideutschen ist gespalten - während sich einige der dortigen protagonisten anfangs freudig auf die iran-depeschen gestürzt haben, vermuten andere schlicht antiamerikanischen geheimnisverrat. die jeweiligen links finden Sie mit ein paar recherchekenntnissen leicht selbst heraus; ich möchte hier nicht auf die genannten direkt linken.
insgesamt also ein gar lustiges bild, welches sich in gewisser weise auch weltpolitisch wiederspiegelt - die reaktionen des türkischen ("verschwörung") und iranischen ("verschwörung") präsidenten passen da genaus hinein wie diereaktionen von pakistanischen medien und staat, die nicht nur ebenfalls eine verschwörung vermuten, sondern gleich noch ihr eigenes verschwörungsprojekt mittels gefälschter depeschen gegen indien starteten.
statt vieler weiterer worte dazu nur noch diese: klar kann jede "leakende" plattform theoretisch auch für desinformation benutzt werden. in diesem fall jedoch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass das leak für so ziemlich alle involvierten seiten unverdauliche brocken enthält (und ähnliches sage ich auch für israel voraus). und genau dieser fakt spricht für mich als deutlichstes gegen jede vt. es müsste schon eine schar von auserlesenen dummköpfen gewesen sein, die die bisher nur ansatzbar sichtbaren und übrigens in ihren langzeitkonsequenzen für viele staaten und gesellschaften schlicht uneinschätzbaren fern- und nebenwirkungen dieser veröffentlichung bewusst einkalkuliert hätte. sollte das trotz aller unwahrscheinlichkeiten so gewesen sein: herzlichen glückwunsch für einen beitrag zur weiteren destabilisierung des weltweiten kapitalismus! orden gibt´s dafür aber später eher nicht.
ansonsten empfehle ich die lektüre vieler bücher von robert anton wilson, besonders seine interviews in "die illuminati-papiere", wo er u.a. empfiehlt, auch und besonders skeptisch gegenüber der eigenen skepsis zu sein. einfach deshalb, weil übertriebene skepsis in eine alptraumhafte welt voll von paranoia und ohne jegliche feste basis führt. das hat schlußendlich viel mit den funktionsweisen des objektivistischen modus zu tun, aber das thema würde jetzt den rahmen sprengen. suchen Sie im blogindex, wenn Sie dazu mehr erfahren möchten.
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wl/assange: interessant fand ich ja die selbstcharakterisierung des julian a., die sich in einem seinerzitateüber sinn und zweck von wikileaks kenntlich macht:
(...) "Mit den neuen Enthüllungen von Wikileaks wird es Assange zufolge für ehrliche Spitzenmanager einfacher, ihre Unternehmen zu führen. Unehrliche Firmen seien von Veröffentlichungen stärker negativ betroffen. "Und genau darum geht es." Er empfahl Unternehmen, so offen und ehrlich wie möglich zu sein und Mitarbeiter gut zu behandeln. "Wikileaks ist dazu da, mehr Freiheit und Ethik in den Kapitalismus zu bringen." (...)
das ist eigentlich eine handfestes sozialdemokratisches unterfangen, lässt sich aber auch von dem wl unterstützenden teil der sog. "anarcho"kapitalisten alá ron paul als bekenntnis gegen staat und für "freie märkte" interpretieren. wo sind eigentlich die explizit marxistischen stimmen, die allen drei oben genannten verständlich nachweisen, dass das nicht klappen kann? und wo ist eine radikale linke, die die depeschen als das nötige material nutzt, welches bei vielen noch vorhandene zweifel an der grundsätzlich perversen, kriminellen und a-sozialen grundhaltung des systems beseitigen kann?
assange wird, allem zum trotz, nun immer mehr zum tatsächlichen popstar, in der folge leibhaftig beim rappen zu sehen:
ein wie ich finde wirklich großartiges video, noch vor "cablegate" produziert, voller boshafter kleiner und großer anspielungen auf aktuelle und vergangene us-politik und vor allem auf die us-medien. dieses video und die darin untergebrachte popkulturelle symbolik - "the matrix" und "soma" sollten zb. bekannt sein - lassen mich zusammen mit dem im ersten teil skizzierten rund um "anonymous" vermuten, dass hier etwas zu sehen ist, was vielleicht später im rückblick einmal als erster authentischer ausdruck von gesellschaftlichem bewusstsein seitens mit popkultur und virtuellen welten aufgewachsenen generationen bezeichnet wird. die große frage: wie virtuell wird das alles bleiben? letztlich wird sich das schicksal von plattformen wie wikileaks und möglichen nachfolgern sowie auch die wirksamkeit der aktuellen und künftiger proteste, noch mehr die möglichen reaktionen auf die durch die dokumente sichtbar gewordenen zustände, allesamt im "real life" manifestieren müssen - das virtuelle ist dabei nur begleitung, illustration, vorbereitung. die von anonymous inszenierten demonstrationen am wochenende in europa und südamerika weisen da aus meiner perspektive schon den richtigen weg.
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geleaktes: wiederum bestätigtes bzw. neu in die erinnerung gerufenes (und für die beteiligten absolut unwillkommen) - einmal zur rolle und verhalten der us-administration beimklimagipfel in kopenhagen, zum anderen zum verhalten des vatikans bei der versuchten aufklärung der tausenden übergriffe gegen kinder und jugendliche in katholischen institutionen inirland.
ich hatte in einem der vorherigen beiträge schon irgendwo geschrieben, dass ich als eine mittel- und langfristige folge des leaks die eh schon vorhandene legitimationskrise von politik, wirtschaft/banken und kirchen nochmals verschärft sehe - wir werden die nächsten monate eine nicht mehr abreissende kette von meldungen wie den obigen erleben, wenn nicht noch seitens der usa eine nicht vorstellbare notbremse in form einer massiven intervention im netz gezogen wird. das aber würde vermutlich nur noch öl ins feuer gießen. jedenfalls wird die schon wahrnehmbare gesellschaftliche polarisierung in den westlichen staaten ebenfalls schärfer werden in dem sinne, dass die informationsstände zwischen denjenigen, die das netz nutzen (können) und der offline bleibenden gemeinde extrem auseinander klaffen werden. ebenfalls vermute ich, das bei der genannten ersteren gruppe ebenfalls das spektrum zwischen resignation/verdrängung im angesicht der fratze des systems und einer zunehmenden radikalisierung andererseits sich ebenfalls schärfer ausprägen wird. und das alles findet ja nicht im luftleeren raum statt, sondern in einer scharfen wirtschafts- und allgemeinen systemkrise. ich sehe "wikileaks" - in diesem fall als synonym für alles damit verbundene - keinesfalls getrennt von entwicklungen wie den massiven schüler- und studentenportesten in großbritannien und italien, den teils massiven streiks und protesten in südeuropa, der enormen und breiten verarmung in den usa... die inhalte vieler depeschen können dort und an vielen anderen konfliktpunkten, zur richtigen zeit und im passenden kontext bekannt gemacht, als krasser verstärker in richtung von bewusstseinszuständen wirken, die einerseits die eigene wut und den zorn endlich die eigenen (und überaus verständlichen) ängste überwinden lassen können, und andererseits den blick soweit klären, dass am ende vielen deutlich wird: dieses system unter quasi kontrolle von weltweit tätigen mafiös agierenden staatlichen institutionen und konzernen ist nicht mehr in irgendeiner form "reformfähig", sondern muss restlos abgewickelt werden. doch, das sehe ich als eine mögliche variante an - und letztlich als vollentwickeltes ziel einer aufklärung, für die wikileaks momentan an erster stelle und im kreuzfeuer steht.
so, ohne viele weitere worte soll´s gleich mitten rein gehen in einen zumindest mich gerade sehr faszinierenden themenkomplex rund um wikileaks und die folgen - neben neuen bekanntgewordenen leaks gibt es dazu unsortiert kommentare, gedanken, hinweise... zu einigen aspekten, die sowohl hier in den vorherigen beiträgen als auch anderswo eine rolle spielen.
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geleaktes: das die - bisher bekannten - dokumente nicht die ganz großen "knaller" enthalten, hat bei etlichen leuten zu enttäuschungen und abwinkender skepsis geführt. diese beklagenswerte anspruchshaltung, die womöglich auch das uneingestandene bedürfnis nach sensationen und "hype" symbolisiert, übersieht dabei neben der eigentlich allgemein bekannten tatsache, dass hier kein "top-secret"-material vorliegt (wobei ich "geheim" und "vertraulich" nicht unterschätzen würde), vor allem die möglichen konsequenzen der tatsache, dass die bisherigen depeschen nicht nur viele bisher hauptsächlich auf verdacht beruhende annahmen über prozesse und funktionsweisen innerhalb dieses systems ziemlich stark untermauern und eine weitere leugnung sehr erschwert bis unmöglich gemacht wird. damit zusammenhängend sind die jetzt möglichen tiefen innenblicke in die vorgehensweisen der einzigen übriggebliebenen "weltmacht" plus ihrer sog. verbündeten bestens dazu geeignet, den kapitalistischen normalbetrieb als das permanent kriminelle, wenn auch keineswegs zufällig meistens nicht justiziable, handeln zu illustrieren, was es nun mal unter den bedingungen von defektem individuellen und kollektiven sozialverhalten und zwang zur profitakkumulation ist. vor diesem hintergrund ist die folgende geschichte rund um denweltgrößten australischen bergbaukonzern "bhp billton"zu lesen - eine geschichte um imperialistisches konkurrenzgerangel und die innenpolitische macht von konzernen dieses kalibers.
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wl/assange: ich habe ja den verdacht, dass es bei der ablehnenden fraktion gegenüber wikileaks auch zu einem ganz großen teil um die person des julian assange geht. das ist teils nachvollziehbar, und zwar nicht nur wegen der vergewaltigungsvorwürfe, die später nochmal gesondert behandelt werden. der mann hat nach meinem eindruck nicht nur einen filmreifen lebenslauf, sondern auch einen ordentlichen schuß narzissmus mitbekommen. ich finde seine rolle bezgl. wikileaks zwiespältig: einerseits sorgt er wie ein popstar für allgemeine aufmerksamkeit und ist in sachen pr für wikileaks schlicht unbezahlbar (um mal auch in seiner wahrscheinlichen logik zu bleiben), andererseits führt diese allgemeine aufmerksamkeit zu einem verlust an spezieller aufmerksamkeit auf das eigentlich zentrale, nämlich die inhalte der geleakten dokumente. und er macht es vielen medien zu leicht, dieses letztere zu forcieren und zu unterstützen. letztlich ist wikileaks ja nur eine art vermittlungsstation, und ich frage mich, wie es aussehen würde, wenn sich wl auf diese nicht unbedingt spektakuläre rolle kommentarlos und weitgehend anonym beschränkt hätte.
wieder andererseits ist durch die enorme öffentlich polarisierung durch die person assange und die staatlichen und medialen reaktionen auf ihn möglicherweise erst einiges von den aktivitäten möglich geworden, die in den letzten tagen unter dem namen "cyberkrieg" für furore gesorgt haben. dazu ebenfalls gleich mehr mehr, aber u.a. auch aus diesem grund ist mein eindruck zwiegespalten.
