assoziation: der "neurologischen vielfalt" und dem heutigen "autistic pride day"...
...hat die junge welt vor ein paar tagen einen artikel unter dem sinnigen titel gerechtigkeit und waschmaschinen gewidmet, der sich in sympathisierender (neu-)linker tradition einiger zentraler forderungen der selbsthilfebewegung autistischer menschen annimmt - und diesem vorhaben möchte ich ein paar kommentare meinerseits anschließen.
*
nach dem einstieg ins thema, bei dem sich der autor auch hier hinsichtlich des autismus am bewährten evergreen von den "genialen menschen" sowie der "skurrilen" verhaltensweisen von "berühmtheiten" bedient hat, gibt´s etwas historie:
(...)"Über Isaac Newton wird berichtet, daß er Vorlesungen auch dann hielt, wenn gar keine Hörer kamen, und als er einmal Freunde eingeladen hatte und Wein aus dem Keller holen wollte, kam er nicht wieder – man fand ihn in Betrachtungen vertieft. Der Volksmund spricht von »zerstreuten Professoren«. Heute weiß man, daß deren Verschrobenheit oftmals einen neurologischen Grund hat. Der österreichische Psychiater Hans Asperger (1906–1980), der sich in den 1930er Jahren mit hochbegabten Kindern mit gestörtem Sozialverhalten beschäftigte, sah hier eine »autistische Psychopathie«, und er vermutete sogar, daß intellektuelle Höchstleistungen ein gewisses Maß an Autismus voraussetzen."
vielleicht ist es zuviel verlangt, vom autor in einem - na, sagen wir mal, "traditionsmarxistischen" und dementsprechend einem klassisch materialistischen weltbild verpflichteten blatt zu erwarten, sich möglicherweise mal ein paar mehr gedanken zu möglichen zusammenhängen zwischen newtons persönlichkeit und seinem weltbild zu machen? immerhin ist die wiedergebene vermutung von asperger, "ein gewisses maß an autismus" sei eine voraussetzung für intellektuelle höchstleistungen, beim heutigen erkenntnisstand nicht ganz von der hand zu weisen - j.e. mertz hat das in der griffigen metapher vom "gewöhnlichen autismus der gesunden person" zusammengefasst, um den es hier aber nicht geht.
"Der Begriff »Autismus« wird allerdings in erster Linie mit einer geistigen Behinderung assoziiert. Auch hier hat, ungefähr zeitgleich mit Asperger und unabhängig von ihm, ein österreichischer Arzt Pionierarbeit geleistet: Leo Kanner (1896–1981) (...)
Der von Kanner beschriebene »frühkindliche Autismus« fällt als schwere Entwicklungsstörung auf und ist seit den 1960er Jahren eingehender erforscht worden. Die Betroffenen bleiben in den meisten Fällen lebenslang auf Hilfe und Betreuung angewiesen. Manche von ihnen verblüffen allerdings durch »Inselbegabungen«, außergewöhnliche geistige Fähigkeiten in eingegrenzten Teilbereichen wie etwa sensationelle Rechen- oder Gedächtnisleistungen."
das thema der "savants" wird eingehender u.a. in der immer wieder mal wiederholten tv-reihe expedition ins gehirn auf arte behandelt.
"Das Phänomen, dem Hans Asperger nachging, ist weniger dramatisch, und Aspergers Arbeiten sind lange Zeit kaum beachtet worden."(...)
ob das phänomen bei näherer betrachtung wirklich "weniger dramatisch" ist?
(...)"International bekannt wurden Aspergers Schriften erst in den 1980er Jahren, als die britische Psychologin Lorna Wing sie in englischer Übersetzung herausgab. Sie prägte die Bezeichnung »Asperger-Syndrom«, dieses ist seit 1992 von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt.(...)
Anders als beim Kanner-Autismus sind »aspergische« Kinder durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent. Ihre Sprachentwicklung setzt nicht (oder nur wenig) verzögert ein und erreicht in kurzer Zeit ein sehr »erwachsenes« Niveau – bloß mit der Besonderheit, daß sie extrem auf den wörtlichen semantischen Gehalt der Rede fixiert sind und den der Alltagskommunikation innewohnenden pragmatischen Hintersinn nicht verstehen."
mir ist nicht so recht klar, was hier der ausdruck "pragmatischer hintersinn" bedeuten soll - eine meiner meinung nach typische besonderheit im asperger-kommunikationsverhalten besteht eher darin, doppelbedeutungen und metaebenen, auch und gerade non-verbaler, körperlich ausgedrückter art, nicht wahrnehmen zu können - auch ironie gehört hier zb. dazu, und macht aus der nicht-autistischen erfahrung heraus in vielen fällen keinesfalls irgendeinen "hintersinn", sondern dann gerade den eigentlichen inhalt aus. im übrigen hat die erwähnte fixierung - von außen betrachtet - auch durchaus ihre humoristische seite: so ist in einschlägigen foren für "aspies" immer wieder mal die geschichte vom asperger-autisten zu finden, der in einem kleinen kaff übernachten will und pünktlich kurz vor zehn gespannt aus seinem hotelfenster blickt, um das ihm von einem einheimischen angekündigte hochklappen der bürgersteige um diese zeit auch ja nicht zu verpassen - das bringt das wortwörtliche verständnis auf den punkt.
