basis: "als-ob-persönlichkeiten" - leben als totale simulation (1)
(fortsetzung der beitragsreihe zum themenbereich soziopathie. und zum besseren verständnis des folgenden möchte ich vor allem neuen leserInnen hier noch einige ältere artikel empfehlen - einmal wären da die basisbeiträge autismus und borderline , zum anderen aber auch gerade die überlegungen zum verhältnis zwischen subjektivität und objektivität bzw. dem teil unserer menschlichen struktur, der hier immer wieder als objektivistischer modus / objektivistisches bewusstsein thematisiert wurde und wird. es bedeutet zwar zeit- und arbeitsaufwand, aber das modell der "als-ob-persönlichkeit" hat imo durchaus das potenzial, ganze welt- und menschenbilder zu erschüttern. und um diesen eindruck nachvollziehen zu können, ist eine tiefere einarbeitung voraussetzung.)
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"Er packte weiter. Das, soviel war ihm klar, bedeutete das Ende Dickie Greenleafs. Widerwilig wurde er wieder zu Thomas Ripley, einem Niemand, widerwillig schlüpfte er in seine alte Haut, nahm er wieder die Position dessen ein, auf den andere herabsahen, die sich nicht um ihn scherten, solange er sie nicht wie ein Clown unterhielt, und der sich zu nichts nutze und zu nichts befähigt fühlte als dazu, andere für ein paar Minuten zu amüsieren. Er schlüpfte in seine alte Haut so widerwillig zurück, als wäre sie ein abgetragener, ungebügelter, fleckenbespritzter Anzug, der sogar in besserem Zustand nicht viel getaugt hatte. (...)
Er ließ die Fahrkarte auf den Namen Greenleaf reservieren und dachte dabei, daß dies das letzte Mal war, daß er eine Fahrkarte auf diesen Namen reservieren ließ, obwohl man so etwas nie mit Sicherheit sagen konnte. Er klammerte sich noch immer an die Hoffnung, daß alles nur ein Strum im Wasserglas sei. Sein könnte. Und folglich wäre es dumm gewesen, Trübsal zu blasen, selbst als Tom Ripley. Auch Tom Ripley hatte nie wirklich Trübsal geblasen, mochte er auch hin und wieder so gewirkt haben. Hatte er aus den letzten Monaten nicht seine Lehren gezogen? Wenn man fröhlich oder melancholisch oder wehmütig oder gedankenverloren oder höflich sein wollte, dann mußte man das Gewünschte lediglich mit allem Einsatz spielen."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley"; bibliothek der süddeutschen zeitung 2004 (lizenzausgabe), diogenes, zürich 2002; isbn 3-937793-13-5; s. 218/219)
"Das ganze Forschungsfeld der Psychosimulation befindet sich (...) in einem ziemlich beklagenswerten Zustand, einem Zustand der Verwahrlosung, nicht zuletzt deshalb, weil ein einigermaßen präziser, psychopathologisch brauchbarer und allgemein anerkannter Simulationsbegriff bislang noch nicht zur Verfügung steht. Ein brauchbarer Simulationsbegriff, der moralisierende Denkfiguren etwa vom Typus der absichtlichen Täuschung überschreitet, setzt einen realistischen Begriff des Authentischen voraus. Der Simulationsbegriff macht nur Sinn, wenn es etwas Nichtsimulatives, also Authentisches gibt und wenn diese Differenz psychologisch bzw. psychopathologisch bedeutsam ist und ernst genommen wird. Auch H(elene) Deutsch tut sich schwer, jene Verhaltensweisen und Erfahrungsmodi, die man üblicherweise pseudo, unecht, fassadär, simulativ, imitativ, oberflächlich oder als-ob nennt, in ihren theoretischen Bezugsrahmen einzubauen."
(j.e. mertz, "borderline..."; siehe literaturliste; s. 48)
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1. einführung: kurze geschichte einer nicht-diagnose
in den entsprechenden katalogen werden Sie eine diagnose mit dem namen "als-ob" nicht finden, ebensowenig spielt das thema simulation im psychiatrischen kontext eine größere rolle, mit ein paar eher randständigen ausnahmen: einmal gibt es da das sog. münchhausen-syndrom, zum anderen - älter und von übler natur im kontext von (post-)traumastörungen - die sog. rentenneurose, die als diagnose eigentlich erst nach dem 1. weltkrieg eine rolle zu spielen begann - damals, um mögliche oder tatsächliche ansprüche von kriegsbeschädigten bzw. -traumatisierten deutschen soldaten nach schadensersatz seitens des deutschen staates mit williger hilfe der offiziellen psychiatrie abzuschmettern. dieses vorgehen wurde und wird bis heute dann auch im zivilen leben in bestimmten fällen versucht. vereinzelt taucht der begriff des simulativen bzw. täuschenden auch im zusammenhang mit der klassischen psychopathie auf (betrüger, hochstapler). ansonsten lässt sich die situation in psychiatrie/psychologie so zusammenfassen, wie es mertz oben im zitat getan hat.
mir persönlich ist der begriff der als-ob-persönlichkeit in den letzten jahren immer mal wieder sporadisch in thematisch sehr verschiedenen veröffentlichungen hauptsächlich im psychologischen bereich begegnet, wo er in der mehrzahl als synonym für das verwendet wird, was in verschiedenen psychologischen schulen als "falsches selbst" begriffen wird. dieser begriff impliziert gleichzeitig eigentlich immer auch die existenz eines "richtigen, authentischen selbst", zu dem durch die verzerrungen und masken des "falschen" durchgedrungen werden soll. real spielt dieses denkmodell besonders im zusammenhang mit einigen diagnosen aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen eine teils wichtige rolle: borderline, die antisoziale und die narzisstische ps wären hier zu nennen, aber auch die frühere "hysterie" und ihre diagnostische nachfolgerin, die histrionische ps.
das geflügelte wort von der "harten schale mit dem weichen (= guten) kern" erfasst dieses denkmodell zumindest z. t. in einer populären art und weise.
es ist hier wieder mal das buch von mertz, welches zu der obigen und weitgehend etablierten sichtweise einen krassen und provozierenden gegenpol setzt:
"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´
Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offensichtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."
( j.e. mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)
zum angesprochenen aspekt des autismus später mehr. diesem buch verdanke ich zuerst aber die kenntnis von helene deutsch als "schöpferin" des modells der als-ob-persönlichkeit:
"1942 veröffentlichte Helene Deutsch die etwa zwanzigseitige klinische Studie (...) (deutscher titel: `Über einen Typus der Pseudoaffektivität [als-ob]´). Die Studie (...) beschreibt die Als-Ob-Persönlichkeit, einen klinischen Typus mit vermeintlichem Seltenheitswert, den manche, aber nicht alle Experten heutzutage dem Borderlinespektrum oder seinem Umfeld zuordnen würden. Charakteristisch für die Als-Ob-Persönlichkeit sind Pseudoemotionalität, unechte Beziehungsformen und ein grundlegendes Defizit an authentischer Personalität bzw. Identität, das sie durch Identifikation mit und Imitation von externalen Modellen zu kompensieren sucht." (...)
"H. Deutsch hatte sich schon früh für die `pathologische Lüge´ interessiert, für Betrüger und Hochstapler, und damit einen klassisch psychiatrischen Typus, nämlich den Psychopathen, ins Visier genommen, einen der historischen Vorläufer des Borderlinetypus.
Manche Traditionslinien innerhalb der Borderlineforschung zählen diesen Aufsatz von 1942 zu den frühen Standardarbeiten, er wird immer wieder erwähnt, teils aus historischen Gründen (...), teils wegen psychodynamischer Details, die von der psychoanalytisch orientierten Borderlineliteratur gelegentlich aufgegriffen werden."