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geleaktes: was da so weiter unten in einem kommentar als "allerplattestes pipifax-gossip" bezeichnet wurde, enthält dann u.a. folgende dokumente - unter der sog. reference-id09KABUL1651ist eine als "vertraulich" eingestufte depesche zu lesen, die sich kurz gesagt um etwas dreht, was in afghanistan als"baccha baazi"bezeichnet wird und insbesondere unter der herrschaft der mit den nato-truppen kooperierenden warlords zu alt-neuer blüte gefunden hat: eine sehr spezifische form der kinderprostitution, genauer gesagt der vergewaltigung von männlichen kindern und jugendlichen. das ist im letzten jahr deshalb in der us-botschaft zum thema geworden, weil diese praxis auch innerhalb eines zentrums zur ausbildung afghanischer polizisten "gepflegt" wurde, und zwar unter den augen, der offensichtlichen billigung und der mitwisserschaft von führungspersonal der us-amerikanischen söldnerfirma "dyncorp" aus texas. überflüssig zu erwähnen, dass die eng mit der us-army zusammenarbeitet, und demzufolge dreht sich die depesche v.a. um die sorge der diplomaten, wie man das alles am besten unter der decke hält, bevor die presse daraus ein großes thema macht.
warum und wozu genau ist "der westen" nochmal in afghanistan? war da nicht auch was mit "demokratie und menschenrechten" ? (übrigens fand das alles in der unmittelbaren nähe von kunduz im norden statt, also dem bereich, in dem auch die bundeswehr agiert.) aber klar, solche verbrechen sind nur "gossip". vor diesem hintergrund mit so einer wertung zu kommen, wirft ebenfalls die beliebte skeptikerfrage auf: cui bono?
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"anonymous":
- oder das "hacker-kollektiv", was keines ist. ich hatte mich vor ein paar monaten schon mal kurz mit dieser - hm, losen vereinigung beschäftigt, und zwar im zusammenhang mit "stuttgart 21". damals tauchten nach dem wasserwerferweinsatz in stuttgart videos auf, in denen anonymous in typischer machart - computerstimme, verweise auf den filmv wie vendetta- die sympathisanten zu protesten "gegen die regierung" in stuttgart und berlin aufrief. daraus ist dann nichts geworden, weil u.a. direkt in den kommentaren zu den videos eine auseinandersetzung unter diversen anonymoussen losging, in denen die eine seite von nötiger einmischung in freiheitsgefährdende regierungsmaßnahmen sprach und sich u.a. auf die bekannten aktionen gegen scientology berief, während die anderen das als eine art "verrat" von "neuen" gegenüber der "eigentlichen" idee von anonymous bezeichneten - was diese "eigentliche idee" ist, darüber gibt es durchaus verschiedene auffassungen, von denen eine mit vorsicht wiedergegeben sinngemäß so lautet: (virtuelle) sabotage um des spaßes wegen, mach böse dinge, um andere zu ärgern und dich zu amüsieren. das schrieb damals jemand bei indymedia, der sich offensichtlich genauer mit der historie von anonymous beschäftigt hatte.
inzwischen ist aber im zuge der wikileaks-geschichte eine erstaunliche entwicklung zu konstatieren, und zwar eine, die im weitesten sinne vielleicht als ungewollte und auch ungeplante art von politisierung vieler mit anonymous sympathisierender zu bezeichnen ist. war die "operation payback" - der vielzitierte erste "cyberwar" - mittels ddos-angriffen (die nichts mit hacken zu tun haben) gegen die bekannten verdächtigen firmen und konzerne noch als "typisches" aktionslevel von anonymous (miß-)zuverstehen (und auch ein beweis dafür, dass tausende zumindest virtuell die grenzen zwischen "legal" und "illegal" inzwischen realistisch betrachten), so besitzt die oben im video vorgestellte "operation leakspin" einen qualitativ anderen und hinsichtlich der unterstellten zumindest teilweisen "spaß"orientierung seitens anonymous´ sehr ungewöhnlichen charakter. ebenfalls sind etlicheveröffentlichungenvon anonymous in diesen tagen von einem ungewöhnlichen ernst geprägt. ich kann persönlich nur darüber spekulieren, was das genau ist und wie tragfähig das ist. operation leakspin jedenfalls finde ich von der idee her faszinierend: die depeschen durchforschen nach bisher im mainstream nicht behandelten themen, und dann selbst eine zusammenfassung - text, video, comic, flugblatt etc. - zu produzieren, um diese dann zunächst im gesamten virtuellen raum, in foren, videoplattformen und überall sonst, aber auch im real life, direkt oder auch als "trojanisches pferd" mittels irreführender keywords u.ä. zu präsentieren. infoguerilla im wahrsten sinne des wortes, was arbeitsaufwand, ernsthaftigkeit und kreativität erfordert. wer bei you tube unter "operation leakspin" sucht, kann bereits eine reihe von unter diesen prämissen produzierten videos betrachten.
es wird interessant sein zu sehen, wie es am ende mit der kontinuität der aktivistInnen - im anonymous-sinne könnten das übrigens auch ich und Sie sein - aussieht, wenn in ein paar wochen oder auch monaten wikileaks nicht mehr mindestens jeden zweiten tag die schlagzeilen beherrscht. wobei das mit der bisherigen veröffentlichungspraxis sowie dem für januar angekündigten leak aus einer us-großbank vielleicht absehbar noch kein ende finden wird...
es gibt für "operation leakspin" als hilfreiches tool eine speziell für die depeschen entwickelte suchmaschine namensLeakySearch, die auch dann gute dienste leisten kann, wenn sie nicht im kontext der aktion verwendet wird. im übrigen sei für an anonymous interessierte noch auf das weltweiteforumder aktivistInnen hingewiesen. nicht nur die direkt verlinkte sektion zu wikileaks ist dabei interessant, sondern beim gesamtbild fand ich es bei meinen ersten besuchen schon beeindruckend, dass anonymous tatsächlich auf eine wie auch immer geartete weltweite präsenz und vernetzung zurückgreifen kann. ich persönlich hätte diese jungs und mädels nicht gerne als gegner...
der oben erwähnte film "v wie vendetta" könnte übrigens aus meiner sicht eine nicht unwesentliche motivation für viele "anons" darstellen - mehr zu wikileaks und science fiction-szenarien später.
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journalismus / medien: alleine die existenz von plattformen wie wikileaks (zu der sich demnächst auch das wiki-aussteiger-projekt "openleaks" gesellen soll), sollte eigentlich für jeden journalisten, der sich nocht nicht selbst völlig machtkompatibel zugerichtet hat und zumindest einen hauch berufsehre verspürt, ohrfeige und ansporn zugleich darstellen. und eine der konsequenzen des aktuellen leaks sehe ich eben auch darin, dass die unrühmliche rolle der sog. "vierten gewalt" so wie vieles andere auch nochmals überdeutlich kenntlich wird. und ähnlich wie bei anonymous stellt sich auch hier die frage, ob das langfristige und strukturelle konsequenzen für das handeln vieler medien haben wird. ob sich wirklich etwas entwickelt, was die "monitor"-moderatorin sonia mikich in einem aktuellenblogeintragam ende so formuliert:
(...) "Fakt ist: Internet-Aktivisten setzen zunehmend politische Themen auf die Agenda, und diese Entwicklung ist nicht umkehrbar. Das ist ein Weckruf für die klassischen Medien, über ihr Selbstverständnis nachzudenken. Die Verbandelung zwischen Politik und Medien wird unter Beobachtung stehen, zu viel kuscheln und talken wird unangenehm auffallen, wenn gleichzeitig die harten Fragen im Internet stattfinden."
kurzfristig war jedenfalls in den letzten tagen einiges an entsprechenden reaktionen sichtbar, was die themenauswahl in etlichen medien anbelangt: so veröffentlichten "zeit" und "tagesspiegel" in kooperation nicht nur einen durchaus erhellenden artikel über die zusammenhänge zwischendeutscher bank, riester-rente und streubombenmunition, sondern legten auch noch kurze zeit später mit einem langen artikel zum einfluss vonlobbyistenauf die hiesige politik nach - natürlich mit schlußfolgerungen ("stärkung der parlamentarier"), die sich ebenso wie ihre ansonsten eher contra-berichterstattung hinsichtlich wikileaks im systemtragenden rahmen halten. wer sich aber die kommentare zu beiden artikeln durchliest, wird merken, dass es für derartige schlußfolgerungen keineswegs großen beifall gibt.
übern großen teich machte die "new york times" analog mit einem bericht zu einem geheimen treffen von führenden gestalten der großen us-banken auf, bei dem es umabsprachen hinsichtlich des derivate-marktesging - ich habe auf den entsprechenden hinweis der "huffington post" gelinkt, weil die dortigen tausenden kommentare für englischsprachige leserInnen ebenfalls durchaus interessant sein können und einiges über die stimmung in einem teil der us-bevölkerung deutlich machen.
jedenfalls enthalten die genannten beispiele genau solche themenbereiche, die ansonsten von wikileaks analog in die öffentlichkeit gebracht werden. das finde ich zumindest auffällig. den vogel bei den bisherigen medialen reaktionen schießt allerdings bisher die "westdeutsche allgemeine" ab, die sich offenbar hals über kopf in eineigenes upload-portalfür whistleblower gestürzt hat und dafür von etlichen leserInnen zurecht viel häme kassiert - zu offensichtlich erscheint der versuch, u.a. an wikileaks verlorengegangenes terrain sowie ebenfalls verlorengegangene glaubwürdigkeit mit so einer aktion zurückgewinnen zu wollen.
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so, und wie ich es mir schon gedacht habe, passt von der länge her höchstens die häfte von dem hier rein, was ich schreiben will. also kommt einzweiter teil.
ich war - wie der eine oder die andere bemerkt haben dürfte - die ganze woche offline, was gründe hatte, die jetzt nicht so wahnsinnig interessant sind. ab heute werde ich jedenfalls wieder öfter meinen senf dazugeben.
ebenfalls ab heute ist rechts in der sidebar direkt unter dem menü das logo von wikileaks zu sehen, und das nicht nur zur show: ein klick darauf führt direkt zu einer der inzwischen an die zweitausend zählenden mirror-sites im netz, und damit direkt zu den geleakten depeschen. das ist eine aktion seitens desbewegungsblogsder "taz", die ich gerne unterstütze.
mit dem thema wikileaks bzw. den inzwischen fast unübersehbar angeschwollenen reaktionen auf allen ebenen wird sich auch der nächste beitrag hier nochmals beschäftigen - dann als eine art erstes fazit. bis dahin wünsche ich einen schönen wochenendausklang.
"Liest man die diplomatischen Depeschen, die von Wikileaks veröffentlicht wurden, kommt man zum Schluss: Offenbar wird die Welt von Verrückten regiert."
