ich schaffe es momentan nicht, eine neue folge der krisennews zu schreiben, aber natürlich passieren gerade im bereich widerstand immer wieder genügend aktionen in verschiedensten ländern, die hierzulande im mainstream nicht oder nur verzerrt dargestellt werden - und die ich deshalb immer wieder versucht habe, in den news zu dokumentieren. dann also diesmal ausserhalb - besser als gar nicht.
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eine größere aktion - demonstration plus eher symbolischer bankenstürmung - ist am vergangenen donnerstag in derwall streetgelaufen:
(...) "Es ist der größte Massenprotest gegen die Wall Street seit dem "Bailout" vor zwei Jahren, als die US-Regierung die Finanzbranche mit 700 Milliarden Dollar vor dem Kollaps rettete. Die Polizei schätzt die Zahl der Demonstranten im Finanzdistrikt auf 7500. Die Veranstalter, allen voran der US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO, sprechen von 15.000. (...)
Es sind Gewerkschafter, Lehrer, Bauarbeiter, Angestellte, verschuldete Hausbesitzer, Bankkunden, Arbeitslose, Geistliche, Gemeindeführer. Ein paar hundert haben es sogar geschafft, kurz die gläsernen Eingangshallen von JP Morgan Chase und Wells Fargo in Midtown zu stürmen, mit geballten Fäusten, bevor die Polizei sie friedlich abführte." (...)
letzteres ist thema dieses kurzen videos:
wenn ich mich so an die berichte erinnere, die mir seit herbst 2008 aus den usa vor augen gekommen sind, dann gehört diese demo schon zu den auffälligeren, sowohl was beteiligung als auch zusammensetzung anbelangt. ich habe zu wenig einblick in die (potenzielle) linke oder auch linksliberale opposition dort und die sich teils doch sehr von europa unterscheidenden bedingungen und eigenarten. auch per indymedia nyc oder andere einschlägige seiten war nichts wirklich aufschlussreiches zu erfahren. wer diesbezgl. also mehr infos hat, möge die bitte per kommentar teilen - würde mich freuen.
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fast täglich geht der blick gen griechenland, wo es immer wieder zu solchenszenenwie ebenfalls am donnerstag kommt:
(...) "Während ihrer Proteste gegen die Sparmaßnahmen der Regierung haben Hunderte Lehrer versucht, das Finanzministerium in Athen zu erstürmen. Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, vereinzelt habe es auch Rangeleien gegeben, sagte ein Sprecher der Behörden. Verletzt wurde jedoch niemand. Vor dem Parlamentsgebäude warfen etwa 50 Vermummte Steine auf Polizisten, die ihrerseits mit Schlagstöcken gegen die Randalierer vorgingen." (...)
"kleine scharmützel", würden militärfreaks jetzt vermutlich sagen. bemerkenswert aber die durchaus wahrnehmbaren ansätze zur militanz selbst bei berufsgruppen, von denen hierzulande wohl kaum ein mitglied auf ähnliche ideen kommen würde.
aber die reaktion großer bevölkerungsteile wird bei der jetzt unter iwf- und eu-regie anstehenden finanziellen brachialamputation eben dieser bevölkerung eine sehr wichtige und große rolle mit bedeutung weit über griechenland hinaus spielen - verweigern sich nämlich relevante mengen den geplanten "spar"- ( bzw. umverteilungs-) programmen hauptsächlich zugunsten diverser banken, dann wird es zukunftsweisend sein, wie die "eliten" mit so einer verweigerung umgehen werden - die zeit der militärdiktaturen in europa ist ja bspw. eigentlich vorbei, obwohl sich manch einer der antisozialen organisierten kriminalität solche repressiven gebilde zurückwünschen dürfte, lassen sich doch gerade in deren friedhofsruhe ungestört kapitalistische exzesse organisieren und umsetzen.
bereits heute wird sich aber aller wahrscheinlichkeit nach schon abzeichnen, wie zugespitzt die situation nun real tatsächlich ist - dererste maikönnte diesbezgl. ein sehr symbolträchtiges datum sein:
(...) "Im ganzen Land finden wieder die traditionell eher friedlichen Mai-Demonstrationen statt. Aber in diesem Jahr erhalten sie vor dem Hintergrund der härtesten Sparmaßnahmen seit dem 2. Weltkrieg eine besondere Dringlichkeit, da Premier Papandreu am Sonntag die Einzelheiten der Kürzungen öffentlich verkünden wird. (...)
Der Blog"teacher dude"eines in Thessaloniki lebenden "Citizen-Journalist" und Englisch-Lehrers, wagt eine Vorhersage für den 1. Mai. Der Blog gilt seit dem Beginn der Krise als einer der bestinformierten Europas.
"Teacher Dude" misst der Verkündung der Details der Sparmaßnahmen an einem Sonntag eine besondere, nicht zufällige Bedeutung zu, die ihre einschneidende Bedeutung für die Bevölkerung betonen soll.
Dann kommt der blog zu einer Einschätzung des 1. Mai.
Normalerweise seien die Maikundgebungen im Land eher friedlich und durch einen rituellen Charakter als durch einen leidenschaftlichen revolutionären Antrieb gekennzeichnet. Der 1. Mai sei auch für Linke nur ein sekularer Feiertag.
Der morgige Tag verspreche allerdings anders zu werden. Der Ärger über die in den nächsten Jahren zu erwartenden Lohnkürzungen und Absenkungen des Lebensstandards werde sich höchst wahrscheinlich sein Ventil suchen.
Gewerkschaften, Arbeiter des öffentlichen Dienstes, die Opppostition und der ganz normale Bürger werden auf die Straße gehen, wütend wegen der ausweglosen Lage, in die sie die PASOK-Regierung gebracht hat.
In dem die Regierung den Sicherheitskräften bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung freien Lauf lasse, trage sie dazu bei die explosiven Mischung zu verstärken, die durch die augenfällige Wut der Menschen entstanden ist.
Im vollen Bewußtsein dass die Augen der Finanzwelt auf Griechenland gerichtet sind, versuche die Papandreu-Regierung alles in ihrer Macht mögliche um eine Wiederholung des Dezember 2008 zu verhindern.
Auf der anderen Seite sei die Riot Police (MAT) dafür bekannt, dass ihre Einsatztaktik am 1. Mai genau die Bilder produzieren werde, die Papandreu so verzweifelt verhindern will."
vor diesem hintergrund schreibt derlesende arbeiterauf indy sehr berechtigt:
(...) "Auffallend ruhig bleibt es dagegen auf der linken Seite. Wo hat man bisher von Solidaritätskundgebungen für die streikenden griechischen Lohnabhängigen in Deutschland gelesen? Dabei hat die griechische Linke Solidarität aus anderen europäischen Ländern erbeten: So schrieb der Vorsitzende der griechischen Partei »Koalition der Linken, Bewegungen und der Ökologie«, Synaspismos (SYN), Alexis Tsipras, vor einen Tagen in einen Brief an den Vorsitzenden der Europäischen Linken (EL), Lothar Bisky, und an die Vorsitzenden der in der EL zusammengeschlossenen Parteien:
"Wir fordern euch auf, den Mitgliedern eurer Parteien, der Arbeiterklasse und den Menschen eurer Länder nicht nur Solidaritätsbotschaften mit der griechischen Bevölkerung zu übermitteln, sondern auch Botschaften der Mitwirkung für eine Koordinierung in der Praxis, damit sich in ganz Europa Kämpfe gegen den Angriff entwickeln, dem heute unsere Bevölkerung und morgen alle Menschen Europas ausgesetzt sind. Lasst uns alle zusammen Widerstand leisten! Lasst uns alle zusammen Europa verändern und in ein Europa des Friedens, der Demokratie und der Gerechtigkeit verwandeln! Es ist an der Zeit."
Der 1.Mai, der immerhin einmal als internationaler Arbeiterkampftag entstanden ist, wäre eine gute Gelegenheit, um diese Bitte praktisch zu beantworten. Dabei braucht man gerade in Deutschland nicht bei moralischen Solidaritätsappellen stehen bleiben. Kundgebungen vor den Zeitungen, die sich mit der Hetze gegen Griechenland besonders hervorgetan haben, könnten ein Signal an die griechische Bevölkerung sein, dass es in Deutschland Menschen gibt, die sich davon nicht anstecken lassen. Es gäbe auch genügend weitere konkrete Anknüpfungspunkte für diese Solidarität. So weigert sich die deutsche Regierung noch immer, Reparationen für die Verbrechen während der NS-Besetzung des Landes zu zahlen. Die geschuldete Summe beläuft sich auf mehr als 50 Milliarden Euro. Andererseits geht mittlerweile 13 % des deutschen Rüstungsexports nach Griechenland. Auch hier böte sich eine Möglichkeit an, Solidarität mit der griechischen Bevölkerung zu zeigen." (...)
da sind durchaus ein paar bedenkenswerte ansätze dabei, finde ich.
eigentlich wollte ich mir ja zumindest übers wochenende nichts von außen "diktieren" lassen, was die bloggerei und überhaupt das schreiben (einige mails rund ums blog harren noch ihrer beantwortung) betrifft - eigentlich. inzwischen hat sich jedoch der vor ein paar tagen vermutlich nicht nur von mir eher beiläufig registrierte unfall auf der bohrinsel "deepwater horizon" im golf von mexico als ein monströses technoindustrielles desaster ersten grades herausgestellt, mit einigen dimensionen, die im folgenden kurz skizziert werden sollen. und neben den dazugehörigen eher "rationalen" betrachtungen möchte ich auch ausdrücklich erwähnen, dass mich solche bilder...
