notizen

Mittwoch, 29. November 2006

notiz: vergessene zonen der zerstörung

in verlaufe dieses beitrags hatte ich neulich einen längeren auszug zur epidemischen verbreitung (post-)traumatischer störungen im gaza-streifen zitiert - und wie sich die realitäten in ganz verschiedenen regionen des planeten mittlerweile strukturell gleichen, wird hier deutlich:

(...)"Seit Beginn des ersten Tschetschenienkrieges im Jahr 1994 gehören Minendetonationen, Verschleppungen, Vergewaltigungen und Tod zu dem Alltag der tschetschenischen Kinder.

Nach Schätzungen internationaler Menschenrechtsorganisationen sind 42.000 Kinder in den beiden Kriegen getötet worden. 25.000 Kinder haben einen Elternteil verloren, mehr als 1200 sind Vollwaisen; 19.000 Kinder sind Invaliden.(...)

Mediziner gehen davon aus, dass 90 Prozent der tschetschenischen Kinder und Jugendlichen psychisch stark traumatisiert sind. In einem Gespräch mit Radio Svoboda ("Radio Freiheit") warnte einer der führenden Psychiater Tschetscheniens, Mussa Dalsaew, vor Folgeerscheinungen: "Wenn sich die Situation etwas beruhigt hat, wenn der Krieg zu Ende ist und aktive Wiederaufbauarbeiten beginnen, dann können Probleme explodieren, die bis dahin hinter der brüchigen Fassade der Schutzmechanismen versteckt gehalten wurden."(...)


tschetschenien. ist ja irgendwo da hinten, ganz weit weg.

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die ersten beiträge des trauma-schwerpunktes sind in der arbeit; aber den genauen zeitpunkt, wann es hier losgeht, möchte ich bewußt nicht genau festlegen - erstens bin ich da aufgrund früherer erfahrungen hier sozusagen ein gebranntes kind, zweitens stellen sich diverse aspekte des themas - nicht ganz überraschend - als ziemlich belastend heraus (wiedermal - aber das ist mir immer noch lieber als pure abstumpfung). ich bitte also die leserInnen um etwas geduld.

Montag, 13. November 2006

notiz: treffende sätze...

...und zwar in einem kurzen bericht zu einem altbekannten thema (siehe z.b. hier und hier, sowie - besonders zum erwähnten aspekt der simulation - die beiträge zur als-ob-persönlichkeit).

(...)"Soziopathie hat allerdings nicht allein anatomische Ursachen. Birbaumer ist der Ansicht, dass man das Verhalten eines Menschen nicht von der Umgebung trennen kann. Auch Gene allein können Soziopathie nicht produzieren, meint er. Denn: "Dissoziales Verhalten ist auch soziales Verhalten. Man muss den Menschen erst einmal in eine Situation bringen, in der ein passendes Gen sich angesprochen fühlt".(...)

dem ist nicht viel hinzuzufügen - außer der tatsache, dass unsere derzeitigen (anti-)sozialen verhältnisse einen wahren humus für derartige entwicklungen darstellen.

notiz: (und wieder mal) alleine mit der mafia

da hatte ich u.a. mit der ehrenwerten gesellschaft sizilianischen ursprungs den letzten beitrag eröffnet, und schon gibt es neue informationen zum wirken einer engen verwandten:

(...)"Laut dem BND-Papier nutzt die 'Ndrangheta Deutschland nicht nur als Durchgangsland für ihren Waffen- und Drogenschmuggel. Die Organisation habe zudem kriminelle Gewinne in zweistelliger Millionenhöhe in den Erwerb von Hotels, Gaststätten und weiteren Immobilien hauptsächlich in Thüringen, Sachsen und an der Ostsee investiert. Nach Erkenntnissen des BND und des Bundeskriminalamtes zieht die 'Ndrangheta den Großteil ihrer Gewinne aus dem internationalen Rauschgift- und Waffenhandel. In beiden Fällen führen die wichtigsten Transitrouten durch Europa über die Bundesrepublik. In Ostdeutschland haben sich zu diesem Zweck laut BND mehrere Clans der Organisation angesiedelt, um von dort aus insbesondere den Waffen- und Sprengstoffschmuggel nach Osteuropa zu organisieren."(...)

geheimdienste sind ja so eine - durchaus zweifelhafte - sache: selbst konspirativ organisiert und tätig, ist manchmal nicht so genau zu beurteilen, ab wann die grenzen zu eigentlich ureigenem mafiösen treiben verwischen. dazu versuchen sie seit dem ende des "realsozialistischem blocks" auch ständig, ihre existenzberechtigung nachzuweisen. und trotzdem tendiere ich dazu, die dargestellten informationen durchaus ernst zu nehmen - ich halte mafiöse strukturen bekanntlich für ein belegbares und aus unseren skandalösen sozialen bedingungen ableitbares phänomen. zu dem staatliche institutionen wie geheimdienste allerdings grundsätzlich nicht nur punktuelle affinitäten aufweisen.

(...)"Darüber hinaus gilt Deutschland neben Belgien, den Niederlanden, Spanien und Frankreich auch als wichtigstes Zentrum der Geldwäscheaktivitäten der 'Ndrangheta. So seien an der Frankfurter Börse große Aktienpakete erworben worden, vor allem von Energiekonzernen.

Davon betroffen ist nach Erkenntnissen des BND auch der russische Energiemulti Gazprom. Aktienpakete des international operierenden Unternehmens wurden demnach von einigen Großclans der 'Ndrangheta gekauft. An Gazprom ist auch der deutsche Energiekonzern Eon Ruhrgas beteiligt. Altkanzler Gerhard Schröder ist zudem Verwaltungsratspräsident des Gazprom-Ablegers Nordeuropäische Gas-Pipeline AG. Außer in Aktienbeteiligungen investiert die Mafia ihre Gewinne in den Erwerb von Immobilien, insbesondere in Ostdeutschland. Die BND-Analyse beruft sich dabei auf Erkenntnisse des BKA und der Landeskriminalämter von Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wonach die 'Ndrangheta-Clans "kriminelle Gewinne in erheblichem Umfang in das Gebiet der ehemaligen DDR" leiten. Einer der Schwerpunkte der Investitionen sei dabei die Ostseeküste."(...)


das obige belegt nur noch mal eine wichtige aussage: niemand sollte dem irrtum verfallen, bei solchen mafiösen zuständen handele es sich lediglich um "gesetzwidrige auswüchse" eines ansonsten ganz okayen kapitalismus. eher werden hier die spitzen nicht nur eines eisbergs, sondern eines ganzen eisgebirges sichtbar - es ist mittlerweile kaum noch zu unterscheiden, wo sich die antisozialen praktiken bspw. eines bekannten softdrinkherstellers im umgang mit bspw. als "mißliebig" deklarierten gewerkschaftern oder bei praktizierter ökologischer ignoranz groß vom treiben der cosa nostra, `ndrangheta, dem japanischen yakuza oder den chinesischen triaden unterscheiden lassen. faktisch nur noch dadurch, das die einen juristisch-objektivistisch gesehen überwiegend "legale", und die anderen eben "illegale" geschäfte machen - mit einer sich ständig ausweitenden antisozialen grauzone dazwischen (um der ausgewogenheit wegen: Sie können statt des bekannten getränkekonzerns auch einen ebenso bekannten ölkonzern oder auch einen gleichfalls gut bekannten lebensmittelmulti einsetzen - oder, oder oder...). jedenfalls fühlt sich die illegale mafia in der trauten zweisamkeit mit der legalen ausnehmend wohl - warum auch nicht?

es ist gleichfalls völlig naiv anzunehmen, dass sich ein "zivilisierter" kapitalismus irgendwie anders verhalten würde - er kann es aufgrund seiner strukturellen, primär objektivistischen und damit latent antisozialen, herkunft einfach nicht. das sei vor allem jenen gesagt, die sich die relative ruhe des mit der alten brd assoziierten "rheinischen kapitalismus" zurückwünschen und das für ein praktikables modell halten. sorry, aber Ihr kaffee, mein softdrink, unsere kleidung und unsere energie waren damals bereits genauso blutbespritzt und mit leichengeruch getränkt wie heute. da gibt es keine ausnahmen. lediglich der schein musste aufgrund der historischen umstände besser gewahrt werden als heute.

zurück zur illegalen mafia: die als "ndrangheta" bekannte bandenstruktur wird in einem älteren artikel etwas genauer beleuchtet:

(...)"Die Wurzeln der Organisation reichen weit zurück. Im 19.Jahrhundert entstand sie aus Briganten und Rebellen. Das Wort „’Ndrangheta“ soll sich vom griechischen „andragathos“ – „tapferer Mann“ – ableiten. Früher machten diese „Tapferen“ ihr Geld mit Erpressung und Kidnapping. In Höhlen um Plati und San Luca wurden entführte Norditaliener versteckt.

Mächtig wurde die Mafia aber ausgerechnet durch die Hilfe des Staates für den Mezzogiorno, den Süden Italiens. Sie mästete sich am Eisenbahn- und Autobahnbau sowie an gigantischen Industrieprojekten.

Heute liegt der Jahresumsatz der ’Ndrangheta nach offiziellen Schätzungen bei 35 Milliarden Euro – das ist mehr als die legale Wirtschaftsleistung Kalabriens. Das Hauptgeschäft machen die hundert Clans mit ihren 7000 Mitgliedern nach Erkenntnissen italienischer Ermittler mit dem Drogenhandel.

Nachdem die sizilianischen Mafiosi massiv unter Ermittlungsdruck gerieten, zogen die Vettern vom Festland das Geschäft an sich. So kontrolliert die ’Ndrangheta nunmehr den weltweiten Kokainhandel. Dabei sticht sie sogar die mächtigen kolumbianischen Kartelle aus und kauft die Ernten direkt bei den Koka-Bauern."(...)


eine verzerrte oder deformierte definition von individualismus wird präsentiert - aber denken Sie einmal über die inhalte nach, die uns von den propagandisten des neoliberalen kapitalismus ständig in hirn gewaschen werden:

(...)„Die Politiker wollen uns wie zu Zeiten der Bourbonen-Herrschaft unten halten. Denn wenn wir wachsen, können die nicht mehr mit uns umspringen, wie sie wollen.“ Dann bricht es aus ihm heraus: „Wir Italiener sind Individualisten: Wenn ich eine Milliarde für Infrastruktur bekomme, gebe ich 100 Millionen dafür aus und stecke den Rest in die Tasche. Ein Gemeinschaftssinn existiert nicht. Uns interessiert nur das eigene Haus.“(...)

eine sichtbare antisoziale - und strukturell autistische - einstellung also, bei der ich keine qualitativen unterschiede zu den entsprechenden positionen bspw. der "alle-müssen-den-gürtel-enger-schnallen-und-nur-die-unternehmerische-initiative-wird-uns-retten" -propagandistInnen zu erkennen vermag. selbst das ressentiment gegenüber einem gestaltendem staat (den ich persönlich keineswegs für der weisheit letzten schluß halte) ist wie bei den am rad drehenden kapitalfetischisten vorhanden.

eine ganz gute darstellung der historischen entwicklung der mafia gibt es hier. zu den psychophysischen hintergründen - zb. besonders den familienstrukturen und erziehungspraktiken in sizilien, aber auch kalabrien - gibt es hingegen bisher nur recht wenig material. dieses wenige (mir bekannte) werde ich u.a. im kommenden traumaschwerpunkt genauer vorstellen. und ansonsten verweise ich auf die zu beginn des letzten beitrags hier verlinkten früheren blogbeiträge zum thema.

Dienstag, 7. November 2006

notiz: und zwischendurch - die kleine medienumschau (update)

sehr komprimiert ein paar hinweise auf artikel, die meine aufmerksamkeit aktiviert haben.

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die these vom zerfall der sozialen fähigkeiten (mit der option bandenbildung zum überleben) als ein hauptsymptom in gesellschaften, deren mitglieder durch massive gewaltverhältnisse in die diversen beziehungskrankheiten getrieben werden, habe ich hier schon öfter versucht zu illustrieren - beispiele brasilien, die italienische mafia und überhaupt allgemein mafiartige zustände in den sog. politischen und ökonomischen eliten. ergänzend lässt sich dazu dieser neue artikel lesen:

(...)"Eine Wirtschaft, die als rücksichtslos wahrgenommen wird, hat eine kriminogene Wirkung", macht also Menschen zu Verbrechern, sagt Bussmann."(...)