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yep. das ist zwar grundsätzlich weder eine neue tatsache noch eine neue erkenntnis, aber ich stimme der ansicht zu, dass das gesamte sich entfaltende szenario der letzten tage - und zwar nicht nur der inhalt der depeschen, sondern v.a. die weltweiten und inzwischen unzähligen reaktionen aller art auf alle aspekte dieser geschichte - so wie selten zuvor dafür geeignet ist, die oben genannte schlußfolgerung zu unterstreichen, und zwar sehr dick. und ich finde es dabei durchaus einen qualitativen unterschied, ob ich bezgl. historisch-politischen ereignissen oder auch hinsichtlich der psychophysischen verfassung von sog. "eliten" einiges vermuten, ahnen oder mir zusammenreimen kann, oder ob letztlich aus einem teil des elitären apparates selbst material offen wird, das in der gesamtschau auf nichts anderes hinausläuft. was gezeigt wird, ist neben dem, was allgemein so als "moralisch und ethisch fragwürdig" benannt wird (eine kategorie, die ich aus verschiedenen gründen für wirkungslos halte), ein kaleidoskop grundsätzlich antisozialem und psychiatrisch relevantem verhaltens: größenwahn, paranoia, macht über andere als selbstzweck, gestörte kommunikationsformen, und v.a. die vielzahl an intrigen und simulationen - plots und gegenplots, gegeneinanderausgespiele, in-den-rücken-gefalle, vertrauensbrüche, auf allen ebenen der machthierarchien ein ständiger konkurrenzkampf. kurz: es ist in der realität alles tatsächlich genauso, wie man es schon immer befürchtet und geschlußfolgert hat - eine dysfunktionale "familie" im ganz großen stil. mit den worten des eingangs verlinkten artikels, wenn auch mit einer falschen diagnostischen unterscheidung am schluß (weil damit bekanntlich das gleiche gemeint ist):
(...) "Und hier geben die Wikileaks-Depeschen den Blick frei auf eine erstaunliche Freakshow, ja auf einen dermassen schockierenden Jahrmarkt von Eitelkeit, Inkompetenz, Korruption und Machtwahn, dass man sich verwundert die Augen reibt und fragt, ob nur Chef werden könne, wer Psycho- oder zumindest Soziopath sei." (...)
wenn diese frage in folge der veröffentlichung von immer mehr gestellt wird, hat sie alleine schon deshalb ihren sinn gehabt.
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als erstes wieder eine kurze übersicht zu den aus meiner perspektive brisantesten punkten, wie sie sich bis zur stunde darstellen. ich werde dabei nicht zu jeder einzelnen quelle verlinken; z.t. auch deswegen, weil ich es für empfehlenswert halte, dass sich möglichst viele selbst ein bild machen, welches durch eigene recherche zu vielen überrraschenden funden führen kann - gerade, was die bisherigen internationalen reaktionen betrifft. das folgende ist eine zusammenstellung von der cablegates-site selbst (die immer wieder mal in phasen schwer erreichbar ist), sowie hauptsächlich internationalen medien - da muss v.a. der guardian hervorgehoben werden, vereinzelt sind heute auch schweizerische und österreichische medien dabei.
us-diplomaten in aller welt führen offensichtlich routinemäßig geheimdienstliche aufgaben mit ausdrücklichem auftrag des state departments aus
in diesem zusammenhang wird nicht nur die uno bespitzelt, sondern inzwischen ist zb. aus paraguay bekannt geworden, dass der entsprechende auftrag dort lautete, bei den letzten wahlen von allen spitzenkandidaten einen kompletten persönlichkeitsscan durchzuführen, incl. einer dna-probe
der präsident des yemen belügt die dortige bevölkerung & und das parlament, indem er einsätze der us-army als solche der eigenen armee ausgibt
es gibt eine interessante und undurchsichtige enge verbindung zwischen putin und berlusconi, incl. einer art netzwerk von leuten weitgehend unbekannter coleur um die beiden
in den niederlanden und belgien sind taktische us-atomwaffen stationiert, was in beiden ländern in den letzten jahrzehnten von den regierungen egal welcher coleur niemals zugegeben wurde
in der türkei bekommt "staatschef" erdogan, der u.a. mit einem wahlprogramm der korruptionsbekämpfung antrat, gerade erste innenpolitische schwierigkeiten, weil durch die depeschen die existenz von vermutlich gleich acht konten bei schweizer banken bekannt geworden ist
es ist ein - nach brd-recht völlig illegaler - waffenexport aus d-land durch eine us-firma aus dem "blackwater"-geflecht nach afghanistan bekannt geworden. wo ich gerade bei diesem söldner-unternehmen bin: ebenfalls gibt es hinweise darauf, dass "blackwater" versucht, in ostafrika bei der bekämpfung sog. piraten mitzumischen. wer die praktiken dieser firma kennt, kann sich ausmalen, worauf das hinausläuft
zu den "hot spots" nahost, pakistan, china/nordkorea ist ansonsten genügend an anderen stellen nachzulesen. es wird auch schon deutlich, dass nicht nur die berühmten "diplomatischen verstimmungen" angesagt sind, sondern der leak auch das potenzial für innenpolitische krisen und turbulenzen triggert. die türkei ist diesbezgl. schon genannt; in paraguay wurde zwischenzeitlich die us-amerikanische botschafterin zur regierung zitiert, um erklärungen für das "höchst befremdliche" vorgehen der us-diplomatie zu liefern. auch alpha-rüde putin zeigte sich inzwischen in einem cnn-interview "not amused"; das wird sich wahrscheinlich noch steigern, sobald mehr über einen angekündigten thematischen schwerpunkt im leak - die strukturen der russischen mafia im staat - bekannt wird. die pakistanische regierung ist verschnupft, den öligen feudalherren am golf hat´s erstmal die sprache verschlagen. in großbritannien steht der chef der "bank of england" nach offen gewordenen despektierlichen äußerungen über den neuen tory-regierungschef ziemlich dumm da usw. usf. kurz: die konsequenzen des leaks entfalten sich tatsächlich so vielfältig und unvorhersehbar, wie das bereits am sonntag abschätzbar gewesen ist. und die wertung "diplomatischer super-GAU" für die usa dürfte spätestens in ein paar wochen keine übertreibung mehr sein. auch und gerade vor diesem hintergrund sollten aktuelle verschwörungstheorien, nachdem der leak eine "geplante" aktion darstelle, nochmal dringend auf ihren realitätsgehalt überprüft werden - das müsste dann schon ein gewaltiges ziel einer verschwörung sein, um einen derartigen scherbenhaufen als nebenwirkung einzukalkulieren.
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auch vor dem hintergrund der letzten sätze oben möchte ich im folgenden auf einen speziellen aspekt eingehen, der meines wissens kaum bis gar nicht thematisiert wird. klar ist, dass wir hier sozusagen die "interne hauspost" bzw. teile davon einer regierung vor uns haben, aber eben nicht irgendeiner regierung, sondern die desjenigen staates, der sich selbst durchaus immer noch - trotz des erbärmlichen sozioökonomischen und psychosozialen zustandes von land und staat - als eine art imperium begreift, god´s own country, auserwählt, der ganzen welt ein leuchtendes vorbild in sachen lebengestaltung zu geben. und ja, es gibt in den usa tatsächlich immer noch genügend einflußreiche leute, die das wirklich glauben.
beim querlesen durch die depeschen - da kann man hierzulande ruhig mit denjenigen aus der berliner botschaft anfangen - fand ich von anfang an auffällig, dass so ziemlich jeder von den us-diplomaten als relevant verzeichnete neuzugang auf der öffentlich-politischen bühne hierzulande in einer art und weise beschrieben wird, die sofort an ein nachrichtendienstliches dossier erinnert - aus öffentlichen und nichtöffentlichen quellen werden schlicht komprimierte personendossiers erstellt, und genau daraus stammt zu einem großen teil das als "klatsch" bezeichnete, welches in den letzten tagen im hiesigen medialen focus dominierte.
was aber wie gesagt meines wissen bisher so ziemlich nirgendwo erwähnt wurde, oder besser gesagt: als schlußfolgerung gezogen wurde, ist die sehr wahrscheinliche tatsache, dass wir es hier tatsächlich durchgängig mit grundsätzlich geheimdienstlichen dossiers zu tun haben. es ist hierzulande kaum bekannt, dass in den usa inzwischen ein wahrer dschungel von solchen "diensten" existiert - nach dieserdarstellung, die zwar schon von 2007 ist, aber an deren inhalt sich meines wissens bis auf einige formale änderungen nichts grundsätzlich geändert hat, kommt man dort beim nachzählen auf sage und schreibe sechzehn verschiedene dienste, mit teils extrem spezialisierten aufgabenbereichen. in zusammenhang mit der aktuellen situation ist dabei v.a. der folgende dienst relevant:
(...) "INR (Bureau of Intelligence and Research, Außenministerium). Arbeitet Geheimdienstinformationen für die Verwendung durch das US-Außenministerium auf. (...) Fast zwei Millionen Berichte und etwa 3.500 schriftliche Analysen pro Jahr." (...)
anscheinend war der oder eher das "inr" zunächst irgendwann mal eine hauptsächlich interne sammelstelle für die berichte anderer dienste - so klingt es zumindest aus den obigen zeilen heraus. es ist aber aus meiner sicht keine allzu abwegige spekulation zu vermuten, dass sich dieser "dienst" so entwickelt hat, wie es solche organisationen nun mal zu tun pflegen: als bürokratisch und hierarchisch strukturierte organisationen befolgen sie zunächst mal das gesetz der selbsterhaltung; bei nachrichtendiensten kommt durch die obligatorische geheimniskrämerei und die vernebelung des eigenen tuns noch hinzu, dass sie eher als andere staatliche behörden im zweifelsfall darin erfolgreicher sind, sich als unverzichtbar hinzustellen. und gerade dieser punkt ist bei der enormen konkurrenz auf dem markt der staatlichen geheimdienste der usa elementar, um das erwähnte gesetz zu befolgen. und ich vermute, dass aus der ursprünglich eher passiv anmutenden tätigkeit im zusammenspiel aus politischen vorgaben und den mechanismen der organisation selbst irgendwann etwas durchaus aktives geworden ist - manifestiert z.b. in den ersten beiden punkten der liste weiter oben. in letzter konsequenz bedeutet das: der gesamte diplomatische apparat der usa ist nicht von einer geheimdienstlichen struktur zu unterscheiden. und das betrachte ich durchaus als einen qualitativen unterschied zum bekannten szenario, dass botschaften eines beliebigen landes egal wo auch meistens ein oder zwei büros irgendwo im haus haben, in denen vertreter des jeweiligen auslandsnachrichtendienstes sitzen. das sollte allgemein bekannt sein, dabei ist es aber durchaus i.d.r. auch so, dass das jeweilige diplomatische corps eben nicht durchgängig quasi aus agenten besteht, sondern möglicherweise sogar spannungsverhältnisse zwischen den "klassischen" diplomaten und den agenten als norm existieren.
