Donnerstag, 3. März 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (6)

(...) "Reuters verbreitet ein Pressemitteilung – Tunesien betreffend – von Amnesty International: “Tunesien muss Tötung von Demonstranten untersuchen”. Was für ein bürgerlicher Scheißdreck. Es geht darum, das ganze Scheißsystem hinwegzufegen – solche Forderungen, gerichtet an irgendwelche Nochimmerherrschenden oder nach demokratischen Wahlen Demnächstherrschenden stabilisieren deren System bloß, indem sie ihnen wohlmöglich nachkommen und irgendwelche armen Schweine unter den Polizisten oder Soldaten anklagen -. ihnen einen sauberen Prozeß machen. Gerichte, Rechtsanwälte – das alles gehört vielmehr mit weggefegt. Für immer. Alle tun hier so im Westen, als gäbe es nichts anderes als die Errungenschaften der Französischen Revolution – freie Wahlen, Presse, Regierungen, Gewaltenteilung etc.. Das alles gehörte längst auf den Misthaufen der Geschichte – es gibt ein viel größeres Revolutionsziel: die Abschaffung der Warenproduktion und die Aufhebung aller Trennungen." (...)

("Der Kairo-Virus - Chronik seiner Ausbreitung/Eindämmung (21)")

(...) "Niemand, der sich in Führungspositionen befindet, hat etwas davon, den eigenen Untergang zu prophezeien. (So wie jener Chefredakteur, der sich bei einem Essen weinschwer über den Tisch gebeugt und gesagt hatte: »Noch sitzen wir hier und essen Fischfilet. Aber Sie und ich wissen«, Kunstpause. »Sie und ich wissen, dass es nicht mehr lange dauern wird.« Einen Brunnen habe er schon gebohrt, über die nötigen Maße eines Gemüsebeets für eine vierköpfige Familie denke er nach." (...)


("Rette sich, wer kann!")

(...) "Mit dem Sturz der Diktatoren Nordafrikas wird der Flüchtlingsstrom nach Europa massiv wachsen", sagte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Dieser Ansturm lasse sich nur stoppen, wenn Europa zur Festung umgebaut werde." (...)


...und auch diese "festung" wird am ende fallen...

*

so. derart eingestimmt, betrachten wir uns ein weiteres mal näher das, was ich neulich als "globales wetterleuchten an fast allen horizonten" bezeichnet hatte. es erscheint immer noch und immer mehr bitter nötig, das blog einerseits zur reinen informationsvermittlung zu nutzen, da sehr vieles, was zum verständnis bzw. mindestens für eine annäherung daran nötig ist, medial entweder gar nicht oder nur fragmentarisch vermittelt wird. andererseits habe ich die nächsten tage voraussichtlich etwas mehr raum, um einige grundsätzlichere fragen ebenfalls zu thematisieren:
  • aus der perspektive der bloginhalte hier wäre da bspw. die frage nach den wirkungen der z.zt. in libyien wahrscheinlich am massivsten, aber auch anderswo primär staatlicherseits ausgeübten gewalt - stichwort trauma. ich will versuchen, mich den aktuellen szenarien mal mit hilfe der bisherigen erkenntnisse aus der psychotraumatologie zu nähern, weil der umgang mit dieser gewalt und ihren folgen unweigerlich auch den weiteren weg der betroffenen gesellschaften mitbestimmen wird
  • verschwörungstheorien: von beginn an gab es besonders im netz unter den üblichen verdächtigen eine teils reflexartig anmutende reaktion zu bestaunen: diese ganze dynamik der aufstände seien - "wie üblich" - ein produkt von us-amerikanischer und israelischer einflussnahme, sie folgten einem drehbuch, und all die millionen in den revolten involvierten seien lediglich (ahnungslose) statisten. mich regt eine solche betrachtungsweise einerseits auf, andererseits scheint sie mir zumindest hierzulande letztlich auch der treffende ausdruck einer generationenalten mentalität in einer gesellschaft zu sein, die in ihrer bisherigen geschichte kein einziges mal wenigstens so etwas wie eine bürgerliche revolution hinbekommen hat und mit dem wort "selbstorganisation" mehrheitlich offensichtlich nichts anzufangen weiß. auch das lohnt der näheren betrachtung, wie ich finde
  • ich hatte ja zu beginn dieser reihe geschrieben, dass ich hier auch vorläufig die schon im letzten jahr begonnene debatte zum "kommenden aufstand" des "unsichtbaren komitees" weiterführen möchte - das wäre ein weiterer punkt, einmal zu schauen, wieweit sich die imaginationen des "kommenden aufstands" inzwischen in der globalen realität wiederfinden lassen
  • peak oil, peak water, nahrungsmittelkrisen, mögliche klimakrisen?, bevölkerungszahl: hinsichtlich der aufstände weitgehend völlig unterbelichtet, diese "megatrends". aber ich bin überzeugt davon, dass wir aktuell bereits mehr als nur die vorboten zumindest einiger dieser absoluten grenzen (für den globalen kapitalismus zumindest) sehen
soweit zum vorgesehenen programm; das ich dafür keinen zeitplan angeben mag und kann, sollte auf der hand liegen.

*

bevor ich nun zu einem kurzen überblick zuerst zur situation in nordafrika und der arabischen halbinsel aushole, noch ein wort zu den quellen: wie in den letzten folgen versuche ich besonders, aus meiner sicht zu kurz gekommene meldungen ins blickfeld zu holen. dazu bevorzuge ich weiter neben einzelnen anderen quellen den britischen guardian sowie al jazeera, möchte jedoch auch speziell auf zwei weitere hinweisen: das erste einleitende zitat stammt aus dem
hausmeisterblog der "taz", und da möchte ich wirklich empfehlen, einmal alle folgen der "chronik" von beginn an zu lesen. das wird vermutlich ein paar stunden dauern, aber es lohnt sich, weil dort eine vielzahl an aktuellen und historischen informationen sowie eigenen gedanken des autors in einer ähnlich assoziativen art & weise zusammengetragen wird wie hier. es gibt dort eine menge zur geschichte der verschiedenen länder zu lernen sowie etliche hinweise auf weitere interessante artikel und quellen - tipp! und das gilt in anderer weise auch für die nahostinfos, die als meines wissens bisher einziges deutschsprachiges blog so etwas wie einen gesammelten überblick zu den aktuellen entwicklungen in den ländern der region bereitstellen. ich weiß nicht, wer der oder die autorInnen dort sind, aber von hier aus für die arbeit schon mal ein dickes danke! (das ist neulich direkt im blog offensichtlich an technischen problemen gescheitert).

wie in den letzten folgen auch, werde ich viele der infos nicht jeweils einzeln quellenmässig belegen, sondern nur diejenigen, die mir besonders relevant und/oder brisant erscheinen. und jetzt wirklich los, es ist so viel passiert und passiert weiterhin, dass dieser überblick vermutlich jetzt schon wieder veraltet ist...

*

nordafrika/arabische halbinsel

tunesien: zu den wiederaufgeflammten riots und auch streiks im land, die mittlerweile zwar auch zum rücktritt des "übergangspräsidenten" und alten ben al-vertrauten ghannouchi geführt hat, aber das bedürfnis großer bevölkerungsteile nach einer tiefgehenderen sozialen veränderung - minimalkonsens ist der abgang alles personal der bisherigen diktatur - konnte dadurch nicht begrenzt werden. ich hatte von beginn an spontan bei tunesien die wenigsten bedenken, das wort "revolution" zu benutzen, und ich finde das bei der aktuellen entwicklung auch weiterhin berechtigt - es ist zwar i.d.r. unangemessen, die verschiedenen länder zu vergleichen, aber tunesien scheint im "eigenen" zyklus der revolutionären phasen, die eine gesellschaft im umbruch durchlaufen muss, am weitesten zu sein - dazu gehört auch, dass sich jetzt innerhalb der gesellschaft deutlicher die klassengegensätze beginnen abzuzeichnen. hatte die mittelklasse anfangs das gleiche unmittelbare interesse am sturz der diktatur wie die unterklassen sowie große teile der perspektivlosen jugend, so geht es jetzt eher darum, neben der abwicklung von ben alis altlasten durchaus sozialrevolutionäre inhalte in einem konflikt zwischen mittel- und unterklassen auszufechten. erstere können tatsächlich als solche gesehen werden, die primär eine "parlamentarische demokratie" westlichen zuschnitts - was real bereits sicher ein fortschritt darstellen würde im vergleich zur diktatur - anstreben, während für letztere das problem der armut weiterhin brisant bleibt und es zeit braucht, um diesbezgl. selbst eine art programm für die weitere entwicklung zu schmieden. so scheint tunesien, zusätzlich auch wg. des problems der vielen aus libyien kommenden flüchtlinge, von außen betrachtet in einem seltsamen schwebezustand zu hängen. zu all dem ein relatib aktueller - 27. februar -
bericht von drei aktivisten aus italien von einem besuch im land selbst, der mit den absätzen schliesst:

(...) "Eine Revolution ohne Anführer und ohne Waffen machen ist keine leichte Sache, das muss erfunden werden, die Tunesier und Tunesierinnen sind aber stolz darauf, dem Drama dieser Tage zum Trotz. Das Fehlen einer Mitte offenbart sich in einem vermeintlichen Chaos, das sich tatsächlich aber gerade durch die Vielfalt der Lebensformen ein weiteres Mal als kollektive Kraft und Intelligenz erweist.

Von der Platzbesetzung und dem Basispunkt der Gewerkschaft UGTT aus startet ein Aufruf an die Generaldirektion des Transportwesens, die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu gestatten, damit möglichst viele eine Chance bekommen, Tunis zu erreichen.

Seit heute haben die tunesischen Medien den Generalstreik ausgerufen, niemand hatte es gemerkt, dass sie statt dessen für Tunesien arbeiteten... Wer weiß, ob sie nicht die Freiheit erringen, von dem, was ihr Volk gerade tut zu berichten."


was auch immer noch weiter geschehen mag - die bevölkerung jenes kleinen landes "irgendwo da unten, an der peripherie" hat sich mehrheitlich für immer einen platz in den herzen all jener verdient, die sich für tatsächliche menschliche fortschritte begeistern können. hier wurde der funke entfacht, der tatsächlich zum steppenbrand wurde und das erste mal laut und vernehmlich gesagt "es reicht!". und bei dieser sachlage bin ich auch gerne pathetisch...

golfregion (bahrain, kuwait, oman...): hat irgendjemand den sog. bundespräsidenten neulich auch im tv beim emir von quatar bewundert, wie er weiter - bei gleichzeitigem "mahnen" für "demokratische reformen" - die guten wirtschaftsbeziehungen mit dem kleinstaat lobte? ich konnte bei dieser szene nur mit dem kopf schütteln angesichts einer "elitären" verfassung, die offenbar tatsächlich immer öfter auf nackte realitätsverdrängung hinausläuft - denen muss anscheinend wirklich erst alles hautnah so richtig um die ohren fliegen, bevor sie begreifen, dass das spiel aus ist.

es rumort weiter in der gesamten region - und die jeweiligen diktatoren und monarchen mobilisieren nicht nur in einem land ihre jeweilige
anhängerschar:

"Im Golfstaat Bahrain sind nach offiziellen Angaben 300.000 Anhänger des Königs Hamad bin Issa el Chalifa auf die Straße gegangen, um die sunnitische Herrscherfamilie zu unterstützen. (...)

Zur gleichen Zeit forderten tausende Regierungsgegner auf dem Platz der Perle den Rücktritt des Königs und demokratische Reformen." (...)


kuwait: weitere proteste von den ins land geholten und formal extrem rechtlosen arbeiterInnen werden vermeldet, die u.a. die staatsbürgerschaft sowie fundamentale rechte fordern und denen größtenteils repressiv begegnet wird. der infofluß ist diesbezgl. aber eher mau.


oman:

In Sohar im Sultanat Oman hat das Militär mit Panzern hunderte Demonstranten auseinandergetrieben, die den Zugang zu einer Brücke und eine Hauptstraße in Richtung der Hauptstadt Maskat blockiert hatten. Bei dem Einsatz der Militärfahrzeuge am Dienstag wurde niemand verletzt, wie ein AFP-Fotograf berichtete. Die Demonstranten waren für mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Sie forderten außerdem juristische Ermittlungen gegen in ihren Augen korrupte Minister.