"Im Vor- und Grundschulalter gehen sie oft bizarr anmutenden Spezialinteressen mit großer Intensität nach, beschäftigen sich mehr mit Gegenständen wie Waschmaschinen oder Dachrinnen als mit Menschen. Ähnlich wie Kanner-Autisten meiden sie Blickkontakte und Berührungen und bevorzugen gleichförmige und ritualisierte Routinen, die ihnen zur Strukturierung des Alltags dienen."
und spätestens an dieser stelle wird ein ganz zentraler inhalt autistischer wahrnehmung deutlich, zu dem ich in einem erklärt gesellschaftskritischen medium wie der jungen welt eigentlich mehr fragen erwartet hätte - fragen zb. danach, wie es innerhalb einer nach allgemeinem konsens sozialen und auf vielfältigen beziehungen gründenden spezies wie der menschheit dazu kommen kann, dass sich eine - oder vielleicht sogar die "reinste" - variante von objektfixierter aka objektivistischer, verdinglichender wahrnehmung offensichtlich in den letzten jahrzehnten weltweit ausbreitet? und auch fragen danach, ob es nicht angemessen ist, zwischen dem siegeszug des globalisierten kapitalismus als verdinglichender megamaschine einerseits und der langsam zunehmenden präsenz von irgendwelchen autismusvarianten betroffener andererseits mögliche zusammenhänge, vielleicht gar evolutionärer art, anzunehmen?
stattdessen gibt´s eine beruhigende nachricht:
"Nach außen wirken sie emotional gleichgültig – ohne es tatsächlich zu sein."(...)
ich vermute, dass sich der autor hier besonders auf den streit um die empathiefähigkeiten von autistischen menschen bezieht; vielleicht auch noch auf den punkt der reizüberflutung (mit folgerichtiger wahrnehmungsabschottung nach außen zum selbstschutz). der klarheit halber sollten dann aber auch zustände wie dieser oder auch jener erwähnt werden - denn auch das sind emotionale zustände. oder?
immerhin, jetzt folgt doch noch ein kleiner schlenker zum kapitalismus:
(...)"Die meisten Asperger-Autisten haben keine offensichtliche Behinderung und können ein selbstständiges Leben führen. Weil ihnen die gerade im postfordistischen Kapitalismus fetischisierten Eigenschaften wie »Teamfähigkeit« und »Flexibilität« fehlen, gelingt ihnen meist keine ihren tatsächlichen Fähigkeiten angemessene Berufslaufbahn."(...)
aber ein mehr als ärgerlicher schlenker: erstens, sollen wir den führenden im "forbes-ranking" der weltweit reichsten leute und vermutlich bekanntesten kapitalisten überhaupt nur als ausnahme von der regel ansehen? und wie sieht es zweitens generell in der it-branche aus, die als wirtschaftszweig unser aller leben ja nun nicht unwesentlich beeinflusst? und wie überhaupt in den ganzen sog. neuen technologien, von "bio" bis "nano", in denen zunehmend enorme abstraktionsfähigkeiten - eine der leistungen objektivistischer wahrnehmung - gefordert werden? andererseits: was hat es denn mit der "teamfähigkeit" oder auch den vielbeschworenen "flachen hierarchien" in den ökonomischen strukturen tatsächlich auf sich? hier ist i.d.r. weniger authentische - und befreiende - kollektivität gemeint als vielmehr eine simulation derselben, die nicht geringen leistungsdruck auf die betroffenen ausübt - im interesse der profitrate.
nun wird die asperger-variante des autistischen spektrums im allgemeinen tatsächlich als nicht simulationsfähig angesehen - aber gilt das erstens auch noch unter gesellschaftlichen bedingungen, in denen virtuelle prozesse aller art (v.a. simulierte kommunikation unter ausschluß der körperlichkeit) explosionsartig um sich zu greifen scheinen, und auch in folge dessen zweitens simulierte prozesse als produkt des objektivistischen wahrnehmungsmodus selbst unter grundsätzlich authentizitätsfähigen menschen mehr und mehr im alltag an die erste stelle rücken? bei näherer betrachtung stellen sich bspw. die meisten sog. "geschäftsbeziehungen" als fakes, d.h. beziehungssimulationen, heraus, für die das wort warenbeziehung zwar beliebt, jedoch irreführend ist - es handelt sich schlicht um ein mehr oder weniger anonymisiertes nebeneinander von subjekten, die in ihren "jobs" in verschiedenen objekthaften masken auftreten und dazu neigen, sich selbst und untereinander, erst recht aber die kunden, ebenfalls als - bestenfalls solvente und damit profitable - objekte zu behandeln. von beziehungen, die diesen namen auch verdienen würden, ist dabei keine spur zu entdecken.
und vor diesem hintergrund ist die hypothese durchaus ernstzunehmen, dass derlei verhältnisse selbst "eigentlich" simulationsunfähigen autisten stark entgegenkommen - denn ein "als-ob"-sozialverhalten ist trainierbar, und leute wie temple grandin sind dafür ein ganz gutes beispiel (siehe dazu nochmal den basisbeitrag autismus).
die möglichen simulationsfähigen autismusvarianten (siehe als "verdachtsfälle" hier, hier und auch hier) sind dabei noch nichtmal thematisiert.
jedenfalls ist bei den derzeitigen gesellschaftlichen bedingungen das folgende durchaus schlüssig:
(...)"Viele Menschen mit Asperger-Syndrom und anderen »hochfunktionalen« (selbständige Lebensführung ermöglichenden) Autismus-Varianten wehren sich in letzter Zeit energisch dagegen, daß Autismus nur negativ, durch Defizite charakterisiert und durchweg als »Behinderung« dargestellt wird."
klar - wenn die gesamtgesellschaft in entscheidenden bereichen selbst zunehmend verhältnisse zulässt, die sich als im weitesten sinne autistisch oder zumindest autismuskompatibel (das internet ist dafür übrigens eines der prägnantesten beispiele) begreifen lassen, und das auch noch als "fortschritt" mißversteht - wenn das also der aktuelle status quo ist, dann ist tatsächlich nicht einzusehen, warum die "klassischen" autisten noch länger als "behindert" gelten sollen. allerdings: als emanzipation im authentischen sinn sollte das wirklich niemand begreifen.