im falle der usa verhält sich das ganz offensichtlich anders - der hiesige botschafter in berlin hat nicht nur die erwähnten dossiers angefertigt, was bereits eine deutlich nachrichtendienstliche tätigkeit darstellt, sondern unterhält allem anschein nach auch ein eigenes netz von zuträgern und informanten, umgangssprachlich also spitzel, für die der ominöse "aufstrebende junge fdp-aktivist" repräsentativ stehen kann. hillary clinton steht als chefin also einem apparat vor, bei dem die unterscheidung zwischen diplomatischem corps und agentennetz faktisch aufgehoben ist. und ihre reaktionen auf die bisher bekannten tatsachen aus den depeschen machen deutlich, dass ihr das nicht nur bewusst ist, sondern das sie das auch richtig so findet.
mir fällt historisch betrachtet eigentlich nur eine klasse von staaten ein, bei denen die oben erwähnte unterscheidung in den auslandsbotschaften strukturell ähnlich aufgehoben ist: diktaturen aller coleur und repressiv-autoritäre polizeistaaten. ich würde die usa nun nicht eins zu eins mit den genannten gleichsetzen wollen, aber u.a. die unter bush galoppierende terrorparanoia hat einfach sehr wahrscheinlich mit dafür gesorgt, dass im gesamten repressionsapparat entsprechende tendenzen offen zutage getreten sind. auch die nachgewiesene folterpraxis besonders der cia spricht dafür, zumindest weite teile der sog. sicherheitsorgane als latent bis manifest polizeistaatlich agierend zu betrachten. und von daher wären die im leak offen gewordenen entsprechenden depeschen einfach ein ausdruck dieser tatsache. die inhalte kann man zwar als unwesentlichen klatsch bezeichnen - den ich im übrigen keinesfalls uninteressant finde - , jedoch ist der skizzierte vermutliche hintergrund ganz und gar nicht unwesentlich.
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ich mache mir dabei durchaus keine illusionen über die vorgehensweisen anderer staaten; aber die usa müssen sich nun mal erstens an ihren ständig in die welt herausgetröteten vermeintlichen grundsätzen von "freedomanddemocracy" messen lassen, und zweitens sind sie der einzige staat auf dem planeten, der eine selbsterklärte globale "führungsmacht" sein will und das über mehrerer jahrzehnte auch war. wie sich diese macht jetzt verhält und wie sie sich öffentlich und intern gegenüber freund und feind verhält, spricht schlicht bände. und diese folgerung hat nichts mit irgendeinem antiamerikanismus zu tun. soweit erstmal für heute.
was einzig und allein daran liegt, dass bis zu diesem moment noch nicht einmal 250 der an die 250.000 dokumentenachlesbarsind. in denfaqauf der "cablegate"-site schreibt wikileaks dazu:
"Why not release everything now?
The embassy cables will be released in stages over the next few months. The subject matter of these cables is of such importance, and the geographical spread so broad, that to do otherwise would not do this material justice.
We owe it to the people who entrusted us with the documents to ensure that there is time for them to be written about, commented on and discussed widely in public, something that is impossible if hundreds of thousands of documents are released at once. We will therefore be releasing the documents gradually over the coming weeks and months."
das lässt sich zwar einerseits nachvollziehen, andererseits halte ich eine gewisse gefahr dafür vorhanden, dass bis zur kompletten veröffentlichung die dahinter stehenden strukturen - personell, materiell, technisch - vorher zerschlagen werden können. wikileaks muss sich da sehr sicher sein - aber vielleicht hat das auch etwas mit der vor monaten ins netz gestellten und stark verschlüsselteninsurance-dateizu tun, für die der schlüssel laut wikileaks in dem moment veröffentlicht wird, wenn assange und/oder andere "köpfe" der gruppe tödlich bedroht werden. ob sich darauf die zuversicht von wikileaks bezieht?
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jedenfalls ist die öffentliche rezeption wie erwartet bisher heftig ausgefallen, was man in mehrerer hinsicht sagen kann - hierzulande hat es "spon" geschafft, die daten von beginn an gleich mal ordentlich zu "boulevardisieren" und den focus auf die personalisierten aussagen zu diversen angehörigen der politischen "elite" zu legen. das finde ich zwar persönlich keineswegs uninteressant, aber bspw. hat der britische "guardian" da von beginn an ein ganz anderes konzept gefahren und sich gleich mit den bisher bekannten wirklichen knallern aus den dokumenten beschäftigt, von denen ich einige gestern imletzten updateschon erwähnt hatte. vor dem hintergrund der tatsache, dass wirklich erst ein bruchteil eines bruchteils öffentlich geworden ist, lässt sich trotz oder vielleicht eher gerade wegen der teils betont "lockeren" reaktionen einiger bisher thematisierter leute - westerwelle, berlusconi, oder auch der russischen regierung - sagen, dass die veröffentlichung weitreichende konsequenzen auf allen möglichen ebenen haben wird - nicht nur in der hinsicht, dass sich die "eliten" untereinander noch mehr misstrauen werden als eh schon (die reaktion ausbelgiendürfte hier nur ein vorläufer sein), sondern ebenfalls betrachte ich die informationen als geeignet, um die allgemeine legitimationskrise gerade der sog. politischen klasse nochmals zu verschärfen. und letzteres kann ich aus meiner sicht nur begrüßen. in diesem sinne werden die nächsten wochen und monate noch interessanter, aber vermutlich auch gefährlicher werden, als vor dem hintergrund der laufenden ereignisse sowieso zu erwarten wäre.
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edit: der freitag als kooperationspartner vom britischen "guardian" hat einige der dortigen artikel auch in übersetzter form bei sich vorlliegen; zum vergleich mit der deutschen medienwelt und ihren prioritäten und v.a. auslassungen sei als beispiel besonders auf den ganzen komplex dergeheimdienstlichen aktivitäten des us-außenministeriumshingewiesen - und die beschränken sich nicht nur auf personal der uno.
"The coming months will see a new world, where global history is redefined."
(die eigene einschätzung zum kommenden seitenswikileaks)
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das sind große töne, die wikileaks da herumtrötet - und zugegeben, inzwischen verspüre auch ich nach ansicht der ausgesprochen hyperaktiv anmutendenaktivitätenseitens der us-administration faktisch rund um den globus eine gewisse spannung bezgl. des heutigen abend. etwa so um 22.00 - 23.00 h wird in der deutschsprachigen medienwelt ausgerechnet spon das privileg besitzen, als erste eine redaktionell bearbeitete auswahl aus dem geleakten material zu veröffentlichen. spätestens dann sollte der erste teil - der nach einem irrtümlich zu früh veröffentlichten "spon"-artikel knapp 260.000 dokumente umfasst - komplett auch bei wikileaks selbst abzurufen sein.
dabei ist inzwischen recht klar, dass es sich bei den nach verschiedenen quellen geschätzt insgesamt bis zu 2,5 millionen dokumenten aus dem diplomatischen verkehr zwischen us-außenministerium und diversen botschaften - berichte, protokolle, memos, notizen, anweisungen, befehle etc. - noch nicht mal um "top-secret"-materialien geht, sondern der größte teil unklassifiziert ist, der zweite große teil als "vertraulich" gilt und nur ein bruchteil unter "secret" läuft - wobei letzteres dann auch schon einige tausend seiten umfasst.
besonders unerfreulich - ob für die usa, den jeweiligen betroffenen staat oder auch beide, lässt sich erst nach der veröffentlichung entscheiden - soll der leak nach internationalen (spekulativen) berichten des gestrigen tages für die folgenden staaten ausfallen: südafrika, türkei, russland, kanada, italien und interessanterweise auch finnland. wenn sich davon auch nur ein bruchteil bewahrheitet, werden wir vielleicht die nächsten wochen und monate ein hübsches weltpolitisches spektakel mit schwer kalkulierbaren konsequenzen erleben.
ich werde mich hier wieder äußern, sobald klar ist, was wikileaks da wirklich auf den tisch gelegt hat. und verweise bis dahin noch auf zwei (englischsprachige) seiten, die einen aktuellen und zeitnahen überblick in dieser sache bieten könnten: einmal wäre daswl central, "An unofficial WikiLeaks information resource", die regelmässig updates zu den internationalen (medialen und auch sonstigen) reaktionen auf die leaks produzieren, und zum anderen ein ziemlich interessantes projekt von französischen journalisten, die unterstatelogsankündigen, alle speziell frankreich betreffenden dokumente zeitnah öffentlich auszuwerten und aufzubereiten. und nebenbei ebenfalls alle möglichen internationalen reaktionen sammeln. ein ähnliches länderbezogenes projekt läuft wohl auch in belgien; könnte sein, dass ab heute abend weitere länder folgen werden.
und bis es soweit ist, können sich alle die wartezeit noch mit etwaspräventivem jammerdes aktuellen us-botschafters in der brd verkürzen:
"Es wird zumindest unangenehm sein – für meine Regierung, für diejenigen, die in unseren Berichten erwähnt werden, und für mich persönlich als amerikanischer Botschafter in Deutschland."
na, das will ich aber auch hoffen.
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edit 1. am 28.11.: die spannung steigt, und mittlerweile hat sich "spon" mit einem eigenen kleinen leak inszeniert - in der schweiz ist die morgige printausgabe vereinzelt wohl schon erhältlich, und zwar mit diesemtitelbild. auf den ersten blick erinnert mich das ja von den genannten attributen her an die durchschnittliche belegschaft einer beliebigen geschlossenen psychiatrischen station: "aggressiv" (westerwelle), "unberechenbar" (seehofer), "alpha-rüde" (putin), "paranoid" (karzai, oberclown in afghanistan), "epileptische anfälle" (der nordkoreanische kim) etc. also alles nichts neues, weil die psychophysische verfassung der globalen "eliten" sich sowieso langsam, aber sicher herumspricht.
bezeichnend und interessanter finde ich da schon die informationen, wie die us-botschaft zu ihren infos und den darauf fußenden einschätzungen kommt. dazu wird in den kommentaren bei der "zeit" aus dem "spon"-titelzitiert:
(...) "Die Quelle für Interna aus der Bundesregierung soll ein „junger, aufstrebender Parteigänger“ der FDP sein. Empfohlen ausgerechnet von US-Botschafter Philip Murphy.