Auch in anderen omanischen Städten wie Salala im Süden und in der Oasenstadt Buraimi im Norden des Landes gingen am Dienstag hunderte Menschen auf die Straße." (...)


saudi-arabien: wie ich schon früher einmal schrieb - eine der übelsten diktaturen des planeten, entscheidender öl-lieferant für den westen, nachweislich exporteur religiös-fundamentalistischen terrorismus in die ganze region - wenn und falls die ölprinzen fallen sollten, dann ist die ganze jetzige schon atemberaubende dynamik wahrscheinlich nur eine art vorspiel - die "mutter aller aufstände", wie ein entsprechendes szenario in us-amerikanischen foren gerne genannt wird, könnte von weltweiten massiven erschütterungen begleitet werden, bis hin zu denkbaren kriegerischen auseinandersetzungen in der region und dem endgültigen ausbruch einer neuen und schwereren phase der schwelenden weltweiten wirtschaftskrise, die dann angesichts der eh schon prekären situation vieler staaten tatsächlich das ganze globale system sehr sehr nahe an den finalen abgrund bringen würde. erster
stichtag: 11. märz:

"Am Mittwoch machte in saudischen Aktivisten-Kreisen das Gerücht die Runde, einer der zwei Administratoren einer Facebook-Seite von Regierungsgegnern sei von Angehörigen der Sicherheitskräfte in Riad erschossen worden. Von offizieller Seite wurde dies ebenso wenig bestätigt wie die Festnahme eines schiitischen Geistlichen im Osten von Saudi-Arabien am vergangenen Sonntag. Scheich Tawfik al-Amir, der in Ahsa predigte, soll in der Moschee dazu aufgerufen haben, Saudi-Arabien in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln.

Im sozialen Netzwerk Facebook, das von jungen Saudis stark genutzt wird, gibt es derzeit zwei Aufrufe zu Demonstrationen gegen Korruption und für eine stärkere Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen. Die Demonstrationen sollen am 11. und 20. März stattfinden." (...)


es sollte vielleicht besonders darauf hingewiesen werden, dass zumindest ein im netz bekannt gewordener aufruf von frauen initiiert worden ist, die speziell auf ihre situation in dem land focussieren - eine revolte unter einem derzeitigen vorzeichen wäre trotz der durchwegs in so ziemlich allen betroffenen ländern der region zu verzeichnenden teilnahme von frauen an den aufständen trotzdem qualitativ etwas neues.

die diktatur sieht sich, wenn ich das recht verstehe, gleich vier potenziellen konfliktpunkten gegenüber: einmal ein kulturell-religiös motivierter, nämlich den bereits stattfindenden protesten der schiitischen minderheit im osten des landes. dann wäre da zum anderen die situation der vielen jugendlichen, denen keine langfristige perspektive geboten wird. drittens die - analog den kleinen golf-monarchien - vielen als arbeitskräfte ins land geholten migranten aus anderen arabischen staaten, aber auch aus asien, die weitgehend rechtlos am untersten ende der gesellschaftlichen hierarchie stehen. und viertens die wie kaum in einem anderen land so offen patriachalische herrschaftsstruktur mit religiöser verbrämung, die potenziell große teile der weiblichen bevölkerung quer durch alle klassen hindurch zur rebellion bringen könnte.

und zu all dem kam mitte februar dann auch noch eine meldung, die seltsamerweise ohne größere resonanz blieb, deren brisanz aber gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, v.a., wenn man sich die praxis der dortigen herrschaften betrachtet, eventuelle proteste frühzeitig einfach mit geld zuzuschütten -
mittelfristig ist der ofen so oder so aus:

(...) "Die USA befürchten, dass Saudiarabien, die grösste Exportnation von Rohöl, nicht genug Reserven hat, um der Preisspirale Einhalt zu gebieten. Dies geht aus Dokumenten hervor, welche die Enthüllungsplattform Wikileaks im britischen «Guardian» veröffentlicht hat. Einmal mehr handelt es sich dabei um vertrauliche Depeschen von Diplomaten. Ein US-Diplomat, der in der saudischen Hauptstadt Riad stationiert war, appellierte in der Depesche an seine Regierung, sie solle die Warnungen eines arabischen Öl-Experten ernst nehmen.

Sadad al-Husseini, Geologe und ehemaliger Chef des staatlichen Ölkonzerns Aramco, hatte dem US-Diplomaten gegenüber gesagt, die Ölreserven im Land würden geschönt dargestellt. Gegenwärtig könne fast 40 Prozent weniger gefördert werden, als man dem Westen weismache." (...)


und das lässt sich durchaus als bestätigung eines gerüchtes lesen, welches schon seit langer zeit in diversen peak-oil-foren im netz herumläuft. die konsequenzen kann sich jeder selbst ausmalen - ich merke im moment gerade, dass dieser beitrag hier zu lang für die software zu werden droht und muss ihn splitten. fortsetzung folgt also, ich versuche das bis spätestens morgen - dann mit dem rest dieser rubrik, aber vor allem auch einigen höchst interessanten meldungen aus den usa, mittel- und südamerika sowie europa...

Mittwoch, 2. März 2011

zwei hinweise - "satanische" (rituelle) gewalt im tv; fotoausstellung mafia

ich bin darum gebeten worden und komme dem auch gerne nach, einen hinweis auf eine tv-reportage zu veröffentlichen, die am kommenden samstag, dem 5. märz um 22.15 auf zdfneo läuft:

"Immer wieder hört man von Straftaten, die im Zusammenhang mit Satanismus stehen sollen. Was aber bedeutet es wirklich, ein Satanist zu sein? Von einem Experten erfährt Manuel, dass Satanismus für weit mehr stehen kann, als dunkle Rituale, gelegentliche Grabschändungen und Dämonen-beschwörungen. (...)

Auf seiner Suche lernt Manuel zwei Mädchen kennen, die seit ihrer Kindheit Mitglieder und Opfer von Satanskulten sind. Sie berichten von schwarzen Messen, massiver psychischer und physischer Folter, bewusst herbeigeführten Persönlichkeits-spaltungen und der Beteiligung an satanistischen Ritualen." (...)




wer sich von der thematik noch überhaupt keine vorstellung machen kann, hat
hier die möglichkeit, schwer vorstellbaren und vor allem schwer erträglichen realitäten in relativ (!) distanzierter art & weise zu begegnen. es werden öffentlich immer wieder starke zweifel laut, ob so etwas wie diese sehr spezifische, organisierte gewaltform primär gegen kinder überhaupt existiert. meine persönliche antwort ist aus diversen gründen kurz "ja", auch wenn es sich vom ausmaß her um ein "randphänomen" handeln mag. aber was sich darin alles finden lässt, ist dann durchaus keine nebensache mehr.

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im übersee-museum in bremen läuft seit anfang februar noch bis zum 24. märz eine ausstellung unter dem titel
Mafia - das globale Verbrechen , mit einem begleitprogramm, in dessen rahmen am mittwoch, 9. märz um 19.30 h im museum auch der hier im blog schon öfter genannte autor jürgen roth zum "mafialand deutschland" einen vortrag halten wird. mein ganz persönlicher tipp des monats, wird sicher interessant werden. vorher könnten sich interessierte dann noch die ausstellung ansehen, die schwerpunktmässig photographien von letizia battaglia zur sizilianischen mafia präsentiert, aber auch arbeiten zur russischen mafia sowie zur japanischen yakuza enthält:

(...) "In ihren Fotografien hat Letizia Battaglia den sizilianischen Alltag in den 80er und 90er Jahren und die Macht der Mafia festgehalten: Auf der Straße oder in Hinterhöfen hingestreckte Tote, Prostitutierte in einem blutbespritzten Zimmer, die wegen Streitigkeiten beim Drogenhandel exekutiert wurden, verzweifelte Angehörige. Oder ein Junge mit Strumpfmaske, der Killer spielt und die Normalität in Palermo reproduziert."(...)

wer sich diese ausstellung ansieht, könnte eine mögliche variante auch seiner/ihrer zukunft betrachten.

Montag, 28. Februar 2011

kontext 72: "wahnsinnige liebe" und die borderline-gesellschaft

ein presseartikel, über den ich eher zufällig gestolpert bin: Wahnsinnige Liebe - droht eine Borderline-Gesellschaft? ich sehe da einerseits ein paar rote fäden zu den themen des gestrigen beitrags zum "freiherrn"; aber natürlich wissen stammleserInnen, dass der begriff der "borderline-gesellschaft" sich schon seit einigen jahren, wenn nicht jahrzehnten, immer mal wieder unheilverkündend irgendwo manifestiert. der artikel bietet nun einmal anhand einer fallgeschichte den versuch, einige der bekannteren symtome der bps nachvollziehbar zu machen, zum anderen werden begleitend einige der aktuelleren forschungsergebnisse und ansätze zum umgang (nicht nur) mit borderline dargestellt. und da findet sich nun ein absatz, der mich gestern hellwach gemacht hat, als ich ihn das erstemal las:

(...) "Nach neuesten Erkenntnissen verschwimmen die Grenzen zwischen den bisher bekannten Persönlichkeitsstörungen. "Dies liegt daran, dass wir inzwischen sehr viel differenziertere Diagnosen stellen können", sagt der Hamburger Psychiater Dr. Birger Dulz, 58 Jahre, Chefarzt der Fachabteilung für Persönlichkeitsstörungen in der Asklepios-Klinik Nord in Ochsenzoll. "Wir stellen immer häufiger fest, dass praktisch kein Betroffener jeweils nur eine einzige Störung aufweist, sondern dass es zwischen Soziopathen, Narzissten oder Borderlinern eine Vielzahl von Überschneidungen in den signifikanten Verhaltensmustern gibt."

na endlich, bin ich geneigt auszurufen - schon immer war die "reine le(e)hre" der diagnostischen kataloge icd und dsm - letzteres als primär psychiatrische klassifikation mehr als erstere in ihrer betonung der strengen trennung zwischen den verschiedenen diagnosen gerade aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen mehr oder weniger realitätswidrig, weil kaum jemand bspw. irgendwann irgendwo jemanden gesehen hätte, der / die als "borderline in reinform" hätte gelten können. nein, gerade im psychiatrischen bereich sind differenzierungen nicht grundlos und zufällig so schwierig vorzunehmen, und kaum jemand der betroffenen rennt mit nur einer einzigen diagnose durch die welt. was aber bemerkenswert ist, auch wenn sich die tendenz bereits vor jahren abzeichnete - nicht nur das borderline-buch von mertz, sondern auch das "handbuch der bl-störungen", an dem dulz übrigens als einer der bekanntesten hiesigen theoretiker und praktiker beteiligt war, beschäftigten sich jeweils speziell mit dem komplex "antisozialität" (beide siehe literaturliste) - , was also bemerkenswert ist, ist das eingeständnis, dass sich in der realität narzisstische und borderline-ps tatsächlich in vielen (nicht allen!) fällen in ihren symptomen und ihrer jeweiligen individuellen prägung kaum bis gar nicht von der antisozialen ps unterscheiden lassen, bzw. teils fließend ineinander übergehen zu scheinen.