...wie dieses eines verölten vogels in der san franciso bay 2007 (photo von mila zinkova) regelmässig stinksauer machen - und das nicht nur wegen einer fast schon misanthropischen scham im angesicht der durch übles menschliches treiben gequälten kreatur, die nicht begreifen kann, was ihr geschieht (aber, und da bin ich mir sicher, leidet), sondern auch deshalb, weil sich alles gerede und alle wohlfeilen absichtsbekundungen nach derlei großtechnologischen verbrechen regelmässig als billige luftnummern herausstellen - oder will sich jemand hinstellen und behaupten, dass aus der kette von dimensionsmässig vergleichbaren störfällen wie bspw. seveso 1977, bhopal 1984, dem atomaren gau von tschernobyl (in einem quasi staatskapitalistischen system, ganz recht) und dervergiftung des rheinsim gleichen jahr 1986 sowie den schweren unfällen mit supertankern wie der"exxon valdez"1989 irgendwo und irgendwann wirklich grundsätzliche und einschneidende konsequenzen gezogen worden wären?
natürlich nicht - es fällt erstens auf, dass bei den obigen beispielen überall verschiedene, aber weltweit bekannte corporations beteiligt waren, deren macht und kriminelle energie im gleichnamigenfilmpräzise dokumentiert wurde; und zweitens, dass bei den meisten derartigen "unfällen" ein fataler mix aus menschlicher selbstüberschätzung, mangelnder beherrschung der technologie, verantwortungslosigkeit, unterlaufenen sicherheitsstandards und profitmaximierung um buchstäblich jeden preis ursächlich beteiligt gewesen ist, gefolgt von vertuschungs- und verharmlosungsversuchen sowie dem mehr oder weniger unverschämten bemühen, sich jeweils möglichst erfolgreich um die fälligen entschädigungen zu drücken. mit moralischen kategorien ist derlei treiben nicht beizukommen, im systemimmanenten verständnis sind das alles durchaus "rationale" verhaltensweisen. von "außen" betrachtet jedoch lässt sich etwas wahrnehmen, was in "the corporation" völlig berechtigt als soziopathische, antisoziale grundstruktur von gebilden wie großkonzernen (und ich füge hinzu: auch von den verantwortlichen führungskräften sowie teilen ihrer lakaien) gezeichnet worden ist. und unter diesem aspekt sollten sie auch wahrgenommen und behandelt werden.
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das sich nun "bp" öffentlich sehr schnell zur übernahme der kosten (was immer das dann auch konkret bedeutet) breit erklärt hat, dürfte als allerletztes mit solchen dingen wie echter verantwortungsübernahme oder gar wirklicher reue zu tun haben, sondern eher damit, dass auch die pr-abteilungen dieser kriminellen organisationen inzwischen wissen, dass sich solche (absehbaren) debakel wirklich großen stils öffentlich nicht wirklich gut machen und eine ernste delle ins geschäft schlagen können, vom image mal ganz zu schweigen.
und es dürfte auch etwas mit den tatsächlichenhintergründenin diesem fall zu tun haben - die sehen hinsichtlich "bp" nämlich so aus:
(...) "Doch BP macht es sich mit der Schuldzuweisung an die Schweizer Firma etwas zu leicht, wie verschiedene Kommentatoren bemerkten. «Es war der britische Ölkonzern, der Transocean den gefährlichen Auftrag gab. BP liess das Unternehmen in in einer Tiefe bohren, die technisch nicht mit letzter Sicherheit zu kontrollieren ist», schreibt etwa die «Financial Times Deutschland». Das «Wall Street Journal» weist darauf hin, dass die Sicherheitstechnik der «Deepwater Horizon» nicht auf dem modernsten Stand gewesen sei. Es habe ein Schalter gefehlt, mit dem das Bohrloch hätte verschlossen werden können. Warum? BP hatte zusammen mit anderen Ölfirmen im amerikanischen Parlament lobbyiert, dass diese Schalter anders als etwa in Norwegen und Brasilien nicht zur Vorschrift werden. Kein Wunder: Ein Stück kostet 500'000 Franken." (...)
weil da einige herren etwas sparen wollten, gibt es jetzt also eine situation, die - stand heute abend - soaussieht:
(...) "Die küstennahen Feuchtgebiete sind die Laichgebiete und Brutstätten von zahlreichen Krebstieren, Fisch- und Vogelarten. „Gerade für Vögel könnte die Zeit nicht schlechter gewählt sein“, sagt Melanie Driscoll von der US-Vogelschutzorganisation Audubon. Viele Vögel brüten in der Gegend, auch Zugvögel auf dem Weg von Südamerika in arktische Gebiete sind zur Zeit dort. (...)
„Über die Nahrungskette sind beinahe alle Tiere bedroht, die in der Küstenregion leben“, sagt Maggy Nugues vom Bremer Leibniz-Zentrum für marine Tropenökologie. Zahlreiche Tierarten ernähren sich von Plankton - etwa Krabben, Muscheln, Austern und Shrimps. Eingeöltes Plankton können sie entweder gar nicht fressen oder wenn sie es doch tun, vergiften sie sich an der verseuchten Nahrung. Dadurch fehlt dann wieder Nahrung für andere Tiere, etwa Otter, der sich von Muscheln ernähren.
Auch Delphine und Wale sollen betroffen sein. Die können doch weite Strecken zurücklegen - können sie nicht aus dem verseuchen Gebiet verschwinden?
Doch, können sie - sagt Maggy Nugues. „Delfine und Wale werden merken, dass das Wasser nicht in Ordnung ist, verlassen das Gebiet und fressen auch nicht mehr dort.“ Allerdings ernähren auch sie sich von Plankton und Fischen. Sind diese durch Öl verseucht, können die Tiere erkranken. Verseuchte Fische können sich sehr viel weiterräumiger ausbreiten, als der Ölteppich selbst. Wie genau sich das auf die großen Meeressäuger auswirken wird, ist aufgrund der geringen Erfahrungswerte schwer einzuschätzen.
Man hört immer wieder, das Mississippi-Delta sei besonders empfindlich. Warum?
Die Region besteht zu einem großen Teil aus Mangrovenwäldern. Mangroven atmen über Luftwurzeln - deren Öffnungen werden durch das Öl verklebt. Die Pflanzen sterben und mit ihnen der Lebensraum für zahlreiche Tierarten." (...)
oder, aus finanzieller warte - leider und bezeichnenderweise die einzige ebene für etliche zeitgenossen, die von ihnen wirklich wahrgenommen wird -so:
(...) "Der Fischerei und dem Tourismus in der Region, die sich gerade erst von den Folgen "Katrinas" erholt haben, drohen schwere Schäden. Experten gehen davon aus, dass das Öl Umweltschäden anrichten wird, die nur schwer zu beseitigen sein werden. Die Küstengewässer und Sumpfgebiete im Golf von Mexiko sind Heimat zahlreicher Tierarten wie Seekühe, Delfine, Wale, Tümmler, Pelikanen sowie anderer Vögel. Im Golf gibt es zudem riesige Mengen an Meeresfrüchten wie Austern, Krabben Muscheln und Fische.
Die Energie-Experten der Agentur Fitch schätzen, dass allein die Eindämmung des Ölteppichs und die anschließende Säuberung drei Milliarden Dollar erreichen könnte. Der Analysten Neil McMahon von der Investmentfirma Bernstein rechnete zudem vor, dass in der Fischereiindustrie Schäden von 2,5 Milliarden Dollar und in der Tourismusbranche von drei Milliarden Dollar zu erwarten sind."
wobei ich persönlich das entscheidende die in der fiktiven kategorie "geld" nicht messbaren qualen der unzähligen lebewesen finde, die letztlich einmal mehr vom wahnsinn des ölzeitalters sowie der damit verbundenen bzw. immanenten kapitalistischen schwerkriminalität zum tode verurteilt werden.
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es gibt aber noch einen weiteren aspekt des ganzen, der bisher - zumindest bei den mir bekannten berichten - nirgendwo aufgegriffen wurde, aber wirklich schlimme befürchtungen wecken muss (vielleicht wird er genau deswegen beschwiegen) - die einzige mir bisher bekannte ausnahme ist dieserartikel, der den zusammenhang deutlich macht und benennt:
(...) "Da die klassischen Ölquellen nach und nach versiegen, sind Ölkonzerne darauf angewiesen, andere Vorkommen zu erschließen, um den Energiebedarf zu decken – etwa in der Tiefsee sowie in den sandigen Böden Kanadas, wo Öl aus Teersand gefördert werden kann. Dies ist mit mehr Aufwand, höheren Kosten und deutlich größeren Belastungen für die Umwelt verbunden." (...)
kurz: es war eine tiefseebohrinsel, die da versunken ist - und genau diese eigenschaft macht die schließung der lecks jetzt so schwierig - hoher druck, dunkelheit, unzugänglichkeit für taucher bzw. notwendigkeit für high-tech-material . und damit wird genau das deutlich, was im zitat als "mehr aufwand, höhere kosten und deutlich größere umweltbelastungen" umschrieben ist: tiefseebohrungen sind bereits ein teil der manischen jagd nach den letzten erreichbaren ölvorräten, und damit spiegeln sie ebenfalls einen teil der realität vonpeak oil - siehe auchhier- wieder. und wie dieser fall jetzt gerade deutlich unterstreicht, steigen die risiken beim gierigen grapschen nach den letzten vorräten des schmierstoffs für die industrielle "zivilisation" absehbar in einer derart unakzeptablen weise an, dass die dringlichkeit der beendigung des zeitalters der fossilen energien einem schier ins gesicht springt. und noch mehr die dringlichkeit der beendigung des auf diesen fossilen energien basierenden totalitären kapitalismus: weil die profitmaximierung um jeden preis das eherne gesetz dieses systems, ja eigentlich seinen einzigen inhalt darstellt, ist das verhalten von bp, wie es weiter oben kurz skizziert wurde, keinesfalls irgendwie als "ausrutscher" zu begreifen, sondern als "normalität", die unter den systemvorgaben ohne weiteres zur offenen kriminalität (wenn auch vermutlich nicht im sinne der herrschenden strafgesetze) mutiert.
anders: es liegt auf der hand, dass bei immer schwierigeren umständen der ölförderung solche "unfälle" keine ausnahmen bleiben werden - was das in gebieten wie den polarregionen oder auch anderen tiefseezonen mit einiger wahrscheinlichkeit bedeutet, müssen wir gerade miterleben. aber wenn man sich den umgang mit der gleichfalls hochriskanten - und zwar in jeder beziehung, vom uranabbau bis zur fiktiven "endlagerung - atomenergie betrachtet, die unter strukturell ähnlichen prämissen wie die ölförderung betrieben wird, bleibt die wahrscheinlichkeit für lerneffekte gering - auch, wenn obama inzwischen andere tiefseeprojekte erstmal ausgesetzt (und eben nicht definitiv beendet) hat. dafür ist letztlich auch eine verbreitete haltung mitverantwortlich, wie sie jemand im "standard"forum zur schau stellt:
(...) "ich will die errungenschaften der modernen gesellschaft nicht aufgeben. ich will im auto fahren wann ich es will und wohin ich will, ich will wenn ich es möchte ein flugzeug besteigen können und in ein land reisen können, das mich interessiert.