Offenbar ist der Botschafter erste Anlaufstelle für den Informanten. Schon zehn Tage nach der Bundestagswahl soll der FDP-Mann bei ihm vorgesprochen haben, unterm Arm jede Menge interne Papiere und handschriftliche Notizen. Zitate verschiedener Politiker aus Sitzungen sollen dabei gewesen sein. Darunter die Einschätzung der FDP über Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: Der CDU-Politiker sei ein „zorniger alter Mann“, der überall „Bedrohungen“ sehe." (...)
na, mal abgesehen davon davon, dass jetzt klarer wird, warum murphy gestern abend so herumgejammert hat, finde ich es eine bestätigung für die annahme, dass auf diesen ebenen der machthierarchie anscheinend alles tatsächlich so abläuft, dass es selbst der billigste groschenroman nicht übertrieben zeichnen kann - intrigen und gegenintrigen, nach außen die höflichen als-ob-fassaden, nach innen dann der versuch (!) von habwegs realen wahrnehmungen. und den anonymen fdp-informanten finde ich allerliebst ;-) - da dürfte dann heute eine karriere beendet sein.
nicht überraschend, dass die oder der server von wikileaks seit stunden unter einer massivenddos-attackeimmer wieder ausfallen - wikileaks und der britische "guardian" haben inzwischen angekündigt, dass für den fall des ausfalls von wikileaks heute abend die kooperierenden medien - el pais in spanien, le monde in frankreich, der guardian, die new york times sowie spon dann direkt selbst mehr als ursprünglich geplant von den dokumenten veröffentlichen. man sollte sich aber darüber klar sein, dass das dann so oder so eine kontrollierte auswahl darstellen wird.
laut berichten aus großbritannien sollen wohl die gesamte nächste woche lang jeden tag weitere teile aus dem leak online gestellt werden, jeweils mit einem thematischen schwerpunkt - dazu gehören u.a. afghanistan/pakistan, kanada und china. sobald dieser "fahrplan" verifiziert, trage ich ihn nach.
julian assange selbst, der durchaus nicht unumstrittene hauptsächliche sprecher von wikileaks, hat heute in einerpressekonferenzim jordanischen amman, zu der er per video zugeschaltet wurde, bezgl. der relevanz des leaks nochmals nachgelegt:
"The material that we are about to release covers essentially every major issue in every country in the world"
pr in eigener sache oder doch die ankündigung einer echten informationsbombe? wir werden es in ein paar stunden erleben.
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edit 2: offensichtlich früher als geplant sind die beteiligten medien jetzt seit ein paar stunden mit den ersten materialien draußen; links spare ich mir, weil alle, die auch nur einen hauch politisch interessiert sind, im netz inzwischen sowieso an allen ecken drüber stolpern. es ist bisher nur ein sehr fragmentarischer überblick möglich, und dazu muss auch berücksichtigt werden, dass das heute nur der beginn ist - aber einige brisante sachen liegen schon auf dem tisch (entnommen aus der internationalen berichterstattung):
die - ja, anders lässt sich das nicht nennen - spionage seitens der usa gegen die uno in new york. das wird nicht nur mit der uno selbst, sondern vermutlich auch mit vielen mitgliedsstaaten ernsten stress geben. zu vermuten war das ja eh schon, aber einen sozusagen formale bestätigung ist nochmal was anderes.
die beziehungen zwischen den öl-staaten am golf, allen voran saudi-arabien, und dem iran werden sich absehbar verschlechtern, nachdem der leak davon kündet, dass die ersteren zusammen mit israel die usa massiv zu einem militärschlag aufgefordert haben.
die marionettenfigur karzai in afghanistan dürfte nach den bekannt gewordenen einschätzungen über ihn - "paranoid", "neigt dazu, überall verschwörungen gegen sich zu sehen" - wohl kaum noch länger als auch nur halbwegs "verlässlicher partner des westens" gelten können.
es dürfte hierzulande zu einigen interessanten gesprächen innerhalb der regierung kommen - siehe dazu speziell die "spon"-berichte.
jedenfalls wird in meinen augen schon klarer, dass die hektischen aktivitäten der us-außenpolitik der letzten tage keineswegs nur show waren - der bis jetzt sichtbar gewordene klartext kann tatsächlich zu dem führen, was allgemein als "diplomatische verstimmungen" bekannt ist. und wie gesagt: sollte nichts dazwischen kommen, ist das alles nur der anfang.
ein kleines nächtliches quiz gefällig? in welchem jahr wurden wohl die folgenden sätze formuliert?
"(...) Diffus, aber immer häufiger wird der Verdacht laut, daß viele der bei den Arbeitsämtern Registrierten eigentlich gar keinen Job suchen, sondern sich im enggeknüpften Netz der in (...) Jahren Nachkriegsgeschichte erlassenen Sozialgesetze entspannen wollen. Von Parasiten ist da die Rede, von Arbeitsscheuen und Schmarotzern, die auf Kosten der Gemeinschaft sich ein geruhsames Leben einrichten.
Und rasch sind dann die Konsequenzen gezogen: Das Arbeitslosengeld sollte gekürzt, die Auszahlung an notorisch Faule gestrichen werden." (...)
oder auch diese?
(...) "Bis dahin Parkanlagen, in denen Gärtner graben, Spaziergänger, Trimm-dich-Läufer, lärmende Schulklassen. Auch mal eine Schafherde. Dann Linkskurve, und plötzlich starrt der Autofahrer in die Läufe von Maschinenpistolen. die ihm drohend folgen; aus einem Schützenpanzerwagen wird er argwöhnisch gemustert.
Grüne Uniformen, Kaki-Hemden, Walkie-Talkies, Schäferhunde: Der Besucher fährt durch ein Heerlager. Es fehlen nur noch Schlagbaum und Ausweiskontrolle." (...)
nummer eins:1977. nummer zwei:dito. so sieht dann also wahrscheinlich der vielgerühmte "gesellschaftliche fortschritt" aus...
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ich kann mich durchaus an jenes jahr erinnern, und auch - obwohl nur aus einer art außenposition, da gerade an der schwelle vom kind zum jugendlichen - an die tatsächliche hysterie in weiten teilen der öffentlichkeit der alten brd. ich möchte eigentlich wirklich nicht wissen, was hier heute passiert, wenn es denn - von wem auch immer - tatsächlich zu einem anschlag kommen sollte.
die hetze gegen erwerbslose allerdings ist dagegen in gewisser hinsicht zeitlos, weil sie in unterschiedlichen ausmaßen und intensitäten seit spätestens ende der 1960er jahre in der brd immer vorhanden gewesen ist. und auch, wenn meistens für ihre jeweilige zuspitzung mediale kampagnen nötig gewesen sind - die disposition dazu dürfte sozusagen etwas "urdeutsches" darstellen. (lohn-)arbeit als existenzlegitimation - es ist und bleibt ein trauerspiel.
unabhängig davon: ich finde dasarchivdes "spiegel", beginnend 1947, tatsächlich eine interessante quelle besonders für alle, die sich für die geschichte der alten brd interessieren. und ebenfalls lassen sich naturgemäß die wendungen der redaktionellen linien bestens rekonstruieren. ist was für lange dunkle tage zum stöbern.
tut mir ja leid wegen der etwas sperrigen überschrift, aber ich habe lange nach etwas kürzerem gesucht, was den sachverhalt wenigstens ungefähr grob umreißen hätte können. ich habe aber nichts gefunden, und so könnte das auch symbolhaft für eine eigenschaft bestimmter bereiche der heutigen gesellschaftlichen welt stehen, in der ich u.a. einen teil der antwort auf die frage sehe, warum sich besonders hierzulande im angesicht wahrlich desaströser und wirklich bedrohlicher entwicklungen so relativ wenig an protest, geschweige denn widerstand regt. das dürfte nämlich gerade hinsichtlich der ökonomischen verhältnisse auch daran liegen, dass es ein gestrüpp von schier undurchdringlichen wucherungen aus "nationalen" und eu-vorschriften, gesetzen, anweisungen, statistiken, interpretationen, lügen, fakes, zahlen, interessen etc. gibt, die im allgemeinen erhöhte verständnisanstrengungen erfordern und meist auch einen bereits vorhandenen wissenshintergrund voraussetzen, um überhaupt eine ahnung zu bekommen, um was es sich im einzelfall handelt. das spielt im falle der sog. finanzwelt ebenso eine rolle wie erst recht auf anderen ökonomischen feldern, und im vorliegenden fall beispielhaft in einem bereich wie den schnittstellen zwischen sog. gesundheitspolitik und ökonomie.
im (nichtexistierenden) idealfall wäre das eine allgemeine aufgabe tatsächlich unabhängiger medien (die es nicht gibt), in solchen fällen zu recherchieren und das benannte gestrüpp soweit zu lichten, dass auch außenstehende die möglichkeit bekommen, die materie einschätzen zu können. wie es aber diesbezgl. real aussieht, sollte allgemein bekannt sein. und ausnahmen bestätigen die regel, in diesem speziellen fall ist wirklich der "taz" zu danken, dass sie ein thema aufgegriffen hat, welches bisher für die meisten anderen medien und erst recht die jeweiligen konsumentInnen offensichtlich zu kompliziert oder auch schlicht langweilig erscheinen mag - und gerade das ist der ideale moment, still und heimlich im gesundheitsbereich verhältnisse zu installieren, deren weiterdenken mich letzte nacht übel lange wach gehalten hat. ohne die artikel der "taz" wäre das folgende allerdings wirklich komplett an mir vorbeigerauscht.
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sind Ihnen in den letzten wochen mal irgendwo kryptische zeichenketten wie "I3G" oder "Care4S" über den weg gelaufen? vermutlich eher nicht, und wenn doch, dürfte sich kaum jemand länger damit aufgehalten haben. was durchaus bedauerlich ist, verbirgt sich doch u.a. hinter jenen zeichen ein sog. modellprojekt der aok in niedersachsen, welches im herbst 2011 landesweit flächendeckend installiert werden soll. und welches sich bei näherer betrachtung - ich bin geneigt zu sagen, wie üblich - mehr und mehr in ein kapitalistischesschurkenstück verwandelt. aber der reihe nach.
"Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt". Das ist der Internetauftritt des Instituts für Innovation und Integration im Gesundheitswesen, kurz I3G, einer Management-Gesellschaft mit begrenzter Haftung, die sich Großes vorgenommen hat:
Für alle Schizophrenie-Erkrankten, die bei der AOK Niedersachsen versichert sind, 13.000 Menschen immerhin, will die I3G die sogenannte Integrierte Versorgung verantworten. Die Krankenkasse überträgt damit das finanzielle Risiko für die Gesundheitsversorgung von 13.000 Patienten einem Privatunternehmen.
Geplant ist eine medizinische Versorgung in einem Verbund miteinander kooperierender Ärzte, Kliniken oder auch Reha-Einrichtungen. So sollen Kosten gespart werden, indem die ambulante Behandlung gestärkt, doppelte Untersuchungen und Besuche bei nicht zuständigen Ärzten vermieden werden. Die I3G organisiert hierbei nicht nur die Versorgungsforschung und sichert die Qualität, sondern übernimmt auch die Budgetverantwortung.