"Einer der besten Kenner des Asperger-Syndroms, der australische Psychologe Tony Attwood, schlägt sogar vor, die »Diagnose« des Asperger-»Syndroms« als Pathologie einfach zu vergessen und an ihre Stelle die »Entdeckung« des »Aspie«-Charakters zu setzen. Denn er hat festgestellt, daß unter Menschen mit Asperger-Syndrom mit hoher Regelmäßigkeit mindestens ebensoviele markante positive Charaktereigenschaften wie Defizite anzutreffen sind: Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit, Vorurteilsfreiheit, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, starker Sinn für Gerechtigkeit."
die gewissenhaftigkeit und sorgfalt - böswillig ließe sich auch pedanterie sagen - hat bspw. im bereich der edv-programmierung tatsächlich ihre vorteile, die allerdings nicht unabhängig von der verwendung der dadurch erzeugten produkte zu sehen sind. ein sorgfältig ausgetüfteltes überwachungs- oder waffensystem mag dem mehr oder weniger autistischen programmierer persönlich freude bereiten (und seinen auftraggebern ebenso) - die späteren opfer jedoch müssen dann den mit den oben genannten fähigkeiten assozierten mehr oder weniger starken verlust der empathiefähigkeit regelmäßig mit einbußen ihrer freiheit, gesundheit oder gar ihres lebens bezahlen.
die wahrheitsliebe bzw. aufrichtigkeit ist hier eher als synonym für die ebenfalls als typische asperger-eigenschaft beschriebene unfähigkeit zur lüge zu begreifen, und das ist ein durchaus zweischneidiges schwert. sicher, wahrheitsliebe wird als moralische forderung in dieser gesellschaft allerorten vor sich hergetragen. und lügen sind pfui. hier geht es jedoch um etwas ganz grundsätzliches: es gibt einige indizien dafür, dass die fähigkeit zu fakes/simulationen (und das sind lügen) als grundaussattung in allen menschen nicht nur angelegt, sondern in bestimmten ausmaß sogar absolut notwendig bei der entwicklung einer authentischen menschlichen identität ist. das mag zunächst seltsam klingen, ist aber bei näherer betrachtung durchaus schlüssig:
es geht v.a. um die "kleinen" lügen, mit denen sich bspw. kinder den zur ihrer entwicklung nötigen freiraum innerhalb der ansonsten dominanten kontrolle seitens des erwachsenen umfeldes beschaffen. ebenfalls gibt es bekanntlich durchaus sinnvolle schutzlügen, die aus einer authentisch empathischen wahrnehmung entspringen, ja sogar ausdruck von liebevoller besorgnis darstellen können. ich rede hier nicht von den gewohnheitsmäßigen simulationen von soziopathen; und andererseits auch nicht von der art von wahrheit, wie sie - achtung, polemik - bspw. die historischen nazis bei der völlig korrekten ankündigung ihrer vorhaben bezgl. mord und totschlag "auszeichnete". brutale wahrheiten, die kaum jemand hören wollte, und die womöglich auch aus einer gewissen zwanghaftigkeit heraus entstanden sind. permanente aufrichtigkeit kann massiv und bösartig grenzverletzend sein, und ist eigentlich nicht vorstellbar bei gleichzeitiger anwesenheit von empathie, die in heiklen sozialen situationen korrigierend wirkt.
die kunst besteht vermutlich darin, an den nötigen und wichtigen stellen jeweils wahrhaftig und bei bedarf auch simulativ zu sein - und dazu muss das volle menschliche wahrnehmungsspektrum vorhanden sein.
und der "starke sinn für gerechtigkeit" hat meiner meinung nach verdammt viel ähnlichkeiten mit dem prinzip, nach dem auch die heutige justiz arbeitet - ein nach objektivistischen prinzipien arbeitendes abstraktes netz, welches über alles und jedes geworfen wird - und eben daher kaum jemals wirkliche gerechtigkeit herstellen kann.
"Asperger-Spezialisten gehen davon aus, daß zahlreiche prominente Persönlichkeiten vom Asperger-Syndrom betroffen waren und sind: Newton, Einstein, Kant, Wittgenstein, Michelangelo, Kafka und viele andere. Würde eine »Heilung« solche Menschen nicht ihrer Produktivität berauben?"
das greift wieder eine diskussion auf, die hier im blog an verschiedenen stellen schon geführt wurde - und aus einer dieser debatten eine für mich immer noch gültige antwort:
"es gibt von temple grandin, die hier im zusammenhang mit dem asperger-syndrom als betroffene an anderer stelle zitiert worden ist, ein zitat, welches sinngemäß lautet, dass, "wenn alle menschen nt´s (neurologisch typisch, asperger-slang für "normale") wären, wir heute noch in höhlen sitzen und nur miteinander reden würden".
manchmal frage ich mich aber, ob das nicht vorziehenswerter wäre als die heutige situation. irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde", zitiert - als ferment /katalysatoren für notwendige grenzverletzungen, die erst weiterentwicklungen möglich machen würden, seien sie für alle gesellschaften unverzichtbar. und wenn ich mir dann so die verschiedenen bereiche der kunst betrachte, mit all ihren freakigen protagonistInnen...
und trotzdem: die logik hinter solchen aussagen wie oben finde ich schon nachvollziehbar - aber gleichzeitig finde ich das auch eine implizite glorifizierung von menschlichem leid, die ich nicht vertreten kann und auch nicht möchte.
meiner meinung nach sind - qualitativ! - andere formen von entwicklung auch möglich ohne die vorbedingung, dass gesellschaften dafür erst eine mehr oder weniger große zahl ihrer mitglieder in den wahnsinn treiben müssen. allerdings meine ich damit entwicklungen, die den heutigen gesellschaftlichen normen dessen, was als wünschenswert erachtet wird, in den meisten punkten scharf zuwiderlaufen."
als nachtrag auch noch dieser aspekt: die erwähnte produktivität ist zu einem nicht kleinen teil bis heute für die leidvollen zustände auf diesem planeten mitverantwortlich.