kaufen sie sich einen bauernhof (kein stromanschluss, kein traktor), züchten sie tiere und pflanzen sie obst, gemüse und getreide. und schauen sie sich mal an, was für ein sch** leben das ist."
wer derart "ich will" brüllt, will und wird letztendlich und tatsächlich nur eines: mit dem kopf frontal gegen eine betonwand laufen. ich fürchte, anders werden die nach dem westlichen "way of life" strukturierten gesellschaften incl. einer mehrheit ihrer bewohnerInnen ihre grenzen auch nicht (mehr) lernen, als nur noch auf die ganz harte und schmerzvolle tour (da kann dann beizeiten auch ein naturphänomen wie ein vulkanausbruchwertvolle lektionen vermitteln). mal abgesehen davon: woher will der im tatsächlichen sinne a-soziale ignorant wissen, was ein scheißleben ist? in der heutigen gesellschaftlichen form können sich wirklich und tatsächlich nur noch gestörte auf die dauer wohlfühlen (und halten das auch noch für "freiheit") - das nenne ich ein scheißleben ! und das ist keine haltlose polemik, sondern ein nüchterner tatsachenbestand (wer das nicht glaubt, darf sich zb. einmal das blog von vorne bis hinten durchlesen und dann wiederkommen).
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einmal mehr lautet abschließend ein wesentliches fazit aus dem ölteppich im golf so: es ist absolut zeit, aufzuräumen - im ganz eigenen überlebensinteresse.
ach, hätte ich doch heute nachmittag nur dem impuls nachgegeben, irgendwo ein nettes fleckchen in der sonne zu besetzen - stattdessen habe ich angefangen, im netz zu stöbern. ergebnis: rauchender kopf und schlechte laune. ein paar gründe dafür folgen nun.
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das kuddelmuddel rund um die möglichen staatsbankrotte in der sog. euro-zone mitsamt "rating-agenturen" (private unternehmen, von nichts und niemandem legitimiert - soviel zur realen machtverteilung in den demokratiesimulationen),medialer hetze, undurchsichtigen motivationen seitens politik und ökonomie, währungsfragen etc. finde ich sehr schwierig zu begreifen - war die erste phase der krise diesbezgl. schon nicht "ohne", wenn auch durch die direkte, besser offensichtliche involvierung der bankster nicht völlig abstrakt, so ist das jetzige geschehen sozusagen auf einer anderen ebene angesiedelt, wenn auch mit strukturell gleichen inhalten und beteiligten. aber eben auch schwerer durchschaubar, und darum auch leichter in der wahrnehmung vieler zu manipulieren. ich habe mir die foren der offen reaktionären medien erspart, bereits die "liberalen" reichen da völlig aus - vom plumpen nationalismus gegen inzwischen "die südländer" bis hin zu etwas, was ich als europäischen chauvinismus gegen " die anglo-amerikaner" bezeichnen würde, reichen viele reaktionen vom standard über die süddeutsche bis zur fr (von spon und zeit einmal ganz ab). sicher, es gibt dort auch ein ganze menge relativ rationales (im besseren sinne gemeint) - aber eben auch zu vieles der ersteren sorten. macht mir ein dumpfes, beunruhigendes gefühl in der bauchgegend - klar gibt es innerimperialistisches interessengerangel zwischen usa/uk und der eu - aber hier sind nicht nur belege für etwas sichtbar, was sich als identifikation mit der eigenen herrschaft bezeichnen ließe, sondern auch erste schritte im massenbewusstsein auf - potenzielle - kriege. wird mir ganz anders, wenn ich solche sachen lese. bitte bei bedarf selbst herumstöbern. ansonsten verweise ich für den moment speziell zu griechenland auf das, was im verlaufdieses beitragszu lesen ist.
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ich esse ja und mag aus diversen gründen schon seit jahren kein fleisch mehr, aber unabhängig davon ist die folgendemeldungzum treiben einesalten bekanntendurchaus auch für vegetarierInnen interessant und wichtig:
"Mit einem Patentanspruch auf Schinken und Schnitzel ist der Biotechnik-Konzern Monsanto erneut in die Kritik geraten. Das US-Unternehmen will sich beim Weltpatentamt in Genf bestimmte Schweineprodukte als Erfindung schützen lassen.
Es geht um das Fleisch von Tieren, die mit gentechnisch manipulierten Pflanzen gefüttert wurden." (...)
"monsanto" würde ohne weiteres, wenn man sie denn lässt, alles und jedes in der lebendigen welt als produkt patentieren - wenn man bspw. mich denn ließe, würde ich diese schwer kriminelle bis deutlich terroristische organisation in form eines sog. "unternehmens" auf der stelle entschädigungslos enteignen, ihre strukturen zerschlagen und sämtliche verantwortlichen personen dazu verdonnern, den rest ihres lebens für entschädigungen an ihre zahllosen opfer weltweit zu arbeiten - vorzugsweise in der landwirtschaft (bioanbau - ich weiß aus eigener erfahrung, wie diese arbeit körperlich schlauchen kann). und mit "verantwortlichen personen" meine ich übrigens auch lobbyisten und die befehlsempfänger der bande in der sog. politik. herrje, man wird doch wohl noch träumen dürfen.
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aktuell stellen sich aber eher alpträume ein - wie schon öfter hier thematisiert, sind (deutsche) knäste nicht wirklich orte, an und in denen sich irgendjemand mit menschlichen empfindungen aufhalten sollte (okay, ein paar ausnahmen würden selbst mir einfallen) - aber was bleibt einem nochhierzuzu sagen übrig?
"Unmenschliche Verhältnisse: In den nordrhein-westfälischen Frauengefängnissen müssen Schwangere in Hand- und Fußfesseln entbinden. Eine Praxis, die im Düsseldorfer Justizministerium nicht bekannt ist, von der aber Hebammen berichten. Die absurde Begründung: Fluchtgefahr. (...)
Die junge Frau sitzt zurzeit wegen eines Drogendelikts in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Köln. Als ihr Geburtstermin für den 5. Mai errechnet wurde, zeigten sich die Behörden gnädig und stellten ihr ab diesem Tag Haftverschonung in Aussicht. Dann drängte Lars doch früher auf die Welt, was den Richter nicht sonderlich beeindruckte. Antes blieb in Haft, Lars kam zu einer fremden Familie nach Bonn in die Kurzzeitpflege. Immerhin: Mutter und Kind werden "nur" drei Wochen lang getrennt sein. Andere Häftlinge sehen ihre Säuglinge erst nach Monaten wieder. Manche auch überhaupt nicht.
"Das ist, als würde man hilflos ins Weltall geschossen, ohne jeden Kontakt zur Bodenstation", sagt Ursula Volz von der Internationalen Studiengemeinschaft für pränatale Psychologie. "Damit legt man den Grundstein für die nächste Generation von Straftätern", sagt Julia von Seiche, die Vorsitzende des Aktionskomitees Kind im Krankenhaus. Volz und von Seiche gehören zu einer Gruppe von Experten, die sich jüngst an die FR wandten, weil sie die Verhältnisse in nordrhein-westfälischen Frauengefängnissen für unmenschlich halten.
Zu diesen Verhältnissen gehört nach deren Kenntnis nicht nur die Trennung von Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt. Zu diesen Verhältnissen gehöre auch, dass Frauen in Hand- und Fußfesseln zum Gynäkologen gebracht werden - und im Einzelfall sogar gefesselt entbinden mussten. Eine Praxis, die im Düsseldorfer Justizministerium "nicht bekannt" ist, von der aber Hebammen, der Sozialdienst Katholischer Frauen und die Corneliusstiftung sagen: "Wir wissen, dass es das gegeben hat." (...)
jaja, der rechtsstaat - dieser begriff ist bekanntlich wortwörtlich zu nehmen. die vorstellung einer gebärenden in handschellen und fußfesseln ist unbeschreiblich, zumindest für mich (und glauben Sie mir bitte, dass ich mir so einiges an wirklich krankem zeug vorstellen kann). neben allen anderen finsteren aspekten ist das wirklich auch als schwere körperverletzung an den säuglingen zu werten, und die zitate der beiden frauen oben in der mitte sind leider überhaupt nicht so absurd, wie sie sich vielleicht für einige darstellen mögen - um das nachzuvollziehen, empfehle ich eine nähere beschäftigung mit den bisher bekannten eigenheiten derpränatalen phase.
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der gedanke ist nicht sehr abwegig, dass bei unter solchen umständen (dazu gehören auch die problembelasteten, also im regelfall massiv gestressten, schlimmstenfalls gleichgültigen mütter) geborenen menschen auch ihrespiegelneuronennicht so arbeiten, wie´s eigentlich in unserem genetischen code vorgesehen ist (der verlinkte beitrag ist schon sehr alt, aber wie ich gerade feststelle, passt der inhalt perfekt). inzwischen sindneue erkenntnissezu dieser spezifischen gruppe von neuronen bekannt geworden:
(...) "Gemeint sind damit Neuronen, die im Gehirn einer Person aktiv werden, die ein Verhalten oder auch Gefühle bei anderen Menschen beobachtet. Die senso-motorischen Aktivierungsmuster sollen denen ähnlich sein, die entstehen, wenn eine Person selbst etwas macht oder fühlt. Daher wurden die Spiegelneuronen, deren Existenz man aber bislang bei Menschen nur indirekt nachweisen konnte, auch als Grundlage für Wiedererkennung, Lernen, Nachahmung und Empathie bezeichnet. Sie sollen den neuronalen Mechanismus darstellen, mit dem man andere Menschen verstehen kann, indem man sich an die Stelle eines anderen versetzt, um so etwa erkennen zu können, ob jemand lächelt oder grinst, ob er Angst hat oder Schmerzen empfindet.
