assoziation: von der (un-)möglichkeit des freien willens, perverser justiz, moral und einigem mehr
so. ich komme momentan nicht so recht bei der bearbeitung diversen materials hinterher, aber das ist ja bekanntlich nix neues. die angekündigten fortsetzungen zu den kriegen im nahen/mittleren osten, und hier als nächstes die möglichen psychophysisch-sozialen grundlagen für den islamischen fundamentalismus speziell aus sicht der psychohistorie, werden aber auf jeden fall erscheinen.
*
und manchmal kommt dann auch einfach etwas "hereingeflogen", was ich so interessant finde, dass ich es einfach vorziehen möchte - in diesem fall danke ich wieder einmal sansculotte für den hinweis auf das folgende interview mit den hirnforscher und biologen gerhard roth unter dem kontroversen versprechenden titel "Hitler und Stalin haben sich nicht freiwillig entschieden" - es geht dabei, wie der satz schon vermuten lässt, generell um das thema "freier wille" - was das überhaupt sein könnte, welche grundlagen das besitzt (oder auch nicht), und vor allem, welche gesellschaftlichen folgen die - hm, ungeprüfte unterstellung der sog. willensfreiheit für faktisch alle von uns hat. ich werde die aus meiner sicht spannendsten passagen vorstellen und kommentieren.
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"Gerhard Roths provokante These lautet: Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto weniger ist sie vom Täter wirklich gewollt. Schläger, Mörder und Massenmörder seien Getriebene in der Kindheit erworbener Hassgefühle. Gesetze hält Roth für wichtig, Gefängnisse aber für überholt."(...)
"Lieber Herr Roth, ist die Tatsache, dass ich heute ein Interview mit Ihnen führe, das Ergebnis meines freien Willens, oder bin ich neuronal gesteuert bei Ihnen gelandet?
Gerhard Roth: Weder noch. Weder ist es die Konsequenz Ihres freien Willensentschlusses - den gibt es nämlich nicht -, noch kann man sinnvoll von einer reinen neuronalen Steuerung sprechen.
Hat der Mensch überhaupt einen freien Willen, der es ihm ermöglicht, selbstbestimmt zu entscheiden?
Roth: Er hat diese Möglichkeit. Was man unter freiem Willen versteht, ist jedoch etwas äußerst Heterogenes. Man ist auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Mensch hat die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei, also aus sich heraus und auf der Basis seiner eigenen Motive, zu entscheiden."
die "fähigkeit und möglichkeit" also - das relativiert als erstes mal die absolutheit, an die wir faktisch alle gewöhnt sind, wenn wir uns mit dem "freien willen" beschäftigen, v.a. dann, wenn er zur begründung von handeln oder auch nichthandeln herangezogen wird. fähigkeiten und möglichkeiten umschreiben eigentlich ein potenzial - potenziale aber brauchen bestimmte bedingungen, um real wirksam werden zu können - sie brauchen förderung, training und - in diesem speziellen fall - auch entsprechende soziale milieus.
mit der "basis der eigenen motive" führt roth allerdings meiner meinung nach durch die hintertür wieder ein konstrukt ein, zu dem es in der realität nur annährungen geben kann - die eigenen motive so weitgehend zu verstehen, wie es hier impliziert wird, setzt eine qualität der selbsterkenntnis voraus, die zumindest unter den heutigen sozialen bedingungen schier unmöglich zu leben zu sein scheint.
"Trotzdem, damit ich es wirklich einmal verstehe: Eine der großen Errungenschaften des Menschen, mit der er sich auch vom Tier unterscheidet, ist der Glaube daran, er könne sich selbstbestimmt in seinem Leben verhalten. Dass seine Bedürfnisse auch reflektorisch zu einer Entscheidung führen, die dann zu einer Handlungsweise führt. Stimmt das?
Roth: Das stimmt. Man muss aber unterscheiden, was im philosophischen und strafrechtlichen Sinne unter Willensfreiheit verstanden wird. Im Klartext: Wir fühlen uns frei, wenn wir, wie der Philosoph David Hume sagte, tun können, was wir wollen. Wenn wir einen bestimmten Willen haben, der am besten auch noch reflektiert ist, und wenn wir nach diesem Willen handeln. Das ist ein vernünftiger Begriff von Handlungsautonomie oder von Freiheit im umgangssprachlichen Sinne. Davon unterscheidet sich völlig die Fiktion, die auf Immanuel Kant zurückgeht, es gebe bei unseren Entscheidungen einen Raum, in dem das bewusste Ich frei von allen Motiven, rein nach abstrakten Überlegungen, zum Beispiel der Rechtsmoralität, entscheiden könnte."
eine sinnvolle unterscheidung, wie ich finde. wobei der definition von hume eine permanente "unschärfe" zu eigen ist, die von roth zu wenig berücksichtigt wird.
interessant aber vor allem die kritik an der fiktion von kant - hier wird, in etwas anderen worten zwar, aber doch unverkennbar, von einem konstrukt des objektivistischen modus gesprochen, der beim obigen beispiel in einer dominanten, real unmöglichen, von der körperlichen basis losgelösten position operiert. und wie hier bereits öfter erwähnt, tut er das in einem quasi virtuellen raum, der als entstehungsort faktisch aller fiktionen funktionell unverzichtbar ist. ich fühle mich in meiner ansicht bestärkt, dass den verschiedenen strömungen gerade der westlichen philosophie spätestens seit newton (siehe auch hier ) und descartes mit allergrößter skepsis zu begegnen ist - sicher, teils sind es großartige konstruktionen - aber eben auch nur das.
"Was verstehen Sie unter Motiven?
Roth: Alle Beweggründe, die aus unseren Genen, aus unserer Hirnentwicklung, aus unseren frühkindlichen Prägungen, aus unserer späteren Sozialisierung und aus der Erfahrung resultieren und in vielfältigster Form auftreten."
würde ich soweit unterscheiben, mit zwei ergänzungen: erstens sind die genetischen grundlagen des menschen in einem großen aumaß, wie heute langsam sichtbar wird, viel flexibler und sozusagen interaktiver (und zwar mit den jeweiligen sozialen bedingungen), als früher vermutet wurde - eine starre genetische determinierung gerade sozialen verhaltens lässt sich als behauptung imo nicht mehr aufrechterhalten. und zweitens ist die hirnentwicklung (zusammen auch mit der entwicklung des nervensystems) etwas, dessen grundlagen bereits pränatal gelegt werden - und pränatal können aber auch bereits (vor allem via mütterlicher einflüsse) verschiedenste störungen bis hin zu regelrechten defekten auftreten, die sich beim werdenden menschen in funktionellen oder strukturellen beeinträchtigungen zeigen - u.a. beeinträchtigungen der selbst- und weltwahrnehmung, die besonders - aber nicht nur - im "offiziellen" autistischen spektrum eine hauptrolle spielen.
"Ich hatte immer die Überzeugung, dass ich tue, was ich will.
Roth: Das ist ja auch völlig richtig. Die Auflösung dieses Paradoxons besteht darin, dass der Mensch keinen Einblick in das hat, was den Willen formt. Wir handeln einem Gefühl entsprechend. Gleichzeitig müssen aber der Psychologe, der Neurobiologe und auch der Philosoph anerkennen, dass der Wille selber zusammengesetzt ist aus unbewussten und bewussten Motiven, aus emotionalen und rationalen. Das erleben wir selbst aber nicht. Insofern ist der Wille bedingt, und zwar durch unsere gesamte Lebensgeschichte.
Warum spiegelt das Gehirn dem Menschen den Eindruck vor, er habe ein autonomes Ich? Ist das ein Schutzmechanismus?