"Seit 2005 feiern Menschen mit Autismus den 18. Juni als »Autistic Pride Day«. Sie verstehen ihn als Aktionstag gegen die Pathologisierung des Autismus und für die Anerkennung der »neurologischen Vielfalt« unterschiedlich begabter Menschen."(...)
die "neurologische vielfalt" unter und in unserer spezies anzuerkennen wäre tatsächlich ein erster nötiger schritt, um viele destruktive phänomene tatsächlich begreifen zu können. sie würde u.a. zu solchen nicht gerade kleinen konsequenzen führen müssen, das heutige justizwesen komplett umzugestalten. sie würde gleichfalls auch meiner meinung nach zu einer qualitativ neuen bewertung von phänomenen wie dem faschismus führen, und sie würde den zustand derjenigen deutlicher machen, die sich - meist als ideologie oder propaganda abgetan - bis heute gegen den gedanken von der gleichheit aller menschen wenden. als abstraktes existiert diese gleichheit, jedoch nicht in der realität. daraus dann aber wiederum die notwendigkeit sozialer/ökonomischer hierarchien abzuleiten, macht etwas deutlich, was mir bis heute kaum begriffen worden zu scheint (wobei ich das selbst sehr schwierig zu begreifen finde und etliche zeit benötigte, bis mir dieser gedanke plausibler erschien):
ansatzweise findet sich dieser gedanke unausgesprochen im hintergrund zb. hier, wobei es mir mit dem dort dargestellten ansatz ähnlich wie mit teilen des gerade kommentierten artikels geht: einige neurologisch-psychophysische "seinsweisen" kommen mit immanent antisozialer tendenz daher - und das ist nichts, was ich als entpathologisierenswert empfinden würde. im gegenteil.
*
nach dem einstieg ins thema, bei dem sich der autor auch hier hinsichtlich des autismus am bewährten evergreen von den "genialen menschen" sowie der "skurrilen" verhaltensweisen von "berühmtheiten" bedient hat, gibt´s etwas historie:
(...)"Über Isaac Newton wird berichtet, daß er Vorlesungen auch dann hielt, wenn gar keine Hörer kamen, und als er einmal Freunde eingeladen hatte und Wein aus dem Keller holen wollte, kam er nicht wieder – man fand ihn in Betrachtungen vertieft. Der Volksmund spricht von »zerstreuten Professoren«. Heute weiß man, daß deren Verschrobenheit oftmals einen neurologischen Grund hat. Der österreichische Psychiater Hans Asperger (1906–1980), der sich in den 1930er Jahren mit hochbegabten Kindern mit gestörtem Sozialverhalten beschäftigte, sah hier eine »autistische Psychopathie«, und er vermutete sogar, daß intellektuelle Höchstleistungen ein gewisses Maß an Autismus voraussetzen."
vielleicht ist es zuviel verlangt, vom autor in einem - na, sagen wir mal, "traditionsmarxistischen" und dementsprechend einem klassisch materialistischen weltbild verpflichteten blatt zu erwarten, sich möglicherweise mal ein paar mehr gedanken zu möglichen zusammenhängen zwischen newtons persönlichkeit und seinem weltbild zu machen? immerhin ist die wiedergebene vermutung von asperger, "ein gewisses maß an autismus" sei eine voraussetzung für intellektuelle höchstleistungen, beim heutigen erkenntnisstand nicht ganz von der hand zu weisen - j.e. mertz hat das in der griffigen metapher vom "gewöhnlichen autismus der gesunden person" zusammengefasst, um den es hier aber nicht geht.
"Der Begriff »Autismus« wird allerdings in erster Linie mit einer geistigen Behinderung assoziiert. Auch hier hat, ungefähr zeitgleich mit Asperger und unabhängig von ihm, ein österreichischer Arzt Pionierarbeit geleistet: Leo Kanner (1896–1981) (...)
Der von Kanner beschriebene »frühkindliche Autismus« fällt als schwere Entwicklungsstörung auf und ist seit den 1960er Jahren eingehender erforscht worden. Die Betroffenen bleiben in den meisten Fällen lebenslang auf Hilfe und Betreuung angewiesen. Manche von ihnen verblüffen allerdings durch »Inselbegabungen«, außergewöhnliche geistige Fähigkeiten in eingegrenzten Teilbereichen wie etwa sensationelle Rechen- oder Gedächtnisleistungen."
das thema der "savants" wird eingehender u.a. in der immer wieder mal wiederholten tv-reihe expedition ins gehirn auf arte behandelt.
"Das Phänomen, dem Hans Asperger nachging, ist weniger dramatisch, und Aspergers Arbeiten sind lange Zeit kaum beachtet worden."(...)
ob das phänomen bei näherer betrachtung wirklich "weniger dramatisch" ist?
(...)"International bekannt wurden Aspergers Schriften erst in den 1980er Jahren, als die britische Psychologin Lorna Wing sie in englischer Übersetzung herausgab. Sie prägte die Bezeichnung »Asperger-Syndrom«, dieses ist seit 1992 von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt.(...)
Anders als beim Kanner-Autismus sind »aspergische« Kinder durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent. Ihre Sprachentwicklung setzt nicht (oder nur wenig) verzögert ein und erreicht in kurzer Zeit ein sehr »erwachsenes« Niveau – bloß mit der Besonderheit, daß sie extrem auf den wörtlichen semantischen Gehalt der Rede fixiert sind und den der Alltagskommunikation innewohnenden pragmatischen Hintersinn nicht verstehen."
mir ist nicht so recht klar, was hier der ausdruck "pragmatischer hintersinn" bedeuten soll - eine meiner meinung nach typische besonderheit im asperger-kommunikationsverhalten besteht eher darin, doppelbedeutungen und metaebenen, auch und gerade non-verbaler, körperlich ausgedrückter art, nicht wahrnehmen zu können - auch ironie gehört hier zb. dazu, und macht aus der nicht-autistischen erfahrung heraus in vielen fällen keinesfalls irgendeinen "hintersinn", sondern dann gerade den eigentlichen inhalt aus. im übrigen hat die erwähnte fixierung - von außen betrachtet - auch durchaus ihre humoristische seite: so ist in einschlägigen foren für "aspies" immer wieder mal die geschichte vom asperger-autisten zu finden, der in einem kleinen kaff übernachten will und pünktlich kurz vor zehn gespannt aus seinem hotelfenster blickt, um das ihm von einem einheimischen angekündigte hochklappen der bürgersteige um diese zeit auch ja nicht zu verpassen - das bringt das wortwörtliche verständnis auf den punkt.