Nun wollen Neurowissenschaftler der University of California, Los Angeles, erstmals einen empirischen Nachweis für die Existenz dieser Neuronen bei Menschen gefunden haben, die das Spiegeln oder nachahmende Kopieren von Gehirn zu Gehirn ermöglichen. (...)
Möglicherweise ist dies aber auch ein Mechanismus, der die Menschen, die sich beobachten, einander ähnlich macht, also zu einem konformen Verhalten führt. Das kann offenbar nicht nur in körperlicher Anwesenheit geschehen, sondern auch medial vermittelt. Und natürlich würden Spiegelneuronen, sollten sie tatsächlich automatisch Verhalten und Gefühle anderer reproduzieren, nicht nur Empathie fördern, sondern auch Wut, Panik oder Aggressivität." (...)
finde ich alles sehr interessant, gerade auch die letzten sätze. bei weiterer verifikation wären eigentlich teils recht drastische konsequenzen in verschiedensten gebieten fällig - das fernsehprogramm wäre da nur ein bereich. ist vorgemerkt für einen eigenen beitrag.
"Mit einem drastischen Schritt wollen Politiker die rasant steigende Anzahl von Morden und Gewaltverbrechen in Chicago bekämpfen. Weil die Polizei mit der Lage in der drittgrößten US-Stadt offenbar überfordert ist, sollen künftig Soldaten der Nationalgarde für Sicherheit auf der Straße sorgen.
Die Entwicklung ist dramatisch. Seit Beginn des Jahres wurden 113 Einwohner der Stadt am Michigansee ermordet. Damit starben genau so viele Zivilisten in den Straßenschluchten der Stadt wie US-Soldaten bei ihren Kriegseinsätzen in Afghanistan und im Irak. Allein in einer Nacht der vergangenen Woche verzeichnete die Polizei sieben Todesopfer und 18 Schwerverletzte. In den meisten Fällen spielten Schusswaffen eine Rolle. (...)
Den Eindruck, dass bald Panzer durch die Stadt rollen, wollen Fritchey und Ford dabei nicht aufkommen lassen. Nach ihrem Plan sollen die Gardisten in den besonders von Gewalt betroffenen Stadtvierteln Einsatzteams mit der regulären Polizei bilden. Damit solle die Präsenz der Sicherheitskräfte auf den Straßen deutlich erhöht werden. Auch Geld ist ein Thema: Die klamme Stadt Chicago kann sich derzeit keine neuen Polizisten leisten. Einen Einsatz der Nationalgarde müsste zumindest teilweise der Bundesstaat bezahlen. (...)
und das wäre dann nachitaliender zweite, westliche nato-staat, in dem im zuge der krise militärische formationen "legal" in großstädten auftauchen würden - ebenfalls unter dem label der "kriminalitätsbekämpfung". nun dürfte eben die dargestellte (gewalt-)kriminalität mittelbar ebenfalls zu den (in maßen tolerierten, weil aus elitärer sicht nützlichen) krisenfolgen zählen - die deklassierten gehen sich selbst an die gurgel (vermutlich auch noch in den typischen formen der bandenstruktur) und lassen sich derart noch als vorwand für die innere aufrüstung sowie als schreckgespenst gegen "das chaos" nutzen, welches ohne den starken staat losbrechen würde. ich fürchte, da sehen wir eine art blaupause für die nähere zukunft in vielen staaten.
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kurz noch in eigener sache: versprochene kommentare und beiträge sind nicht vergessen. aber momentan ist mal wieder vieles eine zeitfrage bei mir.
als ich gestern mal so interessehalber in der bloglandschaft nach reaktionen auf den tod von alice miller geschaut habe, bin ich regelrecht erfreut über ein blog gestolpert, welches - neben allen anderen positiven aspekten - mir in gewisser hinsicht einen teil der arbeit hier abnimmt bzw. schon abgenommen hat: unter dem titel
beschäftigt sich der autor sven fuchs dort ausführlich unter explizit psychohistorischen prämissen - angelehnt an autorInnen wie etwa lloyd deMause, arno gruen und auch alice miller - mit den gesellschaftlichen folgen der traumatischen gewalt vor allem gegen kinder in unserer spezies. ich konnte bisher vieles nur querlesen, werde aber mit sicherheit öfter links setzen. gerade der ansatz von deMause wird dort in einer ausführlichkeit und detailliertheit anhand von vielen themen behandelt, die ich hier einfach arbeitsmässig nicht schaffen würde (unabhängig von der bedeutung, die deMause hier im blog als einer von vielen für mich relevanten forschern hat).
besonders schön finde ich, dass sven fuchs dort eine beitragsreihe laufen hat, die ich als "psychohistorische biographieforschung" bezeichnen würde - ähnliches habe ich selbst hier bereits anhand von leuten wie saddam hussein, adolf hitler, aber auch isaac newton u.a. begonnen. als sehr informativen einstieg möchte ich zum reinlesen deshalb einfach mal die folgenden historischen persönlichkeiten empfehlen:francisco franco, kaiser wilhelm II., napoleon bonaparte - es gibt noch wesentlich mehr ähnliche und auch positive beispiele, wie bspw. astrid lindgren - aber wie gesagt, konnte ich selbst erst einen kleinen teil querlesen. jedenfalls auf alle fälle und unabhängig von aller potenziellen kritik, die ich hier und da hätte, ein wirklich wichtiges blog und eine absolut erfreuliche entdeckung für mich, die ich allen leserInnen hier wie gesagt dringend empfehlen möchte.
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im "capitalverbrecher" hat sich jetzt leider seit über einem jahr nichts mehr getan, deshalb entlinke ich das blog vorläufig. dafür kommen diegeheimrätin(meine antwort ist übrigens in arbeit) sowiefeynsinnhinzu - wer sie bisher noch nicht kennt, sollte unverzüglich mit beiden blogs bekanntschaft schließen.
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und sonst? ja, eine indexaktualisierung ist mal wieder überfällig *seufz* - ich sage mal, das passiert innerhalb der nächsten drei wochen.
während sie meiner wahrnehmung nach die größte öffentliche wirkung vor allem in den 1970er und 80er jahren erzielte, wurden wesentliche inhalte ihres ansatzes vor allem in den letzten beiden jahrzehnten durch die psychotraumatologie wissenschaftlich untermauert.
mit respekt für eine "outsiderin", die sich besonders immer wieder mit der orthodoxen psychoanalyse anlegte, verweise ich einfach mal auf diesen früheren beitrag zusaddam hussein, in dem zentrale teile ihres denkens sichtbar werden. und natürlich nochmals auf das video unter dem titeldie wurzeln der gewalt sind NICHT unbekannt. und gerade die aktuell diskutierte jüngere vergangenheit in heimen, schulen und religiösen einrichtungen lässt sich auch wie ein stiller kommentar zu ihren thesen begreifen.
auch, wenn ich einige von den letzteren ergänzungsbedürftig finde: sie wird nicht nur dieser gesellschaft fehlen.
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edit: der tagesspiegel mit einem informativennachruf; und ein ebenfalls interessanter findet sich in derfaz - interessant deshalb, weil das zentralorgan der so called "bürgerlichen mitte" immer noch die zentralen befunde der alice miller nicht nachvollziehen will und kann:
(...) "Einwände, dass man doch nicht gegen die Lebensberichte Kinderleid unterstellen dürfe, parierte Miller mit dem Hinweis, das Leid sei immer dort am schlimmsten, wo es abgespalten, verdrängt und also heute nicht mehr erinnert werde. Der Gesunde ist demnach unter den Kranken derjenige, der am schlimmsten dran ist. Wer sein frühes Leid bestreite, fliehe vor ihm. Und diese Flucht finde ihren Ausdruck in Formen der Selbstentfremdung, die sich unter anderem als Philosophie oder Literatur tarnten. Von diesem Punkt an nimmt der Pathologiezusammenhang, den Miller behauptet, einen ungeschminkt totalitären Zug an. Es gibt schlechterdings nichts, das der Kindheitsfalle entkommen kann. Die Frage ist bloß noch, ob die frühen Verletzungen in entdeckter oder unentdeckter Form überdauern.
Caroline Neubaur hat die Irrtümer der Alice Miller konzise zusammengestellt. Dazu gehört, dass entgegen Millers Unterstellung Freud die Verführungs- und Traumatisierungstheorie nie aufgegeben habe. Hätte Miller, so Neubaur, ihre Sache, die Sache des Kindes, voranbringen wollen, dann hätte sie etwa mit der Frankfurter Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber kooperieren können, die in einer breitangelegten Studie herausfand, dass sechzig Prozent aller Patienten als Kinder traumatisiert wurden." (...)
zu den ersten sätzen des zitats drängt sich förmlich ein verweis auf den letztenbeitragauf - der dort zitierte n. walter, der durchaus als mitglied der "elite" durchgehen darf und muss, liefert mit seiner verklärung der schläge von der "liebenden mutter" die passende kakophonische begleitmusik - dieses muster hat die "faz" in ihrer auflistung zumindest nicht explizit benannt. meiner meinung nach gehört es aber mit zu den schlimmsten überhaupt - das ist nicht unbedingt als dissoziation zu bezeichnen, sondern eher eine dekonstruktion der eigenen - authentischen - erinnerungen zu etwas, was offensichtlich nicht nur die erlebten schmerzen abspaltet, sondern diesen auch noch nachträglich einen positiven sinn verleiht. eine art totaler kapitulation mitsamt übernahme des im wahrsten sinne des wortes eingeprügelten (bürgerlichen) "wertesystems".
das die handelnden protagonistInnen in bereichen wie der kunst oder auch den wissenschaften sich in psychophysischer hinsicht oft genug auf einer sozusagen "verschobenen" ebene kompensatorisch an ihren biographischen beschädigungen abarbeiten und die existenzielle dringlichkeit dieser arbeit dann eben auch die basis für die allseits gerühmten vielfältigen leistungen bildet - sei´s nun literatur, ein musikstück oder auch eine bahnbrechende wissenschaftliche theorie - , ist ein zusammenhang, der einem beim blick auf die geschichte geradezu ins auge springt (im blog habe ich den an ein paar stellen ebenfalls aufgegriffen). und für den gesamten "politischen" bereich gilt das natürlich erst recht.