(...)"Der einzelne müsse sich heute wie ein Unternehmer gebärden, viel mehr Entscheidungen und Verantwortung selbst übernehmen. Selbst gegenüber Regierungsbehörden würden Bürger zu "Konsumenten", die sich nach Marktgesetzen richten müssten. Es herrsche eine "zynische Einstellung gegenüber dem Gesetz". Ökonomische Metaphern würden auch auf den zwischenmenschlichen Bereich ausgedehnt. Eine Kombination aus Misstrauen gegenüber dem Markt, Angst vor Verbrechen und "rechtlichem Zynismus" bilde schließlich das "Syndrom der Marktanomie".(...)


wobei die heutigen gesetze sich diese zynische einstellung durchaus verdienen. ansonsten macht es mal wieder absolut keinen spaß zu sehen, dass einen die eigenen wahrnehmungen nicht betrügen.

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vermutlich sind hier viele leserInnen auch öfter bei telepolis und werden die folgenden empfehlungen schon kennen - ich mache es deshalb kurz.

die staatlichen maßnahmen zur "prävention" gegen offiziell so definierte antisoziale persönlichkeiten besonders unter kindern und jugendlichen sind hier wieder einmal thema. was ich davon halte, habe ich im blog früher schon geschrieben. ansonsten fällt mir zum artikel nur noch ein zitat ein, dessen urheber ich leider vergessen habe - "eine gesellschaft, die angst vor ihren eigenen kindern bekommt, ist erledigt." aber hallo.

desweiteren: eine neue studie zum möglichen zusammenhang zwischen fernsehkonsum und autismus wird besprochen; der zweite teil der reihe zur aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts)störung und ihrer behandlung mit ritalin ist zu lesen, und ebenfalls geht die diskussion über die "pädagogischen" thesen von b. bueb weiter - ich finde ja, man sollte dem nicht noch mehr platz einräumen.

viele explizit "politische" artikel - wie z.b. zu den derzeitigen auseinandersetzungen in mexico - sind ebenfalls empfehlenswert. stöbern Sie einfach selbst herum.

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und zum schluß dieses wie immer unvollständigen überblicks einen artikel, der sich als ergänzung/fortführung vieler beiträge hier im blog liest - besonders an die kleine reihe zum nahostkonflikt sei hier erinnert. Ein Irrenhaus namens Gaza:

(...)"Psychiater Sarraj fürchtet, das Umfeld der Angst, Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit werde die Generation der Bettnässer in eine von «Gorillas» verwandeln. Er spricht vom Konflikt als einer Psychopathologie, von Israel und Palästina als psychisch kranken Patienten. Der israelische Patient sehe sich immer noch als Opfer, das keine Versöhnung durchlebt habe und deshalb in all seinen Handlungen von Angst getrieben werde. Der palästinensische Patient bleibe gefangen in Gedanken von Widerstand und Vergeltung. Doch das Schicksal der Menschen liegt nicht in den Händen von Psychiatern, sondern von Politikern. Diese waren bisher unfähig, Heilung und Versöhnung zu bringen. Wer hat je das Leid des anderen anerkannt?"(...)

"Wie viele psychisch krank sind und wie ihre Krankheiten heissen, weiss niemand so genau. Statistiken verzeichnen eine Anhäufung von Borderline-Persönlichkeiten, emotional instabilen Personen, die ein zerrüttetes Selbstbild aufweisen und sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren können. Eine Studie des Gaza Community Mental Health Programme stellt fest, dass über 70 Prozent der Kinder an PTBS leiden und knapp 100 Prozent Symptome davon aufweisen: Albträume, Flashbacks, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Konzentrationsstörung, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depression, manchmal Panik- oder Aggressionsattacken und Bettnässen. Wer Geld hat, kauft Tabletten: Schlaftabletten, Beruhigungstabletten. Man klagt, aber man spricht nicht über psychische Krankheiten. Wenige suchen Hilfe bei einem Psychiater. Wäre das nicht ein Geständnis, dass einen der Besatzer in die Knie gezwungen hat? Ein Eingeständnis von Schwäche in einer Zeit, in der man stark sein muss, in einer Gesellschaft, in der man stigmatisiert würde? Und welche Behandlung ist gut genug, um Wunden zu heilen, die mit jeder Bombe, jedem Angriff erneut zu eitern beginnen?"(...)


keine weiteren worte notwendig.

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edit am 10.11.: zum obigen artikel der nzz bleibt noch nachzutragen, dass ich das wort "volksseele" erstens ärgerlich, zweitens mystifizierend und drittens auch als mißglücktes synonym völlig überflüssig finde.

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einen interessanten juristischen spruch gibt es hier zu bestaunen:

(...)"Die Art der Misshandlungen sind zwar schrecklich. Aber auf der Messlatte dessen, was wir hier sonst so haben, liegen sie im unteren Bereich"..."(...)

so die richterin in diesem verfahren. einen zweijährigen mit fäusten, hausschuh und einer fernbedienung zu schlagen - und ihn zu beißen? ja - der untere bereich - und zwar ganz, ganz weit unten. aber in einem anderen sinne als von der richterin gemeint.

um es deutlich zu machen: selbst, wenn "zorn und überforderung" vielleicht als motive nachzuvollziehen sind - eine rechtfertigung für das dargestellte handeln vermag ich daraus keinesfalls abzuleiten. es ist wieder mal eine geschichte zum haareraufen, bei der als einzige konseqeunz zu konstatieren bleibt, dass es zu solchen situationen überhaupt erst gar nicht kommen darf - was ein grundlegend geändertes verhältnis zu kindern und elternschaft überhaupt impliziert. und zu der heutigen justiz, die in solchen fällen meist entweder pest oder cholera verordnet (und nichts anderes verordnen kann), habe ich an anderen stellen bereits etliches gesagt.

ein weiterer aspekt dieser geschichte ist ebenfalls interessant - und auch nicht unbekannt:

(...)"Von dem Vorwurf, außerdem ein Sexualdelikt begangen zu haben, wurde der 24-Jährige freigesprochen. Das hatte neben seiner Verteidigerin auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft beantragt, nachdem ein Psychologe die Glaubwürdigkeit der Hauptzeugin stark in Zweifel gezogen hatte. Die heute 32-jährige Mutter des Opfers leide unter der Borderline-Persönlichkeitsstörung, begründete der Gutachter. "Patienten mit dieser Krankheit neigen dazu, das zu erzählen, was gerade nahe liegt."(...)

zu diesen zweifeln an der glaubwürdigkeit hatte ich früher mal geschrieben:

(...)erstens: es gibt dokumentierte fälle von nachweislich falschen beschuldigungen bezgl. sexualisierter gewalt, oft genug von frauen mit bl-diagnose. die motive dafür können vielfältig sein und sind imo keineswegs generell als indiz für eine durch und durch bösartige persönlichkeit zu werten. wobei: auch letzteres existiert.

zweitens: es gibt noch mehr dokumentierte fälle von zutreffenden anklagen in der selben sache, in denen traumatisierten frauen/kindern oft genug durch unglauben und ignoranz neues unrecht geschieht. auch hier sind häufig frauen mit bl-diagnosen vertreten.

drittens: was für eine aussage steckt im satz von den vorwürfen, die zwar "nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar" seien? ein eingestelltes ermittlungsverfahren sagt zunächst mal überhaupt nichts aus - "beweise" im juristischen sinne sind nicht unbedingt mit dem gleichzusetzen, was den meisten von uns unter "beweisen" vorschwebt. und gerade sexualisierte gewalt innerhalb der sog. privatsphäre, innerhalb von familien, ist durch die eigenart der situation oft genug nicht juristisch verfolgbar - keine oder eingeschüchterte oder aus "loyalität" schweigende zeugInnen, dazu die traumaspezifischen prozesse von abspaltung und verdrängung. diese logik ist von der justiz bis heute immer noch nicht in ihren konsequenzen begriffen (ausnahmen bestätigen die regel)."(...)


dem - und dem daraus folgenden vielfältigen dilemma - habe ich bis auf weiteres nichts hinzuzufügen, und möchte nur nochmals die these vertreten, dass ich die heutige justiz im angesicht derartiger verhältnisse strukturell weder für geeignet noch kompetent halte.

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ebenfalls früher hatte ich in einem kommentar geschrieben:

(...)"wobei ich persönlich nicht ausschließe, dass verschiedene umweltgifte durchaus eine rolle spielen könnten in dem sinne, dass sie pathologische prozesse verschlimmern/beschleunigen oder vielleicht sogar als eine art auslöser beteiligt sein können, wenn andere wesentliche voraussetzungen für eine autistische entwicklung bereits gegeben sind. das toxische chemikalien natürlich auch psychische bzw. neurologische effekte auslösen können, ist zwar seit langem bekannt, wird aber kaum jemals berücksichtigt."(...)

zu diesem thema gibt es jetzt neue untersuchungen:

(...)"Im Schnitt zeige heute eines von sechs Kindern eine Entwicklungsstörung, sagen die Autoren der neuen Studie. Und fast immer sei das Nervensystem betroffen. Es gehe hier um Konzentrationsschwäche und Koordinationsstörungen, aber auch um so folgenschwere Erkrankungen wie Autismus. Die Mediziner fürchten, dass solche Fälle zunehmen, weil Kinder in den letzten Jahren und Jahrzehnten permanent geringen Konzentrationen der nervenschädigenden Industrie- und Umweltchemikalien ausgesetzt sind. Sie sprechen sogar von einer stillen Pandemie. Millionen Heranwachsende - vom Baby- bis zum Jugendalter - könnten weltweit betroffen sein."(...)

multidimensionales wahrnehmen und denken vorausgesetzt, wäre das als ein weiterer fataler möglicher trigger im zusammenhang mit den beziehungskrankheiten zu begreifen - anscheinend haben wir nicht nur großflächige soziale experimente am laufen - auch das unbedarft-fröhliche herumhantieren mit tausenden von synthetischen chemikalien, von denen i.d.r. die langzeitwirkungen völlig unbekannt sind, darf als potenziell suizidales projekt betrachtet werden.

Sonntag, 29. Oktober 2006

notiz: presseschau gewaltfolgen

wie üblich zwangsläufig unvollständig, und bei der gelegenheit möchte ich die leserInnen nochmals darauf hinweisen, dass ich mich über hinweise auf weitere texte / informationen zu den blogrelevanten themen auch zukünftig freuen würde (dadurch sind bereits einige beiträge entstanden).

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zur aufgekommenen "unterschichtendebatte" trägt der neurologe, psychiater und psychoanalytiker hans-joachim maaz im aktuellen freitag eine art essay bei, den ich zwar an vielen stellen zu oberflächlich finde, nichtsdestotrotz aber wegen des aussprechens ein paar ganz elementarer dinge empfehlen möchte:

(...)"Sowohl das Wirtschaftswunder im Westen als auch die sozialistische Idee im Osten waren nach dem Krieg geeignet, demokratische Verhältnisse zu etablieren, ohne dass man sich ernsthaft der möglichen Heilung vorhandener seelischer Schäden bei Millionen Deutschen annehmen musste, die Nationalsozialismus, Krieg und Völkermord erst ermöglicht hatten. Dank der tiefenpsychologischen und neurobiologischen Forschung wissen wir, wie frühe Beziehungsstörungen, die Kinder erleiden, noch im Erwachsenen-Alter zu destruktiven innerseelischen Vorgängen führen, die sich bei sozialer Not, psychischer Angst und geeigneter Verführung als kollektiver Wahn abreagieren können, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.(...)

Man mochte sich in beiden deutschen Staaten anfangs mit Aufbauleistungen der Täuschung hingeben, es sei möglich, aus dieser prekären seelischen Notlage herauszuwachsen. Ein verhängnisvoller Irrtum, der durch die Spaltung Deutschlands zusätzlich befördert wurde. Die Täuschung erlaubte es, die innerseelischen Störungen auf die jeweils andere Seite zu projizieren, um eigene Verletzungen und Entfremdungen nicht wahrnehmen zu müssen."


mit der in den letzten sätzen anklingenden interpretation der folgen der spaltung dieses landes steht er nicht ganz alleine da; auch klaus theweleit hat die mauer notwendige bedingung für gegenseitige projektionen ähnlich interpretiert (mehr zu den beiden nachkriegsdeutschlands wird im traumaschwerpunkt zu lesen sein).