Für die Krankenkasse ein guter Deal. "Die Management-Gesellschaft hat die Verantwortung, dass unterm Strich die Versorgung nicht teurer wird", sagt der Sprecher der AOK Niedersachsen, Klaus Altmann. Denn die I3G sichert zu, dass sie in jedem Fall die finanzielle Verantwortung für die Versorgung sämtlicher 13.000 Patienten trägt" (...)
na, klingt erstmal nach dem trend der zeit - kosten sparen, und im gesundheitsbereich mit seinen teils undurchschaubaren interessengeflechten diverser lobbys im wettbewerb ist das inzwischen ja zu einer heiligen kuh geworden. und die beteiligung an diesem "modell" soll für die als erste zielgruppe auserwählten schizos "freiwillig" sein, d.h. sie sollen sich zwischen der bisherigen regelversorgung und der "i3g" entscheiden können. hier hat´s bei mir das erstemal ein dickes fragezeichen gegeben - gerade die diagnose schizophrenie steht i.a.r. innerhalb der heutigen psychiatrie für akute und chronische, als psychotisch definierte zustände, bei denen die betroffenen auch eine der hauptsächlich involvierten gruppen in der sog.gesetzliche betreuungdarstellen - früher hieß das schlicht entmündigung und läuft, trotz allerhand gesetzlicher modifikationen in den letzten jahrzehnten, immer noch darauf hinaus, elementare entscheidungen in allen möglichen lebensbereichen abgeben zu müssen. unter dieser prämisse hätte ich gerne mehr thematisiert gehabt, was genau hier unter "freiwilligkeit" gerade bei solchen menschen verstanden wird, deren zustand sie in konstruktivistisch-psychotische parallelwelten verharren lässt, die bevorzugt zum ziel psychiatrischer, und das bedeutet meistens auch, psychopharmakologischer, interventionen werden. nichts gegen die vermutlich in den meisten fällen wirklich besorgten betreuer, aber gerade in diesem fall habe ich bezgl. der "freiwilligkeit" so meine zweifel.
und die beziehen sich auf dieses szenario:
(...) "Die AOK Niedersachsen legt damit für die kommenden sieben Jahre die finanzielle Verantwortung für die Gesundheitsversorgung von 13.000 Versicherten in die Hände eines Unternehmens, das erst im Juni 2010 ins Handelsregister eingetragen wurde. Eine Firma, die keinerlei Erfahrung mit integrierter Versorgung von psychisch Kranken hatte.
Was die Sache fragwürdig macht: Die I3G ist eine 100-prozentige Tochter des forschenden Arzneimittelherstellers Janssen-Cilag GmbH mit Sitz im rheinischen Neuss. Janssen-Cilag wiederum ist die deutsche Tochter von Johnson + Johnson, einem der weltweit größten Gesundheitskonzerne mit Sitz in den USA.
Zum Sortiment von Janssen-Cilag gehören Medikamente zur Behandlung von Schizophrenien. Einer der Forschungsschwerpunkte ist nach Unternehmensangaben der Bereich Psychiatrie und Neurologie. Die Janssen-Cilag GmbH und die I3G GmbH firmieren unter derselben Adresse.
Wer beim Mutterkonzern in Neuss anruft, erfährt, dass es sich bei der I3G "um eine Abteilung von uns" handele. Der Geschäftsführer der I3G, Klaus Suwelack, widerspricht: "Ich lege Wert darauf: I3G ist eine unabhängige Management-Gsellschaft und kein Pharmaunternehmen."
Unabhängig? Bis August 2010 war Suwelack bei Janssen-Cilag beschäftigt, unter anderem verantwortlich für Kooperationen im Gesundheitswesen. Noch heute kann man seine Arbeitszeiten und telefonische Erreichbarkeit bei Janssen-Cilag abfragen.
Zugespitzt formuliert: Ein auf Schizophrenien spezialisierter Pharmahersteller gründet also ein Tochterunternehmen, das dann als Vertragspartner einer Krankenkasse für die Versorgung von Schizophrenie-Erkrankten verantwortlich zeichnet. Und das eine soll mit dem anderen nichts zu tun haben? Suwelack beteuert: "Wir nehmen keinen Einfluss auf die Medikationsauswahl der Ärzte." (...)
und da ist die katze aus dem sack - "Ein auf Schizophrenien spezialisierter Pharmahersteller gründet also ein Tochterunternehmen, das dann als Vertragspartner einer Krankenkasse für die Versorgung von Schizophrenie-Erkrankten verantwortlich zeichnet."
"Natürlich sind die an der Integrierten Versorgung beteiligten Ärzte frei in ihrer Therapie- und Medikamentenwahl. Nur: Das Unternehmen Care4S GmbH (Care for Schizophrenia), das mit dem Aufbau und der Unterstützung eines flächendeckenden Netzwerks von Fachärzten und -pflegern betraut ist und damit den medizinischen Teil verantwortet, ist nicht etwa Auftragnehmerin der AOK Niedersachsen. Vielmehr ist sie Auftragnehmerin der I3G - und damit direkt abhängig von deren Entscheidungen.
Was das bedeuten kann? Die I3G als Finanzverantwortliche könnte beispielsweise eines Tages feststellen, dass das Arzneimittelbudget überzogen sei. Daraufhin könnte sie die Ärzte auffordern, bei den Verordnungen zu sparen. Und rein zufällig könnte in dieser Situation Janssen-Cilag auf den Plan treten und den beteiligten Ärzten mit Vorzugspreisen für ihre Medikamente aus der Patsche helfen.
"Das ist so, als wenn ein Autohersteller auch die Straßen und das Benzin in einer Holding kontrollieren würde", urteilt Frank Schneider, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): "Eine klare Form der Grenzüberschreitung." (...)
ich zitiere deshalb so ausführlich, weil sich der angestrebte zustand mitsamt seinen hintergründen kaum prägnanter beschreiben bzw. zusammenfassen lässt. und nebenbei ist das auch ein schönes beispiel dafür, wie journalismus aussehen könnte, der sich tatsächlich als kontrollinstanz gegenüber staatlichen und ökonomischen gewalten versteht.
die zuletzt genannte gesellschaft, die hochoffizielle "fachorganisation" der praktizierenden im bereich psychiatrie, hat, ähnlich wie ihr oben zitierter präsident, in eineröffentlichen stellungnahmeworte gefunden, die normalerweise für eine derartige, dem breitestmöglichen konsens selbstverpflichtete organisation, schon erstaunlich überdeutlich sind:
(...) "Es gibt nun ein erstes Beispiel für eine Beteiligung der pharmazeutischen Industrie an den Managementstrukturen der Integrierten Versorgung, so bei dem IV-Vertrag der AOK in Niedersachsen. Die Managementfirma I3G ist eine 100% Tochter der Janssen-Cilag GmbH.
Die DGPPN findet die Entwicklung positiv, dass die Krankenkassen die Einrichtung von IV-Verträgen für psychische Erkrankungen nunmehr besser zu unterstützen scheinen und fordert alle Leistungsanbieter auf, sich intensiv um eine Mitarbeit auf diesem Gebiet zu kümmern. Sie kritisiert aber aus grundsätzlichen Erwägungen das Engagement der pharmazeutischen Industrie in diesem Bereich und hinterfragt kritisch das Engagement von kommerziell arbeitenden Firmen. Da psychisch kranke Menschen häufig weniger in der Lage sind als andere Patienten, Alternativen zu suchen und zu wählen, sind solche Bestrebungen im Bereich psychischer Erkrankungen besonders kritisch zu sehen.
Im aktuellen Entwurf für ein Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) wird jetzt eine Erweiterung des § 140 b SGB V vorgesehen: Vertragspartner von Krankenkassen bei Abschluss von Integrierten Versorgungsverträgen können jetzt auch Pharmaunternehmen sein. Damit wird der Industrie weit über den Abschluss von Rabattverträgen hinaus die Möglichkeit eröffnet, psychiatrische Versorgung zu gestalten und zu organisieren." (...)
der letzte satz ist erstens entscheidend und zweitens - dazu später mehr - keinesfalls nur auf die psychiatrie beschränkt, wenn es nach der logik kapitalistischer "gesundheitspolitiker" geht.
die stellungnahme schließt mit den worten:
(...) "Die Beteiligung der pharmazeutischen Industrie oder auch jener für Medizinprodukte, die über Rabattverträge sowie die Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten herausgeht, ist politisch höchst bedenklich und wird aus Sicht der Fachgesellschaft eine Vielzahl von nicht hinnehmbaren Interessenkonflikten in der Versorgung psychisch Kranker entstehen lassen."
an "private" - nichts weiter als ein synonym für der profitmaximierung als immanenter zweck verpflichteten - kliniken haben wir uns ja bereits gewöhnt; dieses "modellprojekt" der aok jedoch zeigt den qualitativ nächsten schritt an bei den bestrebungen, die institutionen für die menschliche gesundheit völlig unter die gesetze der profitakkumulation zu stellen (und damit alle beteiligten auch zwangsweise in eine gesteigerte verdinglichte wahrnehmung zu drücken.)
auch aus anderen bereichen der offiziellen medizin kommt deutlichekritik:
(...) "Der Bremer Pharmakologe Peter Schönhöfer warnt hingegen vor dem Modell: "Hier werden die Versicherten an die Pharmaindustrie verkauft", sagt der emeritierte Professor, der am Klinikum Bremen-Mitte das Institut für Klinische Pharmakologie aufgebaut hat. "Die Konzerne bekommen direkten Zugriff auf die Patienten, das ist unerträglich." Die Ersparnis der Kassen und die Profite der Firmen gingen jeweils zu Lasten der Versicherten: "Die Pharmaindustrie ist kein Wohltätigkeitsverein", sagt Schönhöfer, den die Zeit einmal den "Schrecken der Pillendreher" genannt hat. "Die deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie und Psychotherapie, das Diakonische Werk - alle diese Einrichtungen sind über das Vorgehen der AOK entsetzt." Das Modell sei darauf ausgelegt, sich der Verantwortung für die Versorgung der Patienten zu entledigen." (...)
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am 11. november wurde das"gesetz zur neuordnung des arzneimittelmarktes"mit den stimmen von schwarz-geld im bundestag verabschiedet. das führt künftig zu solchen verhältnissen (wieder der erste link):
(...) "Ab 2011 sollen erstmals auch Pharmafirmen und Hersteller von Medizinprodukten direkte Vertragspartner von Krankenkassen innerhalb der Integrierten Versorgung werden dürfen. Bislang war dies "Leistungserbringern" wie Ärzten, Krankenhäusern, medizinischen Versorgungszentren und Ähnlichen vorbehalten.
Das heißt: Hersteller von Hörgeräten oder Hüftgelenken werden künftig die Gesundheitsversorgung von Patienten mit Hör- oder Hüftschäden verantworten - und können damit für ihre Produkte innerhalb einer Patientengruppe eine Art Monopol durchsetzen" (...)
und einer der hintergründe für diese wiedereinmal erfolgreich in gesetzesform gegossene lobbyarbeit der pharmaindustrie liegt in folgendem:
(...) "Viele Hersteller sehen sich nicht mehr schlicht als Pharma-, sondern als Gesundheitskonzerne. Den Grund für das gewandelte Selbstverständnis erklären Kenner der Branche vor allem ökonomisch: Das traditionelle Geschäftsmodell der Pharmaindustrie sei überholt, nämlich die Entwicklung von Medikamenten für Volkskrankheiten mit einem weltweiten Umsatz von mehr als 1 Milliarde Dollar pro Jahr. Denn neue Medikamente brächten heutzutage häufig keine wirklichen Verbesserungen gegenüber existierenden Therapien. Der Markt ist schlicht gesättigt. (...)