Roth: Am Ende ja. Wenn ich nach meinen eigenen Erwartungen handele, stellt sich in mir automatisch das Gefühl der Handlungsfreiheit ein. Das ist das Erste. Das Zweite ist, ich habe als Mensch gegenüber den Tieren fast immer Handlungsoptionen, die in dem Augenblick, in dem ich über die Option reflektiere, noch nicht festgelegt sind. Was ich heute Abend tun werde, steht in diesem Augenblick noch nicht fest. Das ist sehr wichtig, weil manche Kritiker denken, da gebe es ein Gehirn, das uhrwerkartig längst entschieden hat, ehe wir darüber reflektieren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Ich habe Optionen. Ich kann früh ins Bett gehen, ich kann ins Kino gehen, ich kann arbeiten, viele andere Dinge machen - diese realen Optionen sind ein weiteres ganz wesentliches Merkmal des Gefühls von Freiheit. Und damit ist völlig vereinbar, dass ich, wenn ich es dann tue, durch meine Motive bedingt bin."
wobei auch die als letztes erwähnten optionen eben erstmal nur das sind - möglichkeiten. ich sehe v.a. zwei einschränkungen, durch die diese möglichkeiten teils drastisch reduziert werden können: einmal sozusagen eine "interne" einschränkung, die durch krankhafte prozesse/entwicklungen im ganz allgemeinen sinne erzeugt werden kann - ein gebrochenes bein reduziert gewisse möglichkeiten, ebenso aber auch bspw. phobien und ängste.
und zum anderen entscheiden auch die sozialen bedingungen über meine (un-)möglichkeiten - und zwar gleich in zweierlei weise: zum einen können die eben erwähnten ängste eigentlich hinsichtlich ihrer ätiologien meistens nicht von diesen bedingungen getrennt werden; und anderseits hat ein millionär andere optionen zur verfügung als ein "hartzIV"-empfänger (wobei sich das bei einem phobischen millionär bspw. auch wieder relativieren kann).
das erwähnte "autonome ich" scheint mir übrigens nur ein anderes synonym für den objektivistischen modus (nach der definition von mertz) zu sein - die postulierte "autonomie" ist real unmöglich, weil wir als materielle wesen ständig in verschiedenen beziehungen und auch abhängigkeiten stecken. ich greife hier mal weit vor und behaupte, dass sich so eine art "autonomes ich" funktionell wahrscheinlich ganz zentral als reaktion auf jahrtausendealte strukturen verbreiteter gewalt begreifen lässt - eine art kollektive dissoziation im breitesten maßstab, eine bewegung weg von den (schmerzerfüllten) körpern und schmerzhaften gefühlen, hin zu den (vermeintlichen) rettungsankern in fiktiven und virtuellen räumen. es gibt dabei wahrscheinlich verschiedenen erscheinungsformen, die so eine bewegung annehmen kann - so lassen sich bspw. die verschiedenen religionen mit ihren (fiktionalen) gottheiten ebenfalls derart begreifen. in der westlichen kultur haben philosophie und wissenschaft mit ihrer impliziten körperfeindlichkeit sowie ihrem funktionellen autismus (wahrnehmungsmässig) einen anderen weg der kollektiven dissoziation aufgezeigt. möglicherweise (!) aber einen, der eine paradoxe art der selbstauflösung der allgemeinen dissoziation zumindest als option enthalten könnte.
"Aber wenn ich nicht selbstbestimmt für mein Ich entscheide, dann kann man mich auch für nichts mehr verantwortlich machen.
Roth: Das ist die große Frage, die im Augenblick sehr intensiv in der strafrechtlichen Theorie diskutiert wird. Ob es eine Verantwortung im Staatssinne ohne diese Willensfreiheit gibt. Und die Antwort ist: ja. Wir haben zwar keine absolute Verantwortlichkeit in uns, von Geburt an, irgendwo in der Großhirnrinde, wir können aber zu einer Verantwortlichkeit erzogen werden. Das heißt, wir können durch Erziehung erreichen, dass jeder Mensch verantwortlich handelt, nämlich im Rahmen von Normen, die ihm vorgegeben werden."
nochmals die implizite betonung der option der durch den sog. freien willen möglichen verantwortlichkeit also. "erziehung" sollte hier imo nicht in der klassischen form begriffen werden - letztlich muss dieser prozeß bereits bei der schaffung von angemessenen, unterstützenden und gewaltfreien lebensbedingungen (nicht nur) von schwangeren frauen beginnen. und bei einer ganz wesentlich größeren bewusstheit bezgl der motivationen eigener kinderwünsche überhaupt.
und die erwähnten (sozialen) normen können selbstverständlich nicht die heutigen sein, die bspw. von den konstrukten "eigentum" und "objektivität" einen regelrecht perversen charakter verpasst bekommen haben. auf dieses problem verweist auch die nächste frage:
Wird der Mensch dadurch nicht absolut bestimmt von denjenigen, die die Herrschaft über die jeweiligen Normen der Zeit haben?
Roth: Überhaupt nicht. Die Erziehung durch die Gesellschaft ist nur eine von mehreren Komponenten. Zunächst gibt es meine genetische Ausrichtung.
Diese ist in der Regel schwach, sie liegt bei 10 bis 15 Prozent. Der allergrößte Teil ist das, was wir als Kind und als früher Jugendlicher erfahren haben. Das verfestigt sich einmal zur Persönlichkeit im individuellen Sinne, aber auch zur Persönlichkeit im sozialen Sinne. Das legt fest, wie ich später handele. Ob ich zum Beispiel der Staatsmacht widerstehe, weil ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, das mir beibringt, ungerechten Maßnahmen zu widerstehen. Interessant ist, dass sich diese frühe Kindheitserfahrung im Gehirn manifestiert. Also: Was ich als Kind erlebe, dringt in mein Gehirn ein und verändert es."
yo. wieder mit der erweiterung der pränatalen phase. ansonsten finde ich die obigen aussagen sehr erfreulich in dem sinne, das endlich einmal der heutige wissenstand bezgl. der menschlichen entwicklung deutlich mit art und form der daraus resultierenden gesellschaft(-en) verbunden wird, zumindest ansatzweise (aber man(n) ist ja bereits für wenig dankbar...)
und jetzt zu einem ganz heißen eisen:
"Sollte man die Kategorie Schuld im Strafrecht abschaffen?
Roth: Nein. Es gibt ja zwei große Kategorien von Schuld. Einmal die Sühne und Vergeltungsschuld. Die ist abzuschaffen, wie der Strafrechtstheoretiker Klaus Roxin schon gefordert hat. Andere Rechtstheoretiker wie Franz von Liszt sagen, wir müssen den Schuldbegriff aus bestimmten Gründen beibehalten, aber ihn auf die General- und Spezialprävention einschränken. Also auf die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die Abschreckung, die Therapie und das Wegsperren. Den Schuldbegriff brauchen wir aber im Sinne einer anerzogenen Verantwortung, um - so argumentiert zum Beispiel Klaus Roxin - der Strafe ein Maß zu geben. Damit der Staat zum Beispiel nicht übermäßig straft. Das ist aber ein nicht ausgearbeitetes Konzept.
Lassen Sie mich ein wenig polemisieren. Wie gehe ich mit der moralischen Bewertung und Verurteilung eines Adolf Hitler oder eines Slobodan Milosevic um, wenn ich bei einem Dieb gesagt habe, das, was dieser Täter gemacht hat, war nicht willentlich?
Roth: Es gibt etwas, das ich Schuldparadoxon genannt habe. Das Schwere im moralischen Sinne ist die Tat. Alle Untersuchungen zeigen jedoch, dass je verabscheuungswürdiger das ist, was jemand getan hat, also auch Stalin oder Hitler, desto klarer die Einsicht ist, dass die Leute nichts dafür konnten. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, sondern sie wurden aus extrem starken Motiven dazu getrieben. Das ist bei Hitler und bei Stalin so, ebenso bei Gewalttätern und Pädophilen. Das ist sonnenklar für jeden Fachmann."
ha! endlich! endlich wird einmal begonnen, die absurde und katastrophal falsche basis der heutigen justiz zu thematisieren, ihre pseudounabhängigkeit, die pseudoobjektivität ihrer richterInnen und nicht zuletzt die durch und durch objektivistische qualität ihrer gesetze, die wie ein abstraktes raster über der gesamten gesellschaft liegen, und gerade durch ihre abstraktion in ihrer heutigen form v.a. als machtinstrument dienen.
was ich mit dem letzten satz konkret meine? "gesetze" im heutigen sinne gehen ganz zentral erstens von einer vorausgesetzten und auf alle fälle vorhandenen verantwortlichkeit von menschen aus, die jedoch - gerade unter den herrschenden sozialen bedingungen, die wiederum ganz entscheidend von unser aller traumatischen kollektiven und auch vielfach individuellen geschichte bestimmt werden, eben - und das ist meine persönliche meinung - hauptsächlich nur als option vorhanden ist. zweitens, und der punkt hängt in gewisser weise mit dem ersten zusammen: sie sind ihrem wesen nach reduktionistisch, d.h. sie berücksichtigen nicht die beziehungsrealitäten des menschen, sondern gehen faktisch von einer isolierten, vereinzelten monade aus, die primär von ihrer vernunft geleitet wird - und dazu ein set hauptsächlich negativer an"triebe" wie neid, gier usw. besitzt. und im letzteren, damit zum dritten punkt, reproduzieren sie völlig bewußtlos die traumainduzierte negative anthropologie, die sich heute überall in dieser gesellschaft beobachten lässt (achten Sie nur mal drauf, wie oft Ihnen folgende aussagen begegnen - "der mensch ist von natur aus schlecht", "ein irrläufer der evolution" usw.)