diese realitätswahrnehmung muss die "faz" natürlich als "totalitär" bezeichnen, werden damit doch nicht nur die ideale und selbstbilder der bürgerlichen gesellschaft, sondern ihre ganze existenz überhaupt selbst als ausdruck einer totalitären matrix, und einer überaus gewalttätigen dazu, erkennbar. und das ist nicht nur eine schwere narzisstische kränkung für die konstruktion des angeblich "freien und unabhängigen" (bürgerlichen) menschen (der sich real immer wieder als äusserst determiniert durch seine biopsychosoziale struktur erweist, aber diese determinierung per ideologischer blasen ständig leugnen muss - sogar gegen seine ureigene authentische erfahrung), sondern entzieht auch dem selbstbild der "friedlichen und zivilisierten" gesellschaft jeglichen boden, besser: macht das als ständigen selbstbetrug (im wahrsten sinne des wortes!) kenntlich.
der satz mit der kindheitsfalle ist bei einem wachen blick in die menschliche historie durchaus richtig (wie es auchlloyd deMause- aus einer etwas anderen, aber verwandten perspektive konstatiert).
was ich bei beiden als kritik anmerken würde bzw. früher auch schon getan habe: die nicht primär kindlichen traumata bei erwachsenen durch kriege, soziale und natürliche katastrophen etc. und ihre folgen werden zu wenig berücksichtigt. und die möglichkeit der "verarbeitung" im sinne einer evolutionären mutation, die sich im extrembeispiel des soziopathen manifestieren könnte, wird überhaupt nicht berücksichtigt. beide punkte existieren vielleicht auch deshalb, weil beide aus einer explizit psychoanalytischen tradition kommen.
von der die neuesten entwicklungen, wie bspw. die im folgenden verlinkten beitrag näher vorgestellterelationale psychoanalyse, durchaus erfreuliche tendenzen mitbringt, die gesellschaftliche realität jenseits der wie ein stein auf der gesamten zunft lastenden freudianischen orthodoxie und ihrer konstrukte mal wirklich wahrzunehmen. und mag freud selbst auch wie dargestellt insgeheim weiter an seinem ursprünglichen (und realistischen) einblick in die verhältnisse der bürgerlichen welt seiner zeit festgehalten haben, so hat sich das doch in seiner theoriebildung später nicht - bzw. schlimmer noch: völlig verzerrt - niedergeschlagen - zum schaden aller tatsächlich traumatisierten (was sein verdienst als "türöffner" für diverse wichtige entwicklungen, wie früher schon mal gesagt, in meinen augen nicht schmälert).
und dem "faz"-autor scheint auch nicht aufgefallen zu sein, dass das ergebnis der zitierten - psychoanalytischen - studie ebenfalls eher als beleg für die existenz der hartnäckig geleugneten totalität aufzufassen ist (und wenn die entsprechende analytikerin ihren traumabegriff anhand der "offiziellen" kriterien für ptbs abgeleitet hat, so würde ich behaupten: das ergebnis ist noch geschönt).
und die totalitäre existenz der traumatischen matrix lässt sich keineswegs nur durch beobachtungen der umwelt ableiten - meine in gewisser hinsicht durchaus "unspektakulären" persönlichen erfahrungen reichen von selbst erlebter primär "psychischer" gewalt (die, wie wir heute wissen können, ebenfalls etwas durchaus körperliches darstellt bzw. auf dieser ebene erst zur wirkung kommt) über viele abende in meinem kinderzimmer, in denen ich beim versuchten einschlafen vom gewimmer des nachbarsjungen im haus nebenan (wir hatten da sehr hellhörige wände) begleitet wurde, der seinen vater anflehte, mit dem schlagen aufzuhören (ohne erfolg), bis zu anderen kindheits- und schulfreunden, die ebenfalls teils gnadenlos geprügelt wurden (und deren spätere und frühe zuneigung zum alkohol ich erst viele jahre danach wirklich verstehen konnte - meine eigene entsprechende phase incl. zweier ausgewachsener alkoholvergiftungen mit 14 bzw. 15 dito).
dazu kamen die ebenfalls "ganz normalen"schulerfahrungenin den 1970ern, und wo ich dann im folgenden in völlig verschiedenen bereichen später überall sonst noch über die wirkungen der traumatischen matrix gestolpert bin, würde den rahmen des blogs hier sprengen. ein teil ihrer gesellschaftlichen manifestationen - derjenigen, die dann die geschichtsbücher füllen - ist hier eh ständiges thema.
alice miller hat mit ihrer arbeit schlicht einen wichtigen schlüssel zum verständnis dieser sehr bösartigen strukturen geliefert - und das zu negieren, wird auch der "faz" nicht gelingen.
...norbert walter, als ehemaliger "chefvolkswirt" der "deutschen bank" und als mitglied im "zentralkomitee der deutschen katholiken" (welch´ name übrigens) gleich in zwei überaus systemrelevanten und allseits beliebten institutionen zugange, der im zusammenhang mit dem notorischenmixahöchst unfreiwillig etwas über die - hm,zugangsbedingungenin elitäre kreise deutlich machte:
(...) "Gefragt, ob der Bischof noch glaubwürdig sei, weil er zunächst jegliche Tätlichkeit abstritt und später doch zugab, Ohrfeigen verteilt zu haben, sagte Walter in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Nach meinem Urteil ist das glaubwürdig“. Es sei glaubwürdig, weil Bischof Mixa die Ohrfeigen nicht als Gewalt gegen Kinder interpretierte, sondern als Maßnahme der Kindererziehung.
Mixas Position wirke nur nicht sinnvoll in einer Öffentlichkeit, welche die Referenzmaßstäbe durcheinander bringe. Damit meinte Walter die Tatsache, dass vor einigen Jahrzehnten „die körperliche Züchtigung zu einer normalen gesellschaftlichen Wirklichkeit“ gehört habe. Es sei zudem sehr schwer, im Einzelfall zu beurteilen, ob die Schläge von einst heute zu seelischen Schäden führen würden.
Die derzeitige Debatte sei seiner Einschätzung nach „ahistorisch und (sie) ist in einer Reihe von Fällen, das sage ich sehr schmerzhaft, von fundamentalistischen Aufklärern geführt.“ Auch er sei als Kind von seiner Mutter „verprügelt“ worden und „das hat mir nicht geschadet“. Denn: „Meine Mutter hat mich geschlagen, nicht weil sie mich vernachlässigt hat, sondern weil sie mich liebte“. (...)
mixa ist also deshalb "glaubwürdig", weil er seine schläge in kindergesichter (nichts anderes sind "ohrfeigen") nicht als gewalt, sondern als "maßnahme der kindererziehung" interpretiert? das ist höchst interessant, könnte doch auf ähnlichem level zb. ein vergewaltiger seine taten nicht als gewalt, sondern als maßnahme zum ausagieren höchst drängender sexueller bedürfnisse interpretieren. letzterer könnte sich ebenso auch auf "referenzmaßstäbe" berufen, war doch bspw. die vergewaltigung in der ehe bis mitte der 1990er jahre hierzulande kein strafbares delikt.
auch die phrase "fundamentalistische aufklärer" ist allerliebst; und dann kommen die letzten sätze.
sätze, die blitzartig beleuchten, wie die zusammenhänge innerhalb der traumatischen matrix, mit ihren re-inszenierungszwängen und ihren manifestationen innerhalb von gesellschaften - hierarchische oben-unten-verhältnisse, diverse symptome schwerer psychophysischer störungen auf allen ebenen etc. - tatsächlich beschaffen sind. dazu kommt die typische täter-opfer-dialektik, von der ein mechanismus auch dank walter sehr deutlich wird: die entschuldigung der tätereltern, hier der mutter. und das als "liebe" zu begreifen, ist in dem zusammenhang geradezu ein klassiker.
"Es sei zudem sehr schwer, im Einzelfall zu beurteilen, ob die Schläge von einst heute zu seelischen Schäden führen würden."
nein walter, ist es gar nicht - selbst ohne die psychotraumatologie zu bemühen, reicht für Sie zur bestätigung des zusammenhangs schon ein blick in den spiegel.
so werden tatsächlich die "stützen der gesellschaft" - "honorig, seriös, leistungstragend" und schwer gestört - produziert. bis heute. vielleicht mit der modifikation, dass es heute subtiler und scheinbar "körperloser" abläuft - scheinbar. aber das prinzip ist immer noch das gleiche.
edit am 18.04.: ich finde solche ereignisse - wie auch andere naturphänomene wie erdbeben, tsunamis, tornados, hurricanes etc. - deswegen so faszinierend, weil sie trotz all ihrer zwar potenziell traumatischen, aber unpersönlichen gewalt jedes mal eine sehr nachdrückliche erinnerung an unsere spezies vermitteln: nämlich die, dass wir ein untrennbarer teil der gesamten planetarischen bios- und geosphäre sind, und unser gesamtes soziales leben nicht nur in engen wechselwirkungen mit den diesbezgl. aktivitäten steht, sondern schlicht auf dieser basis beruht. ebenso wie bspw. die großen seuchen des mittelalters können auch geologische und meteorologische gewalten nicht nur einzelne gesellschaften, sondern im extremfall ganze kontinente bzw. ihre menschliche bevölkerung mit krassen und nachhaltigen brüchen in ihrem sozialen leben konfrontieren und den "lauf der geschichte" in völlig andere richtungen lenken. gerade der isländische vulkanismus hat da aller wahrscheinlichkeit nach schon früher mindestens ein prägnantesbeispielfür geliefert:
(...) "Aktuell besteht jedoch noch kein Anlass zur Sorge, dass unser Sommer unterkühlt ausfällt, beruhigt Karsten Haase: "Momentan reicht die Menge an freigesetztem Schwefeldioxid noch nicht aus, um das Klima zu beeinflussen." Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass isländische Vulkane das Wetter in Europa beeinflussten: "1783 fand auf der Insel eine sehr starke Eruption statt, während der enorme Mengen Lava freigesetzt wurden. Ganz Europa war davon massiv betroffen."