Neuorientierung ist nötig. Einer der möglichen Deals der Zukunft könnte dann so gehen: Ein Pharmahersteller wird Vertragspartner einer Krankenkasse und übernimmt für ein spezielles Versorgungssegment deren Kostenrisiko. Im Gegenzug verschafft ihm die Kasse Zugang zu einer sehr großen Gruppe Versicherter und damit auch deren Daten. Ferner sichert die Kasse zu, dass für die Ersttherapie grundsätzlich Medikamente des Herstellers privilegiert würden." (...)
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die probleme bei diesem direkten zugriff der pharmaindustrie auf potenziell alle kranken liegen nun keinesfalls zuerst in jener "aushebelung von wettbewerb und konkurrenz", wie es die "taz" im weiteren verlauf beklagt - diese (vulgärdarwinistische) fiktion eines gedachten idealtypisch funktionierenden kapitalismus, die jede/r als fiktion erkennen kann, der / die schon mal einen abend lang "monopoly" gespielt hat, ist genauso ein konstrukt wie der angeblich "überparteiliche" staat als "hüter des ökonomischen kräftespiels"; real befinden wir uns eher in einem zustand, der sich durchaus als"STAatsMOnopolistischer KAPitalismus"bezeichnen lässt - die systemimmanente tendenz zum monopol zwecks größtmöglicher profitakkumulation findet heute (wieder) unter bereitwilliger hilfe seitens "der staaten" statt, wie jedes neue sog. "rettungspaket" nachdrücklich belegt, und ebenso wird dadurch deutlich, dass sich das gebilde staat in den allermeisten fällen deutlich positioniert hat - und zwar gegen die angeblichen "staatsbürgerInnen" - und die probleme liegen auch nicht nur in der möglichkeit, dass die pharmaunternehmen den ihnen anvertrauten im falle des falles "nur" ihre eigenen, möglicherweise unwirksamen oder gar schädlichen, produkte andrehen werden, obwohl das bereits ein relevantes argument gegen das ganze vorhaben darstellt.
nein, das generelle problem sehe ich in dem weiter oben schon genannten staatlich abgesegneten zugriff seitens der konzerne auf eine spezifische konsumentengruppe, die erstens auf die entsprechenden produkte zumindest teilweise existenziell angewiesen ist und sich zweitens - und ich sage voraus, dass wir das zukünftig erleben werden - immer weniger "freiwillig" für diese art der medizinischen versorgung entscheiden kann, sondern schlicht vor die "wahl" friß oder stirb! gestellt werden wird. dazu kommt noch, dass in diesem szenario von tatsächlicher ärtlicher bzw. pflegerischer "unabhängigkeit" kaum noch die rede sein kann - die ärzte werden als faktische auftragnehmer von seiten der pharmakonzerne ökonomisch erpressbar, und was das dann im einzelfall für die patienten bedeuten kann, muss ich wohl hier nicht ausführen.
und ich sehe auch weit und breit nichts, was vor diesem hintergrund privatkliniken daran hindern sollte, sich ebenfalls in diese art der "versorgung" einzuklinken - dann wird zukünftig möglicherweise die gesamte versorgungskette, von der klinik über das personal bis hin zu den benötigten materialien, unter dem gleichen grundsatz der offenen profitmaximierung stehen. was das für chronisch kranke und überhaupt alle bedeutet, die aufwendige therapien benötigen, dürfte klar sein - noch mehr als heute eh schon wird die frage von gesundheit/leben oder tod zu einer frage des geldbeutels werden. und speziell in der psychiatrie dürfte dieses vorgehen aus diversen gründen zu ganz eigenen desastern führen, wie früher schon anhand dieses beispiels einerprivatisierten psychiatrischen klinikausgeführt. das dortige szenario ergänzen Sie bitte einmal selbst um die variante der konzerngesteuerten medizinischen versorgung - das gibt dann eine vorstellung von künftigen verhältnissen. und jetzt können Sie sich weiter vor dem terror fürchten...
das erste, was ich gestern dachte, als ich von der existenz dieses aufrufes erfuhr, war "besser spät als nie". ich habe so eine art öffentlicher stellungnahme schon seit jahren erwartet und für überfällig gehalten. denn egal, ob es sich umsuizide und andere durch antisoziale staatliche politik produzierte todesfälle unter hartz-IV-betroffenenhandelt oder die zu beobachtendenvereinsamungsprozessein so ziemlich allen "westlich" orientierten gesellschaften; ob es sich um die spätestens dieses jahr restlos kenntlich gewordenengewaltstrukturen in totalen institutionendreht oder aber die schlagzeilenträchtigen spitzen vonfamiliärer gewalt gegen kinder; von all dem sonstigen, was ich hier im blog sonst so bezgl. psychophysischer störungen gesammelt habe, gar nicht zu reden - es ist immer nur die spitze eines eisbergs, dessen großer unter wasser treibender teil immer noch von schweigen und nichtwissen(wollen) geprägt ist.
ich hätte ja darauf getippt, dass so ein aufruf zunächst explizit aus der psychotraumatologie kommen würde, weil sich hier zumindest seit jahren belege dafür finden, dass international vielen in diesem bereich tätigen zumindest die gesellschaftliche bedingtheit so ziemlich aller relevanten traumatischen störungen immer mehr bewußt ist. aber klar ist auch, dass eigentlich alle im psychosozialen bereich aktiven mit den folgen einer situation konfrontiert sind, die ich vor jahren einmalsobeschrieben hatte:
"bei einer, na sagen wir mal ansteckenden seuche in derartigen dimensionen würden wir schon längst im medizinischen katastrophen- und ausnahmezustand leben. faktisch und real ist dieser zustand längst vorhanden, allerdings hervorgerufen durch unsere eigene "lebens"weise."
von daher ist die jetzige initiative bzw. ihre quelle nicht unbedingt verwunderlich.
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21 chefärzte (es sind tatsächlich alles männer) von psychosomatischen fachkliniken quer durchs land haben also folgendenaufrufformuliert und unterschrieben:
"Wir sind Fachleute, die Verantwortung für die Behandlung seelischer Erkrankungen und den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft tragen.
Wir möchten unsere tiefe Erschütterung über die psychosoziale Lage unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen.
In unseren Tätigkeitsfeldern erfahren wir die persönlichen Schicksale der Menschen, die hinter den Statistiken stehen.
Seelische Erkrankungen und psychosoziale Probleme sind häufig und nehmen in allen Industrienationen ständig zu.
Circa 30 % der Bevölkerung leiden innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen.
Der Anteil psychischer Erkrankungen an der Arbeitsunfähigkeit nimmt seit 1980 kontinuierlich zu und beträgt inzwischen 15 – 20 %.
Der Anteil psychischer Erkrankungen an vorzeitigen Berentungen nimmt kontinuierlich zu. Sie sind inzwischen die häufigste Ursache für eine vorzeitige Berentung.
Psychische Erkrankungen und Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen nehmen kontinuierlich zu.
Psychische Störungen bei älteren Menschen sind häufig und nehmen ständig zu.
Nur die Hälfte der psychischen Erkrankungen wird richtig erkannt, der Spontanverlauf ohne Behandlung ist jedoch ungünstig: Knapp 1/3 verschlechtert sich und knapp die Hälfte zeigt keine Veränderung, chronifiziert also ohne Behandlung.
In allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten und in allen Nationen zunehmenden Wohlstands nehmen seelische Erkrankungen zu und besitzen ein besorgniserregendes Ausmaß.
Die gesellschaftlichen Kosten der Gesundheitsschäden durch Produktivitätsausfälle, medizinische und therapeutische Behandlungen, Krankengeld und Rentenzahlungen sind enorm.
Eine angemessene medizinische und therapeutische Versorgung ist weltweit nicht möglich. Trotz der kontinuierlichen Zunahme an psychosozialen medizinischen Versorgungsangeboten ist die Versorgung auch in Deutschland angesichts der Dynamik und des Ausmaßes der seelischen Erkrankungen nur in Ansätzen möglich."
im großen und ganzen würde ich das bis hierhin unterschreiben; einmal die fragen unberücksichtigt gelassen, die sich hinsichtlich der verwendeten diagnostischen modelle gerade im psychiatrisch-psychologischen bereich stellen, zum anderen auch die damit verbundenen fragen nach der tatsächlichen anzahl von psychophysischen störungen bzw. derem konstatierten ansteigen vernachlässigend. auf jeden fall als fakt lässt sich die tatsache der - weltweit - nicht möglichen "angemessenen medizinischen und therapeutischen versorgung" ansehen.
"Die Ursache dieser Problemlage besteht nach unseren Beobachtungen in zwei gesellschaftlichen Entwicklungen:
1. Die psychosoziale Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress, wie z. B. Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzungen, berufliche und persönliche Überforderungen, Konsumverführungen, usw. nimmt stetig zu.
2. Durch familiäre Zerfallsprozesse, berufliche Mobilität, virtuelle Beziehungen, häufige Trennungen und Scheidungen kommt es zu einer Reduzierung tragfähiger sozialer Beziehungen und dies sowohl qualitativer als auch quantitativer Art.
Die Kompetenzen zur eigenen Lebensgestaltung, zur Bewältigung psychosozialer Problemlagen und zur Herstellung erfüllender und tragfähiger Beziehungen sind den Anforderungen und Herausforderungen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen bei vielen Menschen nicht gewachsen.
Angesichts der vorherrschenden gesellschaftlichen Orientierung an materiellen und äußeren Werten werden die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte und der Sinnverbundenheit dramatisch unterschätzt."
das ist, so im allgemeinen gelassen formuliert, auch im großen und ganzen richtig. zu dieser ursachenforschung ist unter dem punktUnser Anliegenauf der seite noch folgendes zu lesen:
(...) "Wir glauben nicht, dass ein bestimmter Sektor der Gesellschaft, wie z. B. die Schule, die Familie, die Politik oder die Wirtschaft dafür verantwortlich ist, sondern dass es sich um eine allgemeine und grundlegende Entwicklung der modernen Gesellschaften handelt, die bisher nicht angemessen erkannt wird. Der Aufruf möchte dies bewusst machen und ist nicht als Provokation gemeint." (...)
daraus lässt sich auch der umkehrschluß ziehen, dass alle bereiche der gesellschaft gleichzeitig an diesem selbstproduzierten desaster beteiligt sind. andererseits: wenn im aufruftext explizit die "Bedeutung des Subjektiven" unterstrichen wird, so fehlt hier das gegenstück: die tatsächliche bedeutung des kultes der objektivität, des fetischs des quantifizierbaren, die heilige kuh der "leistung", die explosion des virtuellen und simulativen, sowie die inzwischen völlig zusammengeschrumpelte und extrem reduktionistische version der öffentlich bis zum erbrechen verlautbarten einzigen "ziele" des "offiziellen" politikbetriebs: konsum, arbeit, wohlstand, bruttosozialprodukt! und diese offiziellen (alp-)träume bezgl. sinn und inhalte menschlichen lebens sind nun ebenso wie die dazugehörige praxis in der realität untrennbar mit "der Wirtschaft" verbunden, genauer gesagt mit jener struktur, die auch als sozioökonomische matrix bezeichnet werden kann und im weitesten sinne als real gewordener ausdruck des kapitalistischen systems angesehen werden kann. das aber sollte dann auch so benannt werden.