(mertz, "borderline..."; s. 47/48)
der begriff setzte sich jedoch "offiziell" niemals wirklich durch, was primär etwas mit dem (nicht-)verständnis von begriff und rolle des simulativen bei psychophysischen störungen und da besonders bei den beziehungskrankheiten zu tun haben dürfte. wobei aber auch noch wichtig ist, wie denn nun genau die definition eines als-ob-zustandes aussieht: maskerade eines "versteckten selbst", oder aber - simulation über simulation ohne authentischen "kern" dahinter? dazu mehr jetzt im punkt
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2. als-ob: zwischem "falschem selbst" und "totaler simulation"
wie schon hinsichtlich des objektivistischen modus angemerkt, sind auch die wahrscheinlich von diesem produzierten als-ob- bzw. simulationszustände (ich werde in der folge beim letzteren begriff bleiben) erstmal nichts grundsätzlich pathologisches. wenn ich bisher im blog auf simulationszustände zu sprechen gekommen bin, dann eigentlich immer in überwiegend negativen zusammenhängen, weil eine dominanz (!) dieser zustände (wozu auch trance- bzw. dissoziationszustände zu zählen sind, auch wenn das nochmal ein eigenes thema ist) in sozialen zusammenhängen nun mal ein alarmzeichen ersten ranges darstellt. (psycho-)simulationen an sich, von denen als krasseste und vermutlich auch verbreiteste form das lügen uns allen bekannt sein dürfte, sind eine spezifische menschliche ausstattung, die letztlich dem überleben dient - probleme und schwierige situationen bspw. simulativ durchzuspielen, aus bedrohlichen situationen mithilfe von tricks und lügen zu entkommen, in sozialen/gesellschaftlichen situationen zu beginn ersteinmal eine art maske zu präsentieren, bis deutlich geworden ist, ob und wem der anderen wirklich vertraut werden kann - all das lässt sich zunächst als durchaus mehr oder weniger sinnvolles verhalten begreifen. verhalten, für welches das objektivistische werkzeug unseres bewußtseins genutzt wird.
"Wir dürfen also allein schon aufgrund unserer ganz gewöhnlichen Alltagserfahrung folgendes festhalten: Erstens, die funktionalen Beziehungen zwischen authentischen und simulativen Lebensäußerungen und Optionen sind wesentlich komplexer und außerdem viel interessanter, als man sich das üblicherweise vorstellt. Zweitens, die Begriffskomplexe `authentisch´ und `simulativ´ sind regelmäßig, auch im wissenschaftlich-professionellen Denken bis zur Unkenntlichkeit überladen mit ideologischen und moralischen Implikationen und Konnotationen: Das Authentische ist in keiner Weise identisch mit dem Guten und Schönen und Gesunden, und das Simulative ist keinesfalls per se etwas Schlechtes oder Böses."
(mertz, "borderline...."; s. 70)
entscheidend ist auch hier das verhältnis zur qualitativ anders strukturierten vollen subjektivität mit ihren authentischen beziehungsoptionen, für die das objektivistische werkzeug letztlich nur eine art zuarbeit (im vorbereitenden und korrigierenden sinne) liefern sollte. bei den hier thematisierten beziehungskrankheiten und pathologischen zuständen jedoch ist quasi das werkzeug zum einzigen mittel der realitätbewältigung geworden - anstelle des "seins an sich" sozusagen -, und das kann nicht ohne schwere und fatale konsequenzen bleiben - das virtuelle fängt an, die realität zu ersetzen; die lüge wird zum lebensstil, und die maske verdeckt dann nicht mehr ein eingeschüchtertes oder verkümmertes selbst zum schutz, sondern im besonderen extremfall der totalsimulation ein - unpersonales nichts.
die meisten der als solche bezeichneten "psychischen" (psychophysischen) krankheiten dürften zu einem großen teil dadurch bedingt sein, dass das homöostatische gleichgewicht zwischen subjektivem sein und objektivem werkzeug in trudeln geraten ist, und sich jemand immer mehr und mehr in simulationszuständen verstrickt, die bspw. in der vergangenheit vielleicht einmal ein schutzfunktion hatten (bei einer traumatischen biographie z.b.); oder aber die in der gegenwart vielleicht durch einen beruf innerhalb von stark anonymisierten strukturen zb. eines großen unternehmens gefördert werden, in denen das funktionieren an erster stelle steht und die gesamte (authentische) beziehungsebene diesem funktionieren eher hinderlich wäre - weshalb dann hauptsächlich nur noch beziehungssimulationen angesagt sind. und gerade durch diese art simulationen scheint sich das sog. öffentliche leben in gesellschaften wie unserer mehr und mehr charakterisieren zu lassen - bei den welten von show und film ist das eh offensichtlich (siehe auch die querverbindungen zu borderline- und narzisstischen persönlichkeiten), aber auch in der imo unberechtigterweise so genannten (berufs-)politischen sphäre lässt sich mehr und mehr eine dominanz des simulativen beobachten (was dann auch etwas mit den früher schon angesprochenen suchtstrukturen bei politikerInnen zu tun haben dürfte).
mertz (und bis zu einem gewissen punkt auch arno gruen, wobei der eine imaginäre grenzlinie nicht überschreitet und immer von einem hypothetisch vorhandenen selbst ausgeht) zieht nun die konsequenz, die beim weiterdenken von simulationszuständen auf der hand liegt: es macht einen qualitativen unterschied aus, ob jemand trotz einer zeitweiligen und funktionellen dominanz dieser zustände verdeckt, im hintergrund, und nicht mehr unbedingt ohne ernsthafte schwierigkeiten erreichbar, immer noch über seine/ihre volle subjektivität mit der option zu authentischen beziehungen verfügt - oder ob jemand diese option womöglich niemals besessen hat, weil die psychophysiologischen grundlagen dafür (u.a. zentrale wahrnehmungsfähigkeiten) bereits z.b. pränatal schwer beschädigt oder gar - von seiten einer beziehungs- und liebesunfähigen mutter aus, wobei die gründe dafür erstmal zweitrangig sind - niemals die notwendigen beziehungsmäßigen stimulationen (mit "t"!) für ihre entwicklung erhalten haben. ein solcher mensch würde sich quasi noch vor seiner geburt auf das objektivistische werkzeug als einziges mittel zur lebens- und realitätsbewältigung zurückgeworfen sehen. und: er oder sie würde nichts anderes kennen können, würde die aus diesem speziellen defektzustand sich ergebende realität/welt für die quasi natürliche und normale halten. und immer dann in schwierigkeiten geraten, wenn authentische beziehungen gefragt sind. wofür einem solchen menschen schlicht die nötige psychophysische ausstattung fehlen würde.
das dürfte für die meisten unter uns erstmal befremdlich klingen. aber machen Sie sich bitte einmal folgendes klar: ebenfalls haben die meisten menschen nach entsprechender aufklärung keine großen schwierigkeiten damit, im allgemeinmedizinischen bereich krankheitskonzepte zu verstehen, die bspw. davon ausgehen, dass ein durch eine bestimmte organische funktionsstörung nicht mehr (ausreichend) produziertes enzym für weitreichende probleme im stoffwechselgeschehen sorgen kann. die genese einer solchen störung - Sie können auch eine bakterielle oder virale infektion nehmen - erscheint irgendwie logisch, ebenso wie die dadurch ausgelösten symptome und/oder behinderungen.