Damals brach der Vulkan Laki aus und schickte seine Schwefelfracht ostwärts: Rund 120 Millionen Tonnen Schwefeldioxid könnten damals den Himmel getrübt haben, schätzt der britische Geologe Colin Macpherson von der University of Durham - das Dreifache dessen, was Europas Industrie im Jahr 2006 produzierte. Die Folgen waren verheerend: Auf Island starben tausende Menschen an einer Hungersnot, weil Felder verwüstet wurden und das Vieh starb. Großbritannien und weite Teile Kontinentaleuropas lagen unter einer quasi konstanten Nebeldecke und mussten 1783/84 durch einen extrem kalten Winter, der ebenfalls viele Opfer forderte. Womöglich wurde sogar die Französische Revolution durch die vulkanischen Kalamitäten mit ausgelöst: Die dadurch verursachten Wetterextreme vernichteten Ernten und töteten das Vieh, was die verarmte und ausgezehrte Bevölkerung schließlich zum Aufstand trieb." (...)
nebenbei gesagt, ist der verlinkte artikel, aus dem das obige stammt, eindeutig einer der besten mir bekannten, die bisher zum aktuellen ausbruch und seinen folgen veröffentlicht worden sind - tipp! davon abgesehen, lässt sich bei der betrachtung des gesamten irdischen vulkanismus vor dem hintergrund der aktuellen folgen der isländischen asche lebhaft vorstellen, wie die heutigen hochindustrialisierten gesellschaften regelrecht kollabieren würden, wenn zb. einer der bekanntensupervulkanewie deryellowstonein den usa ausbrechen würde - ereignisse, die schon öfter in der vergangenheit zu zuständen geführt haben, die sich aus menschlicher sicht nur als globale katastrophe bezeichnen lassen; incl. mehrjährigen drastischen klimaveränderungen mit allen folgen für flora und fauna. die heutige welt ist nicht zuletzt von solchen ereignissen nachhaltig geprägt worden - eine art schöpferische zerstörung.
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aktuell ist auf island kein ende des ausbruchs abzusehen, und auch die meteorologischen bedingungen sprechen nicht dafür, dass sich die aschewolken schnell verflüchtigen würden. kein wunder also, dass die luftfahrtbranche langsam sehr nervös wird und laut diversen medienberichten beginnt, das flugverbot in frage zu stellen. hier bahnt sich ein schwerer konflikt zwischen profitinteressen und menschenleben an, der direkt auf weitere anstehende, strukturell ähnliche großkonflikte in unseren gesellschaften in den kommenden jahren verweist - ganze industriezweige und wirtschaftsgebiete werden u.a. durch peak oil in ähnliche situationen geraten, wenn deutlich wird, dass die materielle basis bestimmter industrien einfach nicht mehr aufrechterhalten werden kann. wenn der vulkan die nächsten wochen und monate weiter aktiv wäre, käme es auch immer wieder zu passenden wetterlagen, in denen die asche nach europa gelangen würde - die folgen für den luftverkehr - den ich persönlich zu großem teilen für überflüssig und ersetzbar halte - wären ein desaster. von daher ist das derzeitige gemotze schon verständlich, aber nicht nur den betreffenden managern, sondern auch den inzwischen wieder auf der bildfläche erscheinenden verschwörungstheoretikern sei dieserbericht aus finnlandvom vergangenen freitag empfohlen, in dem die finnische luftwaffe von eigenen erfahrungen mit der asche (incl. photos) am vergangenen donnerstag berichtet - die haben schlicht sehr viel glück gehabt mit ihren maschinen.
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bestenfalls kann der vulkan bei entsprechenden bedingungen hier in wichtigen teilbereichen, die auf dem luftverkehr beruhen - u.a. tourismus, just-in-time-produktion etc. - für ein phase der längeren entschleunigung sorgen. und das wäre dann mal eine wirklich beeindruckende einmischung natürlicher gegebenheiten ins menschliche treiben, zumal es zumindest bisher keine todesopfer gefordert hat. schlimmstenfalls sind dieser ausbruch wie auch die auffällig vielen schweren erdbeben der letzten monate aber auch das indiz für eine phase global gesteigerter geologischer aktivitäten, die sich dann zu folgen akkumulieren können, die nicht mehr als entschleunigung, sondern nur noch als gegen-die-wand-fahren-lassen der menschlichen gesellschaft generell bewertet werden können. machen könnten "wir" dagegen garnix, und so bleibt - wiedereinmal - im angesicht der naturgewalten als vielleicht wichtigste lektion die demut übrig, die uns in aller wünschenswerten deutlichkeit an unseren platz im gefüge der natürlichen beziehungen erinnert - wenn nötig, auch mit dem holzhammer.
hatte mir schon am dienstag in der "anstalt" gefallen; er verpackt da eine harsche kritik in ungewöhnliche formen. zwei tage später aktueller denn je, und wenn man sich die statements unserer sog. "regierenden" anhört, befürchte ich, dass ich die rede künftig wöchentlich so zwei-, dreimal immer wieder ins blog stellen muss...
"klassische" gefühle von innerer leere überkommen mich heute immer wieder, habe mich scheint´s zu sehr den zuständen gewidmet. und das bedeutet ja keinesfalls bzw. noch nicht mal überwiegend die distanziert-objektivistische betrachtung, sondern die zustände gehen an die nieren - irgendwie eine treffende metapher - und bringen die neuronen in hirn und nervensystem/-en (nicht dasenterischevergessen) ihrerseits in zustände, die sich dann als bedrückende und belastende emotionen und gedanken manifestieren. aber schreiben kann ja zumindest manchmal therapeutische wirkung entfalten - nun denn.
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als fortsetzung meiner kleinen letztjährigen reihe mit dem versuch, diefolgen der (ökonomischen) krisehierzulande etwas mehr zu fassen zu bekommen, kann ich ganz persönlich feststellen, dass ich die von mir heimlich befürchteten auswirkungen gerade im sozialen bereich mehr und mehr auch in meinem umfeld wahrnehme - es ist deutlich die tendenz vorhanden, sich auf die "allerprivatesten" dinge, umstände, situationen und orte zurückzuziehen. "politik" (als sammelbegriff für alles "öffentliche") wird zusehends gar nicht mehr oder aber nur noch mit kurzen zynismen kommentiert und wahrgenommen. der wunsch, eine zusehends unbegreiflichere und vor allem auch bedrohlichere welt einfach mittels türzuschlagen "draußen" stehen zu lassen, ist ja verständlich (und ich setze das - immerhin inzwischen meist sehr bewusst - selbst ein, um die nötigen ruhepausen zu finden). andererseits: was sagt es über die zustände unserer welt aus, wenn "wir" uns zunehmend defensiv verhalten, zurückziehen und die einzige "utopie" noch darin besteht, "privat" möglichst angenehm über die runden zu kommen?
mal abgesehen davon, dass letzteres gar nicht funktionieren kann ("die welt" wird beizeiten alle scheinbar fest verschlossenen türen schlicht eintreten und aus den angeln heben), erzählt das beobachtete für mich auch laut und deutlich von allgemeiner überforderung. ein burn-out bzw. das, was sich hinter dieser diagnose alles verbergen kann, ist nichts, was alleine am (lohn-)arbeitsplatz entsteht - es ist eine frage aller lebensbereiche und ein symptom für eine umfassende dysfunktionalität - zunächst im weiteren und nahen sozialen beziehungsgeflecht, dann bzw. parallel zwangsläufig auch individuell psychophysisch.
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es ist eine gefährliche situation, wenn sich solche zustände nicht nur vereinzelt manifestieren, sondern als quasi symptomatisch für die verfassung ganzer gesellschaften wahrgenommen und auch hingenommen werden. dieses letztere nun lässt sich mit einigem recht als ausdruck auch von umfassenden legitimations- und letztlich sinnkrisen betrachten - medial wird sich diesen alarmzeichen dann am beispiel einesnachbarlandeszb. so genährt:
(...) "In Frankreich kriecht gelbe Galle durchs Land. Das Volk misstraut allem und jedem: dem Staat, den Parteien, den Medien. Den Kirchen sowieso. Erst recht den Unternehmen. Und untereinander hegen viele Franzosen ebenfalls Argwohn. Nur ein Fünftel von ihnen glaubt noch, man könne sich gemeinhin auf Mitmenschen verlassen." (...)
mal alle berechtigten fragen nach der plausibilität und repräsentativen aussagekraft von studien wie solchen, auf denen das zitierte beruht, aussen vor gelassen: ist das nicht eigentlich genau das, was - nicht nur in frankreich - zu erwarten ist? alle genannten institutionen erscheinen zunehmend hohl, wenn nicht gleich als ausdruck organisierter zweifelhafter zwecke bis offener kriminalität, vor allem im antisozialen sinne gemeint. nur keine missverständnisse: als sympathisant des anarchistischen gedankens habe ich keine probleme damit, dass sich mehr und mehr systemtragende institutionen und ihre repräsentanten zusehends selbst unmöglich machen und teils regelrecht demontieren (banken und kirchen sind dafür nur sehr auffallende beispiele) - ich finde das eigentlich eine höchst überfällige und sehr begrüssenswerte entwicklung.
das problem: es ist weit und breit nichts wahrzunehmen, was das entstehende vakuum wirkungsvoll und vor allem positiv füllen könnte. sprich: selbstbestimmte und selbstregulierende kollektive entwicklungen zur beantwortung der wichtigsten gesellschaftlichen probleme, beruhend auf authentischer individualität. selbst wenn ich mich an meinen eigenen, in der vergangenheit hier mehrfach geäusserten verdacht klammere, dass wirklich neue politische entwicklungen sich unter umständen in formen vollziehen werden, die historisch bisher unbekannt waren und von daher vielleicht auch nur schwer wahrzunehmen sind, so bleibt doch der eindruck einer allumfassenden defensiven und abwehrenden grundhaltung, und zwar ganz pauschal "der welt" gegenüber, hartnäckig in meinem kopf sitzen.