es blieb bis heute bspw. einem konservativen leitmedium, nämlich der "faz" vorbehalten, bereits im jahre 2004 implizit die verblüffenden gemeinsamkeiten des menschenbildes, welches hinter den "hartz-reformen" steckt mit einigen zentralen charakteristika der borderline-persönlichkeitsstörung (und auch anderer beziehungskrankheiten) aufzuzeigen:
„Ökonomisch eigenverantwortlich betrachtet, zahlt es sich da für Langzeitarbeitslose und solche, die es werden können, nicht mehr aus, anders als im Augenblick und allein zu leben. (...) Alles Geld, das in einer ‚Bedarfsgemeinschaft‘ von Eltern, Kindern, Gatten oder Lebensgefährten verdient wird, geht von dem eigenen Anspruch ab. So kommen Ehen, Partnerschaften, Groß- und Kleinfamilien, Patchworkverhältnisse aller Art auf den Prüfstand (...). Das Familienmodell zahlt sich nur aus, wenn noch kleine Kinder im Spiel sind.“ (...) "Hartz IV fördert die zeitliche und räumliche Zersplitterung der Gesellschaft. Seine Zielvorstellung ist die Monade. Der Menschentypus, den Hartz IV favorisiert, ist der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht.“
"nicht anders als im augenblick und alleine"...."zersplitterung"...."monade"...."einzelkämpfer"
was für ein typ mensch wird da gefördert? welche eigenschaften sind z.b. gefragt, wenn gefordert wird, für die rein ökonomische existenz von heute auf morgen notfalls den ort zu wechseln, unter hinnahme des verlustes aller sozialen bezüge (was übrigens durchaus als traumatisch im strengen sinne erlebt werden kann)? welche psychophysischen züge sind dafür wohl am nützlichsten?
beziehungsfähigkeit z.b. wohl kaum - die dürfte für derlei eher hinderlich sein." (...)
der heutzutage allseits - oder besser, von unseren herrschenden sog. "eliten" - geforderte flexible, mobile, sich-selbst-managende mensch, der sich das prinzip "ich-ag" zum lebensmotto macht - und (sich) inszeniert, simuliert, anpassungsfähig an alle möglichen realitäten ist - aber das alles, ohne einen tatsächlichen bezug zu diesen realitäten zu besitzen - denn das würde diese im modernen kapitalismus geforderten eigenschaften grundsätzlich sabotieren - soziale bezüge, "verwurzelung" an einem als zuhause empfundenen ort, ein lebensrhytmus nach der eigenen (körper-)zeit und anderes - all das ist letztlich und in seiner konsequenz inkompatibel mit den anforderungen (ich würde eher sagen: zumutungen), die der offizielle westliche lebensstil stellt."
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wenn die initiatoren wie oben zitiert formulieren, dass ihr aufruf "nicht als provokation" gemeint ist, frage ich mich: warum nicht? das ist eine haltung, die sicherlich (wenn auch nicht immer und in jedem fall) einem therapeutischen setting angemessen ist, nicht jedoch einem aufruf, der aufgrund seines themas gar nicht anders als auch politisch sein kann. kurzgefasst: die psychosoziale situation einer gesellschaft spiegelt auch immer ihre grundsätzlichen strukturen wieder, ob es sich nun um politische, ökonomische, kulturelle oder sonstige handelt. und in allen bereichen lassen sich nicht erst seit gestern teils rasante verfallsprozesse beobachten, von denen der wahrscheinlich fatalste den allgemeinen verlust an fähigkeiten betrifft, die für funktionierende soziale beziehungen die vorbedingung bilden. die folgen und symptome sind dann u.a. genau das, was die ärzte in ihren kliniken und die inzwischen mehr als tausend weiteren unterzeichnerInnen des aufrufs in ihrer beruflichen praxis täglich erleben (und was sie übrigens zu einem nicht geringen teil auch selbst krank werden lässt - "burn out" ist gerade in den sog. sozialen berufen inzwischen zu einer wahren epidemie geworden).
ich finde es also durchaus einen fehler, auf die - meiner meinung nach letztlich eh unvermeidliche - klare benennung von verantwortlichkeiten und auch verantwortlichen zu verzichten und auch den zugrundeliegenden grundsätzlichen konflikten, die sich hinter der skizzierten situation verbergen, so ausweichend zu begegnen. wobei hier auch vermutlich eine rolle spielt, dass sich die position eines leitenden chefarztes einer klinik durchaus zu den "elitären" positionen rechnen lässt - von daher mag hier der satz gelten "das sein bestimmt das bewußtsein".
meine beschriebenen ansatzweisen bauchschmerzen werden beim letzten teil des aufrufs - in gewisser hinsicht nicht explizit als solche benannte forderungen, aufgelistet in neun punkten - dann noch stärker:
"Wir benötigen einen gesellschaftlichen Dialog über die Bedeutung des Subjektiven, des Seelischen, des Geistig-spirituellen, des sozialen Miteinanders und unseres Umgangs mit Problemen und Störungen in diesem Feld.
Wir benötigen einen neuen Ansatz zur Prävention, der sich auf die grundlegenden Kompetenzen zur Lebensführung, zur Bewältigung von Veränderungen und Krisen und zur Entwicklung von tragfähigen und erfüllenden Beziehungen konzentriert.
Wir benötigen eine Gesundheitsbildung, Erlernen von Selbstführung und die Erfahrung von Gemeinschaft schon im Kindergarten und in der Schule, z. B. in Form eines Schulfaches "Gesundheit".
Wir benötigen eine ganzheitliche, im echten Sinne psychosomatische Medizin, die die gegenwärtige Technologisierung und Ökonomisierung der Medizin durch eine Subjektorientierung und eine Beziehungsdimension ergänzt.
Wir benötigen eine Wirtschaftswelt, in der die Profit- und Leistungsorientierung ergänzt wird durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Tätigen.
Wir benötigen einen integrierenden, sinnstiftenden und soziale Bezüge erhaltenden Umgang mit dem Alter.
Wir benötigen eine das Subjektive und Persönliche respektierende, Grenzen achtende und Menschen wertschätzende Medienwelt.
Wir benötigen ein politisches Handeln, das bei seinen Entscheidungen die Auswirkungen auf das subjektive Erleben und die psychosozialen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen reflektiert und berücksichtigt.
Wir benötigen mehr Herz für die Menschen."
punkt1: ja. 2: ja mit einschränkungen, weil hier nicht klar ist, welche arten von prävention nun denn genau gemeint sind. 3: das hätte ich bereits in meiner schulzeit sinnvoll gefunden. kann grundsätzlich eine positive sache sein, wenn sie denn nicht gerade in die klauen von organisationen wie bspw. der "insm" fällt. punkt 4: ja, wobei ich mich frage: warum nur "ergänzt"?
dann aber die nummer fünf: "Wir benötigen eine Wirtschaftswelt, in der die Profit- und Leistungsorientierung ergänzt wird durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Tätigen."
das kann ich so wie da geschrieben als nichts anderes als die forderung nach quasi simulierter "humanität" am arbeitsplatz interpretieren. das ist einerseits logisch - solange die "profit- und leistungsorientierung" bzw. die dahinterliegenden systemimmanenten zwänge u.a. der profitakkumulation nicht angekratzt werden, ist eine echte verbesserung der zustände in der sog. arbeitswelt (wie auch anderswo) schlicht nicht möglich und kann demnach nur in simulierter art und weise durchgeführt werden - ein als-ob, geschuldet der illusion, als ob sich die authentischen menschlichen bedürfnisse in einer kapitalistischen ökonomie auch nur ansatzweise befriedigen lassen. andererseits karikiert das in gewisser weise den gesamten aufruf in einer unakzeptablen art und weise. klingt ein bißchen so, als hätten hier gläubige peinlich darauf geachtet, ja nicht ihre götter zu erzürnen. diesen punkt empfinde ich als echtes ärgernis.
punkt 6: ja. für sieben und acht gilt hingegen modifiziert die gleiche kritik, die ich oben geschrieben habe - "die medienwelt" zb. wird sich solange einen dreck um respekt und grenzen scheren, solange das (quantitative) kriterium "auflage / einschaltquote" für das eigene ökonomische überleben entscheidend ist. und ebenfalls ist das "politische handeln" heutzutage bereits derart korrumpiert und mit mafiösen strukturen verstrickt, dass es das im aufruf gewünschte weder erfüllen kann noch - und das ist entscheidender - überhaupt will. auch in diesem punkt ist viel über mögliche illusionen bezgl der realen gesellschaftlichen verhältnisse seitens der verfasser herauszulesen.
beim letzten punkt ließe das herz vielleicht als synonym für liebesfähigkeit begreifen, und in dieser bedeutung ein uneingeschränktes ja.
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vielleicht ist es vor dem obigen bezeichnend, dass in derkommentarsektionzum aufruf an vielen stellen weitergedacht und grundsätzlicher benannt wird, was eigentlich schief läuft. so im kommentar 63 zb.:
"Zuende gedacht ist das die Frage nach einer anderen Gesellschaft. (...) Menschliches Leben bedarf einer Umwelt, wir haben eine geschaffen, die den Dingen und dem Geld dient, und einigen wenigen, die davon profitieren." (...)
ausführlicher möchte ich kommentar 28 zitieren, der einiges auch von meiner kritik sowie der fälligen selbstbefragung des psychosozialen bzw. psychiatrischen bereiches auf den punkt bringt:
"Der Aufruf ist überfällig und wichtig!!! Ich bin selbst Betroffener, war 16 Jahre lang erfolgr. Manager. 1999 kam das Burn-Out. (...)
Ich habe (...) wieder zu meinen Gefühlen gefunden, welche in der Wirtschaft Fehl am Platze sind. Die wiedererlangte Sensibilität hat jedoch die Rückkehr in den Beruf vereitelt, wo Ellenbogen gefragt sind. Deshalb betrachte ich ganzheitliche psychosom. Behandlungsansätze mit einer gewissen Ambivalenz. Zwar ist dieser Ansatz aus humanistischer Sicht richtig, doch unsere Wirtschaft ist nicht human.
Ein intern. renommierter C4 Prof. f. Psych. erklärte mir, dass die Psych. vor einem Dilemma steht, und Menschen eigentlich zu eiskalten Wesen therapieren muss, wenn sie im schnelllebigen Alltag des gegenwärtigen Paradigma sozialer Atome bestehen sollen. Unsere Hirnstruktur ist jedoch dafür nicht geschaffen, weshalb unweigerlich psychosom. Erkrankungen zunehmen.
Es braucht also ein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsparadigma, welches weniger Druck auf Menschen ausübt." (...)
dem ist grundsätzlich nichts hinzuzufügen.
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trotz aller eben dargestellten einschränkungen und kritik: ich halte diesen aufruf dennoch für wichtig, weil er mithelfen könnte, längst überfällige diskussionen zu initiieren. und darum empfehle ich auch seine weiterverbreitung.