viele menschen haben aber sehr deutlich mühe mit der vorstellung, dass die in den obigen beispielen zutage tretenden prinzipien zwar nicht eins zu eins übersetzbar (das wäre imo sachlich nicht gerechtfertigt), aber doch prinzipiell eben auch im bereich von beziehungskrankheiten bzw. schweren störungen der sozialen fähigkeiten gültig sein könnten. wer fragt (sich) schon danach, wenn er oder sie z.b. verliebt ist, was eigentlich genau im psychophysischen geschehen notwendigerweise passieren muss, um in einen solchen zustand zu geraten (und was bei denen anders ist, die sich nicht verlieben können)? wer fragt danach, was für psychophysische voraussetzungen nötig sind, um bspw. ein tiefes, emotional befriedigendes gespräch mit einem anderen führen zu können (wozu die körperliche präsenz unabdingbar ist, und ebenso die fähigkeit, das ganze und zu einem großen teil unbewußt ablaufende körperlich basierte kommunikationsgeschehen wahrnehmen zu können)? richtig: es wird genausowenig gefragt wie nach einem guten essen zu den an der verdauung beteiligten und notwendigen prozessen. solange diese funktionieren, ist das ja auch keine unbedingte notwendigkeit.
wenn aber das soziale leben im allgemeinen und - in gestalt der jeweils individuellen beziehungs(un)fähigkeiten - im besonderen so aussieht, wie es ein blick in die menschliche geschichte nahelegt, lässt sich wohl nur sehr schlecht von einem tatsächlichen funktionieren sprechen. belege dafür sind in den täglichen nachrichten zur genüge zu sehen, und zu einem kleinen teil auch hier im blog dokumentiert. und als das extremste symptom dieses nichtfunktionierens bzw. für die störung existenzieller psychophysischer prozesse können eben jene menschen angesehen werden, die eine mehr oder weniger komplette beziehungsunfähigkeit aufweisen - die klassischen autisten -, und diejenigen, die soziale aktivität und soziales handeln im weitesten sinne von beginn ihres lebens an nur simulieren können bzw. müssen. für genau diese existiert das modell der als-ob-persönlichkeit. und das sieht im einzelnen so aus - wir kommen zum punkt
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3. die definition nach h. deutsch
"Zunächst, so Helene Deutsch, haben wir es im Fall der Als-Ob-Person mit einem durchaus `realitätstüchtigen´ Menschen zu tun, der `äußerlich´ vollkommen `normal´ funktionieren kann: `Es gibt nichts, was auf irgendeine psychische Störung hinweist, das Verhalten hat nichts Ungewöhnliches an sich, die intellektuellen Fähigkeiten scheinen intakt zu sein, die emotionalen Äußerungen sind wohlgeordnet und angemessen´. Die Als-Ob-Person kann `begabt´ sein und `großes Verständnis für intellektuelle und emotionale Probleme aufbringen, ihre `Beziehungen´ sind `gewöhnlich intensiv und tragen alle Merkmale von Freundschaft, Liebe, Sympathie und Verständnis.´ Die Als-Ob-Persönlichkeit kann also realitätstüchtig, vollkommn angepaßt und unauffällig sein und sozial wie beruflich effizient funktionieren."
(mertz, "borderline..."; s. 53)
also ein (fast) perfekter fall von mimikry. oder anders ausgedrückt: "sie waren keine persönlichkeiten und imitierten die menschen". im besten - für die als-ob-person - und schlechtesten fall - für die menschliche mitwelt - könnte das z.b. so aussehen:
"Er fühlte sich allein, aber überhaupt nicht einsam. Es war sehr ähnlich wie das, was er am Heiligabend in Paris empfunden hatte, ein Eindruck, als beobachteten ihn alle, als agiere er vor einem Publikum, das aus der ganzen Welt bestand, und dieser Eindruck spornte ihn zu Höchstleistungen an, denn jeder MIßgriff hätte katastrophale Folgen gehabt. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß er keinen Mißgriff begehen würde. Sein Dasein war mit einer besonderen, köstlichen Atmosphäre der Reinheit angereichert, dem vergleichbar, dachte Tom, was ein Schauspieler empfinden mußte, wenn er eine wichtige Bühnenrolle in der Überzeugung spielt, daß niemand diese Rolle besser spielen könne als er. Er war er selbst und war es nicht.
Er kam sich unschuldig und frei vor, obwohl er jeden Schritt, den er tat, bewußt plante und ausführte."
einschub: erinnern Sie sich noch an temple grandin, im basisbeitrag autismus? "Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück."
"Und nach mehreren Stunden war er jetzt nicht mehr erschöpft wie zu Anfang. Wenn er allein war, mußte er sich nicht mehr ausruhen. Jetzt war er Dickie, sobald er aufstand und sich die Zähne putzen ging, die er sich mit angewinkeltem Ellbogen putzte, er war Dickie, der die Eierschale für einen letzten Bissen auf dem Löffel drehte, Dickie, der unweigerlich die erste Krawatte, die er vom Krawattenhalter zog, zurückhängte und sich eine andere nahm. Sogar ein Bild in Dickies Stil hatte er verfertigt."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley", siehe weiter oben; s.155/156)
wie hier ebenfalls schon öfter erwähnt, spricht vieles für mehr oder weniger große strukturelle verwandtschaften zwischen den psychiatrischen diagnosen, die sich als beziehungskrankheiten verstehen lassen. im falle der totalsimulativen persönlichkeit, welche die offizielle psychiatrie und psychologie bis heute noch nicht mal als hypothetische möglichkeit anerkennen will, haben wir bis jetzt also hinweise richtung klassischer psychopathie (soziopathie), klassischem autismus sowie borderline und narzisstischer ps. jedenfalls dann, wenn diese störungsbilder jeweils oberflächlich betrachtet werden. zum jetzigen zeitpunkt ist mein persönlicher eindruck der, dass der bereich der simulation bei allen eine große rolle spielt - aber wie genau und wie stark, dürfte teils im entscheidenden maße unterschiedlich sein.
"Wie reagiert nun die menschliche Umwelt auf die Als-Ob-Persönlichkeit und deren Fassade?
Die Als-Ob-Leistung mag zunächst glaubwürdig erscheinen und von der menschlichen Umwelt für bare Münze genommen werden, aber `etwas Unfaßbares und Unbestimmbares schiebt sich zwischen diese Person und ihre Mitmenschen´, ein diffuses Gefühl, daß `irgendetwas nicht stimmt´, `selbst der Laie bemerkt bald etwas Seltsames´. Das ist die ganz unvermeidliche authentische Reaktion auf eine extreme Diskrepanz in den Lebensäußerungen einer anderen Person, die objektiv betrachtet alles richtig macht und doch zugleich, in unserer authentischen Wahrnehmung, auf eine zunächst ganz und gar unverständliche, unerklärliche und unbeschreibliche Weise alles falsch macht.
Diese Irritationen samt den dazugehörigen diffusen Mißempfindungen können in der alltäglichen Begegnung immer wieder blitzartig einschießen oder als Störfrequenz den Kontakt mit der Als-Ob-Person ständig überlagern. Die Störmeldungen werden vor allem dann ausgelöst, wenn wir ein auch nur ansatzweise authentisches Beziehungsfeld zur Als-Ob-Person hin aufmachen, also auf interpersonale Nähe gehen: Das geht auch einseitig.(...)"