"Im Vor- und Grundschulalter gehen sie oft bizarr anmutenden Spezialinteressen mit großer Intensität nach, beschäftigen sich mehr mit Gegenständen wie Waschmaschinen oder Dachrinnen als mit Menschen. Ähnlich wie Kanner-Autisten meiden sie Blickkontakte und Berührungen und bevorzugen gleichförmige und ritualisierte Routinen, die ihnen zur Strukturierung des Alltags dienen."
und spätestens an dieser stelle wird ein ganz zentraler inhalt autistischer wahrnehmung deutlich, zu dem ich in einem erklärt gesellschaftskritischen medium wie der jungen welt eigentlich mehr fragen erwartet hätte - fragen zb. danach, wie es innerhalb einer nach allgemeinem konsens sozialen und auf vielfältigen beziehungen gründenden spezies wie der menschheit dazu kommen kann, dass sich eine - oder vielleicht sogar die "reinste" - variante von objektfixierter aka objektivistischer, verdinglichender wahrnehmung offensichtlich in den letzten jahrzehnten weltweit ausbreitet? und auch fragen danach, ob es nicht angemessen ist, zwischen dem siegeszug des globalisierten kapitalismus als verdinglichender megamaschine einerseits und der langsam zunehmenden präsenz von irgendwelchen autismusvarianten betroffener andererseits mögliche zusammenhänge, vielleicht gar evolutionärer art, anzunehmen?
stattdessen gibt´s eine beruhigende nachricht:
"Nach außen wirken sie emotional gleichgültig – ohne es tatsächlich zu sein."(...)
ich vermute, dass sich der autor hier besonders auf den streit um die empathiefähigkeiten von autistischen menschen bezieht; vielleicht auch noch auf den punkt der reizüberflutung (mit folgerichtiger wahrnehmungsabschottung nach außen zum selbstschutz). der klarheit halber sollten dann aber auch zustände wie dieser oder auch jener erwähnt werden - denn auch das sind emotionale zustände. oder?
immerhin, jetzt folgt doch noch ein kleiner schlenker zum kapitalismus:
(...)"Die meisten Asperger-Autisten haben keine offensichtliche Behinderung und können ein selbstständiges Leben führen. Weil ihnen die gerade im postfordistischen Kapitalismus fetischisierten Eigenschaften wie »Teamfähigkeit« und »Flexibilität« fehlen, gelingt ihnen meist keine ihren tatsächlichen Fähigkeiten angemessene Berufslaufbahn."(...)
aber ein mehr als ärgerlicher schlenker: erstens, sollen wir den führenden im "forbes-ranking" der weltweit reichsten leute und vermutlich bekanntesten kapitalisten überhaupt nur als ausnahme von der regel ansehen? und wie sieht es zweitens generell in der it-branche aus, die als wirtschaftszweig unser aller leben ja nun nicht unwesentlich beeinflusst? und wie überhaupt in den ganzen sog. neuen technologien, von "bio" bis "nano", in denen zunehmend enorme abstraktionsfähigkeiten - eine der leistungen objektivistischer wahrnehmung - gefordert werden? andererseits: was hat es denn mit der "teamfähigkeit" oder auch den vielbeschworenen "flachen hierarchien" in den ökonomischen strukturen tatsächlich auf sich? hier ist i.d.r. weniger authentische - und befreiende - kollektivität gemeint als vielmehr eine simulation derselben, die nicht geringen leistungsdruck auf die betroffenen ausübt - im interesse der profitrate.
nun wird die asperger-variante des autistischen spektrums im allgemeinen tatsächlich als nicht simulationsfähig angesehen - aber gilt das erstens auch noch unter gesellschaftlichen bedingungen, in denen virtuelle prozesse aller art (v.a. simulierte kommunikation unter ausschluß der körperlichkeit) explosionsartig um sich zu greifen scheinen, und auch in folge dessen zweitens simulierte prozesse als produkt des objektivistischen wahrnehmungsmodus selbst unter grundsätzlich authentizitätsfähigen menschen mehr und mehr im alltag an die erste stelle rücken? bei näherer betrachtung stellen sich bspw. die meisten sog. "geschäftsbeziehungen" als fakes, d.h. beziehungssimulationen, heraus, für die das wort warenbeziehung zwar beliebt, jedoch irreführend ist - es handelt sich schlicht um ein mehr oder weniger anonymisiertes nebeneinander von subjekten, die in ihren "jobs" in verschiedenen objekthaften masken auftreten und dazu neigen, sich selbst und untereinander, erst recht aber die kunden, ebenfalls als - bestenfalls solvente und damit profitable - objekte zu behandeln. von beziehungen, die diesen namen auch verdienen würden, ist dabei keine spur zu entdecken.
und vor diesem hintergrund ist die hypothese durchaus ernstzunehmen, dass derlei verhältnisse selbst "eigentlich" simulationsunfähigen autisten stark entgegenkommen - denn ein "als-ob"-sozialverhalten ist trainierbar, und leute wie temple grandin sind dafür ein ganz gutes beispiel (siehe dazu nochmal den basisbeitrag autismus).
die möglichen simulationsfähigen autismusvarianten (siehe als "verdachtsfälle" hier, hier und auch hier) sind dabei noch nichtmal thematisiert.
jedenfalls ist bei den derzeitigen gesellschaftlichen bedingungen das folgende durchaus schlüssig:
(...)"Viele Menschen mit Asperger-Syndrom und anderen »hochfunktionalen« (selbständige Lebensführung ermöglichenden) Autismus-Varianten wehren sich in letzter Zeit energisch dagegen, daß Autismus nur negativ, durch Defizite charakterisiert und durchweg als »Behinderung« dargestellt wird."
klar - wenn die gesamtgesellschaft in entscheidenden bereichen selbst zunehmend verhältnisse zulässt, die sich als im weitesten sinne autistisch oder zumindest autismuskompatibel (das internet ist dafür übrigens eines der prägnantesten beispiele) begreifen lassen, und das auch noch als "fortschritt" mißversteht - wenn das also der aktuelle status quo ist, dann ist tatsächlich nicht einzusehen, warum die "klassischen" autisten noch länger als "behindert" gelten sollen. allerdings: als emanzipation im authentischen sinn sollte das wirklich niemand begreifen.