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wenn ich denn die grundstimmung vieler zeitgenossen unserer epoche in ein paar worten zusammenfassen sollte, würde ich etwas in der art von passiv-gleichgültiges, gleichzeitig latent aggressives misstrauen wählen - zusammen mit der eingangs schon erwähnten allgemeinen tendenz zum rückzug in scheinbar private refugien bietet das ein bild, welches ich bei einem einzelnen menschen als ausdruck einer larvierten depression bezeichnen würde - "larviert" meint hier eine besondere form von versteckt, besser halb-versteckt oder noch nicht voll ausgeschlüpft, weil die depression zwar schon wahrnehmbar ist, aber der betroffene noch zu gleichgültigem funktionieren in der lage ist, wozu auch oberflächliches "spasshaben", meist unter einfluss verschiedenster psychoaktiver substanzen, gehören kann. die kurzfristige "begeisterung" für inhaltlich entleerte und oberflächliche events aller art, die immer wieder neu medial produziert wird, steht dabei für die pseudokollektiven formen des letzteren und bildet dabei gleichfalls nur die andere seite der medaille von dem, was in der letzten zeit hierzulande seitens der selbsternannten "eliten" an plumpen und altbewährten ressentiments wahlweise gegen "die griechen", "die moslems", "die arbeitsscheue hartz-IV-unterschicht" oder sonstwen versucht wird zu schüren - der versuch, die durchaus wahrnehmbaren destruktiven aggressionen wiederum in formen von gegenseitiger aufhetzung konstruierter pseudokollektive zu steuern und zu kontrollieren. aber auch hier ist mein eindruck der einer bestimmten wahllosigkeit - auch, wenn dahinter alte und traditionelle versuche der fragmentierung zwecks machterhaltung stehen, so glaube ich nicht, dass das so funktioniert wie in der unheilvollen vergangenheit - zumindest nicht in den bekannten formen.
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die da heissen: nationalismus, rassismus, sexismus und alle varianten von sozialdarwinistischen bis eugenischen ideologischen konstrukten. sicher schwirren von diesen ladenhütern machtstützender ideologien an allen ecken und enden fragmente durch die gegend; sicher sind auch die seit jahrzehnten unübersehbaren modernisierungsversuche - "wie mache ich diesen alten dreck kompatibel zum modernen zeitgeist?" - teils von mehr oder weniger großem erfolg gekrönt - und trotzdem bleibt vor allem der eindruck einer großen gleichgültigkeit, die sich wie mehltau auf das ganze gesellschaftliche leben gesenkt hat.
und so ist auch die überschriftwie in alten zeitendes blogs, welches dankenswerterweise das folgende zeitzeugnis dokumentiert hat -
- rein oberflächlich betrachtet zwar treffend (wenn man sich in den entsprechenden archiven die todesanzeigen der jahre 1939 - 45 in deutschen zeitungen betrachtet, so gibt es da nur ein paar variationen derart, dass damals von "stolzer trauer" und "für führer und vaterland" die rede war), aber bei genauerem hinsehen mutet den versuchen der erzeugung von so etwas wie nationalistischer, gar militaristischer ernsthafter bzw. erhabener (kriegs-)unterstützung (von begeisterung gar nicht zu reden), und sei´s in form von "nationaler trauer und betroffenheit", doch eher etwas absurdes an - das allermeiste wirkt inszeniert, wie show, fake und simulation. leer.
was ja nun gerade in diesem kontext nicht das schlechteste ist - die gemetzel im namen solch fiktionaler konstrukte wie "nation" u.a. bilden bekanntlich zu einem großen teil die historie der spezies. heute aber scheint es so zu sein, dass die wirkungen des totalitären kapitalismus - vereinzelung bzw. all die (verkäuflichen) formen der pseudoindividualität, allgemeine fragmentierung, beschleunigung etc. - zusammen mit seinen massenmedialen vermittlungsebenen bestimmte, pathologische psychophysische und in der vergangenheit verbreitete menschliche strukturen mitsamt ihren spezifischen fiktionalen kompensationsversuchen alá "nation", "gott" etc. ebenfalls unterminiert bzw. durch noch zu bestimmendes anderes abgelöst haben (hier dürfte übrigens eine motivation jener "echten", d.h. reaktionären, konservativen liegen, die sich selbst nicht mehr in der aktuellen kapitalistischen variante wohlfühlen und teils schon verzweifelt versuchen, die "alten werte" wie familiensinn, "patriotismus" usw. mit allen zugehörigen sog. tugenden - disziplin, formale höflichkeit etc. - neu zu definieren und zu füllen.)
dieser gerade zwangsweise sehr grob skizzierte vorgang haut also reale und fiktionale, "alte" kompensatorische ebenen der kollektiven und individuellen sinngebung gleichzeitig zu klump. wobei letztere seitens der "eliten" regelmässig wiederzubeleben versucht werden, was aber offensichtlich nicht so recht gelingen will - wenn, dann (ausser für die ganz gestörten) nur noch als unglaubwürdige farce. der große rest bleibt gleichgültig oder konsumiert bspw. den "neuen patriotismus" anlässlich von irgendwelchen sportevents ähnlich wie eine tv-show.
*
ich hoffe, dass Sie mir ungefähr folgen können - ich versuche gerade, etwas genauer zu fassen zu bekommen, was mir seit langem als vager und diffuser eindruck immer wieder durch meine wahrnehmung geistert. bei der frage an mich selbst, wie ich das umrissene denn nun selbst finde und was das womöglich für konsequenzen hat, bin ich sehr zwiegespalten. einmal finde ich, dass bereits deutlich zu sehen ist, in welche richtung eine gesellschaft driftet, die von solchen tendenzen wie dargestellt bestimmt wird - bereits öfter thema hier, ist das stichwort wieder einmalmafiasierung- bandenbildung:
(...) "Doch der wirklich gefährliche Teil der Mafia ist unsichtbar, vor allem in Ländern, in denen sie investiert. Nehmen Sie die sizilianische Mafia. Hochintelligente, bürgerliche Verbrecher: Ärzte, Mittelständler oder Juristen, die immer erfolgreicher gesellschaftliche Schlüsselpositionen besetzen und ihre Kinder auf die Universität schicken. Oder schauen wir auf die russische Mafia, die in einem kapitalistischen System stark geworden ist, das nach unseren Schätzungen heute zu 70 Prozent vom organisierten Verbrechen betroffen ist und nun große Teile der Weltwirtschaft beeinflusst. (...)
SZ: Wie muss man sich diese wirtschaftliche Betätigung vorstellen?
Scarpinato: Wie eine Tumorzelle, die wächst und streut. Diese kriminelle Zelle erwirbt ein Hotel oder ein Restaurant; dort werden fünf, sechs Menschen platziert, die das Geschäft im Sinne dieser Clans nutzen und ausbauen. Natürlich darf man das nicht kleinreden, wenn die 'Ndrangheta in Bochum eine Pizzeria eröffnet, aber es ist ein Entwicklung, die sich durch Ermittler gut kontrollieren lässt. Im Vergleich zu unseren wirklichen Problemen ist es ein Witz.
SZ: Was ist das eigentliche Problem?
Scarpinato: Wir müssen aufhören, so zu tun, als beschränke sich die Mafia auf wenige Krisenregionen. Es geht um ganze Staaten, die unterwandert werden. Indem die Mafia dort Verbündete an zentralen Stellen platziert. Das kann der Vertreter einer Schweizer Bank, ein Politiker oder ein Mailänder Spitzenanwalt sein. Ein Schulterschluss zwischen traditioneller Mafia und Funktionären. Und derzeit entwickelt sich die organisierte Kriminalität zu komplexen kriminellen Großsystemen, die undurchschaubar werden.
SZ: Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Einige deutsche Ermittler halten das auch für Panikmache.
Scarpinato: Die Probleme zeigen sich aber an vielen Stellen. Etwa in Russland, wo sich das organisierte Verbrechen mit Personen aus Politik, Wirtschaft oder Finanzwelt zusammengetan hat. Das Kapital, das global verschoben wird, ist enorm. Zudem sehen Analysten mit Sorge die Bedeutung des chinesischen und indischen Wirtschaftswachstums für das organisierte Verbrechen. Wenn sich diese Raten aufrecht erhalten lassen, haben die Chinesen in 20 Jahren dieselbe Kaufkraft wie der Westen. Das würde nicht nur bedeuten, dass China das neue Dorado des Drogenkapitalismus wird, sondern auch dass illegale Märkte die legalen an Bedeutung übertroffen haben. Alle alten Mafia-Geschichten sind nur noch Folklore." (...)
ich greife das mafia-thema hier nicht umsonst immer wieder auf, weil ich finde, dass sowohl die ausbreitung "der mafia" (als sammelbegriff für alle adäquaten globalen strukturen) als auch die zunehmende ununterscheidbarkeit zwischen "legal" und "illegal" gerade im ökonomischen und politischen bereich etwas ist, was einerseits von sehr vielen mit der materie professionell befassten konstatiert wird, andererseits aber in der möglichen bedeutung größtenteils schwer unterschätzt wird. allgemeine vereinzelung und gleichgültigkeit bei parallel laufenden deutlichen tendenzen zur totalitären verdinglichung von allem lebendigen laufen in letzter konsequenz auf verschiedenste, "regional angepasste" (suchen Sie im blog einmal nach "maras") mafiöse strukturen als extreme verfallsform des sozialen hinaus. auf dieser ebene sind alle formalen und fiktionalen normen von "moral" und "ethik" auf ihren eigentlichen gehalt reduziert - nämlich gar keinen. die angebliche "ehre" der mafiosi ist sichtbar nur noch ein ganz dünnes feigenblatt; real befinden sich in solchen strukturen nur noch lauter einzelkämpfer, die einen rücksichtslosen kampf um ihr eigenes überleben - mittels aufstieg in der jeweiligen machtpyramide - austragen. wenn man sich übrigens die antiutopie des neoliberalismus betrachtet, so lässt sich die mafia durchaus als verwirklichung des dortigen antisozialen freiheitsbegriffes verstehen - eigentum und vertrag als einzige basis jeglicher sozialität. dem kann jeder mafiosi zustimmen - "verträge" bzw. ihre gestaltung bestimmt der stärkere, und die fiktion "eigentum" wird in diesem szenario der totalen verdinglichung eh zum einzig "sinnstiftenden" element.