(mertz, "borderline..."; s. 53)
darauf folgend beschreibt er etwas, was er mit "psychoallergischem reflex" bezeichnet - da die meisten menschen nichts vom modell bzw. vom angenommenen tatsächlichen existieren der simulativen persönlichkeit wissen, werden sie - bei eigener einigermaßen voll ausgebildeter wahrnehmungsfähigkeit - auf die simulative art reagieren, allerdings in einer unbewußten, subtilen und versteckten form. so, wie auch die eigene realistische wahrnehmung der simulativen persönlichkeit aussieht - die authentische kommunikation bzw. ihre voraussetzungen können von der simulativen persönlichkeit nicht "erreicht" werden, da die notwendigen körperlich basierten (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten lahmgelegt sind, die erst jene prozesse ermöglichen würden, die eine ganzheitliche authentische kommunikation ausmachen - als vielleicht zentralstes wäre hier die empathiefähigkeit zu nennen, die für ein "einschwingen" auf den psychophysischen zustands des gegenübers erforderlich ist. simulative persönlichkeiten lassen hier ein merkmal erkennen, welches auch für den klassischen autismus (in der aspergervariante) bedeutsam ist: sie können zwar korrekt - "objektiv" - beobachten und das beobachtete auch beschreiben - aber sie werden davon nicht berührt. der unterschied zum klassischen autisten liegt darin, dass die simulative persönlichkeit dieses berührtsein mehr oder weniger überzeugend zu spielen vermag. aber vorsicht an dieser stelle mit wertungen wie "vorsätzlicher betrug" o.ä.: der betroffene mensch glaubt i.d.r. daran, dass sein spiel identisch mit dem authentischen ist und wird möglicherweise erst durch den selbstvergleich mit authentizitätsfähigen menschen irritiert. gesellschaften, in denen simulationen im sozialen leben verbreitet sind und als "normal" angesehen werden, fördern diesen irrtümlichen eindruck selbstverständlich noch.
der erwähnte "psychoallergische reflex" besteht auf seiten des zur authentischer kommunikation fähigen menschen nun darin, dass die eigentlich erwarteten authentischen signale des gegenübers ausbleiben bzw. das das, was so aussieht als ob, keinerlei tatsächlichen inhalt besitzt. das führt zu diversen irritationen und mißempfindungen in "psyche" und im körper, die jedoch - da nur sehr wenige menschen über ihre vollen (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten verfügen - als diffus, unklar und subtil wahrgenomen werden, in der folge nicht "korrekt" zugeordnet werden können und letztlich das objektivistische bewußtsein auf den plan rufen, welches dann - ironischerweise - versucht, die lücken in der eigenen wahrnehmung mit intellektuellen erklärungen und fiktionen zu schließen, die sich beliebig weit von der tatsächlichen situation entfernen können. eine innere distanzierung quasi (notwendige folge der aktivität des objektivistischen modus), die den relativ gesünderen menschen selbst in eine sekundäre als-ob-position bringt - und damit wiederum den eindruck der simulativen persönlichkeit fördert, dass ihre weltwahrnehmung die eigentlich "richtige" und normale darstellt!
"Dem Analytiker, so H. Deutsch, `wird bald klar´, daß bei der Als-Ob-Person `alle Gefühlsäußerungen rein formal´ sind und das dabei alle `innere Erfahrung vollkommen ausgesperrt bleibt´. Gefühle werden im `objektiven´ Sinne `formal´ richtig und situationsadäquat geäußert, aber die eigentlich dazugehörenden `inneren Erfahrungen´ fehlen. Ohne diese binnenpsychischen Prozesse bleibt das geäußerte Gefühl als bloß `äußerliches´ Gefühl unvollständig und wird von der Als-Ob-Person nicht in der Weise empfunden, wie es die äußere Form vermuten lässt."
bei der zwangsläufig folgenden frage danach, wie solche pseudoemotionen denn nun produziert werden, attestiert mertz helene deutsch erstens einen krassen bruch in der argumentation und zweitens ein strategisches gedankenmanöver, in dessen folge die innere leere als eine art "vakuum" hinter den masken der als-ob-persönlichkeit aufgefasst wird, welches es mit authentischen erfahrungen aufzufüllen gilt. weiter dazu:
"Das angebliche Vakuum existiert nicht wirklich, zumindest nicht realpsychisch, d.h. weder subjektiv-erfahrungsmäßig noch funktional, es handelt sich bei diesem angeblichen Vakuum lediglich um eine unglückliche Metapher, eine bloße Fiktion, die auf die Als-Ob-Person projiziert und dort deponiert wird. Das vermeintliche Vakuum ist (...) tatsächlich angefüllt mit `innerer Erfahrung´, die der geäußerten Pseudoaffektivität realpsychisch vollständig entspricht. Die Als-Ob-Persönlichkeit, die äußerliche Pseudoaffekte produziert, operiert auch intrapsychisch ( `innen´) auf der gleichen Funktionsebene, nämlich auf der Als-Ob-Ebene: Ein passender und mnemotechnisch günstiger Begriff hierfür wäre Tiefensimulation.
Ganz allgemein formuliert: Hinter den Als-Ob-Produktionen, etwa den Pseudoemotionen, steckt weder ein authentischer Prozeß (nicht nachweisbar) noch ein Vakuum (rein fiktiv), sondern ein subjektiv-erfahrungsmäßiger und funktional gleichartiger Als-Ob-Prozeß. Dieser Gedankengang klingt banal, ist es aber nicht: In der Theorie tendiert man dazu, das Unechte, die Fassade als bloß Äußerliches zu betrachten, das wie ein Hindernis überwunden werden muß, um schließlich zum Eigentlichen und Inneren, eben zum authentischen Kern der Person vorzudringen."
(zitate oben: mertz, "borderline..."; s. 54)
diese verbreitete vorstellung von der harten bzw falschen schale, die den kern schützt und versteckt, hatten wir weiter oben schon mal angesprochen. und in der tat ist dieser aspekt des modells der als-ob-persönlichkeit - das sich nämlich hinter der maske nur wieder eine maske und eine maske...befindet - , der für mich immer noch verstörendste und auch bedrückendste teil. tatsächlich werden Sie in so ziemlich allen etablierten psychologischen schulen (eventuell bilden einige richtungen der verhaltenspsychologie hier die ausnahme) genau die theorie finden, die vom als-ob-modell radikal negiert wird: das authentische selbst wird wie eine naturgesetzlichkeit als grundsätzlich vorhanden vorausgesetzt. wenn aber nun - wofür es imo gute gründe gibt - davon ausgegangen wird, dass das, was wir allgemein so als selbst (persönlichkeitskern) begreifen, ganz elementar an unsere körperlichkeit gebunden ist und sich darüber gestaltet und wahrgenommen wird, wird das modell der simulativen persönlichkeit nicht mehr als völlig abwegig abgetan werden können - eben weil das notwendige funktionieren der nötigen prozesse auf der materiell-körperlichen ebene geschädigt werden kann. und zwar auch und gerade durch zerstörerische einflüsse im sozialen leben, wozu sich - als eine besondere variante - bereits das pränatale leben zählen lässt.
"Die Als-Ob-Persönlichkeit, so Helene Deutsch, `versucht affektive Erfahrung zu simulieren´, `emotionale Beziehungen zur Außenwelt oder zum eigenen Ich´ `fehlen´vollständig, sind also nicht bloß `unterdrückt´ bzw. `blockiert´.
Das kann kaum anders als folgendermaßen interpretiert werden: Der lebendige Dialog hat nicht stattgefunden, die entsprechenden Dialog-, Beziehungs- und Liebesfähigkeiten, die ja ohne authentische Emotionalität nicht denkbar sind, konnten sich beim Kind nie entwickeln. Wohlgemerkt, die authentischen Potenziale der Als-Ob-Persönlichkeit sind nicht unterdrückt oder blockiert, es verhält sich eher so, daß ein authentischer Nucleus, der zum Ausgangspunkt eines Heilungsprozesses gemacht werden könnte, nicht mehr existiert. Das authentische Potential ist nicht beantwortet worden,und deshalb erloschen, d.h. nicht mehr aktualisierbar, praktisch nicht vorhanden. So H. Deutsch. (...)
Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß es die totalsimulative Persönlichkeit, d.h. den Totalsimulanten, tatsächlich gibt."
(mertz, "borderline..."; s. 55)
ein äußerst unangenehmer und bedrohlicher gedanke, wie schon angedeutet. und möglicherweise lässt sich der als-ob-zustand auch als extremste und tiefste form dessen begreifen, was unter dem begriff entfremdung seit eh und je in gesellschafts- und sozialkritischen diskussionen zwar benannt, aber kaum jeweils einmal in einer tatsächlich "griffigen" art und weise genau in seinen konsequenzen und in seinem möglichen funktionieren beschrieben wird. ich vermag mir jedenfalls keine weitgehendere form der entfremdung - von sich selbst und der gesamten sozialen mitwelt - vorzustellen, als die lebenslängliche existenz innerhalb von virtuellen räumen, in denen weder (authentische) biographie, (authentische) identität noch die (authentische) subjektive zeit vorhanden sind.