"Einer der besten Kenner des Asperger-Syndroms, der australische Psychologe Tony Attwood, schlägt sogar vor, die »Diagnose« des Asperger-»Syndroms« als Pathologie einfach zu vergessen und an ihre Stelle die »Entdeckung« des »Aspie«-Charakters zu setzen. Denn er hat festgestellt, daß unter Menschen mit Asperger-Syndrom mit hoher Regelmäßigkeit mindestens ebensoviele markante positive Charaktereigenschaften wie Defizite anzutreffen sind: Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit, Vorurteilsfreiheit, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, starker Sinn für Gerechtigkeit."
die gewissenhaftigkeit und sorgfalt - böswillig ließe sich auch pedanterie sagen - hat bspw. im bereich der edv-programmierung tatsächlich ihre vorteile, die allerdings nicht unabhängig von der verwendung der dadurch erzeugten produkte zu sehen sind. ein sorgfältig ausgetüfteltes überwachungs- oder waffensystem mag dem mehr oder weniger autistischen programmierer persönlich freude bereiten (und seinen auftraggebern ebenso) - die späteren opfer jedoch müssen dann den mit den oben genannten fähigkeiten assozierten mehr oder weniger starken verlust der empathiefähigkeit regelmäßig mit einbußen ihrer freiheit, gesundheit oder gar ihres lebens bezahlen.
die wahrheitsliebe bzw. aufrichtigkeit ist hier eher als synonym für die ebenfalls als typische asperger-eigenschaft beschriebene unfähigkeit zur lüge zu begreifen, und das ist ein durchaus zweischneidiges schwert. sicher, wahrheitsliebe wird als moralische forderung in dieser gesellschaft allerorten vor sich hergetragen. und lügen sind pfui. hier geht es jedoch um etwas ganz grundsätzliches: es gibt einige indizien dafür, dass die fähigkeit zu fakes/simulationen (und das sind lügen) als grundaussattung in allen menschen nicht nur angelegt, sondern in bestimmten ausmaß sogar absolut notwendig bei der entwicklung einer authentischen menschlichen identität ist. das mag zunächst seltsam klingen, ist aber bei näherer betrachtung durchaus schlüssig:
es geht v.a. um die "kleinen" lügen, mit denen sich bspw. kinder den zur ihrer entwicklung nötigen freiraum innerhalb der ansonsten dominanten kontrolle seitens des erwachsenen umfeldes beschaffen. ebenfalls gibt es bekanntlich durchaus sinnvolle schutzlügen, die aus einer authentisch empathischen wahrnehmung entspringen, ja sogar ausdruck von liebevoller besorgnis darstellen können. ich rede hier nicht von den gewohnheitsmäßigen simulationen von soziopathen; und andererseits auch nicht von der art von wahrheit, wie sie - achtung, polemik - bspw. die historischen nazis bei der völlig korrekten ankündigung ihrer vorhaben bezgl. mord und totschlag "auszeichnete". brutale wahrheiten, die kaum jemand hören wollte, und die womöglich auch aus einer gewissen zwanghaftigkeit heraus entstanden sind. permanente aufrichtigkeit kann massiv und bösartig grenzverletzend sein, und ist eigentlich nicht vorstellbar bei gleichzeitiger anwesenheit von empathie, die in heiklen sozialen situationen korrigierend wirkt.
die kunst besteht vermutlich darin, an den nötigen und wichtigen stellen jeweils wahrhaftig und bei bedarf auch simulativ zu sein - und dazu muss das volle menschliche wahrnehmungsspektrum vorhanden sein.
und der "starke sinn für gerechtigkeit" hat meiner meinung nach verdammt viel ähnlichkeiten mit dem prinzip, nach dem auch die heutige justiz arbeitet - ein nach objektivistischen prinzipien arbeitendes abstraktes netz, welches über alles und jedes geworfen wird - und eben daher kaum jemals wirkliche gerechtigkeit herstellen kann.
"Asperger-Spezialisten gehen davon aus, daß zahlreiche prominente Persönlichkeiten vom Asperger-Syndrom betroffen waren und sind: Newton, Einstein, Kant, Wittgenstein, Michelangelo, Kafka und viele andere. Würde eine »Heilung« solche Menschen nicht ihrer Produktivität berauben?"
das greift wieder eine diskussion auf, die hier im blog an verschiedenen stellen schon geführt wurde - und aus einer dieser debatten eine für mich immer noch gültige antwort:
"es gibt von temple grandin, die hier im zusammenhang mit dem asperger-syndrom als betroffene an anderer stelle zitiert worden ist, ein zitat, welches sinngemäß lautet, dass, "wenn alle menschen nt´s (neurologisch typisch, asperger-slang für "normale") wären, wir heute noch in höhlen sitzen und nur miteinander reden würden".
manchmal frage ich mich aber, ob das nicht vorziehenswerter wäre als die heutige situation. irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde", zitiert - als ferment /katalysatoren für notwendige grenzverletzungen, die erst weiterentwicklungen möglich machen würden, seien sie für alle gesellschaften unverzichtbar. und wenn ich mir dann so die verschiedenen bereiche der kunst betrachte, mit all ihren freakigen protagonistInnen...
und trotzdem: die logik hinter solchen aussagen wie oben finde ich schon nachvollziehbar - aber gleichzeitig finde ich das auch eine implizite glorifizierung von menschlichem leid, die ich nicht vertreten kann und auch nicht möchte.
meiner meinung nach sind - qualitativ! - andere formen von entwicklung auch möglich ohne die vorbedingung, dass gesellschaften dafür erst eine mehr oder weniger große zahl ihrer mitglieder in den wahnsinn treiben müssen. allerdings meine ich damit entwicklungen, die den heutigen gesellschaftlichen normen dessen, was als wünschenswert erachtet wird, in den meisten punkten scharf zuwiderlaufen."
als nachtrag auch noch dieser aspekt: die erwähnte produktivität ist zu einem nicht kleinen teil bis heute für die leidvollen zustände auf diesem planeten mitverantwortlich.