ich habe hier in der vergangenheit gerade anläßlich verschiedener prozesse gegen kindsmordende bzw. gewalttätige eltern bereits ähnliches zur justiz anzumerken gehabt - und einiges meiner damaligen kritiken kann ich jetzt wiederholen - so zb. diese:
(...)"hat der gutachter kröber mit seinen fragwürdigen einlassungen hier vielleicht bewusst geschützt und gerade deshalb unfreiwillig offenbart, was nicht öffentlich und breit bewusst werden darf und soll? das eine nüchterne rekonstruktion der ereignisse unter einschluss der transgenerationalen familiendynamiken nicht nur die kette der gewalt, sondern auch unser aller gesellschaftliches versagen, unsere quasiakzeptanz dieser kette deutlich machen würde? mussten die beiden eltern alleine schon zur aufrechterhaltung des eigentlich unhaltbaren juristischen schuldbegriffs und menschenbildes auf alle fälle voll "schuldfähig" gesprochen werden? werden damit nicht auch die deutlichen widersprüche der staatlichen und politischen propaganda, die sich familien- und besonders kinder"freundlich" gibt, zur realität von politischen entscheidungen deutlich, die durch ökonomische verelendung genau die milieubedingungen fördert, in denen offene gewalt oder stille verwahrlosung von ganzen familien bevorzugt gedeihen, unter den teppich gekehrt? genauso wie die offenkundige unfähigkeit der offiziellen psychiatrie, zustände von wahnsinn - ausgelöst durch menschliche gewalt - korrekt zu erkennen und eben nicht durch die alleinige orientierung an scheinbarer "realitätstüchtigkeit" und "objektiv" vorhandener kognitiver intelligenz komplett zu leugnen und auf eine "als-ob"-simulation hereinzufallen (genauso werden auch die vielen hitlers dieser welt aus dieser sphäre des wahnsinns ferngehalten herausdefiniert - es wäre ja auch zu gefährlich, das zu erkennen und gleichzeitig nach der inneren verfassung der den "führern" folgenden massen fragen zu müssen)? müssen deshalb auch auschwitz (bzw. das, wofür es steht) und ereignisse wie das hier thematisierte regelmäßig als "leider völlig unerklärbar" bezeichnet werden?"(...)
und der folgende auszug lässt sich nach meinem verständnis als direkte weiterführung der ausführungen von roth oben verstehen:
(...)"ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.
vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste."(...)
kurz: unsere ach so "rechtsstaatlich-demokratische" justiz und ihre gesetze sind im kern ganz wesentlich von einer verzerrten anthropologie geprägt, die eine im strengen sinne pathologische und wahnsinnige version des menschlichen seins für "normal" hält.
entsprechend erbarmungslos und pathologieerzeugend sieht dann auch ihre praxis aus.es bleibt immer weniger bei der frage offen, ob dieser art von justiz noch irgendeine art von berechtigung zugestanden werden soll bzw. kann. (und um mißverständnisse an dieser stelle auszuschließen: die justiz stellt nur einen gesellschaftlichen bereich dar, in dem ganz grundsätzlich etwas falsch läuft).
weiter im interview:
"Wie soll eine Gesellschaft mit solchen Menschen künftig umgehen?
Roth: Es wird ja überhaupt nichts im weiteren Sinne entschuldigt. Sondern es geht darum, dass dieser Sühne- und Vergeltungsschuldbegriff inhuman ist. Er sinnt nämlich auf Rache. Dazu eine kurze historische Betrachtung: Früher wurde es als persönliches Verschulden angesehen, wenn man in Armut geriet oder krank wurde. Man war persönlich schuldig. Heute haben wir uns davon befreit - so wie von der Selbstjustiz. Aber vor 150 Jahren wollte kaum jemand anerkennen, dass Krankheiten durch Bakterien und Viren verursacht werden und nicht durch göttliche Fügung. Es wurde gesagt, es werde schon was dran sein, weshalb der oder die schwer krank geworden sei. Das ist ein Lernprozess. Ich behaupte, dieser Vergeltungs- und Sühneschuldbegriff ist inhuman. Der Therapiegedanke, der Besserungsgedanke wird dadurch nachweislich abgeschafft."
der vorletzte satz trifft es haargenau. und ich finde neben anderem v.a. immer wieder die heuchelei dieser gesellschaft extrem widerlich, die sich im falschen glanz ihrer fetische "rationalität" und "vernunft" sonnt, um dann in den entscheidenden momenten deutlich zu machen, dass es sich dabei um abgehobene konstrukte handelt - und dann folglich in der verdrängten, verleugneten, abgespaltenen und (zumindest in europa) tabuisierten ebene verzerrter und bösartig gewordener gefühle wie rache zu landen.
"Ist ein Mensch wie Hitler im hirnbiologischen Erkenntnisprozess therapierbar?
Roth: Eine völlig offene Frage. Schwerverbrecher und Mörder haben alle schwerste Hirnschäden im Stirnbereich, das belegen Untersuchungen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Leuten, die auch solche Schäden haben und nicht kriminell geworden sind. Man vermutet, dass das Gehirn, durch verschiedene Umstände begünstigt, die Möglichkeit hat, das zu reparieren, ob nun organisch oder durch eine sehr frühe Therapie.
Überträgt man Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die geisteswissenschaftliche Ebene, dann stellt sich bei Hitler der Offenbarungseid jeder Moraltheorie ein.
Roth: Das ist nicht richtig. Wenn es eine Moral gibt, die das, was Hitler getan hat, für verabscheuungswürdig hält, weil es das friedliche Zusammenleben der Menschen und das Glück des Einzelnen völlig zerstört, dann muss man untersuchen, ab wann solche psychopathologischen Entwicklungen einsetzen. Und die Erkenntnis lautet, sehr früh, bereits im Alter von vier oder fünf Jahren. Schon ein kleiner Junge, der sich so und so auf dem Schulhof verhält, ist höchst gefährdet, ein späterer Gewalttäter zu werden. Das ist nicht sicher, aber die Gefährdung ist sehr hoch. Und die Moral setzt genau dort an. Dass man beschließt, das müssen wir vermeiden, weil der Junge nämlich sonst das friedliche und glückliche Zusammenleben in der Gesellschaft stören würde."
was roth im letzten absatz ausspricht, ist und bleibt für mich unter den heutigen (!) gesellschaftlichen bedingungen und machtverhältnissen eine extrem zwiespältige angelegenheit - auch, wenn ich neue formen der prophylaxe und früherkennung von antisozialen tendenzen grundsätzlich befürworte - allerdings ausdrücklich unter einschluß derjenigen schichten, die sich heute als sog. eliten begreifen.
und das ich von "moral" in den hier diskutierten zusammenhängen nicht viel halte, lässt sich z.t. hier nachlesen. das vorhandensein von moral - d.h. abstrahierten handlungsanweisungen - innerhalb einer gesellschaft bleibt für mich weiter eher als indiz für grundsätzlich gestörte kollektive und individuelle selbstregulation bestehen.
"Die Gesellschaft kann doch die frühkindliche Entwicklung kaum beeinflussen. Sie vollzieht sich in den Familien.
Roth: Das ist eben die Tragik. Wir haben eine moralische Vorstellung von der Familie, dass sie eben das tun kann, was sie will. Aber wenn wir verhindern wollen, dass etwa fünf Prozent der Jungen schwer gewaltbereit werden, dann müssen wir dieses Tabu brechen. Und das wird ja auch äußerst erfolgreich von Kolleginnen und Kollegen von mir bei der frühkindlichen Therapie gemacht. Gerade wenn wir erkennen, dass Menschen moralisch gefährdet sind, hat die Gesellschaft die Verpflichtung, einzugreifen. Und dabei gilt: Je später man eingreift, umso weniger wirksam ist es."
auch das unterschreibe ich, aber mit einer gewaltigen einschränkung: wieder können unter den heutigen machtverhältnissen die nötigen veränderungen und auch eventuelle eingriffe in dysfunktionale familien eigentlich nicht stattfinden, ohne sofort die gefahr extrem destruktiver nutzung seitens der herrschenden eliten hervorzurufen.
"Lassen Sie mich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Mit Descartes entstand die Hoffnung des Denkens und mit Kant die Vernunft als Mittelpunkt des Seins. War das alles nur eine Illusion?