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"Er packte weiter. Das, soviel war ihm klar, bedeutete das Ende Dickie Greenleafs. Widerwilig wurde er wieder zu Thomas Ripley, einem Niemand, widerwillig schlüpfte er in seine alte Haut, nahm er wieder die Position dessen ein, auf den andere herabsahen, die sich nicht um ihn scherten, solange er sie nicht wie ein Clown unterhielt, und der sich zu nichts nutze und zu nichts befähigt fühlte als dazu, andere für ein paar Minuten zu amüsieren. Er schlüpfte in seine alte Haut so widerwillig zurück, als wäre sie ein abgetragener, ungebügelter, fleckenbespritzter Anzug, der sogar in besserem Zustand nicht viel getaugt hatte. (...)
Er ließ die Fahrkarte auf den Namen Greenleaf reservieren und dachte dabei, daß dies das letzte Mal war, daß er eine Fahrkarte auf diesen Namen reservieren ließ, obwohl man so etwas nie mit Sicherheit sagen konnte. Er klammerte sich noch immer an die Hoffnung, daß alles nur ein Strum im Wasserglas sei. Sein könnte. Und folglich wäre es dumm gewesen, Trübsal zu blasen, selbst als Tom Ripley. Auch Tom Ripley hatte nie wirklich Trübsal geblasen, mochte er auch hin und wieder so gewirkt haben. Hatte er aus den letzten Monaten nicht seine Lehren gezogen? Wenn man fröhlich oder melancholisch oder wehmütig oder gedankenverloren oder höflich sein wollte, dann mußte man das Gewünschte lediglich mit allem Einsatz spielen."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley"; bibliothek der süddeutschen zeitung 2004 (lizenzausgabe), diogenes, zürich 2002; isbn 3-937793-13-5; s. 218/219)
"Das ganze Forschungsfeld der Psychosimulation befindet sich (...) in einem ziemlich beklagenswerten Zustand, einem Zustand der Verwahrlosung, nicht zuletzt deshalb, weil ein einigermaßen präziser, psychopathologisch brauchbarer und allgemein anerkannter Simulationsbegriff bislang noch nicht zur Verfügung steht. Ein brauchbarer Simulationsbegriff, der moralisierende Denkfiguren etwa vom Typus der absichtlichen Täuschung überschreitet, setzt einen realistischen Begriff des Authentischen voraus. Der Simulationsbegriff macht nur Sinn, wenn es etwas Nichtsimulatives, also Authentisches gibt und wenn diese Differenz psychologisch bzw. psychopathologisch bedeutsam ist und ernst genommen wird. Auch H(elene) Deutsch tut sich schwer, jene Verhaltensweisen und Erfahrungsmodi, die man üblicherweise pseudo, unecht, fassadär, simulativ, imitativ, oberflächlich oder als-ob nennt, in ihren theoretischen Bezugsrahmen einzubauen."
(j.e. mertz, "borderline..."; siehe literaturliste; s. 48)
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1. einführung: kurze geschichte einer nicht-diagnose
in den entsprechenden katalogen werden Sie eine diagnose mit dem namen "als-ob" nicht finden, ebensowenig spielt das thema simulation im psychiatrischen kontext eine größere rolle, mit ein paar eher randständigen ausnahmen: einmal gibt es da das sog. münchhausen-syndrom, zum anderen - älter und von übler natur im kontext von (post-)traumastörungen - die sog. rentenneurose, die als diagnose eigentlich erst nach dem 1. weltkrieg eine rolle zu spielen begann - damals, um mögliche oder tatsächliche ansprüche von kriegsbeschädigten bzw. -traumatisierten deutschen soldaten nach schadensersatz seitens des deutschen staates mit williger hilfe der offiziellen psychiatrie abzuschmettern. dieses vorgehen wurde und wird bis heute dann auch im zivilen leben in bestimmten fällen versucht. vereinzelt taucht der begriff des simulativen bzw. täuschenden auch im zusammenhang mit der klassischen psychopathie auf (betrüger, hochstapler). ansonsten lässt sich die situation in psychiatrie/psychologie so zusammenfassen, wie es mertz oben im zitat getan hat.
mir persönlich ist der begriff der als-ob-persönlichkeit in den letzten jahren immer mal wieder sporadisch in thematisch sehr verschiedenen veröffentlichungen hauptsächlich im psychologischen bereich begegnet, wo er in der mehrzahl als synonym für das verwendet wird, was in verschiedenen psychologischen schulen als "falsches selbst" begriffen wird. dieser begriff impliziert gleichzeitig eigentlich immer auch die existenz eines "richtigen, authentischen selbst", zu dem durch die verzerrungen und masken des "falschen" durchgedrungen werden soll. real spielt dieses denkmodell besonders im zusammenhang mit einigen diagnosen aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen eine teils wichtige rolle: borderline, die antisoziale und die narzisstische ps wären hier zu nennen, aber auch die frühere "hysterie" und ihre diagnostische nachfolgerin, die histrionische ps.
das geflügelte wort von der "harten schale mit dem weichen (= guten) kern" erfasst dieses denkmodell zumindest z. t. in einer populären art und weise.
es ist hier wieder mal das buch von mertz, welches zu der obigen und weitgehend etablierten sichtweise einen krassen und provozierenden gegenpol setzt:
"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´
Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offensichtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."
( j.e. mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)
zum angesprochenen aspekt des autismus später mehr. diesem buch verdanke ich zuerst aber die kenntnis von helene deutsch als "schöpferin" des modells der als-ob-persönlichkeit:
"1942 veröffentlichte Helene Deutsch die etwa zwanzigseitige klinische Studie (...) (deutscher titel: `Über einen Typus der Pseudoaffektivität [als-ob]´). Die Studie (...) beschreibt die Als-Ob-Persönlichkeit, einen klinischen Typus mit vermeintlichem Seltenheitswert, den manche, aber nicht alle Experten heutzutage dem Borderlinespektrum oder seinem Umfeld zuordnen würden. Charakteristisch für die Als-Ob-Persönlichkeit sind Pseudoemotionalität, unechte Beziehungsformen und ein grundlegendes Defizit an authentischer Personalität bzw. Identität, das sie durch Identifikation mit und Imitation von externalen Modellen zu kompensieren sucht." (...)
"H. Deutsch hatte sich schon früh für die `pathologische Lüge´ interessiert, für Betrüger und Hochstapler, und damit einen klassisch psychiatrischen Typus, nämlich den Psychopathen, ins Visier genommen, einen der historischen Vorläufer des Borderlinetypus.
Manche Traditionslinien innerhalb der Borderlineforschung zählen diesen Aufsatz von 1942 zu den frühen Standardarbeiten, er wird immer wieder erwähnt, teils aus historischen Gründen (...), teils wegen psychodynamischer Details, die von der psychoanalytisch orientierten Borderlineliteratur gelegentlich aufgegriffen werden."