"Seit 2005 feiern Menschen mit Autismus den 18. Juni als »Autistic Pride Day«. Sie verstehen ihn als Aktionstag gegen die Pathologisierung des Autismus und für die Anerkennung der »neurologischen Vielfalt« unterschiedlich begabter Menschen."(...)
die "neurologische vielfalt" unter und in unserer spezies anzuerkennen wäre tatsächlich ein erster nötiger schritt, um viele destruktive phänomene tatsächlich begreifen zu können. sie würde u.a. zu solchen nicht gerade kleinen konsequenzen führen müssen, das heutige justizwesen komplett umzugestalten. sie würde gleichfalls auch meiner meinung nach zu einer qualitativ neuen bewertung von phänomenen wie dem faschismus führen, und sie würde den zustand derjenigen deutlicher machen, die sich - meist als ideologie oder propaganda abgetan - bis heute gegen den gedanken von der gleichheit aller menschen wenden. als abstraktes existiert diese gleichheit, jedoch nicht in der realität. daraus dann aber wiederum die notwendigkeit sozialer/ökonomischer hierarchien abzuleiten, macht etwas deutlich, was mir bis heute kaum begriffen worden zu scheint (wobei ich das selbst sehr schwierig zu begreifen finde und etliche zeit benötigte, bis mir dieser gedanke plausibler erschien):
nämlich die entwicklung von einen begriff der menschlichen geschichte, der die aus den verstrickungen der verschiedenen neurologischen ( bzw. psychophysischen als begriffserweiterung) zustände, in denen sich menschen befinden, resultierenden konflikte und kämpfe als wichtigen und untrennbaren, vielleicht sogar primären teil der bisherigen sozialen auseinandersetzungen mit selbstverständlichkeit beinhaltet.
ansatzweise findet sich dieser gedanke unausgesprochen im hintergrund zb. hier, wobei es mir mit dem dort dargestellten ansatz ähnlich wie mit teilen des gerade kommentierten artikels geht: einige neurologisch-psychophysische "seinsweisen" kommen mit immanent antisozialer tendenz daher - und das ist nichts, was ich als entpathologisierenswert empfinden würde. im gegenteil.
monoma - 18. Jun, 16:56
"Assoziationen" - nomen est omen!
1. Der jW-Artikel umfasst etwa 6000 Zeichen, die "Assoziationen" dieses Bloggers haben die dreifache Länge, und selbst philosophisch gebildete Leser wie ich haben einige Mühe, zu verstehen, worum es geht. Der Blogger täte gut daran, einmal einen knappen Zeitungsartikel für ein breiteres Publikum zu schreiben. Dann wüsste er, dass für blanke "Assoziationen", etwa Spekulationen über einen Zusammenhang zwischen Newtons Autismus und seinem Weltbild, darin kein Platz bleibt.
2. Der Blogger dagegen ordnet die jW in der Schublade "Traditionsmarxismus" ein und führt das Fehlen einer Betrachtung über den von ihm gemutmaßten Zusammenhang bei Newton auf diese Zugehörigkeit zurück. Das ist wirklich in jeder Hinsicht Unsinn. Erstens ist das Feuilleton der jW, dessen Redakteur diese Wissenschafts-Seite gestaltet hat, nicht in "traditionsmarxistischer" Hand. Auch der Autor des zitierten Artikels dürfte kaum der Kategorie "Traditionsmarxismus" zuzuordnen sein. (Er nimmt sich auch nicht in "sympathisierender neulinker Tradition" der Forderungen von AutistInnen an, sondern er ist selbst Asperger-Autist.) Zweitens sind unter Menschen mit Autismus Weltbilder aller Art anzutreffen. Deshalb entbehrt die Behauptung eines Zusammenhangs von Newtons wissenschaftlichem Denken mit seiner autistischen Persönlichkeit jeder Grundlage. Die autistische Persönlichkeit kann Menschen die Kraft geben, sich "ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen" (Kant). Mit Physik oder mit einem mechanistischen Weltbild hat sie dagegen an sich nichts zu tun.
3. So sind auch die Mutmaßungen des Bloggers über einen Zusammenhang zwischen "Kapitalismus als verdinglichender Megamaschine" und Autismus als "objektivistischer", "objektfixierter" und "verdinglichender" Wahrnehmung nichts weiter als eine Luftnummer eines second-hand-adornitischen Ideologiekritikers. Wir wissen doch gar nicht, ob Autismus heute wirklich häufiger ist als früher. Er wird bloß häufiger erkannt. Außerdem, was die ideologiekritischen Kategorien des Bloggers angeht: "Verdinglichung und verdinglichtes Denken haben auch die Bedingungen einer Welt ohne Mangel geschaffen" (Adorno).
4. Natürlich ist die im postfordistischen Kapitalismus dauernd verlangte "Teamfähigkeit" und "Flexibilität" von Grund auf fremdbestimmt, das bringt der Blogger völlig richtig auf den Punkt. Aber das steht doch gar nicht im Gegensatz zu dem, was in dem Artikel gesagt wird. Die Frage ist allerdings, ob es nicht auch in einer nicht mehr kapitalistischen, auf der Selbstorganisation der ProduzentInnen beruhenden Gesellschaft ein Recht auf Partizipation in einem Einzelgänger-Modus geben sollte. (Netzwerkförmige Technologien können dazu in der Tat dienlich sein.)
5. Die in dem Blog evozierte Vorstellung vom autistischen Programmierer, der an der Technik an sich seine helle Freude findet und sich nicht darum schert, was mit dem Resultat seiner gründlichen Arbeit angerichtet wird, ist ein Klischee, das mit der Realität von AutistInnen sehr wenig zu tun hat. "Aspies" sind sehr häufig zugleich hochsensible Persönlichkeiten, denen man wirklich nicht unterstellen sollte, sie wären scharf auf technische Selbstbefriedigung ohne Rücksicht auf die Folgen.