Roth: Ja, es war Illusion für jeden Menschenkenner seit 200 000 Jahren. Alle großen Denker haben immer gewusst, dass das eine Illusion ist. Es war eine verständliche Illusion, vielleicht sogar eine staatsnotwendige Illusion. Aber es war eine Illusion. Jeder Politiker mit Menschenkenntnis weiß, dass Rationalität sehr wichtig ist, dass man aber am besten nicht allein auf sie baut. Alle Eltern mit mehr als einem Kind wissen, dass vom Temperament, also vom Kern der Persönlichkeit her, die Kinder so bleiben, wie sie bei der Geburt sind. Gerade bei Kant ist es wunderschön zu sehen. Wenn Kant selber sagt, niemand könne sich vorstellen, wie dieser freie Wille funktionieren soll. Kant meinte eben, es müsse so sein, weil sonst moralisches Handeln nicht möglich wäre. Ich und viele andere sagen nun: Wenn wir die Verabscheuungswürdigkeit von Taten trennen von dem abstrakten Willen, dann können wir unseren moralischen Anspruch aufrechterhalten."
yo. wie schön, das zu lesen: diese gesellschaft, nein sogar die "kultur", in der sie verankert ist, ist in ihren selbstvorstellungen und ihrem weltbild bei realistischer betrachtung, d.h. unter berücksichtigung einer annährend korrekten anthropologie, auf sand gebaut - auf objektivistische fiktionen, illusionen - letztlich also einen bereich, dem ebenso die übelsten psychotischen individuellen wie auch kollektiven wahnvorstellungen entspringen, in deren offene formen ja die "normalen" illusionen auch immer wieder kippen - vielleicht das deutlichste beispiel dafür ist bis heute der nationalsozialismus. das roth das als "vielleicht sogar staatsnotwendige illusionen" bezeichnet, stellt - wenn auch vielleicht ungewollt - eine sehr wahre aussage über unsere situation dar.
"Woher nimmt man die Legitimation, bestimmte Normen für eine Gesellschaft festzulegen und andere nicht auch zu respektieren?
Roth: Darauf kann man eine klare Antwort geben. Ein ganz kleiner Teil unserer Normen liegt bereits in unseren Genen. Wir bringen zum Beispiel unsere Eltern nicht um. Wir schaden unseren nächsten Verwandten in aller Regel nicht. Aber im Tierreich gibt es Mord und Totschlag und beim Menschen eben auch. Ich behaupte, die Mehrzahl der Menschen folgt einer Art Steinzeitmenschen-Code, der während der frühen psychosozialen Erfahrung festgelegt wird und uns bestimmte Dinge tun lässt. Es gibt kein weiteres Gewissen. Nehmen Sie einen Jungen, der in Bogotá aufwächst, wo ich eine Zeit lebte. Der wird einen Menschen wegen eines Dollars umbringen und nicht die geringste Reue dabei empfinden. Weil er gelernt hat, wenn ich das nicht tue, dann sterbe ich. Der Straßenjunge bringt zwar nicht seinen Vater um. Aber ein Nichtverwandter bedeutet ihm nichts.
Ist das die Steinzeitkultur?
Roth: Ja. Wenn ein Fremder kommt und sich nähert, muss man ihn erschlagen. Das ist moralisch gut, moralisch geboten. In der Steinzeit war es nämlich so: Wenn einer kam, wollte er mein Kind, meine Frau und mein Vieh wegnehmen. Skrupel hatte man nur gegenüber Verwandten. Und dieser Junge in Bogotá, wenn der einen Touristen umbringt, warum sollte das aus seiner Sicht verwerflich sein? Im Gegenteil, es ist ja ganz toll, er bekommt dadurch einen Dollar oder eine goldene Uhr. Hier sieht man, es gibt nachweislich keine Moral jenseits dieser schwachen genetisch verankerten Moral. Das heißt, was wir uns an weitergehender Moral erworben haben, entstand nur durch in Tausenden von Jahren bitter bezahlte Einsichten. Dass es Regeln gibt, wie Menschen zusammenleben, und dass man sie tunlichst beachten sollte."
einspruch: roth vergisst hier u.a. schlicht die erkenntnisse der heutigen psychotraumatologie. der "junge in bogotá" nämlich stammt aller wahrscheinlichkeit nach aus einem milieu, welches voll von gewalt ist - und zwar akzeptierter und gewohnheitsmässiger gewalt. wie sind die sozialen fähigkeiten der eltern? wie sieht es mit den verschiedenen möglichen deprivationen durch bitterste armut aus? was spielt ein gewalttätiger staat (und als solches lässt sich das heutige kolumbien durchaus bezeichnen) für eine rolle, in dem übergriffe des militärs und folter zur "normalität" gehören? todesschwadronen? und dazu die offen mafiösen strukturen der diversen narco-kartelle?
ich brauche keine "steinzeitkultur" zu bemühen, um selbst eine negative genetische determinierung anzunehmen - wenn nämlich diese traumatischen gewaltformen wie die obigen über generationen vorhanden sind, dann steigt die wahrscheinlichkeit entsprechender genetischer "anpassungen" zwecks bloßen überlebens rapide an. und von den sonstigen anzunehmenden negativen psychophysischen prägungen durch extrem negative und destruktive lebensbedingungen brauchen wir erst gar nicht anzufangen. kurz: ich halte den "steinzeitmenschen-code" im wesentlichen für ein mehr oder weniger unbewusstes entlastungskonstrukt. wer und was hier entlastet werden soll, muss ich hoffentlich nicht noch extra erwähnen.
im nächsten absatz widerspricht er sich diesbezgl. meiner meinung nach selbst:
"Glauben Sie an die Vision eines friedlichen, guten Menschen im Sinne dieser Moral?
Roth: Ja, natürlich. Wenn Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl besitzen und ein gutes Frustrationstoleranzsystem, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung hatten und eine günstige psychosoziale Umwelt, dann sind sie empfänglich für die Normen der Gesellschaft. Das ist die große Chance, die wir haben. Und deshalb sind ja auch 95 Prozent der Menschen friedlich und bringen sich nicht um. Es sind fünf Prozent, die aus physiologischen Gründen oder wegen früher Traumatisierungen eben so sind, wie sie sind. Und bei Stalin, Hitler und anderen ist das ja auch aus den Biografien erklärbar."
also, es geht auch ohne "steinzeit-code" - genau die benannten bedingungen sind eben beim jungen aus bogotá nur rudimentär bis gar nicht vorhanden.
ich befürchte allerdings, dass die "fünf prozent" eine gewaltige fehleinschätzung darstellen.
"Sie beschreiben etwas, das in der Wissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert wird. Was ist das Neue an diesen Erkenntnissen?
Roth: Das Neue an den Erkenntnissen meiner Zunft ist, dass man Dinge empirisch experimentell nachweisen kann. Also die Frage, ob frühkindliche Erfahrungen wirklich den Einfluss haben, den Freud und andere ihnen unterstellt haben. Das war bis vor Kurzem nicht überprüfbar. Die Antwort heißt nun: Es gibt diese Einflüsse, aber in komplizierter Wechselwirkung mit den Genen, mit der Hirnentwicklung und mit der späteren psychosozialen Verhaltensweise. Auch die alte Frage "Ist der Mensch eher durch seine Gene oder durch die Gesellschaft determiniert?" galt bis vor Kurzem als unentscheidbar. Heute können wir eine sehr befriedigende Antwort darauf geben, rein empirisch experimentell. Wir können nachweisen, wie die Gene das Verhalten bestimmen, wie die Mutter-Kind-Beziehung ins Gehirn eingreift - schon vor der Geburt. Und wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich als Kind selbst Opfer von Gewalt wurde, mein Gehirn negativ verändert. Es gibt Tausende von Untersuchungen, die belegen: Menschen sind durch ihre frühe psychosoziale Erfahrung extrem beeinflusst. Man kann es im Gehirn zeigen."
und das obige sollten, nein sogar müssen wir uns allesamt hinter die ohren schreiben! genau hier liegt ein wesentlicher teil der basis, ohne die zukünftig keinerlei positive soziale entwicklung konzipiert und durchgeführt werden kann.
"Ist eigentlich die Institution Gefängnis nach dem, wie Sie Schuld, Schuldfähigkeit, Schuldbewusstsein und freien Willen definieren, überhaupt noch zeitgemäß?
Roth: Alle Experten, mit denen ich zu tun habe, sagen: nein. Durch das Gefängnis wird der erste Teil des Schuld- und Strafbegriffs bedient, nämlich Vergeltung und Sühne. Und der genauso wichtige Begriff der General- und Spezialprävention, also des Vorbeugens weiterer Taten, wird sehr niedrig gehandelt aus vielerlei Gründen, weil es unglaublich viel kostet und weil viele Dinge noch gar nicht untersucht sind. Das wird von vielen Strafrechtstheoretikern, Strafrechtlern und auch Kriminologen beklagt."(...)
und dem bleibt aus meiner sicht nur noch hinzuzufügen, dass gefängnisse nicht umsonst das synonym "schule des verbrechens" tragen - hier wird (im drittletzten absatz von unten) ein sehr eindrückliches beispiel dafür beschrieben. dafür werden u.a. Ihre steuern benutzt, neben der finanzierung von all dem anderen destruktiven zeug wie den sog. sicherheitsorganen, militär, fragwürdiger großtechnologie undundund...
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ob die "welt" wohl weiß, was sie da eigentlich veröffentlicht hat?