(mertz, "borderline..."; s. 47/48)
der begriff setzte sich jedoch "offiziell" niemals wirklich durch, was primär etwas mit dem (nicht-)verständnis von begriff und rolle des simulativen bei psychophysischen störungen und da besonders bei den beziehungskrankheiten zu tun haben dürfte. wobei aber auch noch wichtig ist, wie denn nun genau die definition eines als-ob-zustandes aussieht: maskerade eines "versteckten selbst", oder aber - simulation über simulation ohne authentischen "kern" dahinter? dazu mehr jetzt im punkt
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2. als-ob: zwischem "falschem selbst" und "totaler simulation"
wie schon hinsichtlich des objektivistischen modus angemerkt, sind auch die wahrscheinlich von diesem produzierten als-ob- bzw. simulationszustände (ich werde in der folge beim letzteren begriff bleiben) erstmal nichts grundsätzlich pathologisches. wenn ich bisher im blog auf simulationszustände zu sprechen gekommen bin, dann eigentlich immer in überwiegend negativen zusammenhängen, weil eine dominanz (!) dieser zustände (wozu auch trance- bzw. dissoziationszustände zu zählen sind, auch wenn das nochmal ein eigenes thema ist) in sozialen zusammenhängen nun mal ein alarmzeichen ersten ranges darstellt. (psycho-)simulationen an sich, von denen als krasseste und vermutlich auch verbreiteste form das lügen uns allen bekannt sein dürfte, sind eine spezifische menschliche ausstattung, die letztlich dem überleben dient - probleme und schwierige situationen bspw. simulativ durchzuspielen, aus bedrohlichen situationen mithilfe von tricks und lügen zu entkommen, in sozialen/gesellschaftlichen situationen zu beginn ersteinmal eine art maske zu präsentieren, bis deutlich geworden ist, ob und wem der anderen wirklich vertraut werden kann - all das lässt sich zunächst als durchaus mehr oder weniger sinnvolles verhalten begreifen. verhalten, für welches das objektivistische werkzeug unseres bewußtseins genutzt wird.
"Wir dürfen also allein schon aufgrund unserer ganz gewöhnlichen Alltagserfahrung folgendes festhalten: Erstens, die funktionalen Beziehungen zwischen authentischen und simulativen Lebensäußerungen und Optionen sind wesentlich komplexer und außerdem viel interessanter, als man sich das üblicherweise vorstellt. Zweitens, die Begriffskomplexe `authentisch´ und `simulativ´ sind regelmäßig, auch im wissenschaftlich-professionellen Denken bis zur Unkenntlichkeit überladen mit ideologischen und moralischen Implikationen und Konnotationen: Das Authentische ist in keiner Weise identisch mit dem Guten und Schönen und Gesunden, und das Simulative ist keinesfalls per se etwas Schlechtes oder Böses."
(mertz, "borderline...."; s. 70)
entscheidend ist auch hier das verhältnis zur qualitativ anders strukturierten vollen subjektivität mit ihren authentischen beziehungsoptionen, für die das objektivistische werkzeug letztlich nur eine art zuarbeit (im vorbereitenden und korrigierenden sinne) liefern sollte. bei den hier thematisierten beziehungskrankheiten und pathologischen zuständen jedoch ist quasi das werkzeug zum einzigen mittel der realitätbewältigung geworden - anstelle des "seins an sich" sozusagen -, und das kann nicht ohne schwere und fatale konsequenzen bleiben - das virtuelle fängt an, die realität zu ersetzen; die lüge wird zum lebensstil, und die maske verdeckt dann nicht mehr ein eingeschüchtertes oder verkümmertes selbst zum schutz, sondern im besonderen extremfall der totalsimulation ein - unpersonales nichts.
die meisten der als solche bezeichneten "psychischen" (psychophysischen) krankheiten dürften zu einem großen teil dadurch bedingt sein, dass das homöostatische gleichgewicht zwischen subjektivem sein und objektivem werkzeug in trudeln geraten ist, und sich jemand immer mehr und mehr in simulationszuständen verstrickt, die bspw. in der vergangenheit vielleicht einmal ein schutzfunktion hatten (bei einer traumatischen biographie z.b.); oder aber die in der gegenwart vielleicht durch einen beruf innerhalb von stark anonymisierten strukturen zb. eines großen unternehmens gefördert werden, in denen das funktionieren an erster stelle steht und die gesamte (authentische) beziehungsebene diesem funktionieren eher hinderlich wäre - weshalb dann hauptsächlich nur noch beziehungssimulationen angesagt sind. und gerade durch diese art simulationen scheint sich das sog. öffentliche leben in gesellschaften wie unserer mehr und mehr charakterisieren zu lassen - bei den welten von show und film ist das eh offensichtlich (siehe auch die querverbindungen zu borderline- und narzisstischen persönlichkeiten), aber auch in der imo unberechtigterweise so genannten (berufs-)politischen sphäre lässt sich mehr und mehr eine dominanz des simulativen beobachten (was dann auch etwas mit den früher schon angesprochenen suchtstrukturen bei politikerInnen zu tun haben dürfte).
mertz (und bis zu einem gewissen punkt auch arno gruen, wobei der eine imaginäre grenzlinie nicht überschreitet und immer von einem hypothetisch vorhandenen selbst ausgeht) zieht nun die konsequenz, die beim weiterdenken von simulationszuständen auf der hand liegt: es macht einen qualitativen unterschied aus, ob jemand trotz einer zeitweiligen und funktionellen dominanz dieser zustände verdeckt, im hintergrund, und nicht mehr unbedingt ohne ernsthafte schwierigkeiten erreichbar, immer noch über seine/ihre volle subjektivität mit der option zu authentischen beziehungen verfügt - oder ob jemand diese option womöglich niemals besessen hat, weil die psychophysiologischen grundlagen dafür (u.a. zentrale wahrnehmungsfähigkeiten) bereits z.b. pränatal schwer beschädigt oder gar - von seiten einer beziehungs- und liebesunfähigen mutter aus, wobei die gründe dafür erstmal zweitrangig sind - niemals die notwendigen beziehungsmäßigen stimulationen (mit "t"!) für ihre entwicklung erhalten haben. ein solcher mensch würde sich quasi noch vor seiner geburt auf das objektivistische werkzeug als einziges mittel zur lebens- und realitätsbewältigung zurückgeworfen sehen. und: er oder sie würde nichts anderes kennen können, würde die aus diesem speziellen defektzustand sich ergebende realität/welt für die quasi natürliche und normale halten. und immer dann in schwierigkeiten geraten, wenn authentische beziehungen gefragt sind. wofür einem solchen menschen schlicht die nötige psychophysische ausstattung fehlen würde.
das dürfte für die meisten unter uns erstmal befremdlich klingen. aber machen Sie sich bitte einmal folgendes klar: ebenfalls haben die meisten menschen nach entsprechender aufklärung keine großen schwierigkeiten damit, im allgemeinmedizinischen bereich krankheitskonzepte zu verstehen, die bspw. davon ausgehen, dass ein durch eine bestimmte organische funktionsstörung nicht mehr (ausreichend) produziertes enzym für weitreichende probleme im stoffwechselgeschehen sorgen kann. die genese einer solchen störung - Sie können auch eine bakterielle oder virale infektion nehmen - erscheint irgendwie logisch, ebenso wie die dadurch ausgelösten symptome und/oder behinderungen.
viele menschen haben aber sehr deutlich mühe mit der vorstellung, dass die in den obigen beispielen zutage tretenden prinzipien zwar nicht eins zu eins übersetzbar (das wäre imo sachlich nicht gerechtfertigt), aber doch prinzipiell eben auch im bereich von beziehungskrankheiten bzw. schweren störungen der sozialen fähigkeiten gültig sein könnten. wer fragt (sich) schon danach, wenn er oder sie z.b. verliebt ist, was eigentlich genau im psychophysischen geschehen notwendigerweise passieren muss, um in einen solchen zustand zu geraten (und was bei denen anders ist, die sich nicht verlieben können)? wer fragt danach, was für psychophysische voraussetzungen nötig sind, um bspw. ein tiefes, emotional befriedigendes gespräch mit einem anderen führen zu können (wozu die körperliche präsenz unabdingbar ist, und ebenso die fähigkeit, das ganze und zu einem großen teil unbewußt ablaufende körperlich basierte kommunikationsgeschehen wahrnehmen zu können)? richtig: es wird genausowenig gefragt wie nach einem guten essen zu den an der verdauung beteiligten und notwendigen prozessen. solange diese funktionieren, ist das ja auch keine unbedingte notwendigkeit.