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man kann eine derartige gesellschaft als soziopathische dystopie betrachten, ebenfalls als eine variante von dem, was marx glaube ich als "frühe akkumulation" bezeichnet hat - eine ungebremste profit- und raubmaschine. das für ein solches szenario selbst deutlich fiktionale konstrukte und formale gesetze und normen staatlicher, religiöser oder sonstiger "traditioneller" herkunft hinderlich sind, liegt auf der hand. das mafiöse gesellschaftsideal sieht im kern eher so aus wie das, was unter "wilder westen" aus den frühen tagen der usa bekannt ist - incl. recht des stärkeren, lynchjustiz, und totaler freiheit für jegliche egozentrische anwandlung. heute hat das die form des failed state - nicht zufällig entspringen die maras den mittelamerikanischen, die piraten in ostafrika den dortigen (bürger-)kriegszonen.
ein deutlicher fehlschluß liegt für mich aber nun darin, aus dem obigen heraus eine stärkung der benannten "traditionellen" institutionen - an erster stelle die nationalstaaten - zu fordern. und das nicht nur deswegen, weil auch viele staatliche strukturen heute rund um den planeten als mafiös besetzt gelten müssen, sondern weil genau diese auf altbekannten fiktionen gebauten und angelehnten konstrukte wie staaten, nationen und institutionalisierte religionen erst überhaupt den boden für diese extremen formen der antisozialität bereitet haben. auf (philosophischen) fiktionen beruhende gesellschaftliche normen, nach objektivistischen kriterien waltende justiz und religiös begründete moralsysteme tragen allesamt die tendenz zur offenen und qualitativ soziopathischen antisozialität in sich - während sich die ersteren als historische auslaufmodelle im rahmen der zugrundliegenden traumatischen matrix (= die wirkungen der durch unsere geschichte hindurch akkumulierten individuellen und kollektiven gewalt in der spezies) betrachten lassen, stellt die offene soziopathie (und ihre potenziell antisozialen satelliten in form strukturell verwandter psychophyischer zustände) eher eine art endzustand der möglichen menschlichen entwicklung in dieser matrix dar - solche individuen sind u.a. per empathielosigkeit, unfähigkeit zur angstwahrnehmung und beziehungsunfähigkeit GANZ UND GAR NICHT ZUFÄLLIG gerade unter besonders gewalttätigen, also potenziell traumatischen sozialen bedingungen, besonders funktionsfähig. die soziopathische struktur als menschliche option scheint ein logischer, auch durchaus evolutionärer versuch zu sein, die spezies unter traumatischen bedingungen quasi über die runden zu bringen.
bedauerlicherweise lässt sich diese psychophysische mutation nur noch als "mensch neuen typs" betrachten, weil ihr so ziemlich alles fehlt - an erster stelle die liebesfähigkeit - was uns menschen als soziale wesen ausmacht. und so paradox es klingt: dazu gehört auch die fähigkeit, sich überhaupt traumatisieren lassen zu können! denn ein trauma kann nur an bestimmten bruchlinien innerhalb der psychophysis ansetzen und verwandelt dort primär vertrauen in misstrauen, (zer-)stört derart auch die allgemeine beziehungsfähigkeit, produziert rückzug in fiktionale welten, isolation - ganz allgemein gesagt, wird der objektivistische modus zur kompensation der verschütteten / verlorenen sozialen fähigkeiten extrem aktiviert und darüber der eigentlich "gesunde autismus" innerhalb unserer struktur zu einem pathologischen zustand.
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am anfang hatte ich von der großen gleichgültigkeit geschrieben, und die ist für mich ebenfalls ein immanenter ausdruck der traumatischen matrix, die unser aller leben bis heute bestimmt. und wie ich in den vergangenen beiträgen der letzten wochen zum thema der gewalt in totalen institutionen schon angemrkt hatte, ist das, was aktuell alles sichtbar geworden ist, nur als ein teil dieser matrix zubegreifen:
(...) "Der Bundesgerichtshof freilich hat noch 1988 "eine gelegentliche Tracht Prügel" für zulässig erklärt. Die Züchtigung mit einem "stockähnlichen Gegenstand" sei, so sagten die fünf hohen Richter im genannten Fall, "nicht pauschal zu verdammen". Es müssten, so urteilten sie allen Ernstes, alle "objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens geprüft werden". Die Untaten des Kindes mussten also zur Dicke des Schlauches und der Zahl der Schläge ins Verhältnis gesetzt werden. So war es Recht - nein, nicht bis 1800, nicht bis 1900, sondern bis zur großen Rechtsänderung von 2000.
Ist das verdrängt - aus Scham über das Vergangene, aus Stolz über das Erreichte? Die lange Geschichte der alltäglichen Prügelei in Schule und Familie ist erst vor einer historischen Sekunde zu Ende gegangen.
Es ist bezeichnend, dass zwei Jahrtausende lang "Frau Grammatika", also die Symbolfigur für Schule und Unterricht, mit der Rute in der Hand gezeigt worden ist. Und zwei Jahrtausende lang hieß das, was heute elterliche Sorge heißt, elterliche Gewalt. Martin Luther hat sie so geschildert: "Die Mutter stäupte mich um einer geringen Nuss willen, dass das Blut hernach floss." Aber, so fügte er an, die Eltern "meinten’s herzlich gut". Diese Art von Güte ist noch nicht ausgestorben.
Das Recht des Ehemanns, die Ehefrau zu züchtigen, wurde erst 1947 offiziell aufgehoben; das Recht des Lehrherrn zur väterlichen Zucht der Lehrlinge wurde erst 1951 abgeschafft; die schulischen Körperstrafen, also die von Lehrern verabreichten Ohrfeigen, Kopfnüsse und Tatzen, wurden in der Bundesrepublik erst 1973 umfassend verboten. Erst seit 1998 sind "körperliche und seelische Misshandlungen" im Bürgerlichen Gesetzbuch für unzulässig erklärt.
Und erst seit dem Jahr 2000 steht dort der klare Satz, der Kindern ein "Recht auf gewaltfreie Erziehung" gibt. Dagegen gab es vor einem Jahrzehnt massive Widerstände. Es sei, so hieß es, dem "Kindeswohl wenig förderlich, wenn Selbstverständlichkeiten ständig wiederholt würden". Selbstverständlichkeiten? Die Eiszeit der Erziehung ist soeben erst zu Ende gegangen. Sie war eine Art Scharia im Westen. Die Misshandlungsskandale, die heute entdeckt werden, sind ihr Nachhall." (...)
mal abgesehen davon, dass die realität nicht nur für viele kinder und nicht nur in anderen regionen, sondern auch in diesem land bekanntlich immer noch so aussieht, dass es fraglich erscheint, bei den "skandalen" von heute von einem "nachhall" zu sprechen, geht bei dieser nötigen und sachlich durchaus richtigen darstellung eines völlig unter: nämlich dass die in juristische normen gegossenen veränderungen in jedem fall gegen den gesellschaftlichen mainstream und die relevanten teile der "eliten" sowieso erkämpft werden mussten - und das gilt eigentlich für alle "zivilisatorischen" errungenschaften, mit denen sich der "freie westen" bis heute zur abgrenzung und selbsterhöhung gegenüber anderen kulturen selbstgefällig schmückt. egal ob arbeiterInnenrechte, stellung der frau oder eben respekt vor kindern: jedes noch so kleinste fitzelchen positiver entwicklungen musste unter teils großen opfern den jeweiligen historischen machteliten aus den händen gezerrt werden; oft genug hiess das auch: kompromisse zu ertragen, weil die eigene macht nicht ausreichend war.
und das, was da dann letztlich alles in gesetzbücher und deklarationen gepackt wurde, ist selbstverständlich nicht davor gefeit, mit einem mal wieder ausradiert zu werden. immer noch stellen diese formen lediglich prothesen für mehr oder weniger gewünschtes soziales verhalten dar - und die notwendigkeit, mit strafandrohungen im falle des nichtbefolgens zu arbeiten, unterstreicht einmal mehr, dass die einzige - relative, aber stärkste denkbare - tatsächliche sicherung dessen, was allgemein als menschenrechte bezeichnet werden kann, nur darin liegt, die traumatische matrix und ihre per unendlich erscheinender individueller und kollektiver re-inszenierungen fortdauernde existenz in möglichst vielen menschen möglichst weitgehend aufzulösen. was dann ohne zweifel auch entsprechende gesellschaftliche konsequenzen hätte.
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ich komme nun langsam zum ende dieses nicht zufällig in der rubrik "assoziation" erscheinenden beitrags. hatte ich weiter oben - im teil zur mafia - von eigener zwiespältigkeit im angesicht der eingangs skizierten wahrnehmungen geschrieben und die mafiasierung als eine zu beobachtende entwicklung dargestellt, so fehlt noch sozusagen die andere seite: könnte es sein, dass innerhalb der erwähnten gleichgültigkeit auch eine tendenz der grundsätzlichen abwendung von den existierenden strukturen vorhanden ist, die sich in einer sozusagen ernüchterten, aber dadurch auch realistischeren einschätzung der eigenen mittel und kräfte ausdrückt? ich kann und will damit nicht meine eigenen, leider negativen eindrücke relativieren oder zurücknehmen, bin aber der meinung, dass sich sehr wohl gerade aktuell durch die thematisierung überhaupt - sowie teils durch ihre art und weise - der gewalt gegen kinder / jugendliche - auch solche tendenzen, wenn auch sozusagen im hintergrund, wahrnehmen lassen. heute leben immerhin zumindest relevante teile von ein paar generationen in den westlichen staaten, für die weder elterliche gewalt noch militärische dressur einen nicht zu hinterfragenden regelfall darstellten. starke minderheiten haben bisher historisch immer als katalysatoren positiver sozialer entwicklungen gewirkt - und je weniger eigene traumatische biographien diese mit sich schleppen müssen, umso mehr steigt die option für ähnliche prozesse.
ich bin mir aber durchaus nicht im klaren darüber, ob das nun eine realistische, wenn auch unwahrscheinliche möglichkeit ist oder aber eine art wunschdenken.
nötig wäre ersteres allemal, um die finsternis zumindest ein bißchen zu vertreiben.