6. Natürlich ist simulierendes Verhalten in gewissem Maße eine notwendige Bedingung von Humanität. Natürlich bin ich freundlich zu anderen, auch wenn ich eigentlich gerade depressiv oder schlecht gelaunt bin - denn dafür können die anderen nichts. Natürlich ist keine entwickelte Subjektivität möglich ohne Vermittlung und Entäußerung. Ein Asperger-Syndrom ist nun eben nicht einfach die permanente und totale Abwesenheit von Simulations- und Vermittlungsfähigkeit. Aspies sind genauso lern- und entwicklungsfähig wie andere Menschen (manchmal sogar mehr als andere), bloß läuft die Entwicklung bei ihnen anders ab. Wenn Aspie-Kinder sich besonders für Gegenstände wie Waschmaschinen interessieren, heißt das noch lange nicht, dass sie das lebenslang tun. Es ist doch überhaupt nicht wahr, dass Aspies keine soziale Kompetenz besäßen. Sie erwerben sie anders, in der Regel später als NTs und dadurch auch bewusster. Das kann enorme Stärken mit sich führen, z.B. sogar ein starkes soziales Engagement. - Den Gerechtigkeitssinn von Aspies mit dem Formalismus der Justiz in Verbindung zu bringen, ist wieder einmal eine der oben bereits kritisierten, völlig willkürlichen und unbegründeten "Assoziationen".
7. Für den Autistic Pride engagierte Aspies verlangen nicht, dass alle Menschen autistisch werden sollen. Sie erkennen die Fähigkeiten von NTs an und verlangen nur, dass diese reziprok ebenso verfahren. Insofern ist jede Überlegung darüber, wie eine nur aus AutistInnen bestehende Menschheit aussähe, völlig unsinnig.
8. Wirkliche Gleichheit wäre die Freiheit, ohne Angst verschieden sein zu können (Adorno).
9. Die autistische Seinsweise ist nicht antisozial. Sie ist auf andere Weise sozial als die neurologisch typische.
10. Was der Blogger gegen Ende als Konzept von Geschichte skizziert, ist nicht schlecht. Ärgerlich ist nur, dass er sein "Wissen" über Autismus, das er munter zu allen möglichen und unmöglichen "Assoziationen" verrührt, anscheinend aus auf veralteten Theorien beruhenden populärwissenschaftlichen Magazinen hat. In diesem Text ist jedenfalls nicht erkennbar, dass der Blogger irgendwelche reale Erfahrung mit autistischen Menschen hätte.
für mich ist hinter deinem text schwer erkennbar, dass du dich mit deiner inhaltlichen kritik an einen realen menschen wendest oder eine inhaltliche auseinandersetzung mit gegenseitigem respekt suchst. aber vielleicht wolltest du ja nur demonstrieren, wie es wirkt, und jetzt schlage ich mal in die von dir geschlagene kerbe, wenn 'ein aspie' kein simuliertes verhalten anwendet sondern im 'objektivistischen modus' bleibt???????
für mich hat monoma mit seinen überlegungen, die du als 'auf veralteten theorien beruhenden assoziationen' bezeichnest, eine ganze menge nachdenklichkeit provoziert, die zur weiteren beschäftigung mit dem thema anregen. im gegensatz zu dir, hatte ich beim lesen des beitrags nicht das gefühl, dass damit auf WELTBILD-EBENE argumentiert wird, wo je nach theoretischem hintergrund (und es gibt viele theorien, die die wahrheit für sich beanspruchen) die abwertung oder anerkennung von personen und andere werturteile begründet werden.
ich habe die überlegungen im zusammenhang mit der ‚vergesellschaftung’ des ‚asperger-phänomens’ im gegenteil eher als darüber hinaus gehenden versuch verstanden, auf 'ANTISOZIALES' verhalten als neurologisch-psychophysische ‚seinsweise’ hinzuweisen und darauf, dass diese seinsweise, ‚autistic-pride-day’ hin oder her, nichts ist, worauf irgendjemand - ‚aspie’ oder ‚nicht aspie’ - zu irgendeinem zeitpunkt stolz sein könnte.
mfg
eine antwort...
Antisozial- Begriffsklärung
"ich habe die überlegungen im zusammenhang mit der ‚vergesellschaftung’ des ‚asperger-phänomens’ im gegenteil eher als darüber hinaus gehenden versuch verstanden, auf 'ANTISOZIALES' verhalten als neurologisch-psychophysische ‚seinsweise’ hinzuweisen und darauf, dass diese seinsweise, ‚autistic-pride-day’ hin oder her, nichts ist, worauf irgendjemand - ‚aspie’ oder ‚nicht aspie’ - zu irgendeinem zeitpunkt stolz sein könnte."
Der Antisoziale wird als "Autist" bezeichnet, weil sich noch nicht herumgesprochen hat, das es tatsächlich Autisten gibt. Das sind Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich in einer unlogischen Welt voller irrational agierender Menschen zurechtzufinden.
Eine Welt, die einen Autisten vielleicht antisozial machen kann. Dann würde beides zutreffen, aber noch lange nicht rechtfertigen, den Begriff des Autismus zur Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene zu missbrauchen.
Man kann nicht alles einfach irgendwie abwertend benennen, ohne Rücksicht auf die entsprechende Minderheit zu nehmen. Die Verwendung des Begriffs in diesem Kontext schürt Vorurteile wie auch die Gleichsetzung mit antisozialem Verhalten.
Worauf ich stolz bin, ist meine Sache. Und ich bin stolz darauf, dass ich es als Autist geschafft habe, ein selbstständiges Leben zu führen und für mich selbst sorgen zu können. Das ist nicht leicht und es ist auch nur wenigen vergönnt.
Ich bin auch stolz darauf, dass ich mir ein soziales Umfeld geschaffen habe und auch darauf, dass ich mich gesellschaftlich und politisch engagiere.
Ich lasse mich nicht pathologisieren und diskriminieren und ich bestehe darauf, dass auch mir die im Grundgesetz verankerten Rechte zustehen. Das Recht auf Menschenwürde zum Beispiel.
Was hat Asperger überhaupt mit antisozialem Verhalten zu tun? Wir Autisten stellen uns jeden Tag hin, versuchen, Euch zu verstehen. Eure Regeln zu lernen. Uns Euch anzupassen. Uns in Eurer Welt zurechtzufinden.
Ihr lacht über uns. Grenzt uns aus. Bezeichnet uns als antisozial. Greift uns sogar tätlich an. Wann stempelt Ihr uns ein "A" in den Ausweis?
Was ist ANTISOZIAL?
Gruß, Guru