wenn aber das soziale leben im allgemeinen und - in gestalt der jeweils individuellen beziehungs(un)fähigkeiten - im besonderen so aussieht, wie es ein blick in die menschliche geschichte nahelegt, lässt sich wohl nur sehr schlecht von einem tatsächlichen funktionieren sprechen. belege dafür sind in den täglichen nachrichten zur genüge zu sehen, und zu einem kleinen teil auch hier im blog dokumentiert. und als das extremste symptom dieses nichtfunktionierens bzw. für die störung existenzieller psychophysischer prozesse können eben jene menschen angesehen werden, die eine mehr oder weniger komplette beziehungsunfähigkeit aufweisen - die klassischen autisten -, und diejenigen, die soziale aktivität und soziales handeln im weitesten sinne von beginn ihres lebens an nur simulieren können bzw. müssen. für genau diese existiert das modell der als-ob-persönlichkeit. und das sieht im einzelnen so aus - wir kommen zum punkt
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3. die definition nach h. deutsch
"Zunächst, so Helene Deutsch, haben wir es im Fall der Als-Ob-Person mit einem durchaus `realitätstüchtigen´ Menschen zu tun, der `äußerlich´ vollkommen `normal´ funktionieren kann: `Es gibt nichts, was auf irgendeine psychische Störung hinweist, das Verhalten hat nichts Ungewöhnliches an sich, die intellektuellen Fähigkeiten scheinen intakt zu sein, die emotionalen Äußerungen sind wohlgeordnet und angemessen´. Die Als-Ob-Person kann `begabt´ sein und `großes Verständnis für intellektuelle und emotionale Probleme aufbringen, ihre `Beziehungen´ sind `gewöhnlich intensiv und tragen alle Merkmale von Freundschaft, Liebe, Sympathie und Verständnis.´ Die Als-Ob-Persönlichkeit kann also realitätstüchtig, vollkommn angepaßt und unauffällig sein und sozial wie beruflich effizient funktionieren."
(mertz, "borderline..."; s. 53)
also ein (fast) perfekter fall von mimikry. oder anders ausgedrückt: "sie waren keine persönlichkeiten und imitierten die menschen". im besten - für die als-ob-person - und schlechtesten fall - für die menschliche mitwelt - könnte das z.b. so aussehen:
"Er fühlte sich allein, aber überhaupt nicht einsam. Es war sehr ähnlich wie das, was er am Heiligabend in Paris empfunden hatte, ein Eindruck, als beobachteten ihn alle, als agiere er vor einem Publikum, das aus der ganzen Welt bestand, und dieser Eindruck spornte ihn zu Höchstleistungen an, denn jeder MIßgriff hätte katastrophale Folgen gehabt. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß er keinen Mißgriff begehen würde. Sein Dasein war mit einer besonderen, köstlichen Atmosphäre der Reinheit angereichert, dem vergleichbar, dachte Tom, was ein Schauspieler empfinden mußte, wenn er eine wichtige Bühnenrolle in der Überzeugung spielt, daß niemand diese Rolle besser spielen könne als er. Er war er selbst und war es nicht.
Er kam sich unschuldig und frei vor, obwohl er jeden Schritt, den er tat, bewußt plante und ausführte."
einschub: erinnern Sie sich noch an temple grandin, im basisbeitrag autismus? "Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück."
"Und nach mehreren Stunden war er jetzt nicht mehr erschöpft wie zu Anfang. Wenn er allein war, mußte er sich nicht mehr ausruhen. Jetzt war er Dickie, sobald er aufstand und sich die Zähne putzen ging, die er sich mit angewinkeltem Ellbogen putzte, er war Dickie, der die Eierschale für einen letzten Bissen auf dem Löffel drehte, Dickie, der unweigerlich die erste Krawatte, die er vom Krawattenhalter zog, zurückhängte und sich eine andere nahm. Sogar ein Bild in Dickies Stil hatte er verfertigt."
(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley", siehe weiter oben; s.155/156)
wie hier ebenfalls schon öfter erwähnt, spricht vieles für mehr oder weniger große strukturelle verwandtschaften zwischen den psychiatrischen diagnosen, die sich als beziehungskrankheiten verstehen lassen. im falle der totalsimulativen persönlichkeit, welche die offizielle psychiatrie und psychologie bis heute noch nicht mal als hypothetische möglichkeit anerkennen will, haben wir bis jetzt also hinweise richtung klassischer psychopathie (soziopathie), klassischem autismus sowie borderline und narzisstischer ps. jedenfalls dann, wenn diese störungsbilder jeweils oberflächlich betrachtet werden. zum jetzigen zeitpunkt ist mein persönlicher eindruck der, dass der bereich der simulation bei allen eine große rolle spielt - aber wie genau und wie stark, dürfte teils im entscheidenden maße unterschiedlich sein.
"Wie reagiert nun die menschliche Umwelt auf die Als-Ob-Persönlichkeit und deren Fassade?
Die Als-Ob-Leistung mag zunächst glaubwürdig erscheinen und von der menschlichen Umwelt für bare Münze genommen werden, aber `etwas Unfaßbares und Unbestimmbares schiebt sich zwischen diese Person und ihre Mitmenschen´, ein diffuses Gefühl, daß `irgendetwas nicht stimmt´, `selbst der Laie bemerkt bald etwas Seltsames´. Das ist die ganz unvermeidliche authentische Reaktion auf eine extreme Diskrepanz in den Lebensäußerungen einer anderen Person, die objektiv betrachtet alles richtig macht und doch zugleich, in unserer authentischen Wahrnehmung, auf eine zunächst ganz und gar unverständliche, unerklärliche und unbeschreibliche Weise alles falsch macht.
Diese Irritationen samt den dazugehörigen diffusen Mißempfindungen können in der alltäglichen Begegnung immer wieder blitzartig einschießen oder als Störfrequenz den Kontakt mit der Als-Ob-Person ständig überlagern. Die Störmeldungen werden vor allem dann ausgelöst, wenn wir ein auch nur ansatzweise authentisches Beziehungsfeld zur Als-Ob-Person hin aufmachen, also auf interpersonale Nähe gehen: Das geht auch einseitig.(...)"
(mertz, "borderline..."; s. 53)
darauf folgend beschreibt er etwas, was er mit "psychoallergischem reflex" bezeichnet - da die meisten menschen nichts vom modell bzw. vom angenommenen tatsächlichen existieren der simulativen persönlichkeit wissen, werden sie - bei eigener einigermaßen voll ausgebildeter wahrnehmungsfähigkeit - auf die simulative art reagieren, allerdings in einer unbewußten, subtilen und versteckten form. so, wie auch die eigene realistische wahrnehmung der simulativen persönlichkeit aussieht - die authentische kommunikation bzw. ihre voraussetzungen können von der simulativen persönlichkeit nicht "erreicht" werden, da die notwendigen körperlich basierten (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten lahmgelegt sind, die erst jene prozesse ermöglichen würden, die eine ganzheitliche authentische kommunikation ausmachen - als vielleicht zentralstes wäre hier die empathiefähigkeit zu nennen, die für ein "einschwingen" auf den psychophysischen zustands des gegenübers erforderlich ist. simulative persönlichkeiten lassen hier ein merkmal erkennen, welches auch für den klassischen autismus (in der aspergervariante) bedeutsam ist: sie können zwar korrekt - "objektiv" - beobachten und das beobachtete auch beschreiben - aber sie werden davon nicht berührt. der unterschied zum klassischen autisten liegt darin, dass die simulative persönlichkeit dieses berührtsein mehr oder weniger überzeugend zu spielen vermag. aber vorsicht an dieser stelle mit wertungen wie "vorsätzlicher betrug" o.ä.: der betroffene mensch glaubt i.d.r. daran, dass sein spiel identisch mit dem authentischen ist und wird möglicherweise erst durch den selbstvergleich mit authentizitätsfähigen menschen irritiert. gesellschaften, in denen simulationen im sozialen leben verbreitet sind und als "normal" angesehen werden, fördern diesen irrtümlichen eindruck selbstverständlich noch.
der erwähnte "psychoallergische reflex" besteht auf seiten des zur authentischer kommunikation fähigen menschen nun darin, dass die eigentlich erwarteten authentischen signale des gegenübers ausbleiben bzw. das das, was so aussieht als ob, keinerlei tatsächlichen inhalt besitzt. das führt zu diversen irritationen und mißempfindungen in "psyche" und im körper, die jedoch - da nur sehr wenige menschen über ihre vollen (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten verfügen - als diffus, unklar und subtil wahrgenomen werden, in der folge nicht "korrekt" zugeordnet werden können und letztlich das objektivistische bewußtsein auf den plan rufen, welches dann - ironischerweise - versucht, die lücken in der eigenen wahrnehmung mit intellektuellen erklärungen und fiktionen zu schließen, die sich beliebig weit von der tatsächlichen situation entfernen können. eine innere distanzierung quasi (notwendige folge der aktivität des objektivistischen modus), die den relativ gesünderen menschen selbst in eine sekundäre als-ob-position bringt - und damit wiederum den eindruck der simulativen persönlichkeit fördert, dass ihre weltwahrnehmung die eigentlich "richtige" und normale darstellt!
"Dem Analytiker, so H. Deutsch, `wird bald klar´, daß bei der Als-Ob-Person `alle Gefühlsäußerungen rein formal´ sind und das dabei alle `innere Erfahrung vollkommen ausgesperrt bleibt´. Gefühle werden im `objektiven´ Sinne `formal´ richtig und situationsadäquat geäußert, aber die eigentlich dazugehörenden `inneren Erfahrungen´ fehlen. Ohne diese binnenpsychischen Prozesse bleibt das geäußerte Gefühl als bloß `äußerliches´ Gefühl unvollständig und wird von der Als-Ob-Person nicht in der Weise empfunden, wie es die äußere Form vermuten lässt."
bei der zwangsläufig folgenden frage danach, wie solche pseudoemotionen denn nun produziert werden, attestiert mertz helene deutsch erstens einen krassen bruch in der argumentation und zweitens ein strategisches gedankenmanöver, in dessen folge die innere leere als eine art "vakuum" hinter den masken der als-ob-persönlichkeit aufgefasst wird, welches es mit authentischen erfahrungen aufzufüllen gilt. weiter dazu:
"Das angebliche Vakuum existiert nicht wirklich, zumindest nicht realpsychisch, d.h. weder subjektiv-erfahrungsmäßig noch funktional, es handelt sich bei diesem angeblichen Vakuum lediglich um eine unglückliche Metapher, eine bloße Fiktion, die auf die Als-Ob-Person projiziert und dort deponiert wird. Das vermeintliche Vakuum ist (...) tatsächlich angefüllt mit `innerer Erfahrung´, die der geäußerten Pseudoaffektivität realpsychisch vollständig entspricht. Die Als-Ob-Persönlichkeit, die äußerliche Pseudoaffekte produziert, operiert auch intrapsychisch ( `innen´) auf der gleichen Funktionsebene, nämlich auf der Als-Ob-Ebene: Ein passender und mnemotechnisch günstiger Begriff hierfür wäre Tiefensimulation.
Ganz allgemein formuliert: Hinter den Als-Ob-Produktionen, etwa den Pseudoemotionen, steckt weder ein authentischer Prozeß (nicht nachweisbar) noch ein Vakuum (rein fiktiv), sondern ein subjektiv-erfahrungsmäßiger und funktional gleichartiger Als-Ob-Prozeß. Dieser Gedankengang klingt banal, ist es aber nicht: In der Theorie tendiert man dazu, das Unechte, die Fassade als bloß Äußerliches zu betrachten, das wie ein Hindernis überwunden werden muß, um schließlich zum Eigentlichen und Inneren, eben zum authentischen Kern der Person vorzudringen."
(zitate oben: mertz, "borderline..."; s. 54)
diese verbreitete vorstellung von der harten bzw falschen schale, die den kern schützt und versteckt, hatten wir weiter oben schon mal angesprochen. und in der tat ist dieser aspekt des modells der als-ob-persönlichkeit - das sich nämlich hinter der maske nur wieder eine maske und eine maske...befindet - , der für mich immer noch verstörendste und auch bedrückendste teil. tatsächlich werden Sie in so ziemlich allen etablierten psychologischen schulen (eventuell bilden einige richtungen der verhaltenspsychologie hier die ausnahme) genau die theorie finden, die vom als-ob-modell radikal negiert wird: das authentische selbst wird wie eine naturgesetzlichkeit als grundsätzlich vorhanden vorausgesetzt. wenn aber nun - wofür es imo gute gründe gibt - davon ausgegangen wird, dass das, was wir allgemein so als selbst (persönlichkeitskern) begreifen, ganz elementar an unsere körperlichkeit gebunden ist und sich darüber gestaltet und wahrgenommen wird, wird das modell der simulativen persönlichkeit nicht mehr als völlig abwegig abgetan werden können - eben weil das notwendige funktionieren der nötigen prozesse auf der materiell-körperlichen ebene geschädigt werden kann. und zwar auch und gerade durch zerstörerische einflüsse im sozialen leben, wozu sich - als eine besondere variante - bereits das pränatale leben zählen lässt.
"Die Als-Ob-Persönlichkeit, so Helene Deutsch, `versucht affektive Erfahrung zu simulieren´, `emotionale Beziehungen zur Außenwelt oder zum eigenen Ich´ `fehlen´vollständig, sind also nicht bloß `unterdrückt´ bzw. `blockiert´.
Das kann kaum anders als folgendermaßen interpretiert werden: Der lebendige Dialog hat nicht stattgefunden, die entsprechenden Dialog-, Beziehungs- und Liebesfähigkeiten, die ja ohne authentische Emotionalität nicht denkbar sind, konnten sich beim Kind nie entwickeln. Wohlgemerkt, die authentischen Potenziale der Als-Ob-Persönlichkeit sind nicht unterdrückt oder blockiert, es verhält sich eher so, daß ein authentischer Nucleus, der zum Ausgangspunkt eines Heilungsprozesses gemacht werden könnte, nicht mehr existiert. Das authentische Potential ist nicht beantwortet worden,und deshalb erloschen, d.h. nicht mehr aktualisierbar, praktisch nicht vorhanden. So H. Deutsch. (...)
Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß es die totalsimulative Persönlichkeit, d.h. den Totalsimulanten, tatsächlich gibt."
(mertz, "borderline..."; s. 55)
ein äußerst unangenehmer und bedrohlicher gedanke, wie schon angedeutet. und möglicherweise lässt sich der als-ob-zustand auch als extremste und tiefste form dessen begreifen, was unter dem begriff entfremdung seit eh und je in gesellschafts- und sozialkritischen diskussionen zwar benannt, aber kaum jeweils einmal in einer tatsächlich "griffigen" art und weise genau in seinen konsequenzen und in seinem möglichen funktionieren beschrieben wird. ich vermag mir jedenfalls keine weitgehendere form der entfremdung - von sich selbst und der gesamten sozialen mitwelt - vorzustellen, als die lebenslängliche existenz innerhalb von virtuellen räumen, in denen weder (authentische) biographie, (authentische) identität noch die (authentische) subjektive zeit vorhanden sind.
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monoma - 24. Apr, 14:11
zur fortsetzung...