so lautet heute die überschrift eines artikels in der jungen welt. auch, wenn er für regelmäßige leserInnen hier in seinen wesentlichen aussagen nicht sehr viel neues enthält - als zusammenfassende darstellung kann ich ihn durchaus empfehlen. unbefriedigend finde ich dabei nur die reduktion auf den "klassischen" begriff von liebe, nämlich die traute zweisamkeit incl. sexualität. dabei ist liebe imo eigentlich nicht nur ein hochpolitischer begriff - und lieblosigkeit eine absolut relevante politische kategorie in dem sinne, dass sich gesellschaften eigentlich daran messen lassen müssen, wieweit sie die sozialen und auch ökonomischen bedingungen schaffen, in denen sich ihre mitglieder zu liebesfähigen menschen entwickeln können - , sondern ebenfalls als die wichtigste basis des gesamten menschlichen lebens zu betrachten. es ist vielleicht angebracht, von liebe als existenzieller seinsweise zu sprechen - und das greift sehr weit über die definition von liebe hinaus, mit denen wir in dieser kultur so zu tun haben.
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ein paar kommentierte auszüge aus dem artikel:
(...)"Der »flexible Mensch« entwurzelt (R. Sennet), denn soziale Bindungen stehen einer ökonomischen Selbstverwertung im Wege, die allseitige Verfügbarkeit, grenzenlosen Zeiteinsatz und geographische Mobilität verlangt."
ja. diese beobachtung wurde hier bereits in verschiedenen zusammenhängen aufgegriffen. ein problem bei derlei soziologischen analysen bestht imo darin, dass sie hinsichtlich der konkreten prozesse, mit denen sich die psychophysische struktur des menschen mit solchen bedingungen versucht auseinanderzusetzen, eigentlich immer sehr im nebulösen bleiben, wenn sie denn überhaupt thema werden. liegt es vielleicht auch daran, dass hier kein verständnis ohne mindestkenntnisse oder zumindest vorstellungen aus "fachfremden" bereichen wie medizin/anatomie, neurologie, psychiatrie, psychologie... möglich ist? immer wieder falle ich darüber: in weiten bereichen der sog. geisteswissenschaften wird mit einem seltsam abgehobenen, entkörperlichten und durchaus virtuellen menschenbild operiert - der "freischwebende geist" scheint immer noch das vorherrschende paradigma zu sein, mit allen negativen konsequenzen, die eine derart verzerrte wahrnehmung nun mal mit sich bringt.
"Mit der Beschleunigung der ökonomischen Reproduktionsgeschwindigkeit haben sich neue Anforderungen an die psychosoziale Reaktionsfähigkeit der Menschen entwickelt, die wiederum auf die zwischenmenschlichen Verhaltensweisen zurückwirken; tendenziell gleichen sich die alltäglichen Sozialstandards den Reaktionsmustern im Wirtschaftsleben an. Die Kurzfristigkeit der Perspektiven in der Arbeitswelt prägen zunehmend eine Haltung der Unverbindlichkeit im Privaten. Die im Berufsleben aufgezwungenen egoistischen bis asozialen Durchsetzungsstrategien äußern sich im privaten Leben in einem berechnenden Verhältnis zum Mitmenschen."(...)
nun, es ist nicht allzuweit hergeholt, den autor als marxisten zu begreifen. von daher ist seine prioritätensetzung oben - die veränderten ökonomischen bedingungen führen zu entsprechend härteren reaktionen im "wirtschaftsleben", und prägen darüber dann die sozialen fähigkeiten - schon nachvollziehbar. aber imo ist das eben nur die hälfte der realität, dazu auch eine undialektische: es ist eher eine wechselspiel teils komplexer art, in denen die ökonomischen strukturen ebenso abhängig sind von sozialen, "weichen" bedingungen - beide prägen sich gegenseitig.
"Angesichts zunehmender Beziehungskatastrophen mutet die ungebrochene Option für die Liebe deplaziert an. Doch gerade weil das herrschende Konkurrenzklima und die beruflichen Anforderungsprofile der vertraulichen Zuneigung und dem Streben nach Gemeinsamkeit wenig förderlich sind, verstärkt sich das Verlangen nach ihnen. Auf die sozialen und emotionalen Defiziterfahrungen reagieren die Menschen mit überspannten Glückserwartungen mit der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Das Verlangen nach verläßlichen Partnerschaften hat sich bei jungen Menschen als Ersatz für die erodierten Gesellschaftsutopien etabliert. Obwohl selbst der illusorische Schleier eines bürgerlichen Familienidylls zerrissen ist, hat er seine Funktion als Orientierungsmuster nicht eingebüßt: Ein »Bedürfnis nach Verläßlichkeit und Heimat geht in die Utopie der Familie ein, obwohl jedermann die Erosion der bürgerlichen Familienstrukturen mit Händen greifbar vor sich hat.«(...) (O. Negt)
yo. hier stimme ich ebenfalls weitgehend zu.
(...)"Die mit Weltfluchttendenzen verbundenen Liebesvorstellungen waren damals Ausdruck des Gefühls eines Verlustes – und dürfte es heute immer noch sein, weil auch die Liebe in den Sog der gesellschaftlichen Fragmentarisierungstendenzen, der Gefährdung sozialer Schutzräume und einer »Individualisierung« im Sinne von Vereinzelung geraten ist. Das Liebenwollen und das Liebenkönnen, der Wunsch nach Zweisamkeit und die Lebenspraxis in den neoliberalistischen Zeiten haben sich auseinanderentwickelt.
Nicht selten ist das Bemühen, den Verlust in einen Gewinn umzuinterpretieren. Mit Hilfe ideologischer Rationalisierungsformeln wird versucht, die individuellen Reaktionen auf die Fragmentarisierung der Existenzbedingungen als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebensentwurfs erscheinen zu lassen. Jedoch ist es fraglich, ob besonders viele Menschen ohne den marktvermittelten Anpassungszwang bereit wären, ihr Leben als ein Provisorium einzurichten und sich der latenten Gefahr sozialer Isolierung auszuliefern. Die »freiwillige« Wahl dieser Existenzformen entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als Konsequenz beruflicher Zwänge oder allgemeiner Lebensumstände (die meisten »Singles« sind ältere Menschen)."
sehr überpointiert lässt sich das obige in der signatur eines users aus einem forum für aspergerbetroffene entdecken: "Autismus bedeutet nicht man könne nicht "lieben"; man kann ja auch Dinge statt Menschen lieben ;-)" oder aber menschen mittels eigener wahrnehmungsreduktion in dinge verwandeln. liebe lässt sich in solchen konstellationen allerdings nicht leben - das ist unmöglich. (btw: ob sich der smiley im zitat als hinweis auf ironie betrachten lässt, kann in dieser virtuellen ebene imo nicht beurteilt werden).
"Die Tendenzen zur Vereinzelung und sozialen Beziehungslosigkeit, auch zur sozialdarwinistischen Verachtung der Mitmenschen und zur Entwicklung von Selbsthaßsyndromen, sind Spiegelbild eines Lebens im Zeichen steter Unsicherheit und eines permanenten Bewährungsdrucks. Um in der Risikogesellschaft zu bestehen, müssen die Menschen die Disziplin und Zweckrationalität verinnerlichen, sie zu Maximen ihres Lebens machen: Leistung und Erfolg werden zu Imperativen allen Denkens und Handelns. Um sozial nicht zu unterliegen, müssen die Menschen ein zwanghaftes Verhältnis zu sich selbst einnehmen und bereit sein, Tag für Tag ein Stück der eigenen Emotionalität zu Markte zu tragen und ihre soziale Sensibilität zu beschädigen."(...)
die als letztes genannte beschädigung (die imo keinesfalls nur auf die "soziale sensibilität" beschränkt ist) kann allerdings - bekanntlich immer wieder thema hier - auch in diversen psychiatrischen diagnosemodellen entdeckt werden. und nachdem, was bisher über die möglichen ätiologien dieser verschiedenen störungen / defizite bekannt ist, lässt sich ebensogut sagen, dass entsprechend betroffene danach streben könnten, ihre eigenen, massiv von den oder der entsprechenden störung produziertes selbst- und menschen-/weltbild in die (soziale) realität hinein zu konstruieren - was letztlich unter der prämisse des eigenen überlebens durchaus sinn macht, wenngleich dieser auch beschränkt ist.. als beispiel: massive und chronische stresszustände, wie sie bspw. als posttraumatisches symptom auftreten können, werden in bestimmten wirtschaftlichen bereichen für die davon betroffenen sogar "positive" wirkungen haben können - wenn dieser stress nämlich in ein konstrukt ständiger "leistungsbereitschaft" und "arbeitswut" verpackt wird. die langfristigen folgen sind dann natürlich für die geschädigten menschen (und für die gesamte gesellschaft) katastrophal, wenn auch für ihre sog. arbeitgeber durchaus profitabel.
"Besonders durch einen Blick auf die Geschlechterverhältnisse wird das ganze gesellschaftlich produzierte psychische Elend sichtbar: Nicht nur in den literarischen Zustandsbeschreibungen wird das Sexualleben als emotionale Wüste geschildert. Die herrschende Trostlosigkeit und die Intensität der Selbstentfremdung wird von vielen sexualwissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt, die eine Tendenz zur Anonymisierung, Beziehungsarmut und emotionalen Kälte beschreiben. Mit dem Fernsehen, dem Telefon und dem Computer wird die Beziehungslosigkeit überspielt: Eros verschwindet tendenziell in den Maschinen. Triebvitalität wird ins Virtuelle übertragen, zwischenmenschliche Vereinigungsbedürfnisse auf Ersatzhandlungen reduziert."(...)
genau die erwähnte "übertragung ins virtuelle" lässt sich funktionell eigentlich nur begreifen, wenn es eine vorstellung der prozesse gibt, die diese virtuellen spären im menschen überhaupt produzieren können. und genau dafür ist das modell des objektivistischen modus ganz gut geeignet.
beschreibungen wie die obige sind dazu auch ein schwerwiegendes indiz dafür, dass diese gesellschaft es tatsächlich mit einer sehr ungesunden, dominanten stellung dieses modus und seiner produktionen zu tun hat.
(...)"Der Sexualforscher Volkmar Sigusch zeichnet die Welt der gegenwärtigen Sexualbeziehungen mit ihrem Egoismus und Dispersionen, ihren bizarren Ersatzhandlungen und narzißtischen Inszenierungspraktiken, ihrem kalten Selbstbefriedigungsdrang (der Kinderprostitution, Sextourismus und Gewaltpornographie mit einschließt) und ihrer ästhetisierten Lustlosigkeit als ein Horrorgemälde in der Tradition Hieronymus Boschs."(...)
auch das möchte ich hier absehbarer zeit aufgreifen: sex in der dingwelt. eigentlich ist das doch sehr naheliegend, dass sich schwere schäden der allgemeinen und speziellen beziehungsfähigkeiten mit am krassesten in der sexualität manifestieren. und "lust" (an der eigenen bzw. fremden objektwerdung wie im bereich von s/m-praktiken zb.) ist nicht gleich lust im sinne eines kraft- und freudvollen, lebendigen und intensiven, liebevollen erlebens.
(...)"Doch auch die gescheiterte Liebe und das verfehlte Streben nach erotischer Erfüllung sind Ausdruck einer im Kern unkontrollierbaren und individuelle Selbstentfaltung reklamierenden Subjektivität. Das Bedürfnis nach Zuneigung, Liebe und Gemeinsamkeit kann immer wieder fehlgeleitet und enttäuscht, nicht aber ausgelöscht werden. Es besitzt eine subversive Kraft, weil sie das Streben nach einem erfüllten Leben durch das Verhältnis zu anderen thematisiert und daran erinnert, daß das Ich ohne das Du nicht existieren kann."(...)