"Wir wissen, ein hohler Sozialismus, dessen Ideale eben nicht innerseelisch verankert werden konnten, ist durch den Verlust an Überzeugung und durch seine Mangelwirtschaft kollabiert. Und wir sehen heute, wie eine global entfesselte Marktwirtschaft das humane, soziale und ökologische Gleichgewicht zerstört. Erneut sind wir alle beteiligt an einer derartigen Fehlentwicklung. Wiederum darf keiner sagen, er hätte nichts gewusst. Wir wissen, dass materielles Wachstum begrenzt ist, wir wissen, wie Profitstreben Arbeitslosigkeit und Armut schafft, und wir wissen, dass unsere Lebensform die natürlichen Ressourcen vernichtet und unser Klima im wörtlichen wie übertragenen Sinne zerstört. Wir haben inzwischen auch erfahren, dass es selbst in einer Demokratie möglich ist, Kriege auf der Grundlage von Lügen zu führen. Es gibt also bereits wieder Mehrheiten, die sich von Suggestionen, Manipulationen und verlogenen Ideologien leiten lassen."(...)

das wort "innerseelisch" finde ich ehrlich gesagt ziemlich unglücklich, da es sofort wieder assoziationen zu (anscheinend) "luftigen" und immateriellen sphären aufruft - und diese art spaltung zwischen psyche/"geist" und körper sollte gerade ein gesellschaftlich doch etwas bewussterer professioneller nicht noch befördern. und auch das "bereits wieder" vor den mehrheiten lässt sich imo ruhig streichen - auch in der pseudostabilität des sog. kalten kriegs waren simulative zustände eher die regel.

ganz tendenziell aber kann ich seiner zustandsbeschreibung grundsätzlich beipflichten, und möchte nur noch einen satz herausheben:

(...)"Und wer durch äußere Gewinne seine inneren Defizite befriedigen will - ganz profan gesagt, sein Liebesdefizit mit Geld begleichen will -, der braucht erkennbare Verlierer."(...)

weitergedacht, lässt sich hier irgendwann der begriff von den notwendigen (für die innere stabilität der täter) opfern im sinne von deMause finden. und die "inneren defizite" lassen sich bestimmt auch präzisieren.

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wir bleiben eng am thema und finden in der taz vom wochenende gleich einen ganzen schwerpunkt zum bereich tatort familie. daraus möchte ich u.a. erstens ein interview mit einem sozialwissenschaftler zur situation in den zuständigen behörden empfehlen, in der er nochmals auf den anhand des "falls kevin" sich aufdrängenden verdacht einer art von stillschweigender entscheidung über das wohl von kindern nach ökonomischen kriterien kommentiert:

(...)"Es gab wohl Fehleinschätzungen in den Fallkonferenzen. Dazu aber haben sich die Sparvorschläge im gesamten Organisationsklima wohl als Druck ausgewirkt. Die Fachkräfte hatten vermutlich eine Art Zensur im Kopf. Die bewirkte, dass man nicht mehr fragte, was notwendig ist. Stattdessen fragte man, ob man es noch so eben verantworten kann, das Kind nicht in die Obhut einer Einrichtung zu geben.(...)"

zweitens eine art überblick über die situation in diesem land, die u.a. bereits im blog thematisierte punkte aufgreift:

(...)"Wir wissen nicht einmal viel über Kinder. Die umfassende Studie über das, was Drei- bis Zehnjährige über die Welt denken, welche Träume und Wünsche sie haben, wurde eben erst von der Hilfsorganisation World Vision in Auftrag gegeben. Über Misshandlungen und Vernachlässigungen gibt es nur eine Reihe vereinzelter Untersuchungen. Zwei Kinder sterben pro Woche in Deutschland an Misshandlungen, hat die Unicef herausgefunden. Doch was ist mit der großen Zahl an nicht tödlichen oder nicht sichtbaren Misshandlungen? Wie sieht es mit Vernachlässigungen aus? Hier können Experten nur mit Hilfe der Kriminalstatistik schätzen: Etwa ein Prozent der jährlich geborenen Kinder sind von Verwahrlosung bedroht, glauben sie. Das wären in der Altersgruppe der bis zu Zehnjährigen etwa 80.000 Kinder.

Bei der Berliner Polizei vergleicht man das Dunkelfeld verschiedener Straftaten und zieht daraus Rückschlüsse. "Bei Sexualdelikten gegen Kinder liegt das Verhältnis von einem aufgeklärtem Fall zu einem nicht polizeibekannten in einer Spannbreite von eins zu sechs bis eins zu zwanzig", sagt Michael Havemann, Leiter des Dezernats 12, das auch für Kindesmisshandlungen zuständig ist. "Und weil die Hemmschwelle für Vernachlässigung und Misshandlung wohl höher ist als bei sexuellem Missbrauch liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich eher am oberen Ende dieses Spektrums." 2005 ermittelte die Berliner Polizei in 314 Fällen wegen Vernachlässigung und in 472 wegen Misshandlung. Diese Zahlen müsste man wohl mit zwanzig multiplizieren um sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Leidens von Kindern zu machen.

Die Berliner Polizei ist bundesweit die einzige, die ein eigenes Kommissariat zur Bekämpfung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung unterhält. Die Beamten wissen genau, wie verharmlosend diese beiden Begriffe eigentlich sind. "Viele stellen sich unter Misshandlungen einfach nur ein paar blaue Flecke vor", sagt Havemann und blättert Bilder aus Ermittlungsakten auf den Tisch: ausgehungerte Säuglinge, dunkle Striemen von Kleiderbügeln, Glutnarben von Zigaretten, Knochenbrüche, Verbrühungen durch heißes Wasser, Flecken, die von heißen Bügeleisen stammen. Und er erzählt von Kindern, die geschüttelt werden, wenn sie zu viel schreien. Dabei reißen leicht die Brückenvenen, die zwischen Gehirn und Hirnhaut verlaufen. An den Blutungen kann ein Kleinkind durchaus sterben. Häufiger jedoch sind Spätfolgen - schwerste Behinderungen beispielsweise. Dann zitiert Havemann Aussagen von Eltern: "Ich habe dieses Kind in die Welt gesetzt, ich kann damit machen, was ich will", sagen sie. Oder: "Mir tat die Hand vom Schlagen so weh, da musste ich einen Bügel nehmen."(...)


"ich kann damit machen, was ich will" - mein eigentum, im sinne eines beliebigen dings. nicht oft genug kann wiederholt werden, dass es sich bei solchen äußerungen aller wahrscheinlichkeit nach um eine art symptom des objektivistischen wahrnehmungsmodus in einer krankheitswertigen monopolposition handelt - auch die täterInnen nehmen sich letztlich selbst, v.a. ihren körper, als ding wahr - und sitzen als virtuelles und immaterielles "ich" irgendwo "in" ihrem kopf, paranoid und kontrollierend. aber das ist weder ein muss noch gar die angeblich natürliche und einzige variante der menschlichen existenz (auf dieser behauptung gründet sich in letzter konsequenz, nebenbei gesagt, auch der kapitalismus als ideologie).

zur frage, welche gesellschaftlichen schichten (bzw. klassen) eigentlich vorwiegend betroffen sind, gibt es, wie eigentlich nicht anders zu erwarten, streit:

(...)"Die meisten Fälle, sind sich fast alle Experten einig, geschehen in armen Familien. "Vernachlässigung und Misshandlung sind fast ausschließlich ein Phänomen der Unterschicht", sagen unisono der Kriminologe Christian Pfeiffer und der Soziologe Klaus Hurrelmann (siehe Interview). LKA-Chef Havemann hat da andere Erfahrungen. Bei Misshandlungen, sagt er, stammen die Täter aus einem "breiten gesellschaftlichen Spektrum". Der Unterschied sei nur: Grausamkeiten gegen Kinder in Mittel- und Oberschicht äußere sich weniger häufig in körperlicher Gewalt: "Wenn eine Mutter den Hamster der Tochter im Klo runterspült, dann ist das eine seelische Misshandlung, aber dem Kind sieht man nichts an." Auch was Migrantenfamilien betrifft, sprechen die Zahlen der Berliner Polizei eine andere Sprache als die der Forscher. Die meinen, dass dort die Eltern öfter zuschlagen, die Beamten stellen bisher "keine diesbezüglichen Auffälligkeiten" fest. Den logisch scheinenden Befund, dass Drogensucht der Eltern ein erhöhtes Misshandlungsrisiko für Kinder sei, stellt eine noch nicht veröffentlichte Studie aus Leipzig ebenfalls in Frage. "Es besteht noch viel Forschungsbedarf", sagt Heinz Hilger, Präsident des Kinderschutzbundes. Er wehrt sich aber dagegen, eine "Ablenkungsdebatte" über Wohlstandsvernachlässigung zu führen. "Zu 90 Prozent sind Misshandlung und Vernachlässigung ein Problem armer Familien." Wo es Armut gebe, sei nun einmal weniger zu verteilen. Zudem hätten Eltern kaum Möglichkeiten, sich von der Kindererziehung zu entlasten, weil der Babysitter oder ein Kindermädchen zu teuer sind."(...)

ich sage dazu: vor allem die methoden der objektivistischen gewalt sind je nach klasse verschieden - die bürgerlichen mittel- und oberschichten sind sozusagen durch ihre konstruierten selbstbilder in ihrer virtualisierung (verachtung des körpers) weiter fortgeschritten, werden dazu eher durch bestimmte "moralische" (und ebenso konstruierte) gerüste von offener gewalt abgehalten - und greifen dann lieber zu primär "psychisch" erscheinenden formen (die sich aber natürlich letztlich ebenso materiell niederschlagen - bspw. in der neurophysiologie des gehirns - wie die "ganz banale" prügel).

ein streitgespräch greift als letztes einige widersprüche wieder auf, die ich selbst hier schon geäussert habe. ich kann nach wie vor verschiedene argumente nachvollziehen:

(...)"Auch überdauert bei uns das Denken, ein Kind allein als Privatsache zu betrachten. In unseren Köpfen dauert dieses Denken fort: dass Mutterliebe quasi ein Automatismus ist. Dass der Staat sich nicht einmischen sollte. Wir aber müssen deutlich machen: Ein Kind zu erziehen ist keine Privatsache."(...)

finde ich prinzipiell richtig (auch, wenn ich nicht gerade den staat als babysitter sehen möchte).

(...)"Man sollte so etwas nicht mit Androhungen von Strafen verbinden. Mutterliebe lässt sich nicht erzwingen. Im Gegenteil laufen wir dann Gefahr, dass die Eltern sich bevormundet fühlen und sich gegen jede Hilfe sperren."(...)

dito (wobei der aspekt der totalitären tendenzen in jeder art staatlicher kontrolle noch nicht mal angesprochen wurde).

solange die mitglieder dieser gesellschaft hier überwiegend meinen, ohne staat nicht auskommen zu können, wird im interesse der betroffenen kinder vermutlich nichts anderes übrigbleiben, als einen gewissen raum für staatliche sanktionen zuzugestehen - auch wenn mich diese (hoffentlich) übergangslösung keinesfalls zufrieden stimmt.

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es ist ja doch der gleiche staat, der seinen eigenen untertanen (die frage, wieweit dieses untertanendasein gerade bei soldaten eigentlich tatsächlich selbstgewählt ist, sollte beim folgenden immer im hinterkopf bleiben) solches zumutet:

(...)"Wie leben Sie heute mit der PTBS?

Ich würde eher sagen, ich überlebe. Ich schlafe nur mit Tabletten ein und wache nur mit Tabletten wieder auf. Nachts fange ich an zu zittern. Damit ich das Pfeifen im Ohr nicht höre, lasse ich nachts das Radio an. Meine Freundin hat sich schon daran gewähnt. Wenn ich mit ihr oder meiner Tochter zusammen bin, komme ich zur Ruhe. Tagsüber habe ich Flashbacks, bei denen die Bilder wieder auftauchen. Vom Kameraden ohne Kopf, von den Fliegen. Den Blutgeruch habe ich immer in der Nase. Ich hab mir schon Tigerbalsam unter die Nase gerieben. Aber das hilft nicht. 2004 wurde ein Gehirntumor festgestellt. Der wurde schon ein paarmal entfernt, aber er kam immer wieder. Weil ich als Reservist nur eine kleine Rente bekomme, stehe ich vor dem finanziellen Ruin. Ich wurde beim Einsatz dienstunfähig, also kämpfe ich darum, wie ein aktiver Feldwebel bezahlt zu werden. Im November muss ich wieder nach Hamburg ins Bundeswehrkrankenhaus. Ich soll mal wieder untersucht werden, ob ich wirklich PTBS habe. Ich werde von einer Dienststelle an die nächste weitergereicht."(...)


und zum genannten hamburger bundeswehrkrankenhaus findet sich hier einiges interessante:

(...)"Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg zu einem düsteren Nebenkriegsschauplatz der Auseinandersetzungen in Afghanistan, Bosnien und Kosovo geworden: In der Abteilung VI für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie wurde und wird ein Großteil jener (offiziell) rund 1550 deutschen Soldaten behandelt, die als Folge ihrer Erlebnisse und Erfahrungen an schweren psychischen Störungen, vor allem an der selbstzerstörerischen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden."(...)

es stellen sich gerade hier so einige fragen - wie kriege auch noch sozusagen indirekt in das soziale gefüge kriegführender gesellschaften eingreifen (und dabei wiederum in großen dimensionen geschädigte, aber gleichzeitig womöglich auch machtkompatible menschen hervorbringen), ist dabei längst keine frage mehr:

(...)"Patienten berichten, dass sie ihre Kinder bei Hausaufgabenhilfe geschlagen haben, was sie früher nie getan hätten", sagte Oberstarzt Dr. Karl-Heinz Biesold, Leitender Arzt der Abteilung VI, der auf dem Balkan und in Afghanistan im Einsatz war. "In akuten Fällen sind die Männer nicht aggressiv, sondern gefühlsmäßig taub. Sie spüren keine Gefühlsregung, weder Freude noch Trauer."(...)

einige fragen, die sich besonders die behandelnden ärzte, psychiater, psychologen/therapeuten stellen lassen müssen, entstehen zwangsläufig bei ansicht des folgenden:

(...)"In Hamburg hat es Dr. Biesold mit Opfern wie David Hallbauer zu tun, der am 13. Juni 1999 in Prizren die ersten tödlichen Schüsse eines Bundeswehrsoldaten abgefeuert hatte, als zwei Serben in einem gelben Lada feuernd auf ihn zurasten. Der 22-Jährige hatte, wie befohlen, erst Einzel-, dann Dauerfeuer abgegeben. Am Ende waren die von 27 Kugeln getroffenen Serben tot. Hallbauer hatte die Bedrohung der zivilen Marktplatzbesucher abgewendet, den ersten Schusswechsel seines Lebens aber konnte er nicht verkraften. Er ist seit drei Jahren in der Hamburger Militärpsychiatrie in Behandlung, seine Bewerbung als Berufssoldat wurde abgelehnt, sein Leben ist ruiniert."(...)

erstens: wer hat eigentlich überhaupt im "politischen" sinne die situation auf dem balkan zu verantworten? serbien als alleine verantwortlich zu begreifen, ist eine bequeme reduktion gerade der deutschen rolle bei der auflösung jugoslawiens. ich frage mich, ob sich die verantwortlichen mediziner auch selbst fragen, was eigentlich die institution, für die sie tätig sind, im ausland zu suchen hat? zweitens: kriege als extemste formen menschlicher gewalt in massendimensionen haben - und das ist seit jahrzehnten auch wissenschaftlich bekannt - nun mal entsprechend extreme folgen, die aber - und das ist wichtig! - keinesfalls immer zb. in form einer ptbs auftreten müssen. der oben beschriebene soldat zeigt imo doch eine durchaus menschliche reaktion: beschossen zu werden und selbst zu töten (auch in notwehr) ist letztlich für keinen menschen leicht "wegzustecken" - ausser für solche, die bereits in ihrer selbst- und fremdwahrnehmung geschädigt sind (die werden womöglich dann als "robuste naturen" noch als vorbilder hingestellt). es ist nicht sehr weit hergeholt zu spekulieren, dass gerade in einem militärkrankenhaus das kriterium der "funktionsfähigkeit" noch um das attribut "dienstfähig" als zeichen einer erfolgreichen behandlung erweitert sein dürfte. aber hat die fähigkeit, innerhalb einer gewaltproduzierenden institution wie einer armee funktionieren zu können, wirklich etwas mit "heilsein" in einem menschlichen sinne zu tun? meine antwort darauf können Sie sich vermutlich vorstellen.

fragen muss sich aber auch der autor des artikels stellen lassen:

(...)"Gebraucht werden jetzt mehr Psychologen für die Früherkennung am Einsatzort, damit man die Nachsorge nicht als Rückzugsgefechte betreiben muss. Wenn nicht, wird die Bundeswehr den "Krieg der Seelen" verlieren."(...)

wer medizinische tätigkeiten als "rückzugsgefecht" bezeichnet und dazu einen "krieg der seelen" postuliert (bei dem so ganz nebenbei das harte aushalten von grausamkeiten und gewalt implizit als "erstrebenswert" - weil nötig zum "gewinnen" - enthalten ist), schrammt bereits ganz nah an der wertung "schreibtischtäter" herum.

Freitag, 20. Oktober 2006

notiz: "für freiheit und demokratie", "für volk und vaterland", für... wie lange noch?

innerlich verspüre ich immer öfter bei solchen meldungen eine art von erstarrung - Traumatisierter US-Soldat zerstückelte Freundin.

der inhalt des darunter stehenden berichts ist teils extrem grausam, deshalb möchte ich allen, die aufgrund ihrer eigenen biographie möglicherweise re-traumatisierende triggereffekte verspüren könnten, dringend raten, mit dem lesen vorsichtig zu sein. wobei der dokumentierte horror einmal mehr das deutlich macht, was ich schon öfter unter täter-opfer-dialektik gefasst habe.

eher allgemein geht es dann mit informationen weiter, die für interessierte nicht gar so neu sind, aber nicht oft genug wiederholt werden können:

(...)"Mehr als ein Drittel aller aus dem Irak zurückgekehrten US-Soldaten hat binnen eines Jahres nach dem Einsatz psychologische Hilfe erhalten. Dies geht aus einer Untersuchung des Verteidigungsministeriums in Washington hervor. Bei zwölf Prozent der Heimkehrer wurden demnach psychische Probleme diagnostiziert.

Auch immer mehr Bundeswehrsoldaten leiden nach Auslandseinsätzen an psychischen Störungen: Die Zahl der Einsatzkräfte mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) hat sich in den vergangenen drei Jahren fast verdreifacht, teilte das Verteidigungsministerium am Dienstag der Nachrichtenagentur AP mit. Im Jahr 2005 waren demnach mindestens 140 Bundeswehrsoldaten wegen posttraumatischen Störungen in Behandlung. 2003 waren es noch 48 gewesen.

In den USA sehen sich sechs von sieben medizinischen US-Einrichtungen für Kriegsveteranen nicht in der Lage, die wachsende Nachfrage nach Behandlung von PTSD zu decken, heißt es in einem Bericht des Government Accountability Office (einer Art US-Bundesrechnungshof) vom September 2004. Dabei gehen Forscher inzwischen von Hunderttausenden seelisch kranker GIs aus."(...)


mehr zu kriegstraumata bei soldaten ebenfalls im kommenden traumaschwerpunkt - und bis dahin empfehle ich die lektüre dieses älteren beitrags zum thema us-soldaten und trauma: benutzt und weggeworfen.

Dienstag, 17. Oktober 2006

notiz: der wahnsinn der normalität

erinnern Sie sich noch an das zitat im letzten teil dieses beitrags?

(...)"Unsere Gesellschaft ist, was Armut betrifft, autistisch. Sie interessiert sich, wie viele Autisten, nur für Systeme. Sie diskutiert die "Agenda 2010", sie predigt den "Umbau des Sozialstaates", sie wägt den Vorteil von "Teilhabegerechtigkeit" gegenüber der "Verteilungsgerechtigkeit" ab, sie kennt tausende Statistiken über die deprimierende Lage auf dem Arbeitsmarkt. Sie spuckt Zahlen, Diagramme und Schaltpläne aus. Sie kann alles abstrahieren. Aber den Kontakt zu denen, die das betrifft, die damit klarkommen müssen, die darunter leiden, diesen Kontakt hat die Gesellschaft verloren. Sie ist unfähig, sich in die Lage armer Menschen hineinzuversetzen oder gar sie zu verstehen. Sie schildert stets eine völlig andere Welt, obwohl doch beide, die Mehrheitsgesellschaft und ihre Armen, in derselben Welt leben."(...)

die groteske derzeitige "diskussion" über die anscheinend wie aus dem nichts über die natürlich mal wieder völlig ahnungslose mehrheitsgesellschaft hereingebrochene "neue unterschicht" ist bei genauer betrachtung eine nachdrückliche unterstreichung der obigen these (und noch einiger anderer): es wird sich ausschließlich um begriffe gestritten, und dazu gibt´s eine ordentlich dosis realitätsverweigerung - etwa dann, wenn allen ernstes behauptet wird, dass die sog. "reform" namens "hartz IV" natürlich nichts mit der immer massiver werdenden verelendung ganzer bevölkerungsgruppen zu tun hätte - und sicher, wer würde denn überhaupt auf eine so abstruse idee kommen? das das bösartige demagogie ist, kann doch nun wirklich jede/r sehen - oder?

(...)"Erhielten am 21. Dezember 2004 noch 270 585 Berliner laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, waren es ein Jahr später nur 8266 Personen. Dafür ist die Zahl der Berliner, die unter die Hartz-IV-Gesetze fallen - dazu zählt das neue Sozialgesetzbuch II -, im vergangenen Jahr explosionsartig gestiegen. Als Anfang 2005 Arbeitslosengeld und Sozialhilfe bundesweit zusammengelegt worden waren, zählten die Jobcenter 225 000 Bedarfsgemeinschaften mit 310 000 Menschen. Im März 2005 waren es bereits 279 000 Bedarfsgemeinschaften, im Oktober 314 000. Und bis April 2006 stieg die Zahl auf 335 000 Haushalte an."(...)

naja, großstadt halt, da ist ja alles ein bißchen extremer - aber woanders, zb. in einer kleinen niedersächsischen (nicht sächsischen!) stadt, sieht das bestimmt ganz anders aus. oder?

(...)"So etwa die Kunden der Tafel, deren Armut sie zwingt, sich regelmäßig in die langen Schlangen vor der Ausgabestelle einzureihen. Die ehrenamtliche Vorsitzende Monika Schmidt fühlt sich nach eigenen Angaben von der Politik im Stich gelassen. Viele wollten einfach nicht sehen, wie viel Armut es in Delmenhorst mittlerweile gebe. Und die Zahl derer, die auf die Unterstützung durch die Tafel angewiesen sind, steigt ständig. Laut Schmidt waren vor viereinhalb Jahren 67 Familien Kunden der Tafel, heute sind es 1447 Erwachsene und 492 Kinder, die sich in den Räumen an der Elbinger Straße regelmäßig Lebensmittelspenden abholen. Insbesondere mit der Einführung von Hartz IV habe sich die Lage dramatisch verschlechtert.

Erschütternd auch die Darstellung des Leiters der Parkschule, der darüber berichtete, dass viele Kinder zur Schule kommen und „richtig Hunger haben“. Aber auch in anderen Bereichen, wie etwa der Finanzierung von Klassenfahrten, sei die Armut deutlich spürbar."(...)

(danke an dieser stelle zum wiederholten male für die dokumentation dieser und vieler anderer meldungen an das forum auf der subfrequenz!)


schluß mit lustig - zahlen und statistiken sind zur genüge bekannt bzw. könnten es für alle interessierten sein. sie belegen nur in objektivistischer weise etwas, was seit jahren für alle auch nur noch leidlich wahrnehmungsfähigen menschen ziemlich deutlich ist, so wie der folgende auszug aus einem ebenfalls deutlichen kommentar:

(...)"Und mit Ausnahme einiger versprengter Linker in- und außerhalb der SPD sind sich alle Beteiligten in einem Punkt einig: Eine eigene Mitschuld an der sich ausbreitenden Armut und der Resignation vermögen sie nicht zu erkennen. Genau das ist die Lüge.

Beispiel Hartz IV: Zahllose Praktiker haben gewarnt, dass die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe vor allem Kinder und Jugendliche treffen werde, nicht zuletzt deshalb, weil ein Viertel der von der Kürzung Betroffenen alleinerziehende Mütter sind. Doch Beck, Kauder und ihre Mittäter kümmerte das nicht. Wenn sie jetzt angesichts der Verdoppelung der Kinderarmut in nur zwei Jahren über die Folgen klagen, ohne die eigene Verantwortung zu benennen, ist das bloße Heuchelei im Amt. Noch schwerer wiegt, dass sie die Verarmung der Verlierer bewusst vorantreiben, indem sie die Mehrwertsteuer erhöhen und eine Gesundheitsprämie einfordern. Beides wird wieder die Geringverdiener am härtesten treffen.

Beispiel 400-Euro-Jobs: Jeder Experte hat gewusst, dass die Begünstigung von Midi- und Mini-Jobs den Abbau regulärer Beschäftigung massiv beschleunigen würde. Doch die Gesetzesmacher der vermeintlichen Volksparteien scherte das wenig. Vielmehr förderten sie von der Befristung bis zur Leiharbeit alles, mit dem sich das Angebot an unsicherer, schlecht bezahlter Arbeit ausweiten ließ. Sich nun darüber zu beklagen, dass die so erzeugten Arbeitslosen ihre Bezüge mit Mini-Jobs aufbessern anstatt nach einem der neuen Hungerlohnjobs zu suchen, ist eine zynische Provokation."(...)


zynische provokationen stellen auch die reaktionen der kapitalistischen organisierten schwerkriminalität (deren gangs sich immer noch als "unternehmen" - nichts anderes sind ganz prinzipiell auch die diversen mafiösen vereinigungen, die sich zb.dem profitorientierten frauen- und kinderhandel, dem waffenschmuggel, dem organhandel und weiteren geschäftszweigen widmen - zu bezeichnen pflegen) auf die folgen der von ihnen mitverantworteten zustände dar:

(...)"Eine Realität, die sich so beschreiben lässt, bringt spezielle Sitten hervor. Die Hartnäckigkeit vieler Gläubiger ist so unfein wie die Lage, in die sie mehr und mehr geraten. Man hört zum Beispiel solche Geschichten: Anders als ihr Vorgänger Bewag übe die Energiefirma Vattenfall kräftig Druck auf säumige Kunden aus. Einer ihrer Klientinnen, erzählt Vetter, wurde der Strom abgedreht, obwohl die Mutter eines Säuglings durch die Härtefallregelung gesetzlich geschützt ist. Handyfirmen drohten mit Beugehaft. Fitnessstudios schickten Gerichtsvollzieher. Eine Inkassofirma hat das Konto einer Arbeitslosengeld-II-Empfängerin gepfändet, obwohl dort kein Cent zu holen ist. Gepfändete Konten werden schnell gesperrt, mit Schufaeintrag gibt’s kein neues, ohne Konto keinen Arbeitsplatz."(...)

mehr und mehr wird dadurch auch die bisher versteckte sozialdarwinistische selektion zur offenen:

(...)„Empfindungsschmerz“, nennt er das. Solchen Schmerz braucht das Land. Gillar lässt sich erzählen, wofür die Leute Geld ausgeben. Oft ist ihm unklar, wie sie über die Runden kommen. „Sie sparen an Essen und Körperpflege“, sagt er. „Glauben Sie, meine Klientinnen gehen zur Vorsorgeuntersuchung zum Arzt?“ Kürzlich erlitt eine junge, erschöpfte Mutter einen Hörsturz, im Krankenhaus diagnostizierte man Krebs. Erschreckend viele seiner Klienten sind im letzten Jahr an Krebs erkrankt."(...)

*

die durchsicht der aktuellen medienlandschaft ist eine einzige obszöne zumutung, die gestern selbst meine durchaus belastbaren selbsschutzmechanismen zum kollabieren gebracht hat - gleichmäßig verteilte wut und angst waren die folgen. neben dem schon oben angerissenen gibt es immer mehr und weitere indizien für eine unheilvolle antisoziale entwicklung, und zwar nicht nur in d-land:

eins:

"Die Kriminalität der rechtsextremen Szene in Deutschland ist offenbar nicht zu stoppen. Das Bundeskriminalamt hat von Januar bis Ende August schon fast 8000 rechte Straftaten registriert. Das sind über 20 Prozent mehr als in den ersten acht Monaten des Jahres 2005, damals zählte die Polizei 6605 einschlägige Delikte. Im Vergleich zu dem gleichen Zeitraum 2004 (5127 Straftaten) zeichnet sich sogar ein Anstieg um 50 Prozent ab.(...)

Gleichzeitig nimmt auch die Brutalität der Szene weiter zu. Von Januar bis August zählte die Polizei bundesweit 452 rechte Gewalttaten, bei denen 325 Menschen verletzt wurden. In den ersten acht Monaten 2005 waren es 363 Gewaltdelikte und 302 Verletzte."(...)


zwei:

"Die Deutsche Kinderhilfe hat die Misshandlung von Kindern als "nationale Katastrophe" bezeichnet. Es sei bedrückende Realität, dass fast täglich Kinder mitten unter uns gequält und getötet werden. Der Aufbau einer funktionierenden Kinder- und Jugendhilfe sei die aktuelle Herausforderung, hinter der vieles zurückstehen müsse."

drei:

(...)"In anderthalb Wochen jährt sich der Beginn der Banlieue-Unruhen vom vergangenen Herbst. Pünktlich zu diesem Datum wächst die Gewaltbereitschaft wieder, die Wut in Frankreichs Vorstädten kocht weiter. Die Zeitung "Le Monde" zitiert einen vom Innenministerium erhobenen "städtischen Gewaltindikator". Der sei im September - im Vergleich zum August - um ein Drittel angestiegen - auf 480 Angriffe auf Polizisten allein in diesem einen Monat. Arbeitslosigkeit, Wohnsituation - kaum etwas hat sich zum Besseren verändert, beklagen Vereine und Lokalpolitiker."(...)

vier:

(...)"In Wirklichkeit jedoch hat der globale Triumph des Kapitalismus die größte Welle von Grenzbefestigungen in unserer Geschichte ausgelöst. Der Erdball erinnert heute eher an das späte Römische Reich oder das China der Sung-Dynastie als an das Goldene Zeitalter des viktorianischen Liberalismus. Gut ein Dutzend Länder zieht derzeit den Eisernen Vorhang zu.(...)

Diese internationale Mauer ist keine bloße metaphorische Überhöhung nationaler Grenzen, sondern ein eng gefügtes System von Befestigung, Überwachung, bewaffneten Patrouillen und Internierungslagern, das sich über den halben Planeten zieht und mindestens 12000 Kilometer Festlandsgrenze abriegelt. Für verzweifelte illegale Grenzgänger ist es gefährlicher als einst der Eiserne Vorhang.(...)

Historisch gleicht die derzeitige Einmauerung des Westens jener Periode im zweiten christlichen Jahrhundert, als das Römische Reich von den relativ offenen, durch mobile Legionen geschützten Grenzen des julisch-claudischen Kaiserhauses zum massiven Limes der nachflavischen Herrscher überging. So wie sich die spätrömische Grenze aus verschiedenen Befestigungssystemen zusammensetzte (Hadrianswall, Limes Porolissensis, Fossatum Africae), besteht die Große Mauer des Kapitals aus drei kontinentalen Grenzregimen: der US-amerikanischen frontera, der Festung Europa und der Howard-Linie, die das weiße Australien von Asien trennt.(...)

Die Quäker-Hilfsorganisation American Friends Service Committee schätzt, dass im Lauf der letzten zehn Jahre mindestens 3000, vielleicht sogar 5000 Menschen ums Leben kamen: in Güterwagen vor Laredo erstickt, in Bewässerungskanälen bei El Centro ertrunken, im Organ Pipe Cactus National Monument verdurstet oder in den Bergen östlich von San Diego erfroren. Andere starben bei Buschbränden und Verfolgungsjagden mit der Grenzpolizei, oder sie wurden – wie Menschenrechtsaktivisten berichten – von Bürgerwehren in Arizona ermordet."(...)


was die inzwischen ebenfalls in die tausende gehende zahl der toten an den grenzen der festung europa anbelangt, so war hier im blog bereits genügend dazu zu lesen.

*

mörderische - und für die überlebenden, zu denen bis auf weiteres auch wir gehören, potenziell traumatische - zustände also, grundsätzlich nichts neues (zumindest für die, deren tellerrand - ein etwas seltsames synonym für wahrnehmung - weiter reicht als bis zum nächsten urlaub, der täglichen soap und der nächsten fälligen rate für die eigentumswohnung).

es gibt - und das wird nicht nur ein blick zb. in das dem zuletzt zitierten "zeit"-artikel angeschlossene forum zeigen - durchaus genügend leute, die eine oder auch mehrere der folgenden reaktionen zeigen: a) verleugnung, b) verdrängung, c) rechtfertigung.

um es klipp und klar zu sagen: diese leute sind mittäter und -täterinnen - anders lässt sich die entschuldigende akzeptanz oder gar rechtfertigung der a-sozialen und im schlimmsten sinne des wortes unmenschlichen zustände nicht benennen. in d-land ließe sich auch zusätzlich sagen: sie sind genauso gewollt-ungewollt bösartig wie ihre vorfahren im nationalsozialismus.

eine ganz wesentliche basis, ohne die sich eine derartige realität, wie wir sie erleben müssen, nicht entwickeln könnte, stellen die verschiedenen menschlichen wahrnehmungsmodi dar, die sich in einem ständigen wechselspiel mit der (sozialen) realität befinden, sie gestalten und gleichzeitig von ihr gestaltet werden. ich reite deshalb immer wieder auf diesem punkt herum, weil die wahrnehmung tatsächlich das nadelöhr bildet, durch das wir quasi zur welt kommen, aber die welt auch zu uns kommt. diverse als mit recht pathologisch zu begreifende zustände, in denen sich die menschliche wahrnehmung verfangen kann, bilden ein untrügliches merkmal für die verschiedenen, hier unter beziehungskrankheiten zusammengefassten störungen/krankheiten, zu deren symptomen u.a. (selbst-)destruktives und antisoziales agieren gehören kann. die tödlichen realitäten, die im ersten teil dieses beitrags thema waren, sind mindestens in ihren wirkungen traumatisch - viel schwerer ist es jedoch in der regel nachvollziehbar, dass mit einiger wahrscheinlichkeit gesagt werden kann, dass sie auch wiederum ihrerseits in traumatischen bzw. traumatisierenden verhältnissen ihren ursprung besitzen. und hier liegt imo auch die lösung einiger rätsel verborgen, die im zusammenhang mit den verheerenden entwicklungen auffallen:

- warum regt sich so wenig widerstand?
- warum kann das "teile-und-herrsche"-prinzip (spaltung) der herrschenden "eliten" bis jetzt so gut aufgehen?
- warum gibt es tatsächlich in den verarmenden bevölkerungsteilen nicht nur resignation, sondern auch eine teils stark ausgeprägte bereitschaft zu ressentiments gegen als noch schwächer/ausgegrenzter wahrgenommene menschen?
- welche bedeutungsebenen haben die grenzen, die auf dem planeten real gezogen werden?

um darauf möglichst zutreffende antworten zu geben, ist es nötig, sich tief und intensiv mit dem thema "trauma" zu beschäftigen, und wie angekündigt wird das der nächste blogschwerpunkt in den kommenden wochen und monaten sein, auf den ich mich ab jetzt konzentrieren möchte.

Dienstag, 10. Oktober 2006

notiz: vor unserer haustür (3.update am 12.10.)

besonders im letzten jahr hatte ich hier immer wieder verschiedene meldungen unter den keywords infantizid / gewalt gegen kinder dokumentiert. das diese traurige realität sich nicht deshalb erledigt hat, nur weil es medial gerade keine besonders "spektakuläre" fälle zu vermelden gibt, sollte - so die vielleicht naive hoffnung meinerseits - hoffentlich im bewußtsein präsent sein. es geschieht weiter und immer wieder - vor unserer haustür:

"Das Bremer Jugendamt hatte Alarm geschlagen: Gemeinsam mit der Polizei wollten Mitarbeiter ein Kleinkind aus der elterlichen Wohnung holen. Sie entdeckten den fast zweijährigen Jungen im Kühlschrank - tot.(...)

Das Kind wurde seit seiner Geburt von der Jugendhilfe begleitet, da die Mutter dem Säugling gegenüber gewalttätig war. Das letzte Lebenszeichen des Kindes stammt vom Juli 2006, als ein Arzt das Kind gesehen hatte. Seitdem bekam es kein Mitarbeiter der Sozialbehörde mehr zu Gesicht. Zu der Frage, ob ein solcher Zeitraum für angemessen gehalten wird, machte das Ressort keine Angaben.(...)

Den Ermittlern zufolge wies die Leiche des Kindes Spuren von Mangelerscheinungen auf. Der Junge sei nicht erst in den vergangenen Tagen gestorben. Gegen den Vater wird nun ermittelt. Dabei werde noch geprüft, ob die Staatsanwaltschaft dem Verdächtigen aktive Tötung oder Vernachlässigung des Kindes vorwirft. Er hatte auf die Frage nach dem Kind mit den Worten geantwortet "Da drüben liegt er" und auf den Kühlschrank gedeutet. Danach habe er geschwiegen. Der 41-Jährige befand sich in einem Methadon-Programm gegen seine Drogensucht."


es lässt sich ahnen, was sich für eine trostlose geschichte dahinter verbirgt. ebenso wie im folgenden:

"Vor einer Woche war in einer Müllsortieranlage in Passau ein totes Baby entdeckt worden. Nach Angaben der Mutter sei es bereits tot zur Welt gekommen. Die junge Frau habe sich am Sonntagabend der Polizei gestellt, sagte der Leitende Passauer Oberstaatsanwalt.

Die Mutter habe bei den Vernehmungen ausgesagt, dass sie das Kind bei einer Sturzgeburt auf der Toilette geboren habe. Da das Kind keine Lebenszeichen von sich gegeben habe, habe sie das Neugeborene in einem Plastiksack in die Biotonne geworfen. Bis zur plötzlichen Geburt habe sie nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt, erklärte die Mutter. Es habe bei ihr keinerlei körperliche Anzeichen dafür gegeben. Laut Gerichtsmediziner ist das Baby jedoch lebend zur Welt gekommen."(...)


mal gesetzt den fall, es handelt sich bei der aussage der mutter nicht nur um eine simple (not-)lüge: in was für einem wahrnehmungszustand muss sich eine frau befinden, um monatelang eine schwangerschaft nicht zu bemerken? und wie sah es diesbezgl. mit ihrem sozialen umfeld aus?

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edit am 11.10.: in der bremer geschichte hat es ganz aktuell jetzt erste politische konsequenzen gegeben: die für die sozialbehörden verantwortliche senatorin röpke ist heute zurückgetreten.

(...)"Bei der Pressekonferenz räumte sie ein, schon früher persönlich mit dem Schicksal des Jungen befasst gewesen zu sein.

Nach dem Fund der Leiche waren Fragen über mögliche Versäumnisse der Behörden bei der Betreuung des Jungen laut geworden. Das Kind stand unter der Vormundschaft des Jugendamtes und wurde im Juli zuletzt lebend gesehen. Zunächst war nicht klar, wann zuletzt ein Sozialarbeiter Vater und Sohn besuchte, die im Brennpunktviertel Gröpelingen lebten. Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig hatte am Dienstag erklärt, Mitarbeiter der Sozialbehörde hätten regelmäßigen Kontakt zu Eltern und Arzt gehabt und sich vergewissert, "dass die Dinge richtig laufen.


aber genau dieser "regelmäßige kontakt" scheint ja hier real nicht vorhanden gewesen zu sein. mit röpke geht übrigens eine person, die im bremer filz in den letzten monaten gerade im sog. "klinikskandal" eine alles andere als vertrauenerweckende rolle spielte. von daher scheint sie jetzt der neue - hm, skandal völlig untragbar gemacht zu haben. ich werde mich bemühen, die weiteren entwicklungen in dieser geschichte zu verfolgen.

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edit 2 am 12.10.: deutlich sind der tod des kleinen jungen in bremen sowie die zutage getretenen behördlichen versäumnisse heute in der hiesigen presselandschaft hauptthemen; ich möchte aber zunächst nochmals auf den oben verlinkten spon-artikel eingehen, bzw. auf folgende absätze daraus:

(...)"Als Reaktion auf die zahlreichen Fälle von vernachlässigten Kindern hat der Kriminologe Rudolf Egg gefordert, die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen gesetzlich vorzuschreiben.

Die Kinderärzte dürften nicht zum verlängerten Arm der Staatsanwaltschaft gemacht werden, seien auf der anderen Seite aber verpflichtet, die Gesundheit der Kinder zu schützen, sagte der Leiter der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern in Wiesbaden."(...)


eine forderung, die vermutlich - und auch nachvollziehbar - größtenteils zustimmung auslösen dürfte. ich hänge da immer noch in einem zwiespalt, den ich hier genauer beschrieben habe:

(...)"ein problem bei den derzeit diskutierten maßnahmen staatlicher und institutioneller eingriffe (denen ich als provisorische sofortmaßnahme im interesse der opfer nicht grundsätzlich abgeneigt bin) besteht imo in der tendenz, das generelle gewaltproblem besonders an familien festzumachen, die nach allen kriterien unter ökonomischer verarmung, schlechter bildung etc. leiden.

sicher - wie früher schon einmal ausgeführt, tragen schlechte bis existenziell bedrohliche ökonomische bedingungen einiges zur wahrscheinlichkeit von gewalttätigen strukturen innerhalb von familien bei. primär auslösend jedoch sind sie nicht. die hier thematisierte gewalt kommt in allen gesellschaftlichen klassen vor, auch in den sog. ober- und mittelschichten. es erscheint nicht nachvollziehbar, warum diese von interventionsprogrammen ausgeschlossen bleiben sollten. so wird das problem ungerechtfertigt verkürzt und an einer bestimmten gesellschaftlichen gruppe festgemacht - einer gruppe zudem, die bereits zunehmend im focus staatlicher und institutioneller maßnahmen steht - die grenze zwischen tatsächlicher hilfe und systematischer entmündigung, kontrolle und repression in zeiten zunehmender ökonomischer verelendung mitsamt den begleitenden sozialen selektionsprozessen ist eine sehr fließende.

bei betrachtung der ständig perfektionierten ausweitung der innerstaatlichen repressionsapparate in der gesamten sog. westlichen welt jedenfalls kann ich mich des eindrucks nicht erwehren, dass weitreichende staatliche eingriffe gerade in den bereits sozial stigmatisierten gruppen sehr schnell für zwecke instrumentalisiert werden können, die mit der vielleicht z.t. aufrichtig gemeinten hilfe nichts mehr zu tun hätten."(...)


in diesem fall - bekannt gewordene gewalt zwischen den eltern, das symptom des drogenabusus u.ä. - hätte jedoch tatsächlich nur die herausnahme des kindes aus dem familiären umfeld etwas rettendes bewirken können. hinterher ist man zwar immer schlauer, jedoch ist eine solch im schlimmsten sinne des wortes dysfunktionale familiensituation ja nun weder ein einzelfall, noch den behördlich verantwortlichen prinzipiell unbekannt. hinsichtlich meiner obigen bedenken schätze ich, dass es bis auf weiteres ein eiertanz bleibt, weitreichende staatliche maßnahmen mit ihrem immanenten repressionspotenzial für u.u. lebensrettende aktionen einzusetzen. in diesem konkreten fall wäre das nötig und vertretbar gewesen - und hat ausgerechnet dann tödliche folgen nach sich gezogen.

und dann wird neben - bekannten - zutreffenden beobachtungen noch einmal eine ganz üble platte aufgelegt:

(...)"Neben der körperlichen Verwahrlosung und Vernachlässigung gebe es nach seiner Beobachtung zunehmend Fälle von psychisch und sozial isolierten Kindern. "Die haben zwar genug zu Essen und Anzuziehen, erfahren in ihren Familien aber sonst keine Zuwendung. Die Isolation vor der elektronischen Spielkonsole führe zu Leistungsmängeln, erklärte Egg unter Hinweis auf die Studien seines Kollegen Christian Pfeiffer aus Hannover."(...)

sind leistungsmängel wirklich das einzige argument, die benannten zustände zu ändern? diese verdammte bwl-logik mit ihren verdinglichenden wirkungen zieht sich wie ein schimmelpilz durch die gesamte gesellschaft. und ist genauso giftig.

*

zur jetzt ausgebrochenen politischen diskussion ist u.a. zu lesen:

(...)"Dass der Hintergrund Kostenerwägungen sein könnten, wie Kritiker sagen, bestritten die Vertreter der Sozialbehörde gestern."(...)

naja, das wäre ja auch einmal wirklich eine echte überraschung gewesen, das gegenteil zu hören.

der konkrete diesbezgl. verdacht lautet im großen und ganzen so:

(...)"Böhrnsen ging einen Schritt weiter und sagte, das "gesamte Hilfesystem" müsse auf den Prüfstand. Die Heimleitung hatte ihm gegenüber im Januar darauf hingewiesen, dass sich Praxis der Bremer Sozialbehörde im Umgang mit Kindern in den letzten Jahren geändert habe. Dahinter steht der Verdacht, dass aus Spargründen die Zahl der Heimunterbringungen bürokratisch begrenzt worden ist."(...)

(und diese begrenzung wird dann noch schlimmstenfalls pädagogisch-ideologisch mit einer eigentlich durchaus berechtigten distanz zur institution "heim" begründet, aber das soll jetzt hier nicht weiter vertieft werden).

der behördliche - und bisher bekanntgewordene - umgang lässt jedenfalls etliches im unklaren:

(...)"Im Sozialamt, so berichtete dessen Leiter Jürgen Hartwig, sei die Frage der Erziehungsfähigkeit im Frühjahr 2006 noch kontrovers diskutiert worden, eine Minderheit habe mit Hinweis auf das Kindeswohl darauf gedrungen, das Kind dem Vater zu entziehen, eine Mehrheit habe aber mit Hinweis auf die "Familienorientierung", wie Hartwig formulierte, dagegen entschieden. Bedingung sollte allerdings sein, dass der Vater Hilfe annimmt. Der hatte sich der Vater aber weitgehend erfolgreich entzogen und stattdessen behauptet, er wolle zu seiner Mutter ziehen, die außerhalb Bremens lebe. Damit wäre das Bremer Sozialamt die Verantwortung los gewesen, eine andere Kommune hätte die Zuständigkeit übernehmen müssen.

Als die Großmutter von Kevin dann allerdings im Sommer dem Sozialamt mitteilte, dass ihr Sohn und Kevin gar nicht bei ihr seien, da wuchs offenbar das Misstrauen beim "Fallmanager". Im September beschloss die Fallkonferenz, das Kind dem Vater wegzunehmen. Als am 10. Oktober dann die Polizei die Tür zur Wohnung aufbracht, war es zu spät."(...)


imo wird hier ein schwer durchschaubarer wust aus individuellen versäumnissen und strukturellen begrenzungen sichtbar - "familienorientierung" als behördliches leitbild trifft auf versteckte einsparmotivationen, individuelle wahrnehmungsschwächen und institutionell bedingte behäbigkeit, auf der anderen seite darf jedoch auch nicht der täter/vater vergessen werden, der offensichtlich über ausreichende simulative fähigkeiten verfügte, um den behörden entsprechende fakes vorzusetzen. aus diesen und vermutlich noch anderen quellen entwickelte sich dann die tödliche konstellation. um solche verhältnisse aufzulösen, bedarf es u.a. ziemlich radikaler wahrnehmungserweiterungen als nötiger grundlage - rücktritte und andere personelle konsequenzen sind eher als scheinaktionismus zu werten, der vermutlich als eine art bewährtes placebo ans publikum verabreicht wird.

im betreffenden stadtteil gröpelingen soll übrigens anfang november ein schon länger geplanter aufmarsch der npd stattfinden, und es ist zu befürchten, dass die nazis aus den umständen dieser geschichte - drogenmilieu, behördliche "laschheit" - in noch nicht abzuschätzender form profitieren könnten. einfache "lösungs"angebote bei komplexen situationen stellen eine nicht zu unterschätzende gefahr dar - gerade dann, wenn ein derartig grausiger kindstod mit sicherheit ebenso nicht abzuschätzende tiefgehende emotionale triggereffekte in der bevölkerung bewirkt. ich fürchte, das hier nicht (nur) mein pessimismus spricht.

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edit 3: was zum teufel hat die verantwortliche spon-redaktion dazu veranlasst, die populistischen vorschläge zum internet-pranger für verurteilte sexualstraftäter mit den meldungen zum ermordeten kind in bremen und neuen unerträglichen informationen zusammen in einem schwerpunkt als topaufmacher zu präsentieren? soll das einfach nur zum unfreiwilligen erneuten beleg dafür dienen, dass die sehnsucht nach anscheinend "durchgreifenden lösungen" nicht nur ganz rechts verbreitet ist?

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immerhin stecken auch ein paar informationen in den artikeln dieses zusammenkonstruierten schwerpunkts: so sind inzwischen ermittlungen gegen die sozialbehörde eingeleitet worden, und - mediale und öffentliche aufmerksamkeit erfordern aktionismus - aus berlin wird das folgende bekannt:

(...)"Das Bundesfamilienministerium will noch in diesem Jahr ein Kompetenzzentrum einrichten, das die Aktivitäten in den Ländern koordiniert, begleitet und evaluiert. In die Einrichtung eines Frühwarnsystems für vernachlässigte und misshandelte Kinder sollen den Angaben zufolge zehn Millionen Euro investiert werden.

Den Familien, die mit der Erziehung ihres Kindes völlig überfordert seien, müsse von Anfang an geholfen werden, betonte von der Leyen. In Modellprojekten, die mit Ländern und Kommunen entwickelt wurden, sollen diese Familien vor oder ab der Geburt des Kindes intensiv begleitet werden."(...)


zehn millionen euro. wenn´s nicht so abgrundtief zynisch und traurig wäre, würde mein lachanfall immer noch andauern. (nur zum vergleich ein paar aktuelle zahlen aus dem deutschen rüstungsetat:

(...)"Die Bundesregierung will noch in diesem Jahr neue Rüstungs-Projekte mit einem Volumen von knapp sechs Milliarden Euro auf den Weg bringen. Ein einziger Eurofighter kostet allein 108 Millionen Euro.

Das Verteidigungsministerium bestätigte Berichte über eine entsprechende Planungsliste, die in eine Vorlage des Finanzministeriums an den Haushaltsausschuss des Bundestages einfließen soll. Demnach wird die Bundeswehr neue Fregatten, U-Boote und eine neue Generation geschützter Fahrzeuge erhalten; die Kosten sollen schrittweise im Laufe der kommenden Jahre anfallen.

Verteidigungsminister Jung will unter anderem dem Heer für rund 891 Millionen Euro 272 gepanzerte Transportkraftfahrzeuge vom Typ Boxer zur Verfügung stellen. Das für Auslandseinsätze wichtige vierachsige Fahrzeug kann bis zu zehn Soldaten aufnehmen, ist - mit einem Maschinengewehr ausgestattet - bei einer Reichweite von 1.050 Kilometern über 100 Kilometer pro Stunde schnell und bietet Schutz gegen Minen und Beschuß. Weitere große Rüstungsvorhaben sind vier Fregatten vom Typ 125 für 2,2 Milliarden Euro sowie zwei U-Boote vom Typ 212 für 864 Millionen Euro. Für die Modernisierung des seit 30 Jahren betriebenen Transporthubschraubers CH 53 sollen zudem rund 500 Millionen Euro ausgegeben werden."(...)


sagte hier jemand gerade etwas von prioritäten? soviel wert ist das leben und die gesundheit von menschen - kindern - in den augen der herrschenden zombieklasse.)

*

der häßliche verdacht, dass bei der entstehung der mörderischen konstellation für den kleinen jungen in bremen auch kostenfragen bei den versagenden behörden eine rolle gespielt haben könnten, wird durch einen artikel in der morgigen taz doch stark untermauert - ein paar auszüge:

"Nach dem Tod des kleinen Kevin in Bremen erheben freie Träger von Sozialhilfe-Angeboten schwere Vorwürfe gegen den Leiter des Bremer Jugendamtes: Der habe Jugendhilfe nach Kassenlage gemacht. Die Grünen fordern einen Untersuchungsausschuss. (...)

Seit Jahren, so berichtete die Fraktionsvorsitzende Karoline Linnert, würden die Fachvertreter im Jugendhilfeausschuss dagegen Sturm laufen, dass die Kostenbegrenzungen beim Rechtsanspruch auf Hilfe eine immer größere Rolle spielten. "Kevins Tod ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Bremer Kindern in Not nicht oder nicht angemessen geholfen wird."

Die Grünen fordern deshalb auch die Suspendierung des Leiters des Jugendamtes, Jürgen Hartwig. Der habe "dafür gesorgt, dass nicht allein nach fachlichen Gesichtspunkten entschieden wird, ob ein Kind in eine Pflegefamilie oder ein Heim kommt." Es sei im Zweifelsfall in Vier-Augen-Gesprächen ein "unerhörter Spardruck" von ihm ausgeübt worden, meinte der jugendpolitische Sprecher Jens Crueger - "rechtswidrig" sei das, da das Kinder- und Jugendhilfegesetz ausschließlich fachliche Kriterien kenne."(...)


und nachdem der leiter des heimes, in dem der kleine kevin zweimal kurzzeitig untergebracht worden war, ausführlich seine version der vorgänge dargestellt hat, kommen ein paar wirklich aufschlußreiche dinge zum vorschein:

(...)"Bestürzt formulierte er einen Bericht an den Träger des Heimes, einen privaten Verein, in dessen Kuratorium der Bürgermeister sitzt - so empört sei er gewesen, "welche Zustände in dieser Stadt herrschen". Denn, so Joachim Pape, jahrelang hatte das Heim rund hundert Fälle von "In-Obhut-Nahmen" von Kindern pro Jahr, 2005 dann nur 44. "Wo sind diese Kinder? Ist plötzlich alles gut?" Papes Verdacht: Das Jugendamt hat seine "Politik" geändert.

Den Verdacht teilen andere private Träger. Seit Monaten führen sie Verhandlungen über die Zahl der vorzuhaltenden Plätze - unter anderem für Kinder in Notfall-Situationen. Die Vertreter des Sozialamtes würden da erklären, Bremen brauche nicht so viele Plätze - der Beleg seien die Zahlen von 2005, heißt es.

Die Auseinandersetzungen im Jugendhilfeausschuss um die "Budgets", die eingehalten und nicht durch steigende "Fallzahlen" überschritten werden dürfen, füllen Aktenordner. "Die Zahl der Fremdplatzierungen darf nicht gesteigert werden", heißt es unmissverständlich in einem Papier der Sozialsenatorin vom 1.8.2006. Indem das Jugendamt den kleinen Kevin wieder in die Obhut des Vaters gegeben hat, hat es nur diese sozialpolitische Vorgabe umgesetzt."(...)


parteipolitik hin, finanzielle interessen der freien träger her - von diesen vermutlich vorhandenen motivationen abgesehen, bleibt dann doch ein einblick in die antisoziale realität einer gesellschaft übrig, in der sich ein durchdrehender kapitalismus und die darin und daran durchdrehenden menschen die bälle zuspielen. sparen bis zum bitteren und tödlichen ende; sparen bei den schwächsten und wehrlosesten. meine finsteren gedanken aus meinem kommentar unten erhalten gerade wieder neue impulse. und unter den jetzt bekanntgewordenen verhältnissen werden auch die rücktritte der "persönlich" verantwortlichen (der leiter des jugendamtes dürfte ebenfalls seinen posten loswerden) tatsächlich als placebos für die öffentlichkeit erkennbar: sie haben lediglich eine überall propagierte "politik" im schlimmsten sinne des wortes exekutiert - und "wo gehobelt wird, fallen nun einmal späne". "das system ist okay, persönliche versäumnisse (die ja eigentlich aus der perspektive des ökonomisch betrachtenden wahns strenggenommen gar keine sind) werden sanktioniert" - und wir schafe sollen wieder in den üblichen betäubungsschlaf zurückfallen. wenn wir das akzeptieren, verdienen wir vielleicht tatsächlich alles weitere.

notiz: kennen Sie Ihr *bauchgehirn*? ein kleiner ausflug zum enterischen nervensystem

ich schreibe hier ja öfter von den menschlichen nervensystemen, und ich weiß nicht, ob das wissen darum tatsächlich weiter verbreitet ist - nun also ein kleiner ausflug in unsere anatomie mitsamt etlichen infos zum ens, dem kleinen bruder oder der kleinen schwester des zns.

(...)"Werden Menschen gefragt, wo Wohl- und Unbehagen, Emotion und Intuition, Freude und Leid am besten zu orten sind, zeigen sie, gleich welcher Herkunft oder Hautfarbe, auf die Leibesmitte. Der Volksmund mit seinen Sprichwörtern wie "Liebe geht durch den Magen" oder "Vor Angst in die Hosen machen" liegt wahrscheinlich gar nicht falsch. Wissenschaftlich gesichert ist, dass das enterische Nervensystem nahezu autark funktioniert - die motorischen Vorgänge im Magen-Darm-Kanal sind auch ohne die Innervation durch Parasympathikus und Sympathikus, also auch bei Durchtrennung der entsprechenden Nervenfasern, gewährleistet. Das Bauchhirn kann Informationen seiner Sensoren selbst bearbeiten und in Eigenregie kontrollieren. Wegen seiner weitgehenden Unabhängigkeit und seinem mit dem ZNS vergleichbaren Aufbau heißt das enterische Nervensystem auch das "kleine Gehirn".

Diese Autonomie ist relativ. Das enterische Nervensystem wird vom ZNS beeinflusst. Sympathikus und Parasympathikus wirken modulierend. Beide fungieren als eine Art Standleitung zwischen den beiden großen Nervensystemen: 80 Prozent der Nervenstränge, die zwischen beiden geschaltet sind, laufen vom Bauch zum Hirn, und nur der Rest verläuft in umgekehrter Richtung. Das enterische Nervensystem sendet viel mehr Signale zur Zentrale als es von dort empfängt."


die letztere aussage ist ziemlich spannend, oder? selbst unter berücksichtigung der tatsache, dass das ens natürlich primäre aufgaben in seiner anatomischen region erfüllt, sind die möglichen komplexen wirkungen, die sich aus der erfüllung dieser aufgaben ergeben, auch hinsichtlich der themen dieses blogs relevant:

"Wie sein großer Bruder ist das kleine Gehirn ein Meister der feinen Manipulation. Denn dass der Transport des Speisebreis durch den Magen-Darm-Kanal weitgehend reibungslos vonstatten geht, verdankt er dem feinen Gespür des kleinen Gehirns in der Magengrube. Es sorgt mit einem fein austarierten Gleichgewicht an aktivierend und hemmend wirkenden Botenstoffen, Hormonen und Sekreten für die Lösung, wenn spezielle Nahrungsbestandteile bei der Verdauung Probleme bereiten. Überwiegen die hemmenden Faktoren, entspannt der Darm so sehr, dass er gelähmt wird. Rezeptoren registrieren keine Wandspannung mehr, Verstopfung ist die Folge. Gewinnen dagegen die erregenden Faktoren die Oberhand, wird der Speisebrei zu schnell transportiert und endet als Durchfall.

Der Bauch reagiert auf jede Stimmungsschwankung. Bei Trauer wird weniger Magensaft, bei Angst mehr Speichel gebildet. Angst treibt den Stuhlgang an und lässt ihn dünner ausfallen. Wut steigert die Grundspannung der Muskeln des Gastrointestinaltraktes. Möglicherweise entspricht die Darmregion auch dem, was Freud als Unterbewusstsein bezeichnete. Diese Hypothese stellt der New Yorker Neurogastroenterologe Michael Gershon auf, Pionier auf dem Gebiet der Erforschung des enterischen Nervensystems. Depressionen, Neurosen oder Angsterkrankungen könnten ihren Ursprung teilweise in einer gestörten Kommunikation von kleinem und großem Gehirn haben. Auffällig: Reizdarm-Patienten neigen Studien zufolge vermehrt zu Ängstlichkeit und Depressivität.

Gleiches gilt auch umgekehrt: Beschwerden durch den Reizdarm könnten eine Reaktion des enterischen Nervensystems auf emotionalen Stress sein. Beweisen lässt sich das noch nicht. Es gibt aber immer mehr Indizien, die solche Theorien untermauern. Die neuesten Forschungsansätze besagen, dass es sich um eine Fehlsteuerung auf Neurotransmitterebene handelt, und zwar sowohl im enterischen als auch im Zentralnervensystem."(...)


aus etlichen gesprächen mit krankenpflegerInnen vor ein paar jahren konnte ich die damals für mich neuen informationen ziehen, dass von diesen patientInnen mit schweren darmerkrankungen wie bspw. morbus crohn oder colitis ulcerosa durch die bank als irgendwie in psychischer hinsicht auffällig empfunden wurden, was bestimmte persönlichkeits- bzw. verhaltensmerkmale wie ängstlichkeit, hilflosigkeit im umgang mit den eigenen gefühlen u.a. betraf. das lässt sich sicher auch als eine folge dieser wirklich scheußlichen krankheiten begreifen; andererseits scheint v.a. psychischer stress mit seinen negativen wirkungen auf das immunsystem die entstehung zu begünstigen.

es ist vermutlich ein fehler, sich bei erklärungsmodellen zu psychophysischen störungen nur auf das kopfhirn zu konzentrieren. als untrennbarer teil des körpers ist das gehirn in ein ebenso untrennbares beziehungsgeflecht zu anderen körperregionen gebettet. klingt banal, aber bei unseren fragmentierenden denkgewohnheiten scheint es nötig zu sein, sich daran immer wieder zu erinnern.

*

merkwürdig ruhig scheint es aktuell bei der erforschung des ens zuzugehen, jedenfalls konnte ich bisher kaum aktuellere texte finden, die sich speziell mit den möglichen wechselwirkungen zwischen kopf und bauch befassen. vor jahren schon brachte die zeitschrift geo einen artikel, der als eine art zusammenfassung des wissens zum ens immer noch einen ganz guten einstieg bietet - auszüge:

(...)"Eigentlich eine Sensation, war doch für damalige Wissenschaftler das Gehirn der uneingeschränkte König über den gesamten Körper. Bayliss und Starling konnten noch nicht wissen, was ihre Kollegen erst viel später herausfanden: Je tiefer im Verdauungstrakt, umso schwächer die Herrschaft des Kopfhirns. Mund, Teile der Speiseröhre und Magen lassen sich temporär noch etwas von oben sagen. Doch hinter dem Magenausgang übernimmt ein anderes Organ die Regie: Was wann wo dort passiert, entscheidet das Bauchhirn. Erst am allerletzten Ende, am Rektum und Anus, regiert das menschliche Gehirn mit bewusster Steuerung wieder mit.

Das Darmhirn hat also Macht: Es kann die Daten seiner Sensoren selbst generieren und verarbeiten, und es kontrolliert einen Set von Reaktionen. Es gibt den Nachbarorganen Anweisungen, koordiniert die Infektabwehr und die Muskelbewegung, es muss schnell entscheiden und gespeichertes Wissen abrufen. Es ist funktionell organisiert, arbeitet mit Kreisläufen. Und es ist in der Lage, unterschiedliche Zustände zu registrieren und darauf zu reagieren. Das zweite Gehirn hat alles, was ein integratives Nervensystem braucht. "Ja", sagt Schemann, "man kann sagen, das Darmhirn denkt."(...)


und deshalb lässt sich der ausdruck von den nervensystemen durchaus berechtigt nutzen. aber vielleicht sollten wir uns auch angewöhnen, von unseren hirnen zu reden?

(...)"Was dem Hirn geschieht, bleibt dem Bauch nicht verborgen. Bei Alzheimer- und Parkinson-Patienten findet sich häufig der gleiche Typ von Gewebeschäden im Kopf- wie im peripheren Hirn. Auch bei BSE, dem "Rinderwahn", ist der Darm extrem befallen.(...)

Der identische Zell- und Molekülaufbau erklärt ebenfalls, warum psychiatrische Medikamente für den Kopf auch auf den Darm wirken, und umgekehrt körpereigene Stoffe als Pharmaka im Gespräch sind. Sekretin etwa, ein Verdauungshormon, wird als Arznei getestet, die möglicherweise autistischen Kinder helfen kann. Ein bekanntes Migränemittel beruhigt hochaktive Eingeweide. Betäubungsmittel können Entzündungen im Trakt in Schach halten. Antidepressiva bewirken umgekehrt Verdauungsstörungen.

So auch die Psycho-Droge Prozac. Sie erhöht die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin in den Räumen zwischen den Nervenzellen. Im Kopf hebt diese Veränderung nicht selten die Stimmung. Im Bauch allerdings - Serotonin wirkt beim peristaltischen Reflex - führt sie je nach Dosierung zu Durchfall oder Verstopfung."(...)


yo, wer schon einmal längerer zeit psychopharmaka nutzen musste (ich habe selbst über ein paar jahre phasenweise verschiedene antidepressiva angewandt), dürfte sich noch gut an die diesbezgl. nebenwirkungen erinnern...

"Vor kurzem wurde das erste Medikament gegen die Volkskrankheit "Reizdarm" auf den Markt gebracht, das auf den Erkenntnissen des intensiven Zusammenhangs von Bauchhirn und Psyche basiert: Die Arznei gegen "irritablen Darm" - englisch: "irritable bowel syndrom" oder IBS - wurde ursprünglich als eine Anti-Angst-Droge entwickelt und soll zumindest einigen der Millionen betroffener Menschen helfen. IBS-Symptome: starkes Unwohlsein, Unregelmäßigkeiten beim Stuhlgang, Blähungen und Bauchschmerzen. Nicht weniger als 20 Prozent der Bevölkerung leiden darunter, weitere 20 Prozent plagen sich mit anderen Funktionsstörungen, etwa der chronischen Verstopfung.

Das Verdauungssystem dieser Menschen funktioniert nicht richtig, und kein Arzt weiß warum. Keine anatomischen oder chemischen Effekte sind erkennbar. Deshalb werden IBS-Patienten oft als hypochondrische Spinner abgetan. Dabei beruhten viele solcher Erkrankungen auf einer "neuronalen Fehlfunktion" im Bauch, sagt Michael Schemann. Oder das Darmhirn spiele verrückt. Oder im Dialog zwischen oben und unten hätten sich Missverständnisse eingeschlichen. Mehr als 50 verschiedene Krankheiten werden mittlerweile mit solchen Fehlschaltungen in Zusammenhang gebracht.

Das Bauchhirn entwickele seine eigenen "Neurosen", sagt Michael Gershon. Und noch viel mehr. Erst vor kurzem stellten Forscher fest, dass weitaus mehr Nervenstränge vom Bauch in das Gehirn führen als umgekehrt: 90 Prozent der Verbindungen verlaufen von unten nach oben. Warum? "Weil sie wichtiger sind als die von oben nach unten", sagt Gershon. Die meisten Botschaften vom Darm sind allgegenwärtig, wir nehmen sie nur nicht bewusst wahr - außer den Alarmzeichen wie Übelkeit, Erbrechen oder Schmerzen. Aber die ungeheure Fülle der unbewussten Signale vom Bauch zum Hirn ist voller biologischer Bedeutung."(...)


ob´s nun genau 80 oder 90% sind - die signalstrecken zwischen kopf und bauch scheinen schon fast so etwas wie einbahnstraßen zu sein.

die folgenden aussagen nun könnten sowohl hinsichtlich traumatischer erfahrungen und ihrer folgen als auch bei den als persönlichkeitsstörungen bezeichneten krankheitsbildern von bedeutung sein:

(...)"Früher Lebensstress ist eingebrannt in Gehirn und Bauch und bestimmt die Sensibilität der Darm-Hirn-Achse für das ganze Leben. Eine Beobachtung am Menschen stützt die These: Kinder mit den berüchtigten Säuglings-Koliken wachsen nicht selten zu Erwachsenen mit "irritablem" Darm heran. Ein solches Gedächtnis im Bauchhirn "beruht auf Lernprozessen auf der Mikroebene", sagt Michael Schemann. "Wir finden die gleichen Substanzen und Moleküle, die im Gehirn für Erinnerung benutzt werden."

Das Bauchhirn lernt jung am besten. Denn wie das Kopfhirn reift es nach der Geburt weiter; es ist für mindestens drei Jahre plastisch und entwickelt sich. Frühe "Erfahrungen" des Darms können so die "Persönlichkeit" beider Gehirne beeinflussen. Exzessive oder langanhaltende Furcht hinterlässt Spuren nicht nur im Kopf, sondern auch im Intestinaltrakt, wie Tierexperimente erwiesen haben. So belegen Versuche an erwachsenen Ratten, die man als Neugeborene Stress-Situationen ausgesetzt hat, eine Hypersensitivität der Tiere und ihrer Gedärme mit Reizdarm ähnlichen Symptomen.

Und das stärkste Indiz für die verhängnisvollen Reaktionsketten zwischen Gedärm und Psyche: 40 Prozent der IBS-Patienten leiden, wie neueste Studien zeigen, an Angsterkrankungen und häufig auch an Depressionen."(...)


was selbst die etablierte schulmedizin dazu bewogen hat, psychotherapeutische maßnahmen in betracht zu ziehen.

(...)"Kein Kollege lacht heute mehr, wenn Emeram Mayer, der Neurogastroenterologe und Professor für Physiologie, in den so überraschend umfangreichen Nervenfasern, die das kleine mit dem großen Gehirn von unten nach oben verbinden, quasi das biologische Korrelat menschlicher "Bauchgefühle" sieht - und der Intuition. Sie entsteht aus der Wechselwirkung der zwei intim verschalteten Gehirne.

Als Resultat postulieren Forscher eine "Emotions-Gedächtnis-Bank" im Kopfhirn, die alle hoch gesendeten Reaktionen und Daten des Bauches sammelt. Etwa jene unangenehmen Sensationen bei stark beängstigenden Situationen. Aber auch biologische Chiffren der Vorfreude, wie die harmlosen Schmetterlinge im Bauch oder irritierende Ablehnung beim Augenkontakt mit bestimmten Zeitgenossen.

Jedes Mal, wenn der Mensch eine Entscheidung in einer ähnlichen Situation fällen muss, basiert diese nicht nur auf intellektuellen Kalkulationen, sondern wird massiv von jenen unbewussten Informationen aus dem gigantischen Katalog von gespeicherten Emotionen und Körperreaktionen mitgeprägt, eben den "gut feelings". Darin sehen Forscher auch eine Triebfeder der Evolution: Die starke Ausbildung der vorderen Hirnrinde im Kopf ist dem Bauch zuzuschreiben. Denn von dort unten kommt die größte Masse an Information, an Feedback, wie Emeran Mayer es nennt, das oben verarbeitet werden muss."(...)


nun, wenn Sie nicht wahrnehmungsmäßig schwer beeinträchtigt sein sollten, können Sie (nicht nur) die obige aussage zur intuition an sich selbst nachvollziehen - versuchen Sie einfach mal beim nächsten intuitiven moment, die körperliche "quell-region" zu orten.

und am ende wird zum wiederholten male diese frage gestellt:

(...)"Könnte nicht angesichts dieser Erkenntnisse "der Bauch auch ein Teil der biologischen Matrix für das große Unbewusste sein"? Für jene ebenfalls vor etwa 100 Jahren entdeckte psychische Innenwelt des Menschen, die bis heute realtiv unerforscht in uns schlummert?"(...)

leider fällt mir gerade nicht mehr der urheber der folgenden aussage ein: "legen Sie die hand auf Ihren körper - und Sie legen die hand auf Ihr unbewusstes". wobei die klassifizierung in diesem satz wohl nicht verständlich ist, ohne den miserablen, kulturell verankerten umgang mit dem körper als objekt nicht nur in unserer gesellschaft zu beachten.

Freitag, 6. Oktober 2006

notiz: "Das Gewaltlabor"

mit einigen einschränkungen, was die "spiegel"-typische schreibe und darüber eine gewisse verzerrung der inhalte anbelangt, möchte ich doch den artikel unter der obigen überschrift empfehlen, der sowohl in der aktuellen printausgabe als auch z.zt. online vorhanden ist. er stellt erstens einmal mehr ein beispiel dafür dar, wie sich bestimmte szenarien v.a. aus der science fiction auf einmal in der realität manifestieren können (john brunners werke wären hier neben anderen eine referenz); und zweitens lässt er sich als illustration einiger thesen lesen, die bspw. in diesem beitrag enthalten sind. ebenso empfehle ich nochmals die informationen, die hier ganz am ende zur situation in brasilien zu lesen sind. und auch, wenn die skizzierte realität wieder vielleicht manche zur schlußfolgerung "wolfsgesellschaft" bewegen mag, so bleibe ich bei meiner meinung, dass wir hier eher die bitteren früchte von jahrhunderten sozialer gewalt vor uns haben.

"Die Unterwelt greift nach der Macht, die Reichen von São Paulo verbarrikadieren sich in Luxusburgen und fühlen sich nur in Hubschraubern sicher - die größte Stadt auf der Südhalbkugel der Erde gibt eine Vorahnung von der Zukunft der Mega-Citys."(...)

(...)"Gemeint sind die Unterweltler von São Paulo. Die Kuriere, Dealer, Mörder, Reifendiebe und Kidnapper der Stadt, die jungen Frauen, boshaften Greise, die muskelbepackten Männer, die Zwölfjährigen in kurzen Hosen, und nahezu alle sind bewaffnet. Sie sind Bewohner der schätzungsweise 2000 bis 2400 Favelas von São Paulo allein im Stadtgebiet, organisiert im "Primeiro Comando da Capital", dem "Ersten Hauptstadtkommando". Ein sperriger Name, alle sagen ohnehin nur PCC, wie bei einer Partei. Und stünde Elvira de Souza in diesem Moment in der Lounge, stünde sie neben de Nadai am Tresen, würde sie ihm sogar zustimmen. Si, Senhor, unser Aufstand ist politisch, wir glauben nicht an Wahlversprechen, an Almosen, wir wollen die Macht, ein besseres Leben."(...)

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