"Daher hat sich seit einiger Zeit der übergeordnete Begriff der "Antisozialen Persönlichkeitsstörung" (APS) durchgesetzt. Die am häufigsten vorkommenden Symptome sind eine enorme Wandlungsfähigkeit, pathologisches Lügen sowie fehlendes Mitgefühl und Reue. Antisoziale Menschen sind zumeist sehr impulsiv, gelten sogar als "gerissen" und sind häufig nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Das APS-Syndrom ist durch die Missachtung sozialer Verpflichtungen gekennzeichnet. Oft weisen die Erkrankten auch eine geringe Frustrationstoleranz sowie eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten auf."

ich frage mich beim ersten satz nur, ob der autor dieses artikels da etwas falsch verstanden hat, oder ob das tatsächlich eine neue praxis darstellen sollte? die antisoziale ps ist in den katalogen schon lange enthalten, und - klar ich bin hier aus gründen redundant - nicht automatisch gleichzusetzen mit der "echten", strukturellen soziopathie, auch wenn die oben geschilderten symptome bei letzterer überwiegend auch zu finden sind. aber wenn hier jemand aktuell im psychiatrischen bereich beschäftigte/r mitliest, würde mich eine antwort auf die frage sehr interessieren. werden borderline und narzisstische ps aktuelle wirklich öfter als antisoziale ps geführt?

dann kommt so ein satz, wo ich einfach nur mal wieder mit dem kopf schütteln kann, weil ich mich frage, wie autor und verantwortliche redaktion die einen direkt anspringende sinnwidrigkeit der folgenden aussage kommentarlos durchgehen lassen können:

"Sie sind in der Regel zwar bindungsunfähig, aber dennoch in der Lage, ständig neue Beziehungen einzugehen." (...)

wenn der erste teil stimmt - wofür es viele gründe gibt, das als realität anzunehmen, muss der zweite teil in der form falsch sein. meine korrektur dürfte nicht groß überraschen:

"...aber dennoch in der lage, ständig neue beziehungssimulationen einzugehen."

bekanntlich einer der themenschwerpunkte hier im blog von beginn an, interessierte stöbern bitte im
index (ja, der muss dringend aktualisiert werden, aber es lässt sich zu den fraglichen themen trotzdem etliches finden).

ist´s nur wieder die übliche zu beobachtende scheu, ausdruck von nichtwissen oder zurückschrecken vor den gewaltigen konsequenzen, die es hätte, sich die existenz von großen oder gar allen teilen ihres lebens simulierenden menschen einzugestehen, die zu solchen sätzen wie dem zitierten führt? mertz war bisher der einzige mir bekannte autor, der zumindest fragmentarisch den versuch unternahm, diesen komplex mal näher zu untersuchen. und er erntete bekanntlich bis heute dröhnendes schweigen von der scientific community.

es folgt im artikel weiter eine zwangsweise grob verkürzte charakterisierung der jeweiligen ätiologie der drei persönlichkeitsstörungen, wobei sich da dann bei der antisozialen ps ein deutlicher sachlicher fehler finden lässt:

(...) "Bei Patienten mit klassischen APS-Symptomen vermutet man dagegen inzwischen auch biopsychologische Gründe für die Erkrankung, denn die Betroffenen weisen überproportional oft einen erhöhten Anteil langsamer Gehirnwellen (Alpha-Wellen) auf. Darüber hinaus besitzen sie stärkere Hautwiderstände sowie eine geringere zentral- und periphernervöse Erregung. Das "antisoziale Verhaltensmuster" könnte daher Ausdruck ihrer Suche nach Aufregung sein, um die Aktivität im zentralen und vegetativen Nervensystem zu stimulieren." (...)

der fehler liegt darin, bezgl. narzisstischer und borderline-ps "biopsychologische" (etwas unglückliche wortwahl) gründe nicht zu erwähnen - tatsächlich sind alle beziehungskrankheiten, von denen die drei hier thematisierten zu den fatalsten gehören, nur psychophysisch zu verstehen. auch nix neues, aber in - eigentlich ganz brauchbaren - populistischen artikeln wie diesem ärgern mich solche fehler sehr.

es geht weiter mit der richtigen schilderung der mangelhaften versorgung in den zuständigen psychiatrischen bereichen, um dann am ende tatsächlich die täter-opfer-dialektik zwar nicht direkt zu benennen, aber immerhin zu umkreisen:

(...) "Doch können kranke Menschen (...) wirklich "Täter" sein?" (...)

die frage gehört vom kopf auf die füsse gestellt: gibt es bei verbrechen innerhalb der menschlichen sozialität (und auch bei destruktiven aktionen gewisser art gegen nichtmenschliches leben) wie z.b. vertrauensbrüchen, ausbeutung, mobbing bis hin zu angriffen direkt gegen körperliche gesundheit und leben täter, die überwiegend nicht als krank gelten müssen? meine persönliche antwort ist an vielen stellen im blog nachzulesen.

am ende dann noch eine frage, die wie angedeutet in den 1990ern und in der ersten hälfte des vergangenen jahrzehnts öfter als heute gestellt wurde:

(...) "Leben wir im Bewusstsein von rund zehn Millionen psychisch Kranken in Deutschland bereits in einer "Borderline-Gesellschaft"? Spiegelt das "bruchstückhafte Gefühl der Borderline-Persönlichkeit von Identität und Stabilität" (Jerold J. Kreisman) möglicherweise die Zerschlagung beständiger Werte in unserer Gesellschaft wider?" (...)

wer darauf eine antwort haben will, setzt sich am besten einfach mal in irgendeiner einkaufszone in einer großstadt ein paar stunden hin und beobachtet nur die mitmenschen - wie sie sich bewegen, was sie für mimiken zeigen, etc.

und stellt sich danach die frage, was er oder sie denn als "beständige werte" ansieht. denn deren defintion ist mit entscheidend dafür, was für antworten am ende herauskommen.

Sonntag, 27. Februar 2011

notiz: dann doch noch ein paar worte zum hochstapler [2. update am 01.03.11]

ich bemerke ein elementares desinteresse bei mir an allem, was derzeit aufgeregt nicht nur im mainstream, sondern auch in vielen blogs über den späten nachfahren einer süddeutschen "adels"sippschaft (ich habe leider mein exemplar von wallraffs/engelmanns "ihr da oben - wir hier unten" nicht in erreichbarer nähe - die haben sich da u.a. genau mit diesen clans, von thurn und taxis wäre ein anderer fall - beschäftigt und gut belegt, dass die mehrzahl dieser sippen zu ihrem bis heute andauerndem reichtum und einfluss vor einigen jahrhunderten durch methoden gekommen ist, die insgesamt mit dem begriff raubrittertum ganz gut zusammengfasst werden. auch zu den "von guttenbergs" gibt´s da ein paar seiten, an die ich mich leider gerade nur noch vage erinnern kann) verhandelt wird.

liegt vielleicht u.a. daran, dass ich finde, dass es jede menge elementarer anderer gründe dafür gibt, diesen bzw. überhaupt allgemein solche typen nicht in irgendwelchen sog. führungspersonen sehen zu wollen. und das es bei den sichtbaren strukturen innerhalb der macht"eliten" quasi zu den zugangsvoraussetzungen gehört, ohne weiteres lügen und faken zu können, sollte nun auch nicht so die große neuigkeit darstellen. das nicht nur in diesen kreisen weiterhin die formalen insignien von macht und einfluss, symbolisiert u.a. durch sog. titel, zur erwarteten und begehrten ausstattung zwecks einschüchterung der untergeordneten simpel gehören, ebensowenig.

nein, der eigentliche knackpunkt liegt für mich in etwas, was meines wissens nirgendwo wirklich verhandelt wird und läuft daraus hinaus, dass "der freiherr" durch und durch innerhalb der herrschenden systemlogik kritisiert wird, und zwar auf der basis einer allgemein verbreiteten halluzination namens "geistiges eigentum". ich hatte grob in erinnerung, dass ich dazu vor jahren eigentlich alles aus meiner sicht relevante schon einmal in einem kommentar zusammengfasst hatte.
et voilá:

"geistesklau" ist für mich eine rein fiktive sache - es gibt in der realität nicht so etwas wie "geistiges eigentum", und es gibt meiner meinung nach auch niemanden, der/die so etwas beanspruchen könnte.

ich arbeite hier ausdrücklich mit vielen gedanken / viel wissen von vielen menschen, welches ich teils neu kombiniere bzw. zusammenhänge, die mir persönlich auffallen, deutlich machen kann (jedenfalls im besten fall).

mein eigener anteil wird von meinen persönlichen erfahrungen bestimmt, die mir - notwendigerweise, und das gilt für alle menschen - eine einzigartige und nur von mir selbst voll zu erlebende perspektive eröffnen. diese perspektive versuche ich hier, fragmentarisch zu vermitteln.

es gab, gibt und kann schlicht und einfach keinen menschen geben, der aus einem quasi sozialen vakuum heraus etwas schafft. ich bin für die arbeit hier und allgemeiner in allen aspekten meiner existenz auf die erfindungen und v.a. die arbeit vieler anderer angewiesen - und auch das gilt für uns alle.

welcher maler stellt seine farben, leinwände und pinsel selbst her, welcher musiker seine instrumente? welcher dichter sein papier? dazu müssen sie ebenfalls, um überhaupt malen, spielen und dichten zu können, erstmal ihre grundbedürfnisse befriedigen - bauen sie ihre häuser selbst, stellen sie die steine dafür her? säen und ernten sie?

und lange davor noch, müssen sie ein mindestmaß an mütterlicher/elterlicher zuwendung erfahren haben, um überhaupt existenzfähig zu sein.

es sollte deutlich sein, worauf ich hinauf will: die vorstellung von "geistigem eigentum" enthält implizit die heruntergekochte vorstellung vom "unabhängigen" kreativen, dessen elaboriertester ausdruck die sog. "genies" darstellen.

und das alles beruht auf fiktionen von der menschlichen existenz. ich denke, dass das fiktionen genau von der art und aus der ecke sind, die ich hier immer wieder thematisiere. anders: die vorstellungen vom "geistigen eigentum" - und letztlich vom "eigentum" überhaupt - lassen sich durchaus als ausdruck der dominanz objektivistischer wahrnehmung in dieser kultur entschlüsseln. für mich beruhen diese vorstellungen auf einer grundsätzlichen spaltung: das virtuelle ego, welches "seinen" körper "besitzt". diese konstellation aber stellt sozusagen unsere "kollektive basisstörung" (götz eisenberg) dar, und genau diesen zustand gilt es zu verändern."


wer sich in den 1990er jahren mal öfter in plattenläden für elektronische musik herumgetrieben hat, wird sich sicher an die enorme anzahl von vinylmaxis mit "white labels" erinnern - platten ohne jede angabe zum produzenten/mixer/label, nur mit gestempeltem titel drauf (wenn überhaupt; teils gab es auch nur eine nummer). die idee dahinter war eine, die mir neben der musik die (underground-)technoszene recht sympathisch gemacht hat: keine identifizierbaren stars. es wird gesampelt, sich anderswo bedient, neu zusammengesetzt, und letztlich entsteht ein nicht mehr abreissender flow, der sich selbst kreativ befruchtet und nur als ergebnis kollektiven und gleichberechtigten handelns denkbar ist.

und nein, ich vergleiche guttenberg nicht damit, weil er erstens nach außen hinsichtlich "eigentum" eine völlig konträre position vertreten dürfte und bei ihm zweitens das "samplen" von anderen gedanken mit dem ziel der selbstaufwertung geschah. und eben letzteres wollten die anonymen djs unterlaufen. das dieses vorhaben im großen und ganzen als gescheitert angesehen werden muss, macht die grundidee dahinter keinesfalls falsch. eher ist das wie üblich den sog. marktgesetzten geschuldet, die nach "stars" verlangen.

was dann auch bedeutet, dass innerhalb dieser verhältnisse zwangsläufig der bezug auf die erwähnte halluzination namens "eigentum" als nötig erscheint, nicht zuletzt aus gründen der eigenen materiellen existenzsicherung - das hatte u.a. che damals in einem kommentar zum obigen angemerkt:

"so grundsätzlich ich Dir da zustimme, und es steckt natürlich ein konstruiertes Menschenbild aus dem deutschen Idealismus dahinter (Originalgenie, Selbstverwirklichung in der Selbstverdinglichung usw), so gibt es doch eine viel pragmatischere Umgangsweise damit, die schließlich auch dem Urheberrecht bzw. Copyright zugrunde liegt: Es kommt vor, dass Menschen Texte, die von anderen stammen, ohne Quellennennung copy and paste-mäßig übernehmen, ev. satzbausteinmäßig rekombinieren und als die Eigenen ausgeben, weil sie schlicht zu faul sind, selber welche zu schreiben oder vielleicht selber nicht über die Grundlagen verfügen. Beim Schreiben von Seminararbeiten und in der Werbung kommt beides häufiger vor. Dagegen hilft das "Recht auf geistiges Eigentum". Und so pragmatisch verstehe ich den Begriff, ganz ohne metaphysische Hintergedanken."

"pragmatisch" (ein begriff, der oft genug als synonym vom "sachzwang" herhalten muss) lässt sich das sicherlich so sehen, aber meine hintergedanken würde ich nicht als "metaphysisch" begreifen wollen, sondern als beschreibung handfester (körperlich basierter) psychophysischer konfigurationen. von daher betrachte ich die kritik an dem "freiherrn" *kicher* als grundsätzlich wertkonservativ, und das problem mit dieser wie auch jeder anderen art von konservatismus liegt darin, dass leute mit solchen positionen durchaus nicht begreifen wollen / können, dass die von ihnen beklagten zustände - u.a. auch design/schein statt sein - prinzipiell auf ihrem ureigenen mist gewachsen sind - lobpreisung der (patriarchalischen) familie, betonung (womöglich "gottgegebener") autoritäten, unterordnung unter den staat etc. etc.

alles konzepte, die sich historisch als massiv traumainduzierend herausgestellt haben und eben als eine mögliche folge dieser eigenschaft dann die soziale substanz ganzer gesellschaften bzw. die sozialen fähigkeiten der einzelnen regelrecht zersetzen. insofern ist die ganze kritik potenziell systemtragend, und die "zeit" merkte neulich in der gleichen logik an, dass guttenberg dem leistungsgedanken schaden würde...

nun, ich finde ja, es gibt durchaus schlimmeres. was aber auch zeigt, wie tief große teile der hiesigen gesellschaft die gesetzten normen und werte als quasi naturhaft akzeptiert haben. aus der sicht muss guttenberg dann auch genau deswegen gehen - ; verstoß gegen den (kapitalistischen) mythos von leistung und eigener anstrengung, nicht z.b. wegen des verheerenden bombardements in kundus (erinnert sich noch wer...?)

es gibt wirklich noch viel zu tun.

*

edit: weil diese beiden meldungen auch schon länger bei mir als bookmarks rumfliegen und in diesem fall wie die faust aufs auge passen - einerseits direkt zum milieu der partei des guttenberg, andererseits generell zur inneren verfassung der sog. politischen "elite". da wären einmal die aussagen des
ex-ministers glos (csu):

(...) "Es gibt zu viele Karrieristen, die sich selbst zu wichtig nehmen", sagte er. "Jeder ist sich selbst der Nächste. Alle sind Konkurrenten. Jeder möchte ein Stückchen weiterkommen. Das alles macht einsam."

Ein Abgeordnetenleben in der Hauptstadt sei "ein permanenter Ausnahmezustand", sagte der CSU-Politiker, der seit 35 Jahren dem Bundestag angehört. Die Versuchungen seien vielfältig. "Ich habe Kolleginnen und Kollegen durch den Alkohol sterben sehen. Das hat auch etwas mit der Einsamkeit des Politikers zu tun." Er habe "tragische Schicksale erlebt, bis hin zum Freitod".

Freimütig gestand Glos ein, dass er von seiner Berufung zum Wirtschaftsminister im Herbst 2005 überrumpelt worden und für die Aufgabe nicht vorbereitet gewesen sei: "Ich wusste damals nicht mal, wo dieses Wirtschaftsministerium genau stand. Ich habe sogar in der Nähe gewohnt, aber es hat mich nie interessiert. Ich hatte kaum eine Ahnung davon, was die Aufgaben dieses Ministeriums sind, um was es sich alles zu kümmern hat."


egozentrismus, isolation, suchtprobleme, karrierekämpfe und inkompetenz. überrascht das jemanden? ein typ wie guttenberg jedenfalls kann sich in so einem milieu wie ein fisch im wasser fühlen - nur nicht erwischen lassen eben...

und dann machte vor einigen wochen die autobiographie eines sohns von helmut kohl
furore, in der ebenfalls einiges von den psychophysischen eigenarten all dieser staatsmänner deutlich wird:

(...) "Walter, der ältere Sohn, beurteilt den Vater als Vater und nicht als Bundeskanzler. Als Vater hat er für ihn versagt. "Jahrzehntelang hat er sein bestes in Partei- und Gremienarbeit investiert (...). Das war sein Sinnen und Trachten, es rangierte weit vor der Familie und dem Privatleben. Wir liefen auf seiner politischen Bühne mit, als Teil des Bühnenbildes, aber ohne tragende Rolle."

Mit kindlicher Sehnsucht schaute er auf seinen Freund aus der Nachbarschaft. Dessen Vater war Fernfahrer und kam mit seinem Lastwagen nach Hause. Zur Begrüßung hupte er laut. Den eigenen Vater empfand Walter Kohl als Gast im eigenen Haus.

Er berichtet offen von seiner inneren Versteinerung, seinen Gedanken, wie die Mutter das Leben selbst zu beenden." (...)


möglicherweise waren die spöttischen gerüchte über die sekretärin des helmut k., die diese als einzige halbswegs wirkliche bezugsperson darstellten, mehr als zutreffend.

mag sein, dass der preis für diese leute ziemlich hoch ist (wenn sie denn überhaupt in der lage sind, derartige defizite, verluste und beziehungsstörungen auch als solche wahrzunehmen). aber mein mitleid für diese brüder und schwestern hält sich trotzdem in sehr, sehr engen grenzen. eine wie rudimentär auch immer ausgebildete fähigkeit zur freien wahl würde ich bei den allermeisten schon unterstellen.

*

edit 2 am 01.03.: da ja zur stunde hierzulande so ziemlich alle medialen kanäle mit tonnen von schmierigkeit verstopft sind und man sozusagen genötigt wird, sich mit jener höchst unangehmen erscheinung zu beschäftigen, dann doch noch zum hoffentlich letzten mal etwas dazu.

beim querlesen bin ich auf einen aspekt gestossen, der mir tatsächlich längerfristig ernstzunehmen erscheint, bei der
fr wie folgt beschrieben:

(...) "Es ist auch das überraschende Ende eines Kräftemessens, wie es das in Deutschland so noch nicht gegeben hat: einem Kräftemessen zwischen der sich als gesundes Volksempfinden gerierenden Massenmeinung, bildungsfeindlich und politikverdrossen, gebündelt und verstärkt durch die Medien der Bild-Gruppe aus dem Springerkonzern auf der einen Seite. Und der immer stärker anschwellenden Empörung eines Bildungsbürgertums, der geistigen und politischen Elite, das sich gegen die Opferung seiner wichtigsten Werte und Überzeugungen auf dem Altar des politischen Populismus gewehrt hat, in den bürgerlichen Zeitungen, vor allem aber in der unbegrenzten Öffentlichkeit zahlloser Internetforen." (...)

aus dieser perspektive betrachtet, die ich durchaus plausibel finde, kann ich mir nebenbei auch mein weiterhin vorhandenes grundsätzliches desinteresse an der ganzen geschichte besser erklären: das ist von a bis z eine sache zwischen auf den hund gekommenem kleinbürgertum ("bild"lesend, anfällig für populismus etc.) und großen teilen des mittleren und großbürgertums (teile der bildungsbürgerlichen "eliten" darunter).

ich merke da bei mir eine innere spaltung: interessant finde ich so einen prozeß schon, weil er auf enorme gesellschaftliche - hm, binnentektonische verwerfungen hindeutet. möglich, dass wir gerade den anfang eines prozesses erleben, der in vielen anderen europäischen staaten schon fortgeschrittener ist: die manifestation einer populistischen, durchaus in teilen "postmodern" beeinflussten, grundsätzlich rechten strömung mit einigen klaren affinitäten zu faschistoiden bis offen faschistischen vorstellungen. es gibt davon real teils sehr unterschiedliche phänomene zu betrachten, von berlusconi angefangen über wilders in den niederlanden bis hin zur "tea party" in den usa. der gemeinsame nenner bei allen ist zunächst etwas, was sich als "(pseudo)politik zwecks befriedigung von teils pseudoemotionen bis hin zu authentischen hassaffekten" beschreiben ließe. die nötigen feindbilder können dabei, je nach land und kulturellem background, sehr variieren und erscheinen teils austauschbar - der islam, juden, roma, "reiche" (allerdings ohne jeglichen ernsthaften antikapitalistischen impuls), intellektuelle bzw. leute, die als "gebildet" wahrgenommen werden, schwule/lesben, erwerbslose etc.

ich finde, dass sarrazin und der "freiherr" trotz aller unterschiedlichkeiten als gemeinsames wahrgenommen werden sollten - beide dürften ein ähnliches klientel bedienen (mich würde sehr die tatsächliche schnittmenge zwischen beiden "fan"gruppen interessieren); der hochstapler dazu noch eine spezifisch hiesige und vermutlich in süddeutschland aufgrund der bis heute andauernden präsenz von "adel" verbreitetere sehnsucht nach feudalen bzw. quasimonarchistischen verhältnissen. auch das ist für verunsicherte kleinbürger im krisenbedingt schrumpfenden wohlstand durchaus eine möglichkeit, sich mit den eigenen pseudoidentitären gerüsten über die runden zu retten. zumal "nation" und "gott" hierzulande aus gründen mehrheitlich immer noch nicht problemlos wieder als identitätskrücken zu gebrauchen sind.

die andere seite der medaille ist nun die, dass ich mir vom "bildungsbürgertum" keineswegs groß etwas verspreche - zum einen, weil es da ebenso eine gewisse sarrazin-kompalibität geben dürfte, zum anderen aber, weil die beschworenen normen und werte unter den heutigen sozioökonomischen bedingungen und noch viel mehr in den kommenden zeiten einer fundamentalen und globalen systemkrise nicht das papier wert sein werden, auf dem sie stehen. mein desinteresse rührt glaube ich grundsätzlich daher, dass ich die ganze auseinandersetzung als etwas wahrnehme, was letztlich innerhalb einer realitätswidrigen blase stattfindet - die meisten (!) der in europa lebenden menschen haben nach meinem empfinden weder eine ahnung noch einen begriff davon, was die finanz- und wirtschaftskrise tatsächlich bedeutet und was sie für folgen hat, was peak oil in den härtesten konsequenzen bedeutet, was ökologische destruktion bedeutet, was ressourcen- und hungerkrisen bedeuten und was peak water bedeuten wird. eher ist ein dumpf-ängstliches bewusstsein zu konstatieren, welches zwar merkt, dass irgendetwas fundamental in bewegung geraten ist, aber sich keinen genaueren begriff davon machen kann (teils auch nicht will, und von "elitärer" seite aus auch nicht soll.)

genau das ist die, allerdings absehbar vorübergehende, weil sie im angesicht der realität sehr schnell entzaubert sein werden, stunde der populisten, zu denen der "freiherr" durchaus in einer sehr spezifischen, der hiesigen demokratiesimulation und den hiesigen bedingungen angepassten form zu rechnen ist. vielleicht demnächst "unabhängig" mit eigenem (pseudo-)programm. wer weiß?

aber um es noch mal auf den punkt zu bringen: im verhältnis zu dem, was das globale wetterleuchten an inzwischen fast allen horizonten anzeigt, halte ich diese ganze geschichte für eine - ja, fußnote.

Montag, 21. Februar 2011

notiz: wow!

das ist polemisch, das ist - im besten sinne - demagogisch, das ist teils verkürzt, aber es sitzt - in ya face...



(nur das wort "backlash" hat der gute nicht wirklich verstanden.)

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (5)

da es bitter nötig ist - die berichterstattung hierzulande ist unter aller sau und dazu mit dem quatsch der wahlsimulation gefüllt - ein paar anmerkungen zu den gegenwärtigen ereignissen, die wirklich interessant sind. da ich immer noch technikprobleme habe und nicht weiß, wie lange die leitung hält, wird´s eher ein kurzer überblick.

*

libyien: unglaublich - es könnte bereits in dieser nacht so weit sein, dass das regime von gaddafi geschichte wird. die nachrichten aus dem land klingen böse, sind voller gerüchte und teils einfach wirr, aber ein paar dinge können zur stunde durchaus als fakt gelten (quelle ist u.a. der britische guardian):
  • die städte im osten des landes, speziell bengasi, sind weitgehend nicht mehr unter kontrolle des regimes
  • es gibt - leider ist das relativ sicher - hunderte von toten aufgrund einsatzes von schusswaffen bis hin zu maschinengewehren
  • teile der armee haben sich ebenso wie einige wichtige beduinenstämme dem aufstand angeschlossen, und es kam / kommt zu kämpfen mit schweren waffen gegen regimeloyale einheiten sowie söldnern aus afrikanischen ländern
  • die libyschen botschafter in china, indien und bei der arabischen liga haben offiziell und unter protest gegen die massaker ihre posten niedergelegt; der letztere will sich nach eigenen worten "der revolution anschließen"
  • es gibt zunehmend mehr gerüchte in den letzten stunden, dass gaddafi selbst bereits das land verlassen hat
  • einer seiner söhne hat zwischenzeitlich eine rede im staatsfernsehen gehalten, die eine mixtur aus wilden verschwörungstheorien, drohungen und versprechungen darstellt. hat durchaus chancen, als abstrusität in die geschichtsbücher einzugehen
  • die auseinandersetzungen haben inzwischen recht sicher die hauptstadt tripolis erreicht
folgen: unabsehbar. libyien hatte ich persönlich ähnlich wie syrien und auch saudi-arabien als diejenigen regime erwartet, die aufgrund ihrer brutalität, ihrer ausgebauten repressionsapparate und im falle libyiens auch aufgrund ihres (noch) vorhandenen ölreichtums als letzte fallen würden, wenn überhaupt. viele intensive beziehungen zu europäischen ländern, speziell italien, aber auch zu deutschland, österreich, großbritannien - aus diesen ländern gab´s auch viel militär- und polizeihilfe. im gegenzug bezieht europa einen recht großen anteil libyschen öls. es wird auch sehr interessant sein, heute den ölpreis zu beobachten. neben den inzwischen zur gewohnheit werdenden peinvollen windungen der politischen "eliten" in europa...

*

iran: zur stunde ebenfalls weitere massenproteste und konfrontationen mit den schergen des regimes, es soll tote und verletzte geben.

marokko: hat sich heute endgültig in die reihe der nachbarn eingereiht - aus allen größeren städten wurden demonstrationen vermeldet, meist friedlich und - noch - mit focus auf geforderte reformen.

bahrein, yemen, jordanien, dschibuti... : es geht überall weiter. inzwischen wurden - ebenfalls zu meiner persönlichen nicht geringen überraschung - auch proteste und auseinandersetzungen aus kuweit gemeldet, und dort von denjenigen initiiert, die sich in der miesesten sozialen position befinden - als arbeitskräfte ins land geholte beduinen aus anderen arabischen staaten, die weitgehend rechtlos gehalten werden. die polizei setzte tränengas und gummigeschosse ein. aus dem osten saudi-arabiens wurden proteste - schweigend und ohne parolen und transparente durchgeführte märsche - der dort ansässigen schiitischen minderheit vermeldet, die durch die ereignisse in bahrein mit motiviert sein dürften. zu letzterem auch das folgende video - achtung, triggergefahr wg. gewaltszenen:



ein verbündetes regime des "freien westens", stützpunkt der fünften us-flotte...

algerien: ähnliches szenario wie vergangenes wochenende, zumindest in algier - massenhaft polizei und versuch der erstickung jeglichen protestes, wobei aber gleichzeitig versucht wurde, das etwas "unauffälliger" zu handhaben. die beteiligung war etwas größer als letzten samstag, aber insgesamt scheint die opposition dort mobilisierungsprobleme zu haben, und ich verweise nochmal auf das interview zu algerien im
vierten teil dieser reihe.

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die im letzten beitrag thematisierten
proteste im us-bundesstaat wisconsin halten nicht nur an, sondern weiten sich aus - inzwischen wird für die nächste woche in mehr als zwanzig weiteren bundesstaaten zu solidaritätsdemonstrationen mobilisiert; oft genug betrifft das staaten, denen ähnliche konflikte wie geschildert direkt ins haus stehen. am samstag wuchs die beteiligung an der täglichen demo nochmals - 60. - 70.000 leute waren rund um das capitol in madison auf den strassen, während eine gegendemo der "tea party" nur einige tausend auf die beine brachte. der konflikt spielt inzwischen usa-weit eine große (mediale) rolle, und es wird immer wieder auf ägypten bezug genommen, erst recht, seitdem vor ein paar tagen dieses photo aus ägypten bekannt wurde... lesen Sie sich auch mal die kommentare unten drunter durch - herzerwärmend.

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griechenland: ja hallo, was macht dieses land hier? kann ich Ihnen sagen - persönlich hatte ich sowieso darauf gewettet, dass die aufständische / revolutionäre welle in nordafrika und nahost, wenn sie denn über´s mittelmeer schwappen sollte, sich zuerst in staaten wie italien und eben griechenland bemerkbar machen würde. nun ist für die kommende woche in griechenland der erste große
generalstreik dieses jahres geplant:

(...) "Während die Zahl der Arbeitslosen täglich wächst, die Besatzungsmacht aus Troika und der Junta des amerikanischen Präsidenten Papandreou einen brutalen Privatisierungskurs fährt, um die griechische Arbeitskraft auf chinesisches Niveau der Ausbeutung zu zwingen und aus dem Land ein totales Disneyland für Kreuzfahrt- und andere asozial reiche Touristen zu machen, wird erwartet, daß die seit Monaten anhaltenden Streiks und Kämpfe zur Manifestation zusammenkommen und es erneut Rekordzahlen an Teilnehmer_innen gibt.

Jetzt tauchen Diskussionen auf, wie die Massen sich besser sichtbar verteilen können, damit Presse und Staat schwieriger die Teilnehmerzahlen runterlügen können.

Außerdem gibt es die Idee anschliessend einfach auf dem zentralen Syntagmaplatz zu bleiben. Damit würde die "arabische" Revolution zurück über das Mittelmeer schwappen... " (...)


ein durchaus polemischer text, der aber die realität des landes unter den "spar"diktaten von iwf und eu nichtsdestotrotz erfasst. der interessante absatz ist der letztere; und
direkt aus athen stammt folgender, ins englische übersetzte diskussionsbeitrag - schluß:

(...) "Such a gathering can become the beginning of the fall of the regime, the fall of the Junta of Government-IMF-EU. If they fall, everything becomes possible – not in order for another government one to come… But precisely because it won’t be easy for another one to come and to have consensus to apply the same policies against the People.

The supranational elites and the local bosses won’t have any easy solutions to replace this government. The people will say “Everyone must go”, just like in Argentina. The ability of the people from below to overturn the order-receiving government of PASOK will be a victory of the global movement, it will be equivalent to the revolts in Tunisia, in Egypt and other Arab countries.
Let’s turn Syntagma into our own Tahrir Square." (...)


ich bin sehr gespannt, ob die griechische opposition das hinbekommt - ich drücke jedenfalls schon mal alle daumen.

*

china: es sollte auf jeden fall erwähnt werden, dass es gestern in ca. sechzehn chinesischen großstädten zu demonstrationsversuchen "gegen korruption, armut, schlechte wohnungen und zuwenig nahrung" gekommen ist, zu denen explizit unter bezug auf die tunesische revolution mobilisiert wurde. es gab wohl eine ganze menge verhaftungen, aber bislang liegt nicht viel nachrichtenmaterial vor. oder ich hab´s noch nicht gesehen.


*


2011 - das jahr, das keine gnade kennt- so hatte ich nicht nur einen älteren beitrag betitelt, sondern das war auch die überschrift für das vorletzte geab. inzwischen gibt es eine neue ausgabe, und ich habe in diesem bulletin selten derart viel impliziten hohn und spott für die "eliten" und ihre "experten" zwischen den zeilen gelesen. aber vielleicht haben die autoren auch allen grund dazu? auszug aus einer "geab"-ausgabe im juni 2008 (!):

(...) "Nach unserer Auffassung trägt die umfassende weltweite Krise bereits im jetzigen Stadium dazu bei, die pro-westlichen Regierungen in den arabischen Staaten zu schwächen : Hungeraufstände, religiöser Fanatismus (der von dem erstarkenden Iran, Syrien, der Hisbollah und Hamas geschürt wird), westliche Verbündete (Washington und die europäischen Staaten), die sich auf eine Politik beschränken, die sich ausschließlich an ihren Sicherheitsinteressen ausrichtet... In Ägypten geht die Herrschaft Mubaraks allmählich zu Ende, das Land befindet sich innenpolitisch in einer Sackgasse, und die Unfähigkeit der Regierung, den Menschen bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, radikalisiert immer größere Teile der Bevölkerung. Nach unserer Auffassung wird das pro-westliche Regime Ägyptens unter den Schockwellen der Aufprallphase der umfassenden weltweiten Krise politisch zusammen brechen. Dessen Repressionsapparat wird es nicht vermögen, die sozialen Spannungen unter Kontrolle zu halten.

Dabei ist dieses Land die letzte Verteidigungslinie des Westens vor einem Maghreb, der ansonsten ungeschützt der Einflussnahme anti-amerikanischer Kräfte ausgesetzt ist, die im Mittleren Osten inzwischen dominieren. Wenn in Ägypten, wovon wir überzeugt sind, bis Anfang 2009 die politischen Verhältnisse instabil werden, werden auch sehr schnell Tunesien, Algerien und Marokko in den Strudel gerissen werden. Auf jeden Fall werden auch in diesen Staaten die sozialen Unruhen zunehmen, und zwar gerade zu einem Zeitpunkt, in dem ihr großer europäischer Partner selbst mit einer Wirtschaftsabschwächung zu kämpfen haben wird." (...)


na? war als prognose nicht sooo schlecht, würde ich mal sagen - lediglich das zeitliche eintreffen hat sich, wie wir jetzt ganz frisch wissen, anders gestaltet. und das wort "antiamerikanisch" würde ich in dieser form auch nicht verwenden wollen - die regimes, die jetzt in gefahr oder aber schon gefallen sind, lassen sich berechtigt als marionetten der usa und/oder der eu betrachten. das es jetzt für die westlichen "eliten" insgesamt unbequemer werden könnte, würde ich nicht als "antiamerikanisch" bezeichnen.

Samstag, 19. Februar 2011

notiz: krisennews spezial - good morning usa!

da ich z.zt. viel zu viel (lohn)-arbeite, entsprechend erschöpft bin und auch noch technische probleme mit der netzverbindung in form von längeren ausfällen habe, wieder nur etwas relativ kurzes. aber da das gleich folgende in den deutschsprachigen medien - ich kenne bis jetzt nur drei ausnahmen, von denen zwei gleich zu sehen sind - schlicht nicht existiert, will ich das blog einmal mehr als infomultiplikator nutzen. danke übrigens für alle kommentare - die lese ich durchaus und beziehe weitere anregungen daraus, auch, wenn ich momentan nicht sichtbar reagiere.

was die afrikanischen und arabischen aufstände betrifft, mehr in den nächsten tagen. es passiert so derart viel, in positiver wie auch in verdammt negativer - stichwort counterinsurgency - hinsicht, dass es schwer ist, noch auf einem einigermaßen aktuellen stand zu bleiben. wer auch nur halbwegs englisch versteht, kann sich im gesamten europäischen raum momentan am besten beim britischen
guardian informieren - neben al jazeera kenne ich keine weitere quelle, die so umfassend und aktuell berichtet. englischprachige nordafrikanische und arabische blogs mal ausgenommen.

*

ich hatte ja mal in den letzten beiträgen die sich u.a. mit dem ägyptischen aufstand beschäftigen, davon geschrieben, dass nach meinem eindruck dieses ereignis nicht nur regional, sondern weltweit ausstrahlen würde, und dazu vermerkt, dass das auch für die usa gilt. nun gibt es seit ein paar tagen aus dem bundesstaat
wisconsin meldungen und noch mehr töne, die mich die augenbrauen hochziehen lassen haben.

es geht schlicht um die möglichkeit - ich betone momentan dieses wort -, dass die derzeitigen szenen aus der hauptstadt madison den beginn eines, oder besser gesagt, einer reihe von gesellschaftlichen großkonflikten in den usa darstellen, die sich unmittelbar aus der wirtschaftskrise sowie den weltweit schwelenden elitären legitimationskrisen ergeben. das wird dazu ergänzt mit einer reihe von us-amerikanischen besonderheiten wie bspw. der marginalen rolle von gewerkschaften sowie der präsenz von extrem reaktionären bewegungen mit totalitär kapitalistischer und christlich fundamentalistischer ideologie wie der sog. "tea party", die sich in solchen konflikten unvermeidlich auf der anderen seite der barrikaden positionieren.


worum geht`s?

"Bis zu 30.000 Teilnehmer an täglichen Demonstrationen, ein besetztes Kapitol in der Hauptstadt Madison und Abgeordnete, die in einen Nachbarbundesstaat „fliehen“: Der US-Bundestaat Wisconsin erlebt derzeit mehr als turbulente Tage. Beamte machen gegen das Sparpaket von Gouverneur Scott Walker mobil. Doch gleichzeitig ist der Arbeitskampf der erste große Showdown zwischen Republikanern und Gewerkschaften.

Walker (...) will durchsetzen, dass die rund 175.000 Beamten des Landes einen Teil ihrer Pensions- und Gesundheitsversicherungsbeiträge selbst bezahlen. Lohneinbußen von rund sieben Prozent wären die Folge.

Walker spricht von einem Defizit von 137 Millionen Dollar, das er bekämpfen muss. Kritiker werfen ihm hingegen vor, dass er gleichzeitig 140 Millionen in neue umstrittene Initiativen wie die Förderung von privater Gesundheitsvorsorge steckt."


letzteres ist durchaus interessant - schaut man sich einmal die derzeitige
lage der us-bundesstaaten innerhalb der fortgeschrittenen phase der globalen wirtschafts- und finanzkrise an, so fällt auf, dass wisconsin zwar bereits echte probleme mit den folgelasten der durch die banken und ihren lobbys eingeleitenen, aber letztlich durch die systemischen strukturen kapitalistischer ökonomien unvermeidlichen krise hat, aber sich noch nicht in so einem desolaten zustand wie bspw. californien oder illinois befindet. wie überall anders auch, versuchen die kapitalistischen jünger auch in wisconsin, die krisenfolgen von ihren finanziers und "leistungsträgern" nach unten abzuwälzen und statt dessen ihr gescheitertes - nicht für sie, aber gesamtgesellschaftlich - system weiter auszubauen und zu erweitern. privatisierungen allerorten und "mehr markt!" und "eigenverantwortung" werden unverdrossen weiter als heilsrezepte verkauft. soweit also kein unterschied zum hiesigen trauerspiel.

ein unterschied zwischen den meisten europäischen staaten und den usa gibt es jedoch hinsichtlich der rolle von gewerkschaften: in westeuropa können die meisten großen gewerkschaften als simulation von arbeiterInneninteressensverbänden gelten, eingelullt in phrasen wie "sozialpartnerschaft" und mit führungen, die sich längst auf die eine oder andere art kräftig mit ihren angeblichen gegenparts auf kapitalistischer seite arrangiert haben. in den usa hingegen favorisieren so ziemlich alle rechten strömungen den offenen kampf gegen einen so "unamerikanischen" gedanken wie den an gewerkschaftliche vertretungen:

"Doch gleichzeitig hat der Gouverneur noch einen ganz anderen Plan: Seit Monaten schießen sich die Republikaner in den ganzen USA auf Gewerkschaften ein, die sie für den nur langsamen Aufschwung nach der Krise verantwortlich machen. Von Gewerkschaftsverboten für öffentlich Bedienstete ist etwa die Rede, und etliche Bundesstaaten mit republikanischen Gouverneuren planen bereits Maßnahmen.

Walker ist nun der Erste, der sie in Gesetzesform gießen ließ: Sein Entwurf sieht vor, das Recht der Beamten auf Lohnverhandlungen abzuschaffen – mit Ausnahme von Polizei und Feuerwehr, die er bewusst nicht gegen sich aufbringen wollte." (...)


eine art testfall also, der in den usa augenscheinlich von vielen betroffenen und interessierten auch so verstanden wird, und demnach auch reaktionen auslöst, die für das land
bemerkenswert sind:

(...) "Täglich kommen größere Demonstrationen zu dem Gebäude, in dem die beiden gesetzgebenden Kammern, das oberste Gerichtes und der Gouverneur vom Bundesstaat Wisconsin ihren Sitz haben. Am Montag waren es 2.000 Menschen; am Dienstag schon 5.000; am Mittwoch 15.000; und heute – am Donnerstag – zwischen 25- und 30.000.

Sie schwenken Transparente mit Aufschriften wie: “We – the people”. “Gerechtigkeit für die Mittelschicht”. “Verhandeln, statt diktieren”. Und: “Hände weg vom Arbeitsrecht”. Viele schwenken Fahnen. Sowohl die us-amerikanische, als auch die ägyptische. Gelegentlich hält ein Demonstrant ein Schild hoch, auf dem steht: “Aufrecht gehen, wie ein Ägypter.”

Es sind die größten sozialen Demonstrationen, die Wisconsin seit den 60er Jahren erlebt." (...)


walker wird auf etlichen schildern auch neben mubarak gezeigt, und selbst wenn man solche analogien sachlich als unpassend betrachtet, so scheint mir doch tatsache zu sein, dass das fanal vom tahrir-platz tatsächlich weltweit als beispiel innerhalb aller möglichen gesellschaftlichen konflikte begriffen wird. auch am gestrigen freitag waren zwischen 25 - und 30.000 menschen in madison auf den beinen. öl ins feuer goss walker noch zusätzlich, als er den demonstrantInnen vor ein paar tagen den einsatz der nationalgarde androhte. unter anderem das führte dann auch dazu, dass etliche schulen in der stadt seit tagen geschlossen sind, weil sich lehrkräfte und schülerInnen kollektiv krank melden, um sich dann den demos anzuschliessen. die übrigens keineswegs, wie in der ersten zitierten meldung vom orf die überschrift suggeriert, als "beamtendemos" zu bezeichnen sind. es sind auch eben viele schülerInnen und studentInnen auf den straßen, zusätzlich zu allen möglichen berufsgruppen wie etwa feuerwehrleute, die ja beim "sparprogramm" ausgenommen sind, aber aus solidarität trotzdem mitdemonstrieren.

apropos solidarität: in ohio gibt es ein ganz ähnliches szenario, auch dort will der bundesstaat gegen die gewerkschaftliche organisierung der staatlich bediensteten vorgehen. und auch dort kam es inzwischen zu ersten größeren demonstrationen vor dem landesparlament. eine solikundgebung wird auch aus new york city vermeldet, wo die ausgangslage ebenfalls ähnlich ist.

(...) "Auch DemokratInnen und GewerkschafterInnen betrachten das Kräftemessen von Wisconsin als Grossereignis. Beide haben Spitzenleute nach Madison geschickt. Manche sprechen von einem "Ground Zero” für die Gewerkschaftsbewegung der USA." (...)

und die bedeutung dieser auseinandersetzung ist auch der gegenseite bewußt: für den heutigen samstag haben "tea party"-gruppen aus dem gesamten bundesstaat zu einer gegendemonstration in madison aufgerufen. aktuelle updates, nicht nur zu diesem aspekt, bietet bspw. die
huffington post.

*

wenn sich diese auseinandersetzung tatsächlich in der erahnbaren dimension ausweiten sollte - und obama höchstpersönlich hat sich ja schon öffentlich geäussert - , dann werden er und seine administration neben den rasanten entwicklungen in nordafrika und dem nahen und mittleren osten in kürze auch mit einem innenpolitischen thema konfrontiert sein, bei dem sie in ihrer position nur verlieren können, weil sie gezwungen sein werden, auch dort mit gespaltener zunge zu sprechen. ich kann mich nur wiederholen: es sind interessante zeiten.

Montag, 14. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (4)

zumindest einen kurzen überblick soll´s heute geben, die nächsten tage werde ich kaum gelegenheit haben, etwas längeres zu schreiben.

*

ägypten: sieht insgesamt etwas verworren und eher ungut aus - versprechungen gerade der führenden offiziere, die bereits unter mubarak jahre- und jahrzehntelang "gedient" haben, ist eben eher nicht zu trauen. aktuell wird das land von einer
streikwelle geflutet:

(...) "Am Montag protestierten Dutzende von Unteroffizieren der Polizei im Kairoer Stadtteil Giseh. Etwa 1000 Polizisten versammelten sich vor dem Innenministerium. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter. Ähnliche Forderungen stellten die Sicherheitskräfte auf dem Flughafen der Stadt Luxor. Arbeiter des Bauamtes von Kairo blockierten einen Tunnel in der Hauptstadt, um auf ihre schlechten Arbeitsbedingungen hinzuweisen. Auf der Sinai-Halbinsel kam es zu Protesten von Arbeitern und Angestellten der Behörden für Wohnungsbau, Straßenbau und Häfen.

In Kairo protestierten zudem Mitarbeiter der Telekommunikationsbehörde, der staatlichen Banken und einiger Medienbetriebe. Ihnen ging es nach eigenen Angaben auch darum, dass etwas gegen die Korruption in ihren Behörden unternommen wird." (...)


vermutlich dürften auch die bereits in den letzten wochen begonnenen streiks in vielen privaten sektoren an vielen orten andauern, darüber kann ich gerade nichts herausfinden. das militär reagiert, wie militär in so einer situation eben reagiert: forderungen nach "ruhe, ordnung, normalität, sicherheit" bei gleichzeitigen versprechungen, zukünftig alle "legitimen" ansprüche der bevölkerung umzusetzen. insgesamt ist dem militär ja durchaus das verhalten während des sturzes von mubarak positiv anzurechnen, selbst wenn ich glaube, dass das keinesfalls durchgängig freiwillig geschah. aber der immense - v.a. materielle - westliche einfluß in dieser armee dürfte auch potenziell alles stärken, was primär auf simulierte veränderungen alá "westliche parlamentarische demokratie" in einer noch autoritäreren form als hier aus ist. aber wie im letzten beitrag schon geschrieben, könnte da die rechnung ohne die aktiven vom tahrir-platz gemacht worden sein. es wird am freitag so oder so spannend werden, und weitere streiks könnten durchaus die situation derart verschärfen, dass sich die armee am ende dann doch definitv entscheiden muss, ob sie eine tatsächliche revolution - auch mit dem attribut "sozial" davor - mittragen will. und spätestens dann wird´s auf die einfachen mannschaften drauf ankommen.

*

tunesien: zunächst zwei artikel, die sich mit tieferen hintergründen beschäftigen; der
eine noch von ende januar, dann eine direkte antwort darauf. es geht u.a. um den versuch, etwas klarer bei der frage zu sehen, welche gesellschaftlichen klassen die revolution - und ich finde, es spricht anders als z.zt. noch in ägypten, einiges dafür, diesen begriff hier zu verwenden - eigentlich tragen und welche interessen sie gemeinsam haben und welche nicht.

ich hatte ja in einer der vorherigen folgen der reihe schon davon geschrieben, dass die aufstände unabsehbare konsquenzen auf vielen ebenen mit sich bringen werden. angesichts der nun - wie üblich
abwehrend und schreckhaft - registrierten tatsache, dass die eu-südgrenze durch den sturz der dikatoren zwangsläufig wieder durchlässiger werden wird - u.a. auch zu diesem zweck der aus europäischer sicht bequemen niederhaltung von politischen und armutsflüchtlingen aus ganz afrika dienten (und dienen) die westfinanzierten diktatorischen marionetten, sie wurden und werden für die drecksarbeit gebraucht - , angesichts dieser tatsache also erhebt also nun als erstes betroffenes land italien zusammen mit sorgenvollen eu-bürokraten der sog. inneren sicherheit die ringenden hände. auch da sind die herrschaften kalt erwischt worden, und es durchaus eine der wünschenswerten folgen der revolution(-en), dass diese südgrenze so löchrig wie schweizer käse werden möge. auf die dauer können sich die europäischen kernländer (und damit sind auch große teile ihrer bevölkerungen gemeint!) nicht mit dem größtenteils bis heute zusammengeplünderten materiellem wohlstand innerhalb einer quasi globalen "gated community" verschanzen. fällig wären endlich mal öffentliche diskussionen auch über diese tatsache. und jetzt wäre abermals eine gelegenheit dafür (was aber eine auch emotionale rationalität voraussetzen würde - daran leiden wir hier bekanntlich einigen mangel).

*

iran: die meldungen von heute sind bis zur stunde widersprüchlich, aber es dürfte tatsächlich im großen und ganzen
so ausgesehen haben:

(...) "Die Demonstrationen fanden auf dem Platz der Revolution, dem Imam-Hossein-Platz und angrenzenden Hauptstrassen statt. Die Polizei ging teils auf Motorrädern gegen die Demonstranten vor. Die Demonstranten ihrerseits zündeten Mülleimer an.

Wie die der Reformbewegung nahestehende Website kaleme.com berichtete, kam es auch in der zentraliranischen Stadt Isfahan und Schiras im Süden des Landes zu ähnlichen Kundgebungen. Die halbamtliche Nachrichtenagentur Fars, die den paramilitärischen Revolutionsgarden nahe steht, meldete, es sei zu Festnahmen gekommen." (...)


die zahlen der teilnehmerInnen schwanken zwischen "einigen hunderten" bis "zehntausende". diese differenzen innerhalb diversester westlicher internationaler medien finde ich auffallend, und ich kann mir das z.zt. auch nur spekulativ erklären. wenn ich mir die mir bekannten berichte bisher gesammelt anschaue, dann dürfte die beteiligung tatsächlich eher in den zehntausenden gelegen haben (in verschiedenen städten zusammen), was ich bereits für die iranische opposition als klaren achtungserfolg verstehen würde. die bedingungen im iran unterscheiden sich auf vielen ebenen dann doch erheblich bspw. von tunesien und ägypten, auch wenn die potenzielle brutalität der jeweiligen regimes und das vorhandensein einer riesigen zahl von relativ jungen menschen durchaus parallelen darstellen.

*

yemen und bahrein: über beide länder weiß ich letztlich viel zu wenig, um das geschehen dort wirklich beurteilen zu können. im yemen gab es heute den vierten tag in folge demonstrationen und zusammenstöße, analog den gestrigen ereignissen. und es dürfte auch so sein, dass die westlichen darstellungen des yemen als "failed state" mit vorsicht zu genießen sind. die forderungen auf den demonstrationen jedenfalls kommen mir erstaunlich zeitgemäß vor und sprechen eher gegen die allseits proklamierte "besondere rückständigkeit" der dortigen bevölkerung. mögen auch clanwesen und islamistische fundamentalisten im land ein tatsächliches problem sein, so dürfte doch nicht die gesamte bevölkerung darunter zu addieren sein.

bahrein - das war für mich eine echte überraschung, weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass die emirate am golf - geringe bevölkerung und relativ großer (öl)reichtum bei westlichem "schutz" der herrscherschichten und in relation recht großen repressionsapparaten - ernsthaft in probleme geraten könnten, zumal mir hier auch noch dazu saudi-arabien eine art besondere wächterrolle zu spielen scheint. und heute nun
das:

"Im Golfstaat Bahrain ist es zu schweren Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Mindestens ein Demonstrant wurde getötet, über 20 wurden verletzt.

Nach den Unruhen in mehreren arabischen Ländern hatten Oppositionelle in Bahrain über das Internet zu einem «Tag des Zorns» aufgerufen, worauf es in mehreren Orten Proteste gegen die Staatsführung gab. (...)

Das arabische Königreich wird von einer sunnitischen Herrscherfamilie regiert, obwohl schiitische Muslime die Bevölkerungsmehrheit stellen. Mehrere politische Gruppierungen der Schiiten unterstützten den Protestaufruf, den Unbekannte im Internet verbreitet hatten."


falls es leute gibt, die dazu mehr sagen können - nur zu. mir kommt das beim ersten eindruck heikel vor, gerade wg. des erwähnten religiösen hintergrundes und der existenz des schiitischen irans am anderen golfufer, und ich könnte mir gut vorstellen, dass gerade in saudi-arabien heute ein paar leute noch schlechter schlafen werden als sie´s zur zeit eh schon tun. es wäre auch interessant zu wissen, inwieweit was für sozioökonomische verhältnisse hier eine rolle spielen.

*

algerien: es gibt ein meiner meinung nach sehr lesenswertes
interview der "taz" mit dem algerischen schriftsteller boualem sansal. ich möchte den gesamten test empfehlen, weil er anfangs auf die verfassung gerade der jugendlichen im gesamten nordafrikanischen / arabischen raum focussiert, aber gerade die passagen zur situation im algerien sind sehr aufschlussreich:

(...) "Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Januar. Doch die Opposition hat die Rebellion verschlafen. Erst jetzt, am 12. Februar, mehr als einen Monat später, organisiert ein breites Bündnis Demonstrationen für einen demokratischen Wandel.

Die Bewegung, die jetzt zu Demonstrationen aufruft, ist keine spontane Angelegenheit, wie dies in Tunesien der Fall war. Die Frage ist, ob das Bündnis auch die Jugend mobilisieren kann.

Dabei ist die Opposition in Algerien wesentlich mehr strukturiert, als dies in Tunesien der Fall war.

In Algerien gibt es tatsächlich mehr sichtbare Strukturen aus Parteien und Verbänden. Doch die Jugendlichen haben Angst davor, dass sie politisch manipuliert werden. Die Parteien in Algerien sind keine echten Parteien. Sie stehen im Ruf, mit der Aristokratie des Systems im Kontakt zu stehen. Aber es gibt auch unsichtbare Strukturen. In jeder Straße hängen die Jugendlichen herum, sie stützen die Wände, wie man bei uns sagt. Sie diskutieren, sie tauschen sich aus, sie bilden informelle Strukturen. Die gesamte algerische Jugend ist auf diese Art und Weise vernetzt. Sie reden über Rebellion, über das, was sie anderswo sehen.

Aber diese Strukturen der algerischen Jugend haben bisher nur spontane, lokal oder regional begrenzte Aufstände hervorgebracht und keinen Flächenbrand, wie in Tunesien. Warum ist das so?

Algerien ist sehr groß, vor allem ist es kein wirklich einheitliches Land. Die Berberregion Kabylei ist ein Land im Land. Das Gleiche gilt für die Region rund um Algier, für Oran, den Süden, den Osten …Wenn etwas in Oran passiert, interessiert das die Menschen in Algier kaum und umgekehrt. Das Nationalgefühl der Algerier ist nicht so ausgeprägt wie in Tunesien. Hinzu kommt die linguistische Aufspaltung Algeriens: Wir definieren uns als arabophon, frankophon oder sprechen die Berbersprache …

Es ist aber auch der Fehler der Opposition. Ihr ist es nicht gelungen, diese regionalen Unterschiede zu überwinden, das Land als solches zu mobilisieren.

Sicher, die Opposition ist ein Ausdruck dieser zersplitterten Realität. Es ist sehr schwierig, eine nationale Oppositionspartei ins Leben zu rufen.

Bis auf die Islamisten. Die waren in den 1990er-Jahren eine wirkliche nationale Kraft.

Die Islamisten sind keine Ausnahme. Am Anfang war es eine romantische Bewegung, die an das goldene Zeitalter des Islam glaubte. Doch sie haben ganz schnell gelernt, wie die anderen Parteien zu funktionieren. Auch sie zerfielen intern in Strömungen, Regionen, Interessengruppen. Heute haben wir zwei islamistische Parteien: Ennahda, die sich im Osten rekrutiert, und MSP-Hamas, deren Führer alle aus Blida, unweit von Algier, stammen.

Die Machthaber in Algerien scheinen gelernt zu haben, mit den immer wieder aufflammenden, spontanen und isolierten Aufständen zu leben.

Die ehemalige Einheitspartei FLN, die das Land in die Unabhängigkeit geführt hat und bis heute regiert, kennt das Land sehr gut. Sie kennen die regionalen Unterschiede sehr genau, mit diesem Wissen halten sie sich an der Macht. Hinzu kommt, dass die eigentliche Macht in Algerien seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich unsichtbar geblieben ist. Die FLN funktionierte im Untergrund ohne große, bekannte Führer. Das ist bis heute so geblieben. In Algerien trifft eine Gruppe der Mächtigen im Hintergrund die Entscheidungen. In einem modernen Staat ist es eigentlich unerlässlich, dass die Menschen die Entscheidungsträger kennen, dass diese sichtbar sind. Der moderne algerische Staat ist nur eine Fassade. Dahinter steckt noch immer dieses Kollektiv, die klandestine Gruppe." (...)


es lässt sich etwas von der vielschichtigen komplexität dieses landes erahnen, die tatsächlich für breitflächige aufstandsbewegungen erstmal ungünstig zu sein scheint. momentan könnten sich allerdings durch die schiere eigendynamik, die nach dem sturz mubaraks und dem damit initiierten beispiel erzeugt worden ist, selbst auf ungünstigen terrains überraschende entwicklungen ergeben. mal sehen, wie es am nächsten wochenende aussehen wird. und es dürfte auch eine rolle spielen, wie sich die eu und vor allem frankreich als ehemalige kolonialmacht in diesem fall verhalten.

*

marokko: ein weiterer neuer name auf der karte der aufstände und revolten, zu dem ich ebenfalls recht wenig sagen kann. ich verweise auf den folgenden
telepolis-artikel, der sich anfangs nochmal mit der lage in algerien beschäftigt, um dann so zu enden:

(...) "Für Sonntag, den 20 Februar, werden auch Proteste im Nachbarland Marokko angekündigt. Hinter der sogenannten #Feb20-Kampagne steht laut "The Arabist" die Mittelinkspartei PSU und "zivilgesellschaftliche" Gruppen:

Schon hat eine Gegen-Kampagne gegen diese Bewegung in Marokko begonnen, die Organisatoren werden als "Islamo-Linke" und "Nihilisten" und anderen derartigen Schlagworten bezeichnet, die vom lächerlichen Kommunikations-Ministerium favorisiert werden. Währenddessen haben es die Marokkaner zuhause und im Ausland satt, solchen Unsinn und leere Versprechungen zu hören [...]. Der König hat nichts dazu getan, den Marokkanern zu einem würdevollen Verhältnis zum Staat im 21. Jahrhundert zu verhelfen. Die marokkanische Regierung hatte in den vergangenen 10 Jahren Chancen, wirksame Reformen anzugehen, tat dies aber nicht. Die Einschüchterung der Bevölkerung geht weiter und die Folter erlebte ein Comeback. Es ist Zeit, dass die Regierung einen Stoß in die richtige Richtung erhält."


hier der
originalartikel im mir bisher unbekannten blog "the arabist". vielleicht sollte auch noch einmal mehr darauf hingewiesen werden, dass laut "expertenmeinungen" marokko ebenso wie die emirate am golf "niemals" vor ernsthaften problemen aufgrund sozialer unruhen stehen werden. so, wie das auch noch vor vier wochen in bezug auf ägypten gesagt wurde... (was natürlich nicht bedeutet, dass eine solche entwicklung zwangsläufig ist. aber es ist doch schon eindeutig, dass äygpten jetzt anscheinend in der ganzen region tatsächlich wie ein fanal wirkt.)

es gibt bei marokko übrigens auch etwas, was ich bezgl. seiner möglichen fernwirkungen überhaupt nicht einschätzen kann - den fast vergessenen und nur "halb befriedeten"
westsaharakonflikt. wie würde sich ein möglicher umsturz in marokko darauf auswirken? wie wären die folgen im gesamten nördlichen westafrika? fragen über fragen.

wer mir übrigens gerade einen zu kühlen blick auf all die ereignisse unterstellen sollte, die ohne zweifel auch überall mit großem menschlichen leid verbunden sind - den habe ich hier, wie auch bei sonstigen themen im blog, ganz bewusst. das thema gewalt und trauma will ich in einer der nächsten folgen gerade anhand der aktuellen ereignisse ausführlich und gesondert bearbeiten.

*

italien: gehört sicher nicht umstandslos in die vorherige reihe, allerdings für mich durchaus in der hinsicht, dass italien eines der ersten länder sein könnte, in denen außerhalb der aktuellen unruheregion die aufstände ihre funken schlagen können. ausführlich war dazu ja schon was gestern zu lesen, deshalb heute nur noch einige ergänzungen.

das die gestrigen massendemonstrationen durchaus nicht primär unter dem motto "moral und anstand", wie es medial öfter vermittelt wurde, standen und auch die teilnehmerInnen verschiedenste gründe hatten, zu protestieren, wird vielleicht
hier etwas deutlicher:

(...) "Ich bin nicht hier, um Porno-Feste zu kritisieren", sagt eine ehemalige Parteigenossin Berlusconis, "ich kritisiere die politische Klasse, die solche Feste zum herrschenden System macht. Wir wollen Protagonistinnen sein, nicht Lachobjekte in Männerwitzen, die der Premier in seinen Villen erzählt." Die Chefin des größten Gewerkschaftsbunds sagt: "Wir sind Statistinnen in einer endlosen Seifenoper." Eine Nonne, die in Turin mit afrikanischen Prostituierten arbeitet, sagt, Frauen seien zur Ware geworden, man benutze sie und werfe sie dann weg.

Sie verlesen jetzt Zahlen, die Italien in Sachen Gleichberechtigung als Entwicklungsland dastehen lassen: 90 Prozent der Italienerinnen haben einen Uni-Abschluss, aber nicht mal die Hälfte hat einen Job. "Wir arbeiten härter als die Männer, werden schlechter bezahlt und besetzen die wenigsten politischen Posten in Europa." Sie klagen über Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, dass man ihnen kündigt, wenn sie schwanger sind. "Eine von Angela Merkels ersten Amtshandlungen: Mehr Kindergartenplätze", sagt eine Aktivistin. "Und was macht Berlusconi? Er rät unseren Töchtern, sich möglichst früh einen reichen Mann zu angeln! In was für einem Land leben wir eigentlich?" (...)


nun ja, es ließe sich auch fragen, was das eigentlich für ein europa ist, in dem jemand wie merkel auch nur irgendwo für irgendwas als vorbild durchgeht...

aber durchaus positiv scheint die tatsache zu sein, dass gestern das erste mal sichtbar viele ältere frauen aus der mittelschicht beteiligt waren - das ist eine von berlusconis bisherigen stammwählerschichten gewesen. gut möglich, dass er den bogen inzwischen wirklich überspannt hat.

aus der huffington post eine art
erlebnisbericht aus florenz:

“I participat­ed in the protest in Florence yesterday, just one of the more than 200 cities where protests were held, and I want you all to know that it was HUGE!!! If any of you know Piazza della Repubblica in Florence, it was OVERFLOWIN­G into the surroundin­g streets. No one had anticipate­d so many people, and so the police had not blocked off the car traffic, and cars were stuck among the protesters­.

It was fantastic. Organized and motivated by women, but all kinds of people participat­ed. Many had never been to a protest before, but felt so strongly about Berlusconi that they came out into the piazza this time.

This is just the beginning - the Italian people will continute to protest against Berlusconi and his media-mogu­l system. Stay tuned!”


kurze sinngemäße übersetzung: der zentrale platz von florenz plus einmündende straßen waren völlig überfüllt, niemand hatte eine solche beteiligung erwartet. ebenso war es keine reine frauendemo, sondern ebenso waren männer und kinder vertreten. am ende geht es um eine vorhersage, die mir heute auch schon öfter unter die augen gekommen ist, die ich aber bisher nicht verifizieren kann: die proteste sollen ab jetzt regelmässig weitergehen - bis berlusconi weg ist. falls das stimmen sollte, wird es wirklich interessant.

Sonntag, 13. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (3)

es passiert derzeit so viel gleichzeitig, dass ich eine chronologie der ereignisse nur fragmentarisch erstellen kann - und dann bleiben auch immer fragen wie solche offen, welche prioritäten wo warum verteilt werden sollten. heute soll´s begründet um ein land gehen, welches "uns" in vielerlei hinsicht näher ist als die grummelnden regionen jenseits des mittelmeeres. allerdings hatte ich mir im stillen schon vor ein paar tagen die frage gestellt, wie die ereignisse in tunesien und ägypten bspw. in ländern wie griechenland und italien wahrgenommen und was für konsequenzen u.u. daraus gezogen werden. für griechenland wäre eine eigenständige analyse fällig, da ist meines wissens seit den großen massendemonstrationen und -streiks des letzten jahres einiges üble am laufen, was die aufrüstung und das agieren des repressionsapparates betrifft.

italien hingegen ist in anderer hinsicht ein sonderfall - das unglaubliche treiben von und unter dem regime des berlusconi war hier in der vergangenheit in verschiedenen aspekten schon öfter thema, seien es die pläne für (faschistisch unterwanderte) sog.
bürgerwehren, die unglaublichen (und mittlerweile in der medialen versenkung verschwundenen) geschichten um die im mittelmeer gemeinsam von staat & mafia "entsorgten giftmüllschiffe, oder auch sein narzißtischer größenwahn in kombination mit präfaschistischer logik - berlusconi ist in diverser hinsicht ein symbol für den offenen verfall der eh schon immer größtenteils simulierten "moral & ethik" des sog. westens geworden; sein lächerlicher chauvinismus stellt in diverser hinsicht die andere seite der medaille der diversen kriminellen vergehen besonders (aber nicht nur) der ebenfalls in jeglicher hinsicht bankrotten katholischen kirche dar. und das lange tolerierende schweigen oder gar unterstützende verhalten großer teile der dortigen bevölkerung findet seine gegenparts in (zu) vielen anderen europäischen ländern.

nun ist als erstes und nicht zufällig besonders den frauen der italienischen mittelschicht der kragen geplatzt, und es ist eine interessante frage, warum von all den antisozialen aktionen berlusconis und seiner gang gerade der offene sexismus und die praktizierte und ständig auf allen möglichen ebenen demonstrierte frauenverachtung an diesem wochenende die seit längerer zeit wirklich ersten großen landesweiten
massenproteste gegen berlusconi provoziert haben:

(...) "Nachdem seit Monaten die Sexaffären um Regierungschef Silvio Berlusconi das politische Leben und die Medien dominieren, sind die italienischen Frauen am Sonntag auf die Straße gegangen, um gegen den Premierminister und das der Politik und dem Fernsehen vermittelte Frauenbild zu demonstrieren. "Ora basta!" (Jetzt reicht's!) skandierten die Demonstrantinnen, die von Mailand bis Palermo auf die Straße gingen, um mehr Respekt für die Frauen zu verlangen. (...)

Dass Premier Berlusconi in seiner Privatresidenz wie ein alter Sultan ausschweifende Partys mit minderjährigen Callgirls organisierte, wie die Mailänder Staatsanwaltschaft behauptet, hat bei vielen Italienerinnen das Fass zum Überlaufen gebracht. Normale Bürgerinnen, Künstlerinnen, Politikerinnen und Schriftstellerinnen riefen im Internet dazu auf, ein Zeichen zu setzen und organisierten die landesweite Protestaktion. Mehr als 100.000 Mädchen und Frauen unterzeichneten ein Manifest gegen das frauenverachtende Bild in den Medien und in der Politik. Tausende Frauen schlossen sich spontan der landesweiten Mobilisierungsaktion an. "Italien ist kein Bordell" und "Wenn nicht jetzt, wann dann?" lauten Slogans der Frauenorganisationen. Zur Teilnahme an der Demonstration wurden auch Männer aufgerufen, die "Freunde der Frauen" sind.

Bei der Protestkundgebung in Rom, an der sich Frauen aus allen politischen Lagern beteiligten, war auch die Chefin des stärksten italienischen Gewerkschaftsverbands CGIL, Susanna Camusso, anwesend. "Wir protestieren gegen eine Führungselite, die alle Regeln missachtet. Die italienischen Frauen fühlen sich von diesem Premierminister beleidigt und degradiert", betonten die Initiatorinnen der parteiübergreifenden Protestkundgebungen." (...)


am sonntag wurden italienweit in 200 - 300 städten demonstrationen und protestaktionen gemeldet, alleine in rom sollen es bis zu 100.000 menschen gewesen sein. aber bereits gestern am samstag wurden von weiteren gegnern berlusconis
aktionen durchgeführt:

"Gegner von Ministerpräsident Silvio Berlusconi haben am Samstag in Rom, Mailand und weiteren 40 Städten Protestkundgebungen gegen den umstrittenen Regierungschef organisiert. Die Anti-Berlusconi-Aktivisten versammelten sich vor Justizpalästen und vor symbolischen Orte der italienischen Demokratie, um gegen Berlusconi und seine wiederholten Angriffe gegen Staatsanwälte und Richter zu protestieren. Einige hunderte Menschen demonstrierten in Mailand vor dem Justizpalast und forderten dabei den Rücktritt des Medienzaren.

Auch in Rom demonstrierten einige tausende Menschen gegen den Premierminister. Mit Spruchbändern wie "Entlassen wir ihn!" versammelten sich die Demonstranten auf dem Platz Santi Apostoli im Herzen der Ewigen Stadt. "Wir protestieren gegen diese Regierung, die sich mit Stimmenkauf über Wasser hält. Wir protestieren für die Würde der Frauen, die von Berlusconi zur Ware degradiert worden sind", betonten die Demonstranten." (...)


zu der erneuten massenmobilisierung besonders unter frauen, und dort klassen- und generationenübergreifend, hat augenscheinlich ein film beigetragen, der in italien bereits von millionen menschen gesehen worden ist: "der körper der frauen" -
il corpo delle donne- ist ein film, der eine unverblümt sexistische gesellschaft dokumentiert:

(...) "Im öffentlichen Raum dominieren die Starlets, die vulgären Edelnutten, die lasziv bekleideten jungen Damen, mit aufgespritzten Barbie-Lippen und prallen Silikon-Brüsten. Keine Fernsehshow kommt ohne sie aus, auch nicht im staatlichen RAI, selbst die Nachrichten werden von Journalistinnen präsentiert, die dem Schönheitsideal aus der Retorte nacheifern. Junge Mädchen wie die Ausreißerin „Ruby“ Karima el-Mahroug, Tochter marokkanischer Einwanderer auf Sizilien, träumen von Karrieren als Callgirls, die vielleicht sogar mit einem politischen Amt enden. Und nicht wenige werden dabei auch noch angefeuert von Eltern, die ein Leben als moderne Kurtisane für das größte Glück einer Tochter halten.

Geradezu prototypisch vorgemacht hat einen solchen Aufstieg Mara Carfagna, „die schönste Ministerin der Welt“, wie die europäische Boulevard-Presse jubilierte, als Berlusconi das Ex-Model ins Kabinett berief – als Frauenministerin. Andere sollten folgen, Nicole Minetti beispielsweise, die „Dentalhygienikerin“, der er zu einem Sitz im Regionalparlament der Lombardei verhalf. Einst trat sie als Haremsdame im goldenen Bikini auf, heute steht sie im Zentrum der Ermittlungen gegen ihn, soll dafür gesorgt haben, dass bei seinen Partys immer genug junges Fleisch zur Verfügung steht. Weder den Einschaltquoten noch den Auflagen der Zeitungen haben die Skandale geschadet, im Gegenteil. Die Fernsehsender reißen sich um die jungen Damen, die zum Harem gehören, und jeden Abend, zur besten Sendezeit, flimmern weiter Bilder, die an Pornografie grenzen, in die Wohnzimmer.

Monatelang hat Lorella Zanardo solche Shows aufgezeichnet und dann einen Film daraus zusammengeschnitten. „Der Körper der Frauen“ ist verstörend, schockierend, provozierend und wurde dennoch ein Kinoerfolg. Auch Zanardo engagiert sich heute in der Frauenbewegung. Die Werbefachfrau aus Mailand kennt die Welt des schönen Scheins, ist Schauspielerin, Tänzerin und hat lange im Ausland gelebt. Vielleicht bedurfte es dieses fremden Blicks. „Warum wehren wir uns nicht?“, fragt die 53-Jährige, die ihren Film auch Schulklassen zeigt. Am vergangenen Wochenende lief er in Auszügen auf einer Veranstaltung in Mailand, an der prominente Intellektuelle und Schriftsteller wie Umberto Eco und Roberto Saviano teilnahmen. In der Sporthalle mit zehntausend Menschen herrschte danach Totenstille."




eine der ersten deutsch untertitelten versionen auf yt, die ich gefunden habe - der begleitende kommentar der regisseurin ist in der form leider anfangs schwierig verständlich, die bilder allerdings sprechen absolut für sich selbst. der kapitalismus in seiner globalen verfallsphase bringt offensichtlich auch sämtliche assoziierten herrschafts- und gewaltverhältnisse nochmals zu bösartigen blüten. schon das hiesige tv schreibt diesbezüglich bekanntlich ja keine ruhmesblätter; was da in italien allerdings über die schirme flimmert, macht teilweise tatsächlich einfach nur sprachlos.

würde mich sehr interessieren, ob es vielleicht auch zu bündnissen bspw. mit den schülerInnen und studentInnen kommen kann, die vor einigen monaten ebenfalls zu zehntausenden die strassen bevölkerten. "basta berlusconi!" ist jedenfalls hoffentlich die parole der kommenden wochen in italien, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die bilder vom anderen ufer des mittelmeeres dabei einen nicht zu unterschätzenden einfluß haben werden.

*

nur in kürze aus diversen news gefischt : die demontrationsversuche in algerien gestern wurden in algier und anderen städten von polizei und geheimdienst regelrecht erstickt. etliche verletzte, mindestens 300 verhaftungen alleine in algier. für das nächste wochenende sind neue demonstrationen angesagt + in tunesien kommt es weiter zu konfrontationen mit anhängern des alten regimes, die in den ganzen vergangenen wochen u.a. mittels anschlägen versuchen, die lage zu destabilisieren + das quasimilitärregime in ägypten braucht scharfe beobachtung von außen; im land selbst wird für weitere massendemonstrationen an den nächsten freitagen mobilisiert - solange, bis die elementaren forderungen - der abgang des diktators war nur die erste und dringlichste - erfüllt sind + aus dem yemen werden am dritten tag in folge demonstrationen und auseinandersetzungen zwischen regimegegnern und repressionsapparat sowie herangekarrten anhängern des regimes gemeldet + im iran sind für morgen geplante und öffentlich bei den dortigen behörden angemeldete solidaritätsdemonstrationen aus den reihen der opposition für die aufstände in tunesien und ägypten verboten worden. es empfiehlt sich sehr, morgen auch den iran im auge zu behalten. weiteres und mehr in den nächsten tagen.

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