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und manchmal kommt dann auch einfach etwas "hereingeflogen", was ich so interessant finde, dass ich es einfach vorziehen möchte - in diesem fall danke ich wieder einmal sansculotte für den hinweis auf das folgende interview mit den hirnforscher und biologen gerhard roth unter dem kontroversen versprechenden titel "Hitler und Stalin haben sich nicht freiwillig entschieden" - es geht dabei, wie der satz schon vermuten lässt, generell um das thema "freier wille" - was das überhaupt sein könnte, welche grundlagen das besitzt (oder auch nicht), und vor allem, welche gesellschaftlichen folgen die - hm, ungeprüfte unterstellung der sog. willensfreiheit für faktisch alle von uns hat. ich werde die aus meiner sicht spannendsten passagen vorstellen und kommentieren.
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"Gerhard Roths provokante These lautet: Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto weniger ist sie vom Täter wirklich gewollt. Schläger, Mörder und Massenmörder seien Getriebene in der Kindheit erworbener Hassgefühle. Gesetze hält Roth für wichtig, Gefängnisse aber für überholt."(...)
"Lieber Herr Roth, ist die Tatsache, dass ich heute ein Interview mit Ihnen führe, das Ergebnis meines freien Willens, oder bin ich neuronal gesteuert bei Ihnen gelandet?
Gerhard Roth: Weder noch. Weder ist es die Konsequenz Ihres freien Willensentschlusses - den gibt es nämlich nicht -, noch kann man sinnvoll von einer reinen neuronalen Steuerung sprechen.
Hat der Mensch überhaupt einen freien Willen, der es ihm ermöglicht, selbstbestimmt zu entscheiden?
Roth: Er hat diese Möglichkeit. Was man unter freiem Willen versteht, ist jedoch etwas äußerst Heterogenes. Man ist auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Mensch hat die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei, also aus sich heraus und auf der Basis seiner eigenen Motive, zu entscheiden."
die "fähigkeit und möglichkeit" also - das relativiert als erstes mal die absolutheit, an die wir faktisch alle gewöhnt sind, wenn wir uns mit dem "freien willen" beschäftigen, v.a. dann, wenn er zur begründung von handeln oder auch nichthandeln herangezogen wird. fähigkeiten und möglichkeiten umschreiben eigentlich ein potenzial - potenziale aber brauchen bestimmte bedingungen, um real wirksam werden zu können - sie brauchen förderung, training und - in diesem speziellen fall - auch entsprechende soziale milieus.
mit der "basis der eigenen motive" führt roth allerdings meiner meinung nach durch die hintertür wieder ein konstrukt ein, zu dem es in der realität nur annährungen geben kann - die eigenen motive so weitgehend zu verstehen, wie es hier impliziert wird, setzt eine qualität der selbsterkenntnis voraus, die zumindest unter den heutigen sozialen bedingungen schier unmöglich zu leben zu sein scheint.
"Trotzdem, damit ich es wirklich einmal verstehe: Eine der großen Errungenschaften des Menschen, mit der er sich auch vom Tier unterscheidet, ist der Glaube daran, er könne sich selbstbestimmt in seinem Leben verhalten. Dass seine Bedürfnisse auch reflektorisch zu einer Entscheidung führen, die dann zu einer Handlungsweise führt. Stimmt das?
Roth: Das stimmt. Man muss aber unterscheiden, was im philosophischen und strafrechtlichen Sinne unter Willensfreiheit verstanden wird. Im Klartext: Wir fühlen uns frei, wenn wir, wie der Philosoph David Hume sagte, tun können, was wir wollen. Wenn wir einen bestimmten Willen haben, der am besten auch noch reflektiert ist, und wenn wir nach diesem Willen handeln. Das ist ein vernünftiger Begriff von Handlungsautonomie oder von Freiheit im umgangssprachlichen Sinne. Davon unterscheidet sich völlig die Fiktion, die auf Immanuel Kant zurückgeht, es gebe bei unseren Entscheidungen einen Raum, in dem das bewusste Ich frei von allen Motiven, rein nach abstrakten Überlegungen, zum Beispiel der Rechtsmoralität, entscheiden könnte."
eine sinnvolle unterscheidung, wie ich finde. wobei der definition von hume eine permanente "unschärfe" zu eigen ist, die von roth zu wenig berücksichtigt wird.
interessant aber vor allem die kritik an der fiktion von kant - hier wird, in etwas anderen worten zwar, aber doch unverkennbar, von einem konstrukt des objektivistischen modus gesprochen, der beim obigen beispiel in einer dominanten, real unmöglichen, von der körperlichen basis losgelösten position operiert. und wie hier bereits öfter erwähnt, tut er das in einem quasi virtuellen raum, der als entstehungsort faktisch aller fiktionen funktionell unverzichtbar ist. ich fühle mich in meiner ansicht bestärkt, dass den verschiedenen strömungen gerade der westlichen philosophie spätestens seit newton (siehe auch hier ) und descartes mit allergrößter skepsis zu begegnen ist - sicher, teils sind es großartige konstruktionen - aber eben auch nur das.
"Was verstehen Sie unter Motiven?
Roth: Alle Beweggründe, die aus unseren Genen, aus unserer Hirnentwicklung, aus unseren frühkindlichen Prägungen, aus unserer späteren Sozialisierung und aus der Erfahrung resultieren und in vielfältigster Form auftreten."
würde ich soweit unterscheiben, mit zwei ergänzungen: erstens sind die genetischen grundlagen des menschen in einem großen aumaß, wie heute langsam sichtbar wird, viel flexibler und sozusagen interaktiver (und zwar mit den jeweiligen sozialen bedingungen), als früher vermutet wurde - eine starre genetische determinierung gerade sozialen verhaltens lässt sich als behauptung imo nicht mehr aufrechterhalten. und zweitens ist die hirnentwicklung (zusammen auch mit der entwicklung des nervensystems) etwas, dessen grundlagen bereits pränatal gelegt werden - und pränatal können aber auch bereits (vor allem via mütterlicher einflüsse) verschiedenste störungen bis hin zu regelrechten defekten auftreten, die sich beim werdenden menschen in funktionellen oder strukturellen beeinträchtigungen zeigen - u.a. beeinträchtigungen der selbst- und weltwahrnehmung, die besonders - aber nicht nur - im "offiziellen" autistischen spektrum eine hauptrolle spielen.
"Ich hatte immer die Überzeugung, dass ich tue, was ich will.
Roth: Das ist ja auch völlig richtig. Die Auflösung dieses Paradoxons besteht darin, dass der Mensch keinen Einblick in das hat, was den Willen formt. Wir handeln einem Gefühl entsprechend. Gleichzeitig müssen aber der Psychologe, der Neurobiologe und auch der Philosoph anerkennen, dass der Wille selber zusammengesetzt ist aus unbewussten und bewussten Motiven, aus emotionalen und rationalen. Das erleben wir selbst aber nicht. Insofern ist der Wille bedingt, und zwar durch unsere gesamte Lebensgeschichte.
Warum spiegelt das Gehirn dem Menschen den Eindruck vor, er habe ein autonomes Ich? Ist das ein Schutzmechanismus?
Roth: Am Ende ja. Wenn ich nach meinen eigenen Erwartungen handele, stellt sich in mir automatisch das Gefühl der Handlungsfreiheit ein. Das ist das Erste. Das Zweite ist, ich habe als Mensch gegenüber den Tieren fast immer Handlungsoptionen, die in dem Augenblick, in dem ich über die Option reflektiere, noch nicht festgelegt sind. Was ich heute Abend tun werde, steht in diesem Augenblick noch nicht fest. Das ist sehr wichtig, weil manche Kritiker denken, da gebe es ein Gehirn, das uhrwerkartig längst entschieden hat, ehe wir darüber reflektieren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Ich habe Optionen. Ich kann früh ins Bett gehen, ich kann ins Kino gehen, ich kann arbeiten, viele andere Dinge machen - diese realen Optionen sind ein weiteres ganz wesentliches Merkmal des Gefühls von Freiheit. Und damit ist völlig vereinbar, dass ich, wenn ich es dann tue, durch meine Motive bedingt bin."
wobei auch die als letztes erwähnten optionen eben erstmal nur das sind - möglichkeiten. ich sehe v.a. zwei einschränkungen, durch die diese möglichkeiten teils drastisch reduziert werden können: einmal sozusagen eine "interne" einschränkung, die durch krankhafte prozesse/entwicklungen im ganz allgemeinen sinne erzeugt werden kann - ein gebrochenes bein reduziert gewisse möglichkeiten, ebenso aber auch bspw. phobien und ängste.
und zum anderen entscheiden auch die sozialen bedingungen über meine (un-)möglichkeiten - und zwar gleich in zweierlei weise: zum einen können die eben erwähnten ängste eigentlich hinsichtlich ihrer ätiologien meistens nicht von diesen bedingungen getrennt werden; und anderseits hat ein millionär andere optionen zur verfügung als ein "hartzIV"-empfänger (wobei sich das bei einem phobischen millionär bspw. auch wieder relativieren kann).
das erwähnte "autonome ich" scheint mir übrigens nur ein anderes synonym für den objektivistischen modus (nach der definition von mertz) zu sein - die postulierte "autonomie" ist real unmöglich, weil wir als materielle wesen ständig in verschiedenen beziehungen und auch abhängigkeiten stecken. ich greife hier mal weit vor und behaupte, dass sich so eine art "autonomes ich" funktionell wahrscheinlich ganz zentral als reaktion auf jahrtausendealte strukturen verbreiteter gewalt begreifen lässt - eine art kollektive dissoziation im breitesten maßstab, eine bewegung weg von den (schmerzerfüllten) körpern und schmerzhaften gefühlen, hin zu den (vermeintlichen) rettungsankern in fiktiven und virtuellen räumen. es gibt dabei wahrscheinlich verschiedenen erscheinungsformen, die so eine bewegung annehmen kann - so lassen sich bspw. die verschiedenen religionen mit ihren (fiktionalen) gottheiten ebenfalls derart begreifen. in der westlichen kultur haben philosophie und wissenschaft mit ihrer impliziten körperfeindlichkeit sowie ihrem funktionellen autismus (wahrnehmungsmässig) einen anderen weg der kollektiven dissoziation aufgezeigt. möglicherweise (!) aber einen, der eine paradoxe art der selbstauflösung der allgemeinen dissoziation zumindest als option enthalten könnte.
"Aber wenn ich nicht selbstbestimmt für mein Ich entscheide, dann kann man mich auch für nichts mehr verantwortlich machen.
Roth: Das ist die große Frage, die im Augenblick sehr intensiv in der strafrechtlichen Theorie diskutiert wird. Ob es eine Verantwortung im Staatssinne ohne diese Willensfreiheit gibt. Und die Antwort ist: ja. Wir haben zwar keine absolute Verantwortlichkeit in uns, von Geburt an, irgendwo in der Großhirnrinde, wir können aber zu einer Verantwortlichkeit erzogen werden. Das heißt, wir können durch Erziehung erreichen, dass jeder Mensch verantwortlich handelt, nämlich im Rahmen von Normen, die ihm vorgegeben werden."
nochmals die implizite betonung der option der durch den sog. freien willen möglichen verantwortlichkeit also. "erziehung" sollte hier imo nicht in der klassischen form begriffen werden - letztlich muss dieser prozeß bereits bei der schaffung von angemessenen, unterstützenden und gewaltfreien lebensbedingungen (nicht nur) von schwangeren frauen beginnen. und bei einer ganz wesentlich größeren bewusstheit bezgl der motivationen eigener kinderwünsche überhaupt.
und die erwähnten (sozialen) normen können selbstverständlich nicht die heutigen sein, die bspw. von den konstrukten "eigentum" und "objektivität" einen regelrecht perversen charakter verpasst bekommen haben. auf dieses problem verweist auch die nächste frage:
Wird der Mensch dadurch nicht absolut bestimmt von denjenigen, die die Herrschaft über die jeweiligen Normen der Zeit haben?
Roth: Überhaupt nicht. Die Erziehung durch die Gesellschaft ist nur eine von mehreren Komponenten. Zunächst gibt es meine genetische Ausrichtung.
Diese ist in der Regel schwach, sie liegt bei 10 bis 15 Prozent. Der allergrößte Teil ist das, was wir als Kind und als früher Jugendlicher erfahren haben. Das verfestigt sich einmal zur Persönlichkeit im individuellen Sinne, aber auch zur Persönlichkeit im sozialen Sinne. Das legt fest, wie ich später handele. Ob ich zum Beispiel der Staatsmacht widerstehe, weil ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, das mir beibringt, ungerechten Maßnahmen zu widerstehen. Interessant ist, dass sich diese frühe Kindheitserfahrung im Gehirn manifestiert. Also: Was ich als Kind erlebe, dringt in mein Gehirn ein und verändert es."
yo. wieder mit der erweiterung der pränatalen phase. ansonsten finde ich die obigen aussagen sehr erfreulich in dem sinne, das endlich einmal der heutige wissenstand bezgl. der menschlichen entwicklung deutlich mit art und form der daraus resultierenden gesellschaft(-en) verbunden wird, zumindest ansatzweise (aber man(n) ist ja bereits für wenig dankbar...)
und jetzt zu einem ganz heißen eisen:
"Sollte man die Kategorie Schuld im Strafrecht abschaffen?
Roth: Nein. Es gibt ja zwei große Kategorien von Schuld. Einmal die Sühne und Vergeltungsschuld. Die ist abzuschaffen, wie der Strafrechtstheoretiker Klaus Roxin schon gefordert hat. Andere Rechtstheoretiker wie Franz von Liszt sagen, wir müssen den Schuldbegriff aus bestimmten Gründen beibehalten, aber ihn auf die General- und Spezialprävention einschränken. Also auf die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die Abschreckung, die Therapie und das Wegsperren. Den Schuldbegriff brauchen wir aber im Sinne einer anerzogenen Verantwortung, um - so argumentiert zum Beispiel Klaus Roxin - der Strafe ein Maß zu geben. Damit der Staat zum Beispiel nicht übermäßig straft. Das ist aber ein nicht ausgearbeitetes Konzept.
Lassen Sie mich ein wenig polemisieren. Wie gehe ich mit der moralischen Bewertung und Verurteilung eines Adolf Hitler oder eines Slobodan Milosevic um, wenn ich bei einem Dieb gesagt habe, das, was dieser Täter gemacht hat, war nicht willentlich?
Roth: Es gibt etwas, das ich Schuldparadoxon genannt habe. Das Schwere im moralischen Sinne ist die Tat. Alle Untersuchungen zeigen jedoch, dass je verabscheuungswürdiger das ist, was jemand getan hat, also auch Stalin oder Hitler, desto klarer die Einsicht ist, dass die Leute nichts dafür konnten. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, sondern sie wurden aus extrem starken Motiven dazu getrieben. Das ist bei Hitler und bei Stalin so, ebenso bei Gewalttätern und Pädophilen. Das ist sonnenklar für jeden Fachmann."
ha! endlich! endlich wird einmal begonnen, die absurde und katastrophal falsche basis der heutigen justiz zu thematisieren, ihre pseudounabhängigkeit, die pseudoobjektivität ihrer richterInnen und nicht zuletzt die durch und durch objektivistische qualität ihrer gesetze, die wie ein abstraktes raster über der gesamten gesellschaft liegen, und gerade durch ihre abstraktion in ihrer heutigen form v.a. als machtinstrument dienen.
was ich mit dem letzten satz konkret meine? "gesetze" im heutigen sinne gehen ganz zentral erstens von einer vorausgesetzten und auf alle fälle vorhandenen verantwortlichkeit von menschen aus, die jedoch - gerade unter den herrschenden sozialen bedingungen, die wiederum ganz entscheidend von unser aller traumatischen kollektiven und auch vielfach individuellen geschichte bestimmt werden, eben - und das ist meine persönliche meinung - hauptsächlich nur als option vorhanden ist. zweitens, und der punkt hängt in gewisser weise mit dem ersten zusammen: sie sind ihrem wesen nach reduktionistisch, d.h. sie berücksichtigen nicht die beziehungsrealitäten des menschen, sondern gehen faktisch von einer isolierten, vereinzelten monade aus, die primär von ihrer vernunft geleitet wird - und dazu ein set hauptsächlich negativer an"triebe" wie neid, gier usw. besitzt. und im letzteren, damit zum dritten punkt, reproduzieren sie völlig bewußtlos die traumainduzierte negative anthropologie, die sich heute überall in dieser gesellschaft beobachten lässt (achten Sie nur mal drauf, wie oft Ihnen folgende aussagen begegnen - "der mensch ist von natur aus schlecht", "ein irrläufer der evolution" usw.)
ich habe hier in der vergangenheit gerade anläßlich verschiedener prozesse gegen kindsmordende bzw. gewalttätige eltern bereits ähnliches zur justiz anzumerken gehabt - und einiges meiner damaligen kritiken kann ich jetzt wiederholen - so zb. diese:
(...)"hat der gutachter kröber mit seinen fragwürdigen einlassungen hier vielleicht bewusst geschützt und gerade deshalb unfreiwillig offenbart, was nicht öffentlich und breit bewusst werden darf und soll? das eine nüchterne rekonstruktion der ereignisse unter einschluss der transgenerationalen familiendynamiken nicht nur die kette der gewalt, sondern auch unser aller gesellschaftliches versagen, unsere quasiakzeptanz dieser kette deutlich machen würde? mussten die beiden eltern alleine schon zur aufrechterhaltung des eigentlich unhaltbaren juristischen schuldbegriffs und menschenbildes auf alle fälle voll "schuldfähig" gesprochen werden? werden damit nicht auch die deutlichen widersprüche der staatlichen und politischen propaganda, die sich familien- und besonders kinder"freundlich" gibt, zur realität von politischen entscheidungen deutlich, die durch ökonomische verelendung genau die milieubedingungen fördert, in denen offene gewalt oder stille verwahrlosung von ganzen familien bevorzugt gedeihen, unter den teppich gekehrt? genauso wie die offenkundige unfähigkeit der offiziellen psychiatrie, zustände von wahnsinn - ausgelöst durch menschliche gewalt - korrekt zu erkennen und eben nicht durch die alleinige orientierung an scheinbarer "realitätstüchtigkeit" und "objektiv" vorhandener kognitiver intelligenz komplett zu leugnen und auf eine "als-ob"-simulation hereinzufallen (genauso werden auch die vielen hitlers dieser welt aus dieser sphäre des wahnsinns ferngehalten herausdefiniert - es wäre ja auch zu gefährlich, das zu erkennen und gleichzeitig nach der inneren verfassung der den "führern" folgenden massen fragen zu müssen)? müssen deshalb auch auschwitz (bzw. das, wofür es steht) und ereignisse wie das hier thematisierte regelmäßig als "leider völlig unerklärbar" bezeichnet werden?"(...)
und der folgende auszug lässt sich nach meinem verständnis als direkte weiterführung der ausführungen von roth oben verstehen:
(...)"ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.
vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste."(...)
kurz: unsere ach so "rechtsstaatlich-demokratische" justiz und ihre gesetze sind im kern ganz wesentlich von einer verzerrten anthropologie geprägt, die eine im strengen sinne pathologische und wahnsinnige version des menschlichen seins für "normal" hält.
entsprechend erbarmungslos und pathologieerzeugend sieht dann auch ihre praxis aus.es bleibt immer weniger bei der frage offen, ob dieser art von justiz noch irgendeine art von berechtigung zugestanden werden soll bzw. kann. (und um mißverständnisse an dieser stelle auszuschließen: die justiz stellt nur einen gesellschaftlichen bereich dar, in dem ganz grundsätzlich etwas falsch läuft).
weiter im interview:
"Wie soll eine Gesellschaft mit solchen Menschen künftig umgehen?
Roth: Es wird ja überhaupt nichts im weiteren Sinne entschuldigt. Sondern es geht darum, dass dieser Sühne- und Vergeltungsschuldbegriff inhuman ist. Er sinnt nämlich auf Rache. Dazu eine kurze historische Betrachtung: Früher wurde es als persönliches Verschulden angesehen, wenn man in Armut geriet oder krank wurde. Man war persönlich schuldig. Heute haben wir uns davon befreit - so wie von der Selbstjustiz. Aber vor 150 Jahren wollte kaum jemand anerkennen, dass Krankheiten durch Bakterien und Viren verursacht werden und nicht durch göttliche Fügung. Es wurde gesagt, es werde schon was dran sein, weshalb der oder die schwer krank geworden sei. Das ist ein Lernprozess. Ich behaupte, dieser Vergeltungs- und Sühneschuldbegriff ist inhuman. Der Therapiegedanke, der Besserungsgedanke wird dadurch nachweislich abgeschafft."
der vorletzte satz trifft es haargenau. und ich finde neben anderem v.a. immer wieder die heuchelei dieser gesellschaft extrem widerlich, die sich im falschen glanz ihrer fetische "rationalität" und "vernunft" sonnt, um dann in den entscheidenden momenten deutlich zu machen, dass es sich dabei um abgehobene konstrukte handelt - und dann folglich in der verdrängten, verleugneten, abgespaltenen und (zumindest in europa) tabuisierten ebene verzerrter und bösartig gewordener gefühle wie rache zu landen.
"Ist ein Mensch wie Hitler im hirnbiologischen Erkenntnisprozess therapierbar?
Roth: Eine völlig offene Frage. Schwerverbrecher und Mörder haben alle schwerste Hirnschäden im Stirnbereich, das belegen Untersuchungen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Leuten, die auch solche Schäden haben und nicht kriminell geworden sind. Man vermutet, dass das Gehirn, durch verschiedene Umstände begünstigt, die Möglichkeit hat, das zu reparieren, ob nun organisch oder durch eine sehr frühe Therapie.
Überträgt man Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die geisteswissenschaftliche Ebene, dann stellt sich bei Hitler der Offenbarungseid jeder Moraltheorie ein.
Roth: Das ist nicht richtig. Wenn es eine Moral gibt, die das, was Hitler getan hat, für verabscheuungswürdig hält, weil es das friedliche Zusammenleben der Menschen und das Glück des Einzelnen völlig zerstört, dann muss man untersuchen, ab wann solche psychopathologischen Entwicklungen einsetzen. Und die Erkenntnis lautet, sehr früh, bereits im Alter von vier oder fünf Jahren. Schon ein kleiner Junge, der sich so und so auf dem Schulhof verhält, ist höchst gefährdet, ein späterer Gewalttäter zu werden. Das ist nicht sicher, aber die Gefährdung ist sehr hoch. Und die Moral setzt genau dort an. Dass man beschließt, das müssen wir vermeiden, weil der Junge nämlich sonst das friedliche und glückliche Zusammenleben in der Gesellschaft stören würde."
was roth im letzten absatz ausspricht, ist und bleibt für mich unter den heutigen (!) gesellschaftlichen bedingungen und machtverhältnissen eine extrem zwiespältige angelegenheit - auch, wenn ich neue formen der prophylaxe und früherkennung von antisozialen tendenzen grundsätzlich befürworte - allerdings ausdrücklich unter einschluß derjenigen schichten, die sich heute als sog. eliten begreifen.
und das ich von "moral" in den hier diskutierten zusammenhängen nicht viel halte, lässt sich z.t. hier nachlesen. das vorhandensein von moral - d.h. abstrahierten handlungsanweisungen - innerhalb einer gesellschaft bleibt für mich weiter eher als indiz für grundsätzlich gestörte kollektive und individuelle selbstregulation bestehen.
"Die Gesellschaft kann doch die frühkindliche Entwicklung kaum beeinflussen. Sie vollzieht sich in den Familien.
Roth: Das ist eben die Tragik. Wir haben eine moralische Vorstellung von der Familie, dass sie eben das tun kann, was sie will. Aber wenn wir verhindern wollen, dass etwa fünf Prozent der Jungen schwer gewaltbereit werden, dann müssen wir dieses Tabu brechen. Und das wird ja auch äußerst erfolgreich von Kolleginnen und Kollegen von mir bei der frühkindlichen Therapie gemacht. Gerade wenn wir erkennen, dass Menschen moralisch gefährdet sind, hat die Gesellschaft die Verpflichtung, einzugreifen. Und dabei gilt: Je später man eingreift, umso weniger wirksam ist es."
auch das unterschreibe ich, aber mit einer gewaltigen einschränkung: wieder können unter den heutigen machtverhältnissen die nötigen veränderungen und auch eventuelle eingriffe in dysfunktionale familien eigentlich nicht stattfinden, ohne sofort die gefahr extrem destruktiver nutzung seitens der herrschenden eliten hervorzurufen.
"Lassen Sie mich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Mit Descartes entstand die Hoffnung des Denkens und mit Kant die Vernunft als Mittelpunkt des Seins. War das alles nur eine Illusion?
Roth: Ja, es war Illusion für jeden Menschenkenner seit 200 000 Jahren. Alle großen Denker haben immer gewusst, dass das eine Illusion ist. Es war eine verständliche Illusion, vielleicht sogar eine staatsnotwendige Illusion. Aber es war eine Illusion. Jeder Politiker mit Menschenkenntnis weiß, dass Rationalität sehr wichtig ist, dass man aber am besten nicht allein auf sie baut. Alle Eltern mit mehr als einem Kind wissen, dass vom Temperament, also vom Kern der Persönlichkeit her, die Kinder so bleiben, wie sie bei der Geburt sind. Gerade bei Kant ist es wunderschön zu sehen. Wenn Kant selber sagt, niemand könne sich vorstellen, wie dieser freie Wille funktionieren soll. Kant meinte eben, es müsse so sein, weil sonst moralisches Handeln nicht möglich wäre. Ich und viele andere sagen nun: Wenn wir die Verabscheuungswürdigkeit von Taten trennen von dem abstrakten Willen, dann können wir unseren moralischen Anspruch aufrechterhalten."
yo. wie schön, das zu lesen: diese gesellschaft, nein sogar die "kultur", in der sie verankert ist, ist in ihren selbstvorstellungen und ihrem weltbild bei realistischer betrachtung, d.h. unter berücksichtigung einer annährend korrekten anthropologie, auf sand gebaut - auf objektivistische fiktionen, illusionen - letztlich also einen bereich, dem ebenso die übelsten psychotischen individuellen wie auch kollektiven wahnvorstellungen entspringen, in deren offene formen ja die "normalen" illusionen auch immer wieder kippen - vielleicht das deutlichste beispiel dafür ist bis heute der nationalsozialismus. das roth das als "vielleicht sogar staatsnotwendige illusionen" bezeichnet, stellt - wenn auch vielleicht ungewollt - eine sehr wahre aussage über unsere situation dar.
"Woher nimmt man die Legitimation, bestimmte Normen für eine Gesellschaft festzulegen und andere nicht auch zu respektieren?
Roth: Darauf kann man eine klare Antwort geben. Ein ganz kleiner Teil unserer Normen liegt bereits in unseren Genen. Wir bringen zum Beispiel unsere Eltern nicht um. Wir schaden unseren nächsten Verwandten in aller Regel nicht. Aber im Tierreich gibt es Mord und Totschlag und beim Menschen eben auch. Ich behaupte, die Mehrzahl der Menschen folgt einer Art Steinzeitmenschen-Code, der während der frühen psychosozialen Erfahrung festgelegt wird und uns bestimmte Dinge tun lässt. Es gibt kein weiteres Gewissen. Nehmen Sie einen Jungen, der in Bogotá aufwächst, wo ich eine Zeit lebte. Der wird einen Menschen wegen eines Dollars umbringen und nicht die geringste Reue dabei empfinden. Weil er gelernt hat, wenn ich das nicht tue, dann sterbe ich. Der Straßenjunge bringt zwar nicht seinen Vater um. Aber ein Nichtverwandter bedeutet ihm nichts.
Ist das die Steinzeitkultur?
Roth: Ja. Wenn ein Fremder kommt und sich nähert, muss man ihn erschlagen. Das ist moralisch gut, moralisch geboten. In der Steinzeit war es nämlich so: Wenn einer kam, wollte er mein Kind, meine Frau und mein Vieh wegnehmen. Skrupel hatte man nur gegenüber Verwandten. Und dieser Junge in Bogotá, wenn der einen Touristen umbringt, warum sollte das aus seiner Sicht verwerflich sein? Im Gegenteil, es ist ja ganz toll, er bekommt dadurch einen Dollar oder eine goldene Uhr. Hier sieht man, es gibt nachweislich keine Moral jenseits dieser schwachen genetisch verankerten Moral. Das heißt, was wir uns an weitergehender Moral erworben haben, entstand nur durch in Tausenden von Jahren bitter bezahlte Einsichten. Dass es Regeln gibt, wie Menschen zusammenleben, und dass man sie tunlichst beachten sollte."
einspruch: roth vergisst hier u.a. schlicht die erkenntnisse der heutigen psychotraumatologie. der "junge in bogotá" nämlich stammt aller wahrscheinlichkeit nach aus einem milieu, welches voll von gewalt ist - und zwar akzeptierter und gewohnheitsmässiger gewalt. wie sind die sozialen fähigkeiten der eltern? wie sieht es mit den verschiedenen möglichen deprivationen durch bitterste armut aus? was spielt ein gewalttätiger staat (und als solches lässt sich das heutige kolumbien durchaus bezeichnen) für eine rolle, in dem übergriffe des militärs und folter zur "normalität" gehören? todesschwadronen? und dazu die offen mafiösen strukturen der diversen narco-kartelle?
ich brauche keine "steinzeitkultur" zu bemühen, um selbst eine negative genetische determinierung anzunehmen - wenn nämlich diese traumatischen gewaltformen wie die obigen über generationen vorhanden sind, dann steigt die wahrscheinlichkeit entsprechender genetischer "anpassungen" zwecks bloßen überlebens rapide an. und von den sonstigen anzunehmenden negativen psychophysischen prägungen durch extrem negative und destruktive lebensbedingungen brauchen wir erst gar nicht anzufangen. kurz: ich halte den "steinzeitmenschen-code" im wesentlichen für ein mehr oder weniger unbewusstes entlastungskonstrukt. wer und was hier entlastet werden soll, muss ich hoffentlich nicht noch extra erwähnen.
im nächsten absatz widerspricht er sich diesbezgl. meiner meinung nach selbst:
"Glauben Sie an die Vision eines friedlichen, guten Menschen im Sinne dieser Moral?
Roth: Ja, natürlich. Wenn Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl besitzen und ein gutes Frustrationstoleranzsystem, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung hatten und eine günstige psychosoziale Umwelt, dann sind sie empfänglich für die Normen der Gesellschaft. Das ist die große Chance, die wir haben. Und deshalb sind ja auch 95 Prozent der Menschen friedlich und bringen sich nicht um. Es sind fünf Prozent, die aus physiologischen Gründen oder wegen früher Traumatisierungen eben so sind, wie sie sind. Und bei Stalin, Hitler und anderen ist das ja auch aus den Biografien erklärbar."
also, es geht auch ohne "steinzeit-code" - genau die benannten bedingungen sind eben beim jungen aus bogotá nur rudimentär bis gar nicht vorhanden.
ich befürchte allerdings, dass die "fünf prozent" eine gewaltige fehleinschätzung darstellen.
"Sie beschreiben etwas, das in der Wissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert wird. Was ist das Neue an diesen Erkenntnissen?
Roth: Das Neue an den Erkenntnissen meiner Zunft ist, dass man Dinge empirisch experimentell nachweisen kann. Also die Frage, ob frühkindliche Erfahrungen wirklich den Einfluss haben, den Freud und andere ihnen unterstellt haben. Das war bis vor Kurzem nicht überprüfbar. Die Antwort heißt nun: Es gibt diese Einflüsse, aber in komplizierter Wechselwirkung mit den Genen, mit der Hirnentwicklung und mit der späteren psychosozialen Verhaltensweise. Auch die alte Frage "Ist der Mensch eher durch seine Gene oder durch die Gesellschaft determiniert?" galt bis vor Kurzem als unentscheidbar. Heute können wir eine sehr befriedigende Antwort darauf geben, rein empirisch experimentell. Wir können nachweisen, wie die Gene das Verhalten bestimmen, wie die Mutter-Kind-Beziehung ins Gehirn eingreift - schon vor der Geburt. Und wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich als Kind selbst Opfer von Gewalt wurde, mein Gehirn negativ verändert. Es gibt Tausende von Untersuchungen, die belegen: Menschen sind durch ihre frühe psychosoziale Erfahrung extrem beeinflusst. Man kann es im Gehirn zeigen."
und das obige sollten, nein sogar müssen wir uns allesamt hinter die ohren schreiben! genau hier liegt ein wesentlicher teil der basis, ohne die zukünftig keinerlei positive soziale entwicklung konzipiert und durchgeführt werden kann.
"Ist eigentlich die Institution Gefängnis nach dem, wie Sie Schuld, Schuldfähigkeit, Schuldbewusstsein und freien Willen definieren, überhaupt noch zeitgemäß?
Roth: Alle Experten, mit denen ich zu tun habe, sagen: nein. Durch das Gefängnis wird der erste Teil des Schuld- und Strafbegriffs bedient, nämlich Vergeltung und Sühne. Und der genauso wichtige Begriff der General- und Spezialprävention, also des Vorbeugens weiterer Taten, wird sehr niedrig gehandelt aus vielerlei Gründen, weil es unglaublich viel kostet und weil viele Dinge noch gar nicht untersucht sind. Das wird von vielen Strafrechtstheoretikern, Strafrechtlern und auch Kriminologen beklagt."(...)
und dem bleibt aus meiner sicht nur noch hinzuzufügen, dass gefängnisse nicht umsonst das synonym "schule des verbrechens" tragen - hier wird (im drittletzten absatz von unten) ein sehr eindrückliches beispiel dafür beschrieben. dafür werden u.a. Ihre steuern benutzt, neben der finanzierung von all dem anderen destruktiven zeug wie den sog. sicherheitsorganen, militär, fragwürdiger großtechnologie undundund...
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ob die "welt" wohl weiß, was sie da eigentlich veröffentlicht hat?
monoma - 21. Aug, 15:43
weil´s mir gerade vor die augen gekommen ist:
aber sowohl die anlehnung an die bürgerliche version der totalitarismustheorie als auch die beschwörung einer quasi im luftleeren raum hängenden angeblichen "anthropologischen konstante zur gewaltausübung" machen die thesen von enzensberger zu hochgradig reaktionären fiktionen. bezeichnend, dass im gegensatz dazu die aussagen eines neurowissenschaftlers geradezu revolutionär, teils sogar befreiend, wirken.