"Solange durch die sozialen Strukturbedingungen ein erfülltes Leben eher behindert denn gefördert wird, verweist die Utopie der Liebe auf die konkrete Utopie einer solidarischen Gesellschaft: »Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen.« (Karl Marx: MEW 40, S. 567)"
dem bleibt wiederum nur hinzuzufügen, dass die erwähnten bedürfnisse - eben weil sie eine körperlich-materielle basis besitzen - in einem gewissen sinne doch soweit "ausgelöscht" werden können, dass sie praktisch so unerkennbar oder auch verstümmelt werden, dass sich die frage stellt, ob es dann noch sinn macht, von solchen bedürfnissen zu reden.
erinnern Sie sich noch an den hier erwähnten jungen mann, der seine identitäten wechselt(e) wie andere ihre wäsche (und damit vor allem in der sog. "high society" auf viel anklang stieß)? nun endete die geschichte vorläufig vor gericht, und einen aktuellen pressebericht über den prozeß möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.
damals hatte ich mich aufgrund der vorliegenden informationen schon ziemlich festgelegt:
(...)"hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden."(...)
nun lässt sich diese einschätzung mit derjenigen eines psychiatrischen gutachters vergleichen:
(...)"Dabei hat sein selbstbewusstes Auftreten einst viele Menschen so überzeugt, dass sie ihm den Titel "Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" ohne Fragen glaubten. Von August bis Oktober 2005 lebte er unter diesem Namen in Düsseldorf auf Pump, prellte Banken und Firmen um 100 000 Euro.
Psychiater Martin Platzek erklärte gestern diesen Widerspruch mit einer so genannten "Borderline-Persönlichkeitsstörung". Dem Angeklagten fehle eine stabile eigene Identität, er brauche Bestätigung von außen. Mit Scheinidentitäten habe er sich Anerkennung geholt. Ursachen lägen in der Kindheit, dazu komme der Missbrauch durch einen Pfarrer mit zehn Jahren.
In sein Leben als Fürst habe ihn "eine Verkettung von Ereignissen" geführt, die es ihm leicht machten: "Das konnte er nicht auslassen." Denn eigentlich quälten ihn Minderwertigkeitsgefühle. Sie hätten ihn sogar an Selbstmord denken lassen. Fazit: "Seine Steuerungsfähigkeit war eingeschränkt."(...)
und wenn Sie sich einerseits nochmals die beiträge hier zu den themen "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" vor augen führen und andererseits auch die tatsache berücksichtigen, dass männer mit der borderline-ps häufig auch mit dem modell der "dissozialen persönlichkeitsstörung" (deren vorläufer die klassische psychopathie war) diagnostiziert werden, dann können Sie vielleicht meinen eindruck nachvollziehen, dass ich trotz unterschiedlicher diagnostischer begriffe inhaltlich nicht so falsch gelegen habe. nein, das soll hier kein schulterklopfen meinerseits werden - ich denke, der junge mann wäre vielleicht vor zwanzig bis dreißig jahren tatsächlich auch offiziell-diagnostisch als psychopath klassifiziert worden (warum ich finde, das dieser begriff - auch aufgrund seiner historischen belastung - nur noch auf eine sehr eingeschränkte gruppe von schwer gestörten menschen angewendet werden sollte, steht grob skizziert ebenfalls im verlinkten damaligen blog-beitrag).
nun also borderline - nicht zum erstenmal taucht diese diagnose im zusammenhang mit scheinidentitäten auf. eine damals noch nicht vorliegende information stellt der (vermutlich sexualisierte) erwähnte "missbrauch durch einen pfarrer" dar. und das führt direkt in den bereich von verwirrenden fragen rund um die komplexe "borderline - als-ob/simulative identitäten - trauma/dissoziation - täter-opfer-dialektik - antisoziale persönlichkeiten". es bleiben aber selbst bei berücksichtigung der neuen informationen verschiedenste möglichkeiten offen, was hier eigentlich wirklich vorliegt - die möchte ich kurz beschreiben. auch, wenn ich selbst meine eigene meinung bereits skizziert habe:
1. traumatische erfahrungen verschiedenster art liegen vor, die - und das lässt sich heute durchaus vielfältig belegen - gerade bei erlebnissen sexualisierter gewalt von männern anders als von frauen verarbeitet werden. das hat u.a. etwas mit den geschlechterstereotypen zu tun, die bis heute noch sehr wirkungsvoll sind. "männer sind / dürfen / können keine opfer sein" z.b. (das gegenstück zu "frauen sind von natur aus opfer bzw. bereit, sich zu opfern"). dieser - ja, quatsch kann zu extremen reaktionen besonders dann führen, wenn die realität der eigenen erlebnisse mit den im eigenen inneren verankerten stereotypen völlig kollidiert. so tun sich männer i.d.r. bis heute mit der vorstellung sehr schwer, zum opfer gemacht / geworden zu sein. wozu eben auch die allgemeine soziale / gesellschaftliche reaktion beiträgt, nach der es irgendwie ungehörig - oder einfacher: "unmännlich" - ist, wenn (sich) ein mann derart empfindet. mit diesem problem schlagen sich v.a. therapeutInnen herum, die mit männlichen überlebenden sexualisierter gewalt arbeiten - denn gerade im sexuellen bereich widersprechen so ziemlich alle klischees der vorstellung, dass männer ausgerechnet hier zum opfer werden könnten. dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzender anteil homophobie - "bin ich deshalb opfer geworden, weil ich vielleicht schwul bin?" oder "werde ich jetzt dadurch schwul?" das mag irrational klingen, ist aber - wenn Sie sich die gesellschaftlichen realitäten vor augen halten - eigentlich durchaus nachvollziehbar, gerade wenn die betroffenen männer / jungen in "klassischer" art sozialisiert worden sind.
an reaktionen können von betroffenen männern / jungen darauf folgen: erstens eine sehr demonstrative und rigide orientierung am klassisch-patriarchalen macho-ideal - hart, härter, am härtesten. das lässt sich als eine sehr weitgehende und starke form von verdrängung / abspaltung einerseits mit einhergehender kompensation andererseits verstehen. das die "macho-identität" bis heute in grundlegenden teilen immer noch gesellschaftlich akzeptiert, gefördert und auch bewundert wird, lässt sie für männer mit einer traumatischen biographie zu einem (zu) einfachen (schein-)ausweg werden. bei solchen männern ist dann sehr oft das zu beobachten, was ich hier als täter-opfer-dialektik begreife: sie werden, gerade beim versuch, der realen opfererfahrung zu entkommen, selbst zu tätern - und zwar auch häufig zu gewalttätern.
eine andere art der reaktion erinnert mehr an das, was die meisten menschen - wenn sie sich überhaupt mit derlei beschäftigen - spontan mit den begriffen "trauma" und "opfer" assoziieren: rückzug, isolation, sprachlosigkeit und vielfach anscheinend "rein" körperliche - und "unerklärliche" - symptome. auch das ist etwas, was gerade betroffenen männern - die sich vielfach und mehrheitlich immer noch als anscheinend "ohne psyche" begreifen - durch mächtige und stark verankerte gesellschaftliche zuschreibungen bzw. zumutungen eher als "ausweg" akzeptabel - und akzeptiert - scheint als die offensive auseinandersetzung mit dem eigenen leid und schmerz. das es diesbezgl seit ca. zwanzig jahren auch andere tendenzen - imo positivere - zu beobachten gibt, ändert leider nichts an der bis auf weiteres vorhandenen realität der skizzierten reaktionen (es gibt natürlich noch etliche andere, v.a. auch "mischformen" - aber die obigen zwei scheinen mir die vorherrschenden zu sein).
beurteilen Sie selbst, ob das gerade beschriebene - in welcher variation auch immer - im fraglichen fall hier vorliegt.
2. eine andere möglichkeit: geht es hier vielleicht, gerade weil die fake-identitäten als so überzeugend empfunden worden sind, um eine unerkannte dissoziative ("multiple") persönlichkeit? traumata, besonders in ihren drastischen formen, können diese reaktion nach sich ziehen - die aufspaltung / fragmentierung in "teilpersönlichkeiten", die durchaus ein teils deutlich ausgeprägtes eigenleben führen können und auch den körper gewissermaßen zeitweise "übernehmen". dagegen spricht eigentlich alles, was bisher über die geschichte des mannes bekannt ist: bei dissoziierten menschen sind fast immer verschiedene "kinder" aktiv (durchaus neben "erwachsenen"), die sich auch meistens ausdruck verschaffen. dazu fehlt das element bewusster kontrolle über die verschiedenen teile. und alleine aus diesen beiden punkten halte ich die variante für sehr unwahrscheinlich (mal ganz abgesehen davon, dass ein psychiatrischer gutachter eine derartige persönlichkeit eigentlich erkennen sollte - aber Sie wissen ja, wie das mit dem wörtchen "eigentlich" so ist...)
trotzdem: selbst bei der annahme, dass dissoziative zustände im weitesten sinne hier vermutlich auch beteiligt waren, bleibe ich bei meiner meinung: dissoziative ps = unwahrscheinlich.
3. eine "als-ob-persönlichkeit" also? mal abgesehen davon, dass es eine "offizielle" diagnose mit diesem namen nicht gibt (auch, wenn der begriff tatsächlich schon in forensischen gutachten aufgetaucht ist), hat vermutlich nicht nur mich etliches an das modell von helene deutsch erinnert. ganz abgesehen von j. erik mertz, der ja in seinem modell die borderline-ps in ihrer blanden form als quasi der als-ob-persönlichkeit gleich beschreibt.
dagegen würden hier, zumindest auf den ersten blick, die konstatierten minderwertigkeitsgefühle sprechen. aber tun sie das eigentlich wirklich? wenn Sie sich an die in den entsprechenden beiträgen beschriebenen, geradezu chamäleonartigen fähigkeiten von als-ob-personen erinnern, sich so ziemlich jeder situation anpassen zu können und dabei auch völlig überzeugend zu wirken - was spräche dann gegen die möglichkeit, dass sich der mann beim prozeß nicht ebenfalls perfekt der identität eines reuigen opfers bedient hätte? ich weiß, dass das nur eine spekulation ist (und eine gar nicht nette dazu) - aber ausschließen kann ich diese variante keinesfalls. das würde im übrigen auch bedeuten, dass der gutachter überzeugend getäuscht wurde - aber wäre auch das so abwegig, wenn Sie sich nochmals durchlesen, in welchen identitäten der mann agiert hat? als falscher adliger, falscher arzt, falscher polizist...und er muss dabei durchaus überzeugend gewirkt haben.
4. mit der borderline-diagnose bewegt sich imo besonders der gutachter auf einigermaßem sicherem terrain, einfach deshalb, weil diese diagnose sehr interpretationsfähig ist. ich wüßte einmal gerne, auf welche der nötigen punkte aus den offiziellen klassifikation icd und dsm er diese diagnose stützt - denn neben der - zugegebenermaßen sehr auffälligen - identitätsstörung kann ich zumindest keinerlei weitere der "klassischen" bl-symptome erkennen. kennt bzw. akzeptiert der gutachter das modell der "blanden" borderline-ps (welches nicht nur von mertz, sondern bspw. auch von christa rohde-dachser als möglichkeit skizziert wurde)? was für eine vorstellung hat er von borderline? solche fragen müssen hier offen bleiben, und darum auch die tendenz, die seine diagnose möglicherweise besitzt - oder auch nicht, wenn er sich strikt an das "offizielle" modell gehalten hat.
5. und aus dem gleichen problem des fehlenden wissens über die weltsicht des gutachters kann ich auch nichts über seine stellung zu den diagnosen der dissozialen ps und dem ganzen begriff der psychopathie generell sagen, die hier ebenfalls als bezugspunkte hätten dienen können - warum ich das finde, sollte eigentlich soweit nachvollziehbar sein. traumatische kindheitserfahrungen sprechen übrigens nicht grundsätzlich gegen diese möglichkeit.
meine persönliches fazit ist das, dass eigentlich nur weitere informationen über den background des gutachters - wie begreift er diagnosen, was hält er von den aktuellen modellen etc. - weiterhelfen würden. besonders aber wäre hier vielleicht eine gründliche neurophysiologische untersuchung angebracht gewesen, die imo zumindest die frage: "soziopathische persönlichkeit oder nicht?" hätte beantworten können. vielleicht.dazu wäre eine präzisierung der kindheitserfahrungen nötig, eigentlich auch eine gründliche analyse der pränatalen phase bei diesem mann - was dann unausweichlich auch die mutter miteinbezogen hätte.
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Sie sehen schon, das ich leicht unzufrieden bin. ich finde, das diese geschichte wieder einmal mehrere probleme aufzeigt: einmal die fließenden grenzen zwischen diversen zentralen psychiatrischen diagnosenmodellen, die darauf hindeuten, dass die sich dahinter verbergenden phänomene immer noch in wesentlichen bereichen nicht ausreichend verstanden worden sind (was übrigens nicht bedeuten soll, dass ich behaupte, ich hätte sie verstanden - ich arbeite hier mit verschiedenen alternativmodellen, um auch für mich selbst ein größeres verständnis - im besten fall - zu erreichen). dazu finde ich, dass die diagnosenstellung ganz dringend um neurophysiologische und pränatale aspekte erweitert gehört, in diesem rahmen auch um eine analyse der familiären strukturen. es würde sehr wahrscheinlich einfach das bild um ganz entscheidende aspekte erweitern, was wiederum eine größere sicherheit bei der diagnostik zur folge haben müsste.
vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, hat der psychiatrische gutachter auch eine "konventionelle" neurologische untersuchung durchgeführt, um bestimmte, als primär organisch begriffene störungen auszuschließen. das er sich auch um eine analyse der pränatalen entwicklung bemüht hat, wage ich allerdings zu bezweifeln.
klingt alles anmaßend oder gar arrogant meinerseits? mag sein - aber das sind nun mal die fragen, die mir dazu in den kopf kommen.
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und eine frage auch als letztes: ich wundere mich sehr, dass die kontakte des jungen mannes zur sog. politischen klasse zumindest für die zeitung überhaupt kein thema waren. und ich frage mich, ob sich das auch beim prozeß so verhalten hat. die gründe dafür würden mich dann doch ebenfalls sehr interessieren.
so. ich komme momentan nicht so recht bei der bearbeitung diversen materials hinterher, aber das ist ja bekanntlich nix neues. die angekündigten fortsetzungen zu den kriegen im nahen/mittleren osten, und hier als nächstes die möglichen psychophysisch-sozialen grundlagen für den islamischen fundamentalismus speziell aus sicht der psychohistorie, werden aber auf jeden fall erscheinen.
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und manchmal kommt dann auch einfach etwas "hereingeflogen", was ich so interessant finde, dass ich es einfach vorziehen möchte - in diesem fall danke ich wieder einmal sansculotte für den hinweis auf das folgende interview mit den hirnforscher und biologen gerhard roth unter dem kontroversen versprechenden titel "Hitler und Stalin haben sich nicht freiwillig entschieden" - es geht dabei, wie der satz schon vermuten lässt, generell um das thema "freier wille" - was das überhaupt sein könnte, welche grundlagen das besitzt (oder auch nicht), und vor allem, welche gesellschaftlichen folgen die - hm, ungeprüfte unterstellung der sog. willensfreiheit für faktisch alle von uns hat. ich werde die aus meiner sicht spannendsten passagen vorstellen und kommentieren.
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"Gerhard Roths provokante These lautet: Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto weniger ist sie vom Täter wirklich gewollt. Schläger, Mörder und Massenmörder seien Getriebene in der Kindheit erworbener Hassgefühle. Gesetze hält Roth für wichtig, Gefängnisse aber für überholt."(...)
"Lieber Herr Roth, ist die Tatsache, dass ich heute ein Interview mit Ihnen führe, das Ergebnis meines freien Willens, oder bin ich neuronal gesteuert bei Ihnen gelandet?
Gerhard Roth: Weder noch. Weder ist es die Konsequenz Ihres freien Willensentschlusses - den gibt es nämlich nicht -, noch kann man sinnvoll von einer reinen neuronalen Steuerung sprechen.
Hat der Mensch überhaupt einen freien Willen, der es ihm ermöglicht, selbstbestimmt zu entscheiden?
Roth: Er hat diese Möglichkeit. Was man unter freiem Willen versteht, ist jedoch etwas äußerst Heterogenes. Man ist auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Mensch hat die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei, also aus sich heraus und auf der Basis seiner eigenen Motive, zu entscheiden."
die "fähigkeit und möglichkeit" also - das relativiert als erstes mal die absolutheit, an die wir faktisch alle gewöhnt sind, wenn wir uns mit dem "freien willen" beschäftigen, v.a. dann, wenn er zur begründung von handeln oder auch nichthandeln herangezogen wird. fähigkeiten und möglichkeiten umschreiben eigentlich ein potenzial - potenziale aber brauchen bestimmte bedingungen, um real wirksam werden zu können - sie brauchen förderung, training und - in diesem speziellen fall - auch entsprechende soziale milieus.
mit der "basis der eigenen motive" führt roth allerdings meiner meinung nach durch die hintertür wieder ein konstrukt ein, zu dem es in der realität nur annährungen geben kann - die eigenen motive so weitgehend zu verstehen, wie es hier impliziert wird, setzt eine qualität der selbsterkenntnis voraus, die zumindest unter den heutigen sozialen bedingungen schier unmöglich zu leben zu sein scheint.
"Trotzdem, damit ich es wirklich einmal verstehe: Eine der großen Errungenschaften des Menschen, mit der er sich auch vom Tier unterscheidet, ist der Glaube daran, er könne sich selbstbestimmt in seinem Leben verhalten. Dass seine Bedürfnisse auch reflektorisch zu einer Entscheidung führen, die dann zu einer Handlungsweise führt. Stimmt das?
Roth: Das stimmt. Man muss aber unterscheiden, was im philosophischen und strafrechtlichen Sinne unter Willensfreiheit verstanden wird. Im Klartext: Wir fühlen uns frei, wenn wir, wie der Philosoph David Hume sagte, tun können, was wir wollen. Wenn wir einen bestimmten Willen haben, der am besten auch noch reflektiert ist, und wenn wir nach diesem Willen handeln. Das ist ein vernünftiger Begriff von Handlungsautonomie oder von Freiheit im umgangssprachlichen Sinne. Davon unterscheidet sich völlig die Fiktion, die auf Immanuel Kant zurückgeht, es gebe bei unseren Entscheidungen einen Raum, in dem das bewusste Ich frei von allen Motiven, rein nach abstrakten Überlegungen, zum Beispiel der Rechtsmoralität, entscheiden könnte."
eine sinnvolle unterscheidung, wie ich finde. wobei der definition von hume eine permanente "unschärfe" zu eigen ist, die von roth zu wenig berücksichtigt wird.
interessant aber vor allem die kritik an der fiktion von kant - hier wird, in etwas anderen worten zwar, aber doch unverkennbar, von einem konstrukt des objektivistischen modus gesprochen, der beim obigen beispiel in einer dominanten, real unmöglichen, von der körperlichen basis losgelösten position operiert. und wie hier bereits öfter erwähnt, tut er das in einem quasi virtuellen raum, der als entstehungsort faktisch aller fiktionen funktionell unverzichtbar ist. ich fühle mich in meiner ansicht bestärkt, dass den verschiedenen strömungen gerade der westlichen philosophie spätestens seit newton (siehe auch hier ) und descartes mit allergrößter skepsis zu begegnen ist - sicher, teils sind es großartige konstruktionen - aber eben auch nur das.
"Was verstehen Sie unter Motiven?
Roth: Alle Beweggründe, die aus unseren Genen, aus unserer Hirnentwicklung, aus unseren frühkindlichen Prägungen, aus unserer späteren Sozialisierung und aus der Erfahrung resultieren und in vielfältigster Form auftreten."
würde ich soweit unterscheiben, mit zwei ergänzungen: erstens sind die genetischen grundlagen des menschen in einem großen aumaß, wie heute langsam sichtbar wird, viel flexibler und sozusagen interaktiver (und zwar mit den jeweiligen sozialen bedingungen), als früher vermutet wurde - eine starre genetische determinierung gerade sozialen verhaltens lässt sich als behauptung imo nicht mehr aufrechterhalten. und zweitens ist die hirnentwicklung (zusammen auch mit der entwicklung des nervensystems) etwas, dessen grundlagen bereits pränatal gelegt werden - und pränatal können aber auch bereits (vor allem via mütterlicher einflüsse) verschiedenste störungen bis hin zu regelrechten defekten auftreten, die sich beim werdenden menschen in funktionellen oder strukturellen beeinträchtigungen zeigen - u.a. beeinträchtigungen der selbst- und weltwahrnehmung, die besonders - aber nicht nur - im "offiziellen" autistischen spektrum eine hauptrolle spielen.
"Ich hatte immer die Überzeugung, dass ich tue, was ich will.
Roth: Das ist ja auch völlig richtig. Die Auflösung dieses Paradoxons besteht darin, dass der Mensch keinen Einblick in das hat, was den Willen formt. Wir handeln einem Gefühl entsprechend. Gleichzeitig müssen aber der Psychologe, der Neurobiologe und auch der Philosoph anerkennen, dass der Wille selber zusammengesetzt ist aus unbewussten und bewussten Motiven, aus emotionalen und rationalen. Das erleben wir selbst aber nicht. Insofern ist der Wille bedingt, und zwar durch unsere gesamte Lebensgeschichte.
Warum spiegelt das Gehirn dem Menschen den Eindruck vor, er habe ein autonomes Ich? Ist das ein Schutzmechanismus?
Roth: Am Ende ja. Wenn ich nach meinen eigenen Erwartungen handele, stellt sich in mir automatisch das Gefühl der Handlungsfreiheit ein. Das ist das Erste. Das Zweite ist, ich habe als Mensch gegenüber den Tieren fast immer Handlungsoptionen, die in dem Augenblick, in dem ich über die Option reflektiere, noch nicht festgelegt sind. Was ich heute Abend tun werde, steht in diesem Augenblick noch nicht fest. Das ist sehr wichtig, weil manche Kritiker denken, da gebe es ein Gehirn, das uhrwerkartig längst entschieden hat, ehe wir darüber reflektieren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Ich habe Optionen. Ich kann früh ins Bett gehen, ich kann ins Kino gehen, ich kann arbeiten, viele andere Dinge machen - diese realen Optionen sind ein weiteres ganz wesentliches Merkmal des Gefühls von Freiheit. Und damit ist völlig vereinbar, dass ich, wenn ich es dann tue, durch meine Motive bedingt bin."
wobei auch die als letztes erwähnten optionen eben erstmal nur das sind - möglichkeiten. ich sehe v.a. zwei einschränkungen, durch die diese möglichkeiten teils drastisch reduziert werden können: einmal sozusagen eine "interne" einschränkung, die durch krankhafte prozesse/entwicklungen im ganz allgemeinen sinne erzeugt werden kann - ein gebrochenes bein reduziert gewisse möglichkeiten, ebenso aber auch bspw. phobien und ängste.
und zum anderen entscheiden auch die sozialen bedingungen über meine (un-)möglichkeiten - und zwar gleich in zweierlei weise: zum einen können die eben erwähnten ängste eigentlich hinsichtlich ihrer ätiologien meistens nicht von diesen bedingungen getrennt werden; und anderseits hat ein millionär andere optionen zur verfügung als ein "hartzIV"-empfänger (wobei sich das bei einem phobischen millionär bspw. auch wieder relativieren kann).
das erwähnte "autonome ich" scheint mir übrigens nur ein anderes synonym für den objektivistischen modus (nach der definition von mertz) zu sein - die postulierte "autonomie" ist real unmöglich, weil wir als materielle wesen ständig in verschiedenen beziehungen und auch abhängigkeiten stecken. ich greife hier mal weit vor und behaupte, dass sich so eine art "autonomes ich" funktionell wahrscheinlich ganz zentral als reaktion auf jahrtausendealte strukturen verbreiteter gewalt begreifen lässt - eine art kollektive dissoziation im breitesten maßstab, eine bewegung weg von den (schmerzerfüllten) körpern und schmerzhaften gefühlen, hin zu den (vermeintlichen) rettungsankern in fiktiven und virtuellen räumen. es gibt dabei wahrscheinlich verschiedenen erscheinungsformen, die so eine bewegung annehmen kann - so lassen sich bspw. die verschiedenen religionen mit ihren (fiktionalen) gottheiten ebenfalls derart begreifen. in der westlichen kultur haben philosophie und wissenschaft mit ihrer impliziten körperfeindlichkeit sowie ihrem funktionellen autismus (wahrnehmungsmässig) einen anderen weg der kollektiven dissoziation aufgezeigt. möglicherweise (!) aber einen, der eine paradoxe art der selbstauflösung der allgemeinen dissoziation zumindest als option enthalten könnte.
"Aber wenn ich nicht selbstbestimmt für mein Ich entscheide, dann kann man mich auch für nichts mehr verantwortlich machen.
Roth: Das ist die große Frage, die im Augenblick sehr intensiv in der strafrechtlichen Theorie diskutiert wird. Ob es eine Verantwortung im Staatssinne ohne diese Willensfreiheit gibt. Und die Antwort ist: ja. Wir haben zwar keine absolute Verantwortlichkeit in uns, von Geburt an, irgendwo in der Großhirnrinde, wir können aber zu einer Verantwortlichkeit erzogen werden. Das heißt, wir können durch Erziehung erreichen, dass jeder Mensch verantwortlich handelt, nämlich im Rahmen von Normen, die ihm vorgegeben werden."
nochmals die implizite betonung der option der durch den sog. freien willen möglichen verantwortlichkeit also. "erziehung" sollte hier imo nicht in der klassischen form begriffen werden - letztlich muss dieser prozeß bereits bei der schaffung von angemessenen, unterstützenden und gewaltfreien lebensbedingungen (nicht nur) von schwangeren frauen beginnen. und bei einer ganz wesentlich größeren bewusstheit bezgl der motivationen eigener kinderwünsche überhaupt.
und die erwähnten (sozialen) normen können selbstverständlich nicht die heutigen sein, die bspw. von den konstrukten "eigentum" und "objektivität" einen regelrecht perversen charakter verpasst bekommen haben. auf dieses problem verweist auch die nächste frage:
Wird der Mensch dadurch nicht absolut bestimmt von denjenigen, die die Herrschaft über die jeweiligen Normen der Zeit haben?
Roth: Überhaupt nicht. Die Erziehung durch die Gesellschaft ist nur eine von mehreren Komponenten. Zunächst gibt es meine genetische Ausrichtung.
Diese ist in der Regel schwach, sie liegt bei 10 bis 15 Prozent. Der allergrößte Teil ist das, was wir als Kind und als früher Jugendlicher erfahren haben. Das verfestigt sich einmal zur Persönlichkeit im individuellen Sinne, aber auch zur Persönlichkeit im sozialen Sinne. Das legt fest, wie ich später handele. Ob ich zum Beispiel der Staatsmacht widerstehe, weil ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, das mir beibringt, ungerechten Maßnahmen zu widerstehen. Interessant ist, dass sich diese frühe Kindheitserfahrung im Gehirn manifestiert. Also: Was ich als Kind erlebe, dringt in mein Gehirn ein und verändert es."
yo. wieder mit der erweiterung der pränatalen phase. ansonsten finde ich die obigen aussagen sehr erfreulich in dem sinne, das endlich einmal der heutige wissenstand bezgl. der menschlichen entwicklung deutlich mit art und form der daraus resultierenden gesellschaft(-en) verbunden wird, zumindest ansatzweise (aber man(n) ist ja bereits für wenig dankbar...)
und jetzt zu einem ganz heißen eisen:
"Sollte man die Kategorie Schuld im Strafrecht abschaffen?
Roth: Nein. Es gibt ja zwei große Kategorien von Schuld. Einmal die Sühne und Vergeltungsschuld. Die ist abzuschaffen, wie der Strafrechtstheoretiker Klaus Roxin schon gefordert hat. Andere Rechtstheoretiker wie Franz von Liszt sagen, wir müssen den Schuldbegriff aus bestimmten Gründen beibehalten, aber ihn auf die General- und Spezialprävention einschränken. Also auf die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die Abschreckung, die Therapie und das Wegsperren. Den Schuldbegriff brauchen wir aber im Sinne einer anerzogenen Verantwortung, um - so argumentiert zum Beispiel Klaus Roxin - der Strafe ein Maß zu geben. Damit der Staat zum Beispiel nicht übermäßig straft. Das ist aber ein nicht ausgearbeitetes Konzept.
Lassen Sie mich ein wenig polemisieren. Wie gehe ich mit der moralischen Bewertung und Verurteilung eines Adolf Hitler oder eines Slobodan Milosevic um, wenn ich bei einem Dieb gesagt habe, das, was dieser Täter gemacht hat, war nicht willentlich?
Roth: Es gibt etwas, das ich Schuldparadoxon genannt habe. Das Schwere im moralischen Sinne ist die Tat. Alle Untersuchungen zeigen jedoch, dass je verabscheuungswürdiger das ist, was jemand getan hat, also auch Stalin oder Hitler, desto klarer die Einsicht ist, dass die Leute nichts dafür konnten. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, sondern sie wurden aus extrem starken Motiven dazu getrieben. Das ist bei Hitler und bei Stalin so, ebenso bei Gewalttätern und Pädophilen. Das ist sonnenklar für jeden Fachmann."
ha! endlich! endlich wird einmal begonnen, die absurde und katastrophal falsche basis der heutigen justiz zu thematisieren, ihre pseudounabhängigkeit, die pseudoobjektivität ihrer richterInnen und nicht zuletzt die durch und durch objektivistische qualität ihrer gesetze, die wie ein abstraktes raster über der gesamten gesellschaft liegen, und gerade durch ihre abstraktion in ihrer heutigen form v.a. als machtinstrument dienen.
was ich mit dem letzten satz konkret meine? "gesetze" im heutigen sinne gehen ganz zentral erstens von einer vorausgesetzten und auf alle fälle vorhandenen verantwortlichkeit von menschen aus, die jedoch - gerade unter den herrschenden sozialen bedingungen, die wiederum ganz entscheidend von unser aller traumatischen kollektiven und auch vielfach individuellen geschichte bestimmt werden, eben - und das ist meine persönliche meinung - hauptsächlich nur als option vorhanden ist. zweitens, und der punkt hängt in gewisser weise mit dem ersten zusammen: sie sind ihrem wesen nach reduktionistisch, d.h. sie berücksichtigen nicht die beziehungsrealitäten des menschen, sondern gehen faktisch von einer isolierten, vereinzelten monade aus, die primär von ihrer vernunft geleitet wird - und dazu ein set hauptsächlich negativer an"triebe" wie neid, gier usw. besitzt. und im letzteren, damit zum dritten punkt, reproduzieren sie völlig bewußtlos die traumainduzierte negative anthropologie, die sich heute überall in dieser gesellschaft beobachten lässt (achten Sie nur mal drauf, wie oft Ihnen folgende aussagen begegnen - "der mensch ist von natur aus schlecht", "ein irrläufer der evolution" usw.)
ich habe hier in der vergangenheit gerade anläßlich verschiedener prozesse gegen kindsmordende bzw. gewalttätige eltern bereits ähnliches zur justiz anzumerken gehabt - und einiges meiner damaligen kritiken kann ich jetzt wiederholen - so zb. diese:
(...)"hat der gutachter kröber mit seinen fragwürdigen einlassungen hier vielleicht bewusst geschützt und gerade deshalb unfreiwillig offenbart, was nicht öffentlich und breit bewusst werden darf und soll? das eine nüchterne rekonstruktion der ereignisse unter einschluss der transgenerationalen familiendynamiken nicht nur die kette der gewalt, sondern auch unser aller gesellschaftliches versagen, unsere quasiakzeptanz dieser kette deutlich machen würde? mussten die beiden eltern alleine schon zur aufrechterhaltung des eigentlich unhaltbaren juristischen schuldbegriffs und menschenbildes auf alle fälle voll "schuldfähig" gesprochen werden? werden damit nicht auch die deutlichen widersprüche der staatlichen und politischen propaganda, die sich familien- und besonders kinder"freundlich" gibt, zur realität von politischen entscheidungen deutlich, die durch ökonomische verelendung genau die milieubedingungen fördert, in denen offene gewalt oder stille verwahrlosung von ganzen familien bevorzugt gedeihen, unter den teppich gekehrt? genauso wie die offenkundige unfähigkeit der offiziellen psychiatrie, zustände von wahnsinn - ausgelöst durch menschliche gewalt - korrekt zu erkennen und eben nicht durch die alleinige orientierung an scheinbarer "realitätstüchtigkeit" und "objektiv" vorhandener kognitiver intelligenz komplett zu leugnen und auf eine "als-ob"-simulation hereinzufallen (genauso werden auch die vielen hitlers dieser welt aus dieser sphäre des wahnsinns ferngehalten herausdefiniert - es wäre ja auch zu gefährlich, das zu erkennen und gleichzeitig nach der inneren verfassung der den "führern" folgenden massen fragen zu müssen)? müssen deshalb auch auschwitz (bzw. das, wofür es steht) und ereignisse wie das hier thematisierte regelmäßig als "leider völlig unerklärbar" bezeichnet werden?"(...)
und der folgende auszug lässt sich nach meinem verständnis als direkte weiterführung der ausführungen von roth oben verstehen:
(...)"ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.
vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste."(...)
kurz: unsere ach so "rechtsstaatlich-demokratische" justiz und ihre gesetze sind im kern ganz wesentlich von einer verzerrten anthropologie geprägt, die eine im strengen sinne pathologische und wahnsinnige version des menschlichen seins für "normal" hält.
entsprechend erbarmungslos und pathologieerzeugend sieht dann auch ihre praxis aus.es bleibt immer weniger bei der frage offen, ob dieser art von justiz noch irgendeine art von berechtigung zugestanden werden soll bzw. kann. (und um mißverständnisse an dieser stelle auszuschließen: die justiz stellt nur einen gesellschaftlichen bereich dar, in dem ganz grundsätzlich etwas falsch läuft).
weiter im interview:
"Wie soll eine Gesellschaft mit solchen Menschen künftig umgehen?
Roth: Es wird ja überhaupt nichts im weiteren Sinne entschuldigt. Sondern es geht darum, dass dieser Sühne- und Vergeltungsschuldbegriff inhuman ist. Er sinnt nämlich auf Rache. Dazu eine kurze historische Betrachtung: Früher wurde es als persönliches Verschulden angesehen, wenn man in Armut geriet oder krank wurde. Man war persönlich schuldig. Heute haben wir uns davon befreit - so wie von der Selbstjustiz. Aber vor 150 Jahren wollte kaum jemand anerkennen, dass Krankheiten durch Bakterien und Viren verursacht werden und nicht durch göttliche Fügung. Es wurde gesagt, es werde schon was dran sein, weshalb der oder die schwer krank geworden sei. Das ist ein Lernprozess. Ich behaupte, dieser Vergeltungs- und Sühneschuldbegriff ist inhuman. Der Therapiegedanke, der Besserungsgedanke wird dadurch nachweislich abgeschafft."
der vorletzte satz trifft es haargenau. und ich finde neben anderem v.a. immer wieder die heuchelei dieser gesellschaft extrem widerlich, die sich im falschen glanz ihrer fetische "rationalität" und "vernunft" sonnt, um dann in den entscheidenden momenten deutlich zu machen, dass es sich dabei um abgehobene konstrukte handelt - und dann folglich in der verdrängten, verleugneten, abgespaltenen und (zumindest in europa) tabuisierten ebene verzerrter und bösartig gewordener gefühle wie rache zu landen.
"Ist ein Mensch wie Hitler im hirnbiologischen Erkenntnisprozess therapierbar?
Roth: Eine völlig offene Frage. Schwerverbrecher und Mörder haben alle schwerste Hirnschäden im Stirnbereich, das belegen Untersuchungen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Leuten, die auch solche Schäden haben und nicht kriminell geworden sind. Man vermutet, dass das Gehirn, durch verschiedene Umstände begünstigt, die Möglichkeit hat, das zu reparieren, ob nun organisch oder durch eine sehr frühe Therapie.
Überträgt man Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die geisteswissenschaftliche Ebene, dann stellt sich bei Hitler der Offenbarungseid jeder Moraltheorie ein.
Roth: Das ist nicht richtig. Wenn es eine Moral gibt, die das, was Hitler getan hat, für verabscheuungswürdig hält, weil es das friedliche Zusammenleben der Menschen und das Glück des Einzelnen völlig zerstört, dann muss man untersuchen, ab wann solche psychopathologischen Entwicklungen einsetzen. Und die Erkenntnis lautet, sehr früh, bereits im Alter von vier oder fünf Jahren. Schon ein kleiner Junge, der sich so und so auf dem Schulhof verhält, ist höchst gefährdet, ein späterer Gewalttäter zu werden. Das ist nicht sicher, aber die Gefährdung ist sehr hoch. Und die Moral setzt genau dort an. Dass man beschließt, das müssen wir vermeiden, weil der Junge nämlich sonst das friedliche und glückliche Zusammenleben in der Gesellschaft stören würde."
was roth im letzten absatz ausspricht, ist und bleibt für mich unter den heutigen (!) gesellschaftlichen bedingungen und machtverhältnissen eine extrem zwiespältige angelegenheit - auch, wenn ich neue formen der prophylaxe und früherkennung von antisozialen tendenzen grundsätzlich befürworte - allerdings ausdrücklich unter einschluß derjenigen schichten, die sich heute als sog. eliten begreifen.
und das ich von "moral" in den hier diskutierten zusammenhängen nicht viel halte, lässt sich z.t. hier nachlesen. das vorhandensein von moral - d.h. abstrahierten handlungsanweisungen - innerhalb einer gesellschaft bleibt für mich weiter eher als indiz für grundsätzlich gestörte kollektive und individuelle selbstregulation bestehen.
"Die Gesellschaft kann doch die frühkindliche Entwicklung kaum beeinflussen. Sie vollzieht sich in den Familien.
Roth: Das ist eben die Tragik. Wir haben eine moralische Vorstellung von der Familie, dass sie eben das tun kann, was sie will. Aber wenn wir verhindern wollen, dass etwa fünf Prozent der Jungen schwer gewaltbereit werden, dann müssen wir dieses Tabu brechen. Und das wird ja auch äußerst erfolgreich von Kolleginnen und Kollegen von mir bei der frühkindlichen Therapie gemacht. Gerade wenn wir erkennen, dass Menschen moralisch gefährdet sind, hat die Gesellschaft die Verpflichtung, einzugreifen. Und dabei gilt: Je später man eingreift, umso weniger wirksam ist es."
auch das unterschreibe ich, aber mit einer gewaltigen einschränkung: wieder können unter den heutigen machtverhältnissen die nötigen veränderungen und auch eventuelle eingriffe in dysfunktionale familien eigentlich nicht stattfinden, ohne sofort die gefahr extrem destruktiver nutzung seitens der herrschenden eliten hervorzurufen.
"Lassen Sie mich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Mit Descartes entstand die Hoffnung des Denkens und mit Kant die Vernunft als Mittelpunkt des Seins. War das alles nur eine Illusion?
Roth: Ja, es war Illusion für jeden Menschenkenner seit 200 000 Jahren. Alle großen Denker haben immer gewusst, dass das eine Illusion ist. Es war eine verständliche Illusion, vielleicht sogar eine staatsnotwendige Illusion. Aber es war eine Illusion. Jeder Politiker mit Menschenkenntnis weiß, dass Rationalität sehr wichtig ist, dass man aber am besten nicht allein auf sie baut. Alle Eltern mit mehr als einem Kind wissen, dass vom Temperament, also vom Kern der Persönlichkeit her, die Kinder so bleiben, wie sie bei der Geburt sind. Gerade bei Kant ist es wunderschön zu sehen. Wenn Kant selber sagt, niemand könne sich vorstellen, wie dieser freie Wille funktionieren soll. Kant meinte eben, es müsse so sein, weil sonst moralisches Handeln nicht möglich wäre. Ich und viele andere sagen nun: Wenn wir die Verabscheuungswürdigkeit von Taten trennen von dem abstrakten Willen, dann können wir unseren moralischen Anspruch aufrechterhalten."
yo. wie schön, das zu lesen: diese gesellschaft, nein sogar die "kultur", in der sie verankert ist, ist in ihren selbstvorstellungen und ihrem weltbild bei realistischer betrachtung, d.h. unter berücksichtigung einer annährend korrekten anthropologie, auf sand gebaut - auf objektivistische fiktionen, illusionen - letztlich also einen bereich, dem ebenso die übelsten psychotischen individuellen wie auch kollektiven wahnvorstellungen entspringen, in deren offene formen ja die "normalen" illusionen auch immer wieder kippen - vielleicht das deutlichste beispiel dafür ist bis heute der nationalsozialismus. das roth das als "vielleicht sogar staatsnotwendige illusionen" bezeichnet, stellt - wenn auch vielleicht ungewollt - eine sehr wahre aussage über unsere situation dar.
"Woher nimmt man die Legitimation, bestimmte Normen für eine Gesellschaft festzulegen und andere nicht auch zu respektieren?
Roth: Darauf kann man eine klare Antwort geben. Ein ganz kleiner Teil unserer Normen liegt bereits in unseren Genen. Wir bringen zum Beispiel unsere Eltern nicht um. Wir schaden unseren nächsten Verwandten in aller Regel nicht. Aber im Tierreich gibt es Mord und Totschlag und beim Menschen eben auch. Ich behaupte, die Mehrzahl der Menschen folgt einer Art Steinzeitmenschen-Code, der während der frühen psychosozialen Erfahrung festgelegt wird und uns bestimmte Dinge tun lässt. Es gibt kein weiteres Gewissen. Nehmen Sie einen Jungen, der in Bogotá aufwächst, wo ich eine Zeit lebte. Der wird einen Menschen wegen eines Dollars umbringen und nicht die geringste Reue dabei empfinden. Weil er gelernt hat, wenn ich das nicht tue, dann sterbe ich. Der Straßenjunge bringt zwar nicht seinen Vater um. Aber ein Nichtverwandter bedeutet ihm nichts.
Ist das die Steinzeitkultur?
Roth: Ja. Wenn ein Fremder kommt und sich nähert, muss man ihn erschlagen. Das ist moralisch gut, moralisch geboten. In der Steinzeit war es nämlich so: Wenn einer kam, wollte er mein Kind, meine Frau und mein Vieh wegnehmen. Skrupel hatte man nur gegenüber Verwandten. Und dieser Junge in Bogotá, wenn der einen Touristen umbringt, warum sollte das aus seiner Sicht verwerflich sein? Im Gegenteil, es ist ja ganz toll, er bekommt dadurch einen Dollar oder eine goldene Uhr. Hier sieht man, es gibt nachweislich keine Moral jenseits dieser schwachen genetisch verankerten Moral. Das heißt, was wir uns an weitergehender Moral erworben haben, entstand nur durch in Tausenden von Jahren bitter bezahlte Einsichten. Dass es Regeln gibt, wie Menschen zusammenleben, und dass man sie tunlichst beachten sollte."
einspruch: roth vergisst hier u.a. schlicht die erkenntnisse der heutigen psychotraumatologie. der "junge in bogotá" nämlich stammt aller wahrscheinlichkeit nach aus einem milieu, welches voll von gewalt ist - und zwar akzeptierter und gewohnheitsmässiger gewalt. wie sind die sozialen fähigkeiten der eltern? wie sieht es mit den verschiedenen möglichen deprivationen durch bitterste armut aus? was spielt ein gewalttätiger staat (und als solches lässt sich das heutige kolumbien durchaus bezeichnen) für eine rolle, in dem übergriffe des militärs und folter zur "normalität" gehören? todesschwadronen? und dazu die offen mafiösen strukturen der diversen narco-kartelle?
ich brauche keine "steinzeitkultur" zu bemühen, um selbst eine negative genetische determinierung anzunehmen - wenn nämlich diese traumatischen gewaltformen wie die obigen über generationen vorhanden sind, dann steigt die wahrscheinlichkeit entsprechender genetischer "anpassungen" zwecks bloßen überlebens rapide an. und von den sonstigen anzunehmenden negativen psychophysischen prägungen durch extrem negative und destruktive lebensbedingungen brauchen wir erst gar nicht anzufangen. kurz: ich halte den "steinzeitmenschen-code" im wesentlichen für ein mehr oder weniger unbewusstes entlastungskonstrukt. wer und was hier entlastet werden soll, muss ich hoffentlich nicht noch extra erwähnen.
im nächsten absatz widerspricht er sich diesbezgl. meiner meinung nach selbst:
"Glauben Sie an die Vision eines friedlichen, guten Menschen im Sinne dieser Moral?
Roth: Ja, natürlich. Wenn Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl besitzen und ein gutes Frustrationstoleranzsystem, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung hatten und eine günstige psychosoziale Umwelt, dann sind sie empfänglich für die Normen der Gesellschaft. Das ist die große Chance, die wir haben. Und deshalb sind ja auch 95 Prozent der Menschen friedlich und bringen sich nicht um. Es sind fünf Prozent, die aus physiologischen Gründen oder wegen früher Traumatisierungen eben so sind, wie sie sind. Und bei Stalin, Hitler und anderen ist das ja auch aus den Biografien erklärbar."
also, es geht auch ohne "steinzeit-code" - genau die benannten bedingungen sind eben beim jungen aus bogotá nur rudimentär bis gar nicht vorhanden.
ich befürchte allerdings, dass die "fünf prozent" eine gewaltige fehleinschätzung darstellen.
"Sie beschreiben etwas, das in der Wissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert wird. Was ist das Neue an diesen Erkenntnissen?
Roth: Das Neue an den Erkenntnissen meiner Zunft ist, dass man Dinge empirisch experimentell nachweisen kann. Also die Frage, ob frühkindliche Erfahrungen wirklich den Einfluss haben, den Freud und andere ihnen unterstellt haben. Das war bis vor Kurzem nicht überprüfbar. Die Antwort heißt nun: Es gibt diese Einflüsse, aber in komplizierter Wechselwirkung mit den Genen, mit der Hirnentwicklung und mit der späteren psychosozialen Verhaltensweise. Auch die alte Frage "Ist der Mensch eher durch seine Gene oder durch die Gesellschaft determiniert?" galt bis vor Kurzem als unentscheidbar. Heute können wir eine sehr befriedigende Antwort darauf geben, rein empirisch experimentell. Wir können nachweisen, wie die Gene das Verhalten bestimmen, wie die Mutter-Kind-Beziehung ins Gehirn eingreift - schon vor der Geburt. Und wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich als Kind selbst Opfer von Gewalt wurde, mein Gehirn negativ verändert. Es gibt Tausende von Untersuchungen, die belegen: Menschen sind durch ihre frühe psychosoziale Erfahrung extrem beeinflusst. Man kann es im Gehirn zeigen."
und das obige sollten, nein sogar müssen wir uns allesamt hinter die ohren schreiben! genau hier liegt ein wesentlicher teil der basis, ohne die zukünftig keinerlei positive soziale entwicklung konzipiert und durchgeführt werden kann.
"Ist eigentlich die Institution Gefängnis nach dem, wie Sie Schuld, Schuldfähigkeit, Schuldbewusstsein und freien Willen definieren, überhaupt noch zeitgemäß?
Roth: Alle Experten, mit denen ich zu tun habe, sagen: nein. Durch das Gefängnis wird der erste Teil des Schuld- und Strafbegriffs bedient, nämlich Vergeltung und Sühne. Und der genauso wichtige Begriff der General- und Spezialprävention, also des Vorbeugens weiterer Taten, wird sehr niedrig gehandelt aus vielerlei Gründen, weil es unglaublich viel kostet und weil viele Dinge noch gar nicht untersucht sind. Das wird von vielen Strafrechtstheoretikern, Strafrechtlern und auch Kriminologen beklagt."(...)
und dem bleibt aus meiner sicht nur noch hinzuzufügen, dass gefängnisse nicht umsonst das synonym "schule des verbrechens" tragen - hier wird (im drittletzten absatz von unten) ein sehr eindrückliches beispiel dafür beschrieben. dafür werden u.a. Ihre steuern benutzt, neben der finanzierung von all dem anderen destruktiven zeug wie den sog. sicherheitsorganen, militär, fragwürdiger großtechnologie undundund...
*
ob die "welt" wohl weiß, was sie da eigentlich veröffentlicht hat?
...thematisierten psychiatrischen diagnosen fanden sich in der letzten zeit zwei meldungen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte - gerade weil sie wieder einmal grundsätzliche probleme der aktuellen diagnostischen modelle deutlich machen.
*
zum einen wäre da die folgende aussage zum "aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom" adhs (das ist nicht das gleiche wie ads - der inhaltliche unterschied ist mit dem "h" in der abkürzung bereits deutlich):
"Die Krankheit wird häufig als Borderline- oder bipolare Störung fehldiagnostiziert und fehlbehandelt,..."
oder taucht als sog. komorbidität bzw. zweite diagnose bei bl-diagnostizierten auf. ebenso, wie sie auch öfter zum autistischen spektrum gezählt wird (und meines wissens auch häufiger als komorbidität beim asperger-syndrom auftaucht bzw. beide häufiger verwechselt werden - das betrifft aber v.a. die variante ads, welche zusammen mit dem adhs aber bisher als eine störung , wenn auch mit zwei unterschiedlichen ausprägungen, begriffen wird.)
und wenn Sie hier schon länger mitlesen, werden Ihnen die oben deutlich werdenden überlappungen bzw. schnittstellen gerade zwischen den diagnosen aus dem bereich der sog. persönlichkeitsstörungen (ps) mit denjenigen aus dem autistischen spektrum bereits bekannt sein. die oben zitierte kritik an den erwähnten fehldiagnosen lässt sich alternativ auch als ein weiterer hinweis darauf verstehen, dass es sich hier womöglich eher um ganz grundsätzliche konstruktionsfehler der betreffenden diagnostischen modelle handelt, deren quellen in einem zu reduktionistischen bzw. fragmentierten verständnis der psychophysiologie des menschen liegen, die in der folge bei den entsprechenden psychiatrischen bzw. psychologischen (incl. psychoanalytischen) theoretischen modellen zu zwangsläufigen verzerrungen bzw. fehlinterpretationen führen.
ich habe ab und zu den gedanken, mal die bisher sichtbaren verhältnisse zwischen den fraglichen diagnosen graphisch darzustellen - all die komorbiditäten und verbindungslinien. das könnte die ganze sache vielleicht etwas deutlicher machen. für die zukunft vorgemerkt.
(vielleicht noch eine nötige anmerkung: der begriff "bipolare störung" ist die aktuelle bezeichnung für den älteren namen "manisch-depressiv", meint aber inhaltlich das gleiche. und während sich im populären mainstream hinsichtlich dieser krankheit v.a. allem die betonung von genetischen bzw. primär organisch-biologischen ursachen festgesetzt hat [was in einer gewissen hinsicht auch nicht falsch ist, eher eine frage der perspektive], so finden sich selbst bei einem so "klassisch" psychiatrischen störungsmodell nur leider allzu bekannte zusammenhänge:
(...)"Neben genetischen spielen unterschiedliche Faktoren aus der Umwelt eine große Rolle, die in der Lebensgeschichte wirken, wie traumatische Ereignisse (Trennungen, Mobbing und Bossing, Verlust des Arbeitsplatzes, Vertreibung und Verfolgung, langjähriger sexueller Missbrauch/Vergewaltigung und körperliche Misshandlung im Kindes- und Jugendalter, sowie der Verlust eines geliebten Angehörigen), sind hier von Bedeutung. Ebenso verheerend wirkt sich auch sonstiger Stress aus (hierbei sind Bipolare viel verletzlicher als Nichtbetroffene, so kann sogar Wohnungswechsel Phasen auslösen), vor allem auch psychosozialer Stress, Konflikte in der Partnerschaft, in Familie und Beruf (auch hier sind Betroffene viel mehr gefährdet)."(...)
*
und zu den beiden oben erwähnten diagnostischen komplexen der persönlichkeitsstörungen und des autistischen spektrums gehört natürlich auch als drittes der gesamte bereich der psychotraumata, hier besonders in der form der posttraumatischen belastungsstörung. eine diagnose, die nicht nur inzwischen breiter bekannte schnittstellen zur borderline-ps aufweist, sondern deren inhalte auch bei anderen ps offensichtlich eine rolle spielen. so zum beispiel bei der "schizotypischen ps", für die hier ein kurzes "fallbeispiel" zu lesen ist, in dem es am ende heißt:
(...)"Schizotypische Menschen sind sehr sensitiv und oft kreativ. Nicht selten erlebten sie sexuellen Mißbrauch, körperliche Mißhandlungen oder Vernachlässigung."(...)
eine der fragen, die u.a. mit für dieses blogprojekt hier verantwortlich sind, lautet für mich ungefähr so: kann es sein, dass es sich bei den oben erwähnten drei für die heutigen psychiatrie mit am relevantesten diagnostischen komplexe eigentlich "nur" um verschiedene beschreibungen des letztlich immer gleichen handelt? wobei mit diesem "immer gleichen" verschiedenste auswirkungen sozialer gewalt innerhalb der prä-, peri- und postnatalen menschlichen entwicklung gemeint sind (dabei beziehe ich die bisher möglichen anscheinend anderen ursachen, wie genetische dispostionen, umweltgifte etc. durchaus mit ein. aber solche erklärungen schließen keinesfalls eine sozusagen soziale ätiologie aus).
es gibt in meinen augen kaum eine frage, deren realistische beantwortung dringender wäre.
...stellen sich verschiedene fragen: sind die zeichen für eine um sich greifende agonie - oder auch implosion, das kommt auf die perspektive an - des sozialen lebens tatsächlich mehr geworden? oder verändert sich einfach die allgemeine und persönliche wahrnehmung dahingehend, dass früher als "normal" betrachtete zustände u.a. im zuge von tiefgreifenden umwälzungen kritischer gesehen werden? die position "alles wird immer schlimmer" jedenfalls ist zwar verführerisch einfach, trifft jedoch real längst nicht auf alle so wahrgenommenen entwicklungen zu (eines der nachdrücklichsten beispiele für diese differenz zwischen persönlicher und objektivierter wahrnehmung stellt immer noch der bereich der als solches definierten kriminalität dar - während bspw. alte menschen sehr häufig angstbestimmt in öffentlichen räumen unterwegs sind, stellen real tatsächlich junge männer unter dreißig jahren den hauptteil der opfer von gewaltkriminalität in eben diesen räumen. eine wahrnehmungsdifferenz, die sicher z.t. auch durch entsprechende mediale focussierung mit produziert wird, aber imo auch einiges über die persönlichkeitsstrukturen in der älteren bevölkerung aussagt. nur sehr selten bis nie wird nämlich nachgefragt, ob die - unbestritten vorhandenen - benannten ängste eigentlich tatsächlich ihre quellen in der aktuellen realität haben, oder vielleicht doch eher quasi mischungen aus aktuellen wahrnehmungen und vergangenen, quasi immer wieder neu getriggerten ängsten darstellen (letzteres dürfte dabei besonders auf die generation der kriegskinder des zweiten weltkriegs zutreffen, die teils mit bis heute unausgesprochenen traumata der verschiedensten art - bombenkrieg, flucht etc. - durchs leben geht)?
zu solchen und anderen wahrnehmungsdifferenzen zukünftig mehr. nichtsdestotrotz gibt es aber immer wieder meldungen wie die folgende , die deutlich machen, dass die unguten gefühle beim anblick des zustands der westlichen gesellschaften durchaus berechtigt sind:
"Eine aktuelle Studie der Duke Universität und der Universität von Arizona belegt, dass jeder vierte Amerikaner niemanden kennt, mit dem er wichtige Themen und Probleme besprechen kann. Die Anzahl der Menschen, die sagen keine Freunde zu haben, hat sich damit seit 1985 verdoppelt. Im Schnitt haben die Amerikaner zwei Vertrauenspersonen. Im Jahr 1985 waren es noch drei."(...)
"Der Trend der Vereinsamung der US-Bürger ist den Wissenschaftlern zufolge das Ergebnis der amerikanischen Lebensweise, die größtenteils im Büro und im Internet stattfindet. Die Menschen haben dadurch immer weniger Zeit für externe soziale Aktivitäten, die persönliche Beziehungen stärken könnten."(...)
die "(us-)amerikanische lebensweise" ist dabei durchaus als prototyp der existenz in den welten des spätmodernen kapitalismus anzusehen, dementsprechend in teils modifizierten formen auch an vielen ecken in europa zu beobachten. gleichzusetzen ist die us-gesellschaft mit den europäischen jedoch nicht - aber es lassen sich ja bekannterweise durchaus trends ausmachen, die mit mehr oder weniger zeitlicher verzögerung auch hier vielfach als modelle des angesagten lebens auffällig und verbreitet werden. was dann im bereich bspw. der popkultur noch mehr oder weniger geschmackssache ist (auch, wenn sich näheres betrachten der jeweiligen inhalte und botschaften sehr lohnt), wird bei solchen entwicklungen wie der dargestellten jedoch zur eindeutigen bedrohung (der grundlagen jedes sozialen lebens). gerade bei den mit pc und handy sozialisierten generationen wird diese entwicklung erst so recht durchschlagen. und beim stichwort computer verweise ich nochmals auf die hier und hier erwähnten sichtbaren möglichen zusammenhänge zwischen der herrschenden akzeptanz der allgegenwart von computern mit dem objektivistischen modus einerseits und autistischen störungen andererseits.
"Auch bei der Begeisterung über die zunehmende Rolle, die das Internet bei persönlichen Kontakten spielt, sei einige Zurückhaltung geboten, meint Smith-Lovin. Einerseits trägt E-Mail tatsächlich zum Pflegen von sozialen Kontakten bei. Laut einer aktuellen Studie des US-Instituts Pew Research Center teilen Familienmitglieder über Internet oft wichtige und seriöse Angelegenheiten miteinander. Auch ist es eine gute Methode, um die Kontakte mit weit weg wohnenden Familienmitgliedern und Freunden zu pflegen. E-Mail und SMS können Face-to-Face-Kontakt jedoch nicht ersetzen, warnen die Forscher. "Die richtig interessante Frage ist daher, wie wir das Internet anwenden können um unsere Offline-Beziehungen zu stärken und zu vertiefen", so Soziologe Putnam abschließend."
virtuelle räume als werkzeug nutzen, um das reale leben vielfältiger und auch angenehmer zu gestalten - genau dieses verhältnis könnte auch als metapher für ein gesundes psychophysisches verhältnis zwischen objektivistischen modus und subjektivem sein in uns menschen durchgehen. umgekehrt aber wird die dominanz von virtuellen (und simulativen) räumen als surrogat bzw. kompensation fehlender sozialer kontakte / beziehungen ebenfalls zur metapher, und zwar genau für diejenigen psychophysischen zustände, die hier immer wieder thema sind.
wenn Sie sich nochmal den letzten blogbeitrag unten betrachten, wird Ihnen sicher nicht entgangen sein, dass dort ebenso wie hier jetzt das thema beziehungs(un)fähigkeit im weitesten sinne eigentlich den gar nicht groß versteckten kern der jeweils thematisierten entwicklungen ausmacht. und ob es sich dabei um die folgen von hartz-IV oder aber von übermässiger pc-nutzung handelt -stets stehen diese entwicklungen im kontext der verdinglichung und durchkapitalisierung, die von elitärer seite aus als einziges modell für den gesamten planeten versucht wird durchzusetzen. der angriff auf unsere ganz spezifisch menschlichen beziehungsfähigkeiten ist dabei inzwischen unübersehbar, und der "erfolg" dieses angriffs ist u.a. in den steigenden zahlen der sog. psychischen krankheiten abzulesen. und dieser angriff zielt ebenfalls ganz unübersehbar auf den eigentlichen kern dessen, was uns überhaupt erst zu menschen macht: die fähigkeiten zur solidarität, empathie/mitgefühl, altruismus - die menschliche liebesfähigkeit in all ihren ausprägungen.
und wenn dieser angriff durchkommt, wird er der tödlichste überhaupt aller denkbaren angriffe sein. er zielt auf die absolute basis aller sozialität.
*
im eben erwähnten zusammenhang muss imo auch das thema mobbing als eine art symptom angesehen werden - mobbing verdient hier eigentlich auch einen eigenen beitrag, aber in der heutigen taz schildert ein autor persönliche eindrücke unter dem titel Neue Deutsche Asozialität , die es in sich haben:
"Das Klima wird rauer", sagen die Soziometeorologen. Was auch rassistischer meint. So wurde kürzlich eine tschechische Porzellanbemalerin nach 23 Dienstjahren in einer Berliner Geschirrfabrik Knall auf Fall entlassen - mit der Begründung: ihr fehle die nötige Qualifikation. Und in einem Ausbildungsinstitut entließ man eine tschechische Sekretärin, bloß weil dem neuen Vorstand ihr "Arbeitsstil" nicht gefiel, begründet wurde dies mit 10,5 Fehlstunden seit 2005. Es handelte sich dabei um zwei Tage, an denen sie Migräne hatte und früher nach Hause gegangen war, um sich krankschreiben zu lassen. In Wirklichkeit stand dahinter das Drängen einer deutschen Kollegin."(...)
"Gestern diskutierte ich im Advena darüber mit Fatih, der im Kotti-Quartiersbeirat mitarbeitet - und sich quasi laufend Gedanken über diesen neuen Hang zur Asozialität und Antisolidarität macht. Er ist selbst Opfer dieses Trends: Seine Firma, die alte Leute pflegt, kündigte ihm nach einer Rehamaßnahme wegen eines Bandscheibenvorfalls. Zwar gewann er den Arbeitsgerichtsprozess, arbeitslos ist er trotzdem. Fatih erzählte, dass auch in Kaufhäusern sowie in Altersheimen und Krankenhäusern das Mobbing epidemisch geworden sei, in Letzteren reagieren die Gemobbten sich an den Patienten ab. Er meinte, das alles sei Folge einer um sich greifenden "sozialen Verwahrlosung". Eine Ursache dafür ist laut Fatih die Schwäche der Gewerkschaften. Ich nickte. Von einer alten IG-Metall-Sekretärin hatte ich erfahren, dass dort das "Klima" ebenfalls extrem mies geworden sei: Man duze sich nicht mehr und feiere auch nicht mehr zusammen. Alle Kontakte würden sich formalisieren, jeder sei vor mobbenden Kollegen auf der Hut. So etwas hätte es früher nicht gegeben - vor dem Fall der Berliner Mauer. Die anscheinend so etwas wie eine tragende Wand gewesen ist."
die "schwäche der gewerkschaften" ist besser ebenfalls eher als symptom denn als ursache auf den punkt gebracht. und der bezug auf die "mauer" (aka kalter krieg) lässt sich möglicherweise als hinweis auf den wegfall einer gesamtgesellschaftlichen und beidseitigen (in west wie ost) projektionsfläche betrachten, die quasi als eine art giftcontainer funktionierte, in denen das jeweilige abgespaltete "böse" bequem untergebracht werden konnte (zu dieser these hat sich klaus theweleit in "das land, das ausland heißt" viele gedanken gemacht).
nun ist mobbing aber weder eine speziell deutsche angelegenheit noch alleine ein produkt medialer inszenierung. oberflächlich betrachtet, stellt es u.a. die perfekte versinnbildlichung vom krieg "aller gegen aller" dar; die manifestation sozialdarwinistischer alpträume sowie das bitterernst genommene konkurrenzprinzip, gemixt mit eigenen abstiegs- und untergangsängsten sowie selbstzweifeln. boshaftig- und niederträchtigkeit gibt´s als garnierung oben drauf.
wie bei so ziemlich allen anderen sozialen phänomen haben wir es uns mehrheitlich angewöhnt, auch mobbing als scheinbar isoliertes ereignis zu betrachten (ausdruck und folge zugleich von fragmentierender wahrnehmung). und wie in anderen bereichen auch, so ist auch diese reduktionistische wahrnehmungsweise hier unzulässig, fatal und verzerrend-irreführend. mobbing wird bspw. untergründig im zitierten faz-artikel im letzten beitrag nahegelegt, wenn es dort heisst:
(...)"Außerdem müsse derjenige, der nach Macht strebe, gewisse Spielregeln befolgen und dabei auch in Kauf nehmen, ethische und moralische Hürden zu überschreiten."(...)
und mobbing wird ebenso quasi wie eine naturnotwendigkeit hingenommen - und die opfer als quasi "kollateralschäden" -, wenn folgende "empfehlung" gegeben wird (das dieses antisoziale gerede dazu noch von einer psychotherapeutin kommt, ist schlicht deprimierend):
(...)„Aber wer Macht will, muß bereit sein zu kämpfen und muß wissen, mit welchen Waffen er einerseits selbst ausgerüstet ist und welche andererseits auf dem gewählten Schauplatz von Nutzen sind“, erklärt Christine Bauer-Jelinek, die als Wirtschaftscoach und Psychotherapeutin arbeitet. „Wer weiterkommen will, muß strategisch vorgehen.“(...)
(...)"Ein kluger Machttaktiker läßt sich eben nicht in die eigenen Karten schauen, schaut anderen jedoch - oft mit Hilfe seiner Seilschaft - ständig ins Blatt. „So kann man Angriffe schon im Keim ersticken“, erklärt Zielke. Und gleichzeitig den Gegner schwächen. Zum Beispiel, indem man geschickt Gerüchte streut oder streuen läßt. „Der Stratege sieht dann gelassen zu, wie die Öffentlichkeit den Feind richtet.“
Gelingt es nicht, einen möglichen Angriff schon im Vorfeld abzuschmettern, dann müssen einflußreiche Verbündete her, die sich ganz demonstrativ auf die Seite des Angeschossenen stellen. Eine starke Seilschaft ist dafür das A und O. Aber wie baut man eine solche auf? „Zunächst einmal sollte man die Unglücklichen und Glücklosen meiden“, rät Zielke. Denn diese zögen das Unglück nach sich und brächten es auch über ihre Gefolgsleute."(...)
"gerüchte streuen, seilschaften aufbauen, die unglücklichen und glücklosen meiden" - und konkurrenten aus dem weg räumen - damit sind ganz wesentliche aspekte des mobbings auf den irren punkt gebracht (den zusammenhang mit verschiedenen psychophysischen störungen hatte ich im letzten beitrag schon umrissen).
für derlei kriegsführung - denn nichts anderes ist das - ist eine verdinglichende wahrnehmung, in der andere menschen nur noch als objekte des eigenen handelns und der eigenen - objektivistischen - kalkulationen auftauchen, die notwendige basis. symptom und (psychopyhsische) quelle zugleich für eine pathologische deformation des menschlichen lebens, die alle alarmleuchten angehen lassen muss. und deren - ja, bekämpfung, genau die gleiche priorität haben müsste wie der umgang mit einer lebensbedrohlichen epidemie. und eine politk, die diesen namen auch verdienen würde, hätte zunächst keine dringenderen ziele auf ihrer agenda zu führen.
aber derartige gedanken entsprechen ja mal wieder nicht den nüchternen sachzwängen dieser welt.
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edit am 11.08.: im letzten jahr gab es hier schon beiträge zum thema alexithymie zu lesen (eins und zwei), und ich empfehle Ihnen, diese nochmals im hinblick auf das obige zu betrachten - und dabei besonders über diese sätze nachzudenken:
"In vielen Berufen sind Alexithymie-Eigenschaften in unserer Industriegesellschaft eine durchaus erwünschte Eigenschaft.
Daraus wird ersichtlich, dass es sich bei der Alexithymie nicht um eine Krankheit handelt."
so wie die aktuelle realität ausschaut, lässt es sich tatsächlich als eine art - allerdings kurzfristigen - "evolutionären vorteil" begreifen, von funktioneller bzw. struktureller wahrnehmungsreduktion betroffen zu sein - nichts anderes ist gefühl- bzw. empfindungslosigkeit nämlich. das dabei natürlich auch die beziehungsfähigkeiten den bach runtergehen, ist in einer welt, in der dinge und die sog. objektivität zu absoluten fetischen (gemacht) geworden sind, tatsächlich eher hilfreich - zumal im konkurrenzkampf, der als zivil angesehenen variante des krieges.
und, wie schon gesagt, langfristig absolut tödlich.
ein wirklich sehr aufschlußreicher artikel (u.a. bereits beim spielverderber und bei somlu thematisiert) illustriert sehr schön die konstruktion von zuständen , die ich hier u.a. mit dem begriff "zonen des virtuellen pseudoseins" benannt hatte - als-ob-realitäten:
"PR-Profis sind Wahrnehmungsmanager."
genauer: manipulierer sowie konstrukteure von scheinwelten. gesellschaften, die solches hervorbringen, werden sich letztlich den eigenen ast absägen, auf dem sie wachsen.
"PR-Leute sind immer auch Übersetzer, die versuchen, die Deutungsmacht über Begriffe zu erlangen, Worte gefügig zu machen, Assoziationen zu diktieren. So werden aus Entlassenen Freigesetzte, aus Zuzahlung wird Eigenverantwortung und aus Menschen Humankapital. Anonyme Konzerne sind plötzlich fühlende Wesen."(...)
nein, sie sind eben keine "fühlenden" wesen, sondern haben ihr äquivalent eher in denjenigen, für die die psychiatrie die begriffe(*1) soziopathie bzw. antisoziale persönlichkeitsstörung bereithält.
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und ein leser hat mir folgenden artikel zugesandt (vielen dank dafür an dieser stelle!), der sich wie eine logische ergänzung des obigen liest:
"Die Macht - für den einen bloß ein Wort, für den anderen ein Magnet mit einer ungeheuren Anziehungskraft. „Entscheidend für den Willen zur Macht ist der Dominanzfaktor, den der einzelne mitbringt“, sagt Christian Zielke, Führungskräfte-Coach und Professor für Personalmanagement an der Fachhochschule Gießen-Friedberg. Außerdem müsse derjenige, der nach Macht strebe, gewisse Spielregeln befolgen und dabei auch in Kauf nehmen, ethische und moralische Hürden zu überschreiten. Nach dem Motto: „Schein-Sein-Schwein".(...)
der dominanzfaktor - ja, der braucht bestimmt einiges an pr, bevor all diejenigen, die das überschreiten von ethischen und moralischen hürden irgendwie nicht so toll finden, ein solches konstrukt wahrhaft kranker - objektivistischer - personen als ersterbenswerte (*2) realität akzeptieren (wobei den pr-fuzzies schon mal gesagt sei: es ist letztlich suizidale zeitverschwendung...)
„Dominante Persönlichkeiten wollen andere besiegen, Hindernisse durch Zielstrebigkeit überwinden und ihr Umfeld formen“, sagt der Führungskräfte-Coach Oscar Winzen. Diese dominanten Typen, in Fachkreisen kurz D-ler genannt, strebten nach Erfolg. Sie werden Winzen zufolge angetrieben von dem starken Willen, sich mit anderen zu messen, sich durchzusetzen und respektiert zu werden. Für sie stünden Aufgaben und deren Bewältigung im Vordergrund. Menschliche Beziehungen träten dahinter eher zurück. „D-ler lassen sich nur ungern vorschreiben, wie sie eine Aufgabe zu erledigen haben. Sie wollen immer die Kontrolle behalten“, sagt Winzen. Unterordnung sei ihre Sache nicht."(...)
diese d-ler haben ein ziemlich erbärmliches und reduziertes leben, würde ich mal sagen. was an sich tragisch und bedauernswert wäre , wenn sie dieses pseudoleben nicht ausgerechnet als leitbild für alles und jeden propagieren würden und mittels gewalt in diversesten formen (genau: dann, wenn die pr versagt hat) auch durchzusetzen trachteten.
"Eine Spielregel auf dem Weg zur Macht ist deshalb die Stromlinienförmigkeit. Statt Ecken und Kanten zu zeigen, gelte es, anpassungsfähig und ständig in Bewegung zu bleiben. „Am besten schützt man sich, indem man so geschmeidig und formlos wie Wasser ist“, sagt Zielke. Denn wer sich gegen den Strom der Zeit stelle, werde in der Regel von der Masse bestraft. Zu dieser Stromlinienförmigkeit gehört auch, keine Position zu ergreifen. Wer sich aber auf keine Seite oder Sache festlege, mache sich auch keinen zum Feind. Das macht nach allen Seiten offen. Zum Beispiel bei Firmenfusionen gelingt es so, unbeschadet von der Verliererseite auf die Siegerseite zu wechseln.
Wer endlich den Gipfel der Macht erreicht hat, für den gilt es, nicht gleich wieder abzustürzen. Denn dort oben ist die Luft dünn, und die Luft reicht nur für wenige. Aber wie erhält man die Macht? „Man muß sich wirkungsvoll selbst inszenieren“, sagt Zielke. Dazu gehöre die eherne Regel: Laß die anderen zu dir kommen, und laß sie warten. Das wirkt wichtig. Genauso, wie sich rar zu machen. Wer als Chef durch Abwesenheit glänzt, fördert den Nimbus, Wichtigeres zu tun zu haben. Je mehr man von einer Person hört oder sieht, desto alltäglicher wird sie."(...)
authentische persönlichkeit (mit allem, was dazugehört)? weg damit! hindert nur. stattdessen gibt´s konstrukte und inszenierungen - ein ideales milieu für wahrhaftige als-ob-persönlichkeiten und diejenigen, die sich bemühen, zu solchen zu mutieren.
"Klingt alles ziemlich schwierig. „Für Machtspiele ist ja auch nicht jeder geeignet, und sie machen auch nicht jedem Spaß.“ So manch einer könne ein solches Verhalten auch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Es kommt eben auf den Typen an. Für manche wirkt die Macht eben wie ein Magnet."
tja. das ist dann eben einfach so. (zu den merkmalen schwer gestörter selbst- und realitätswahrnehmung gehört übrigens in vielen fällen auch, dass sich die betroffenen in einer gewissen art und weise um kopf und kragen quatschen bzw. zwanghaft alles über ihren desolaten zustand ausplaudern - besonders dann, wenn all die schönen konstruktionen und sch(w)einwelten unter dem druck der realität zu kollabieren beginnen.)
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edit am 05.08. - (*1): der vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass das selbst unter berücksichtigung der mängel in den offiziellen diagnostischen modellen noch zutreffend ist.
(*2): beim wort ersterbenswert hat mir wohl der alte doktor aus wien ins ohr geflüstert...aber weil der ganze satz dadurch so eine hübsch verwirrende mehrdeutigkeit bekommt, lass ich es mal stehen.
im übrigen wird der text aus der faz mit jedem lesen ein bißchen mehr schier unfaßbar: eine verherrlichung des blanken opportunismus mit deutlich antisozialen zügen; eine tatsächliche beschreibung von psychophysisch schwer gestörten personen - und das wird hier nicht mal mehr augenzwinkernd als vorbild verkauft - zombieleben.
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edit 2 am 06.08.: ich habe mir einige gedanken zum begriff "als-ob-persönlichkeiten" in der überschrift gemacht - mit dem ergebnis, dass das zwar generell als metapher durchgehen kann, aber möglicherweise auch von manchen falsch interpretiert werden wird. darum reiche ich eine präzisierung nach.
"eine tatsächliche beschreibung von psychophysisch schwer gestörten personen", so kann ich nach wie vor meinen eindruck des oben verlinkten artikels aus der faz zusammenfassen. mir scheint es aber nötig zu sein, mal etwas genauer hinzuschauen, was sich da eigentlich - bei zuhilfenahme sowohl der "offiziellen" diagnostischen modelle als auch der hier teils bereits vorgestellten alternativen sichtweisen - so alles finden lässt. ich entdecke dabei schnittmengen bzw. hinweise auf folgende diagnosen bzw. modelle:
- borderline-persönlichkeitsstörung
- narzisstische ps
- dissoziale (antisoziale) ps
- schizotypische / schizoide ps
in diesen "offiziellen" diagnostischen begriffen (zu deren möglichen mängeln hier schon einige anmerkungen zu lesen waren, bspw. in den basisbeiträgen zu borderline) lassen sich die im artikel skizzierten eigenschaften der sogenannten "dominanten typen" ("d-ler") wiederfinden:
- macht (über andere) als selbstzweck, d.h. als dominierende und aus der jeweiligen psychophysischen struktur entstammende handlungsmotivation. damit eng verwandt sind
- starke kontrollbedürfnisse
- ebenso wie die weitgehende akzeptanz des konkurrenzprinzips.
- die obigen eigenschaften implizieren bzw. haben zur voraussetzung eine weitgehende beziehungsunfähigkeit incl. fehlender beziehung zu sich selbst. das nun wiederum stellt einen deutlichen hinweis auf defekte der selbst- und fremdwahrnehmung dar, die mit einiger wahrscheinlichkeit kompensatorisch vom objektivistischen modus (ausführlich hier im verlauf des beitrags dargestellt) u.a. mittels simulativer fähigkeiten (die quelle der angesprochenen inszenierungen und konstrukte -> das material, mit dem die "wahrnehmungsmanager" der pr-branche arbeiten) "aufgefangen" werden und es den betroffenen ermöglichen, selbst nach den herrschenden diagnostischen kriterien "realitätstüchtig" (und arbeitsfähig) zu bleiben. letzteres verlangt dabei als voraussetzung eine entsprechende disposition der sozialen welt, d.h. dass die gerade thematisierten merkmale sowohl mindestens rudimentär in vielen menschen psychophysisch verankert sein müssen und - folge und quelle zugleich - sich auch im wertekanon, in den herrschenden ideologien und im welt- und menschenbild der betroffenen gesellschaft wiederfinden lassen müssen.
wenn Sie sich die geschichte (nicht nur) der westlichen kultur anschauen und die aktuellen realitäten betrachten, werden Sie sich selbst die frage - und zwar ganz eindeutig - beantworten können, ob die genannte disposition vorhanden ist.
- zur bereits erwähnten beziehungsunfähigkeit und den davon untrennbaren wahrnehmungsstörungen gehört ebenfalls eine (sehr) weitgehende empathieunfähigkeit, die in objektivistischer art und weise allerdings ebenfalls durch entsprechende simulationen unkenntlich bzw. schwer erkennbar gemacht werden kann.
- die im artikel ebenfalls durchklingenden merkmale egozentrik, einzelgängertum und auch der unwillen zur unterordnung / unabhängigkeitsbestrebungen werden erstens gerne mit individualität gleichgesetzt bzw. verwechselt und sind imo zweitens - im gegensatz zu den erst genannten merkmalen - nicht per se als sozial negativ zu werten. hier kommt es ganz auf den jeweiligen kontext und den grad der individuellen ausprägung an.
gerade die letzteren eigenschaften weisen zusätzlich deutlich auf punkte hin, die sich einerseits bei der schizoiden und schizotypischen ps finden lassen (bitte nicht mit schizophrenie verwechseln!), andererseits aber auch im "offiziellen" autististischen spektrum, und hier besonders beim asperger-syndrom.
die diversen simulativen zustände, mit denen die angehörigen der sog. eliten laut faz-artikel operieren (sollten), sind ebenso wie die empfohlene "flexibilität" (aka opportunismus) dabei praktisch kernelemente des nicht offiziell anerkannten modells der als-ob-persönlichkeit (dazu hier und hier ), welches wiederum schnittmengen zur narzisstischen und zur borderline-ps aufweist. als synonym lässt sich für die als-ob-persönlichkeit auch simulationsfähiger autismus nennen - damit wären sowohl die teils extrem ausgeprägten simulativen fähigkeiten ebenso wie die im modell vorhandene totale beziehungsunfähigkeit (der strukturell autistische kern) auf den punkt gebracht.
finden Sie wiedermal verwirrend? es ginge eigentlich noch weiter - der begriff soziopathie wird zwar i.d.r. auch als synonym der dissozialen / antisozialen ps genutzt, muss aber imo unterteilt werden in "echte" (bedingt durch eine strukturell autistische grundlage der persönlichkeit) soziopathie ("psychopathie", siehe hier ) und funktionell soziopathische züge, die mit einer zwar u.u. weitgehenden, aber eben nicht totalen strukturellen beziehungsunfähigkeit einhergehen bzw. ein symptom derselben darstellen. das sichtbare begriffswirrwarr war hier bereits einmal thema.
beziehungsunfähigkeiten verschiedenen grades machen bei so ziemlich allen hier erwähnten diagnostischen begriffen den realen kern der psychophysischen störungen aus, die mit diesen begriffen erfasst werden sollen. die bis heute bekanntesten, offensichtlichsten und weitgehendsten störungen mit diesem kern finden sich unter dem label autismus bzw. im autistischen spektrum - und vor diesem hintergrund stellt sich die frage schon fast gar nicht mehr, was für ein menschenbild eigentlich im obigen artikel tatsächlich propagiert wird.
das ich mich hier immer mal wieder in intensive versuche stürze, verschiedende diagnostische begriffe / modelle zu definieren bzw. ihre definitionen und die impliziten abgrenzungen darin zu hinterfragen, hat nichts damit zu tun, dass ich mir hier einen etwas skurrilen zeitvertreib gesucht hätte. nein, ich bin der meinung, dass möglichst präzise und realitätsnahe modelle der menschlichen psychophysischen störungen - aber auch des gesunden funktionierens seins - unverzichtbar für das verständnis heutiger gesellschaftlicher prozesse sind - und damit auch unverzichtbar für alle versuche, sie im positiv emanzipatorischen sinne zu verändern.
vor diesem hintergrund finde ich deswegen solche meldungen ("borderline u.a. eine untergruppe von autismus") sowie den neuen begriff der strukturellen persönlichkeitsstörung, der mir vor einiger zeit zu ohren gekommen ist (und angeblich einen neuen ansatz kennzeichnet, den fließenden grenzen zwischen den meisten ps rechnung zu tragen - zukünftig würden danach diagnosen also zb. "strukturelle ps, typ narzissmus"; typ borderline...etc. lauten - im netz ist darüber bisher nichts zu finden; wenn Sie also mehr infos haben sollten, was es mit diesem ansatz auf sich hat - her damit) keineswegs nur wortklaubereien, sondern verstehe sie als hinweise darauf, dass sich möglicherweise ein realitätsgerechteres verständnis der fraglichen zustände herauszubilden beginnt.
und damit ließen sich dann auch wesentliche und entscheidende prozesse in gesellschaft und "politik" anders und besser verstehen - u.a. eben auch solche, warum uns eigentlich von einer großen "bürgerlichen" zeitung die dargestellte krankhafte karikatur des menschseins als lei(d)tbild verkauft wird - und sich niemand groß darüber aufzuregen scheint.
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und ebenso lassen sich möglicherweise auch solche parallelen besser verstehen - vergleichen Sie einmal das menschenbild des obigen faz-artikels mit dem inhalt, der in einem älteren beitrag der gleichen zeitung enthalten ist:
„Ökonomisch eigenverantwortlich betrachtet, zahlt es sich da für Langzeitarbeitslose und solche, die es werden können, nicht mehr aus, anders als im Augenblick und allein zu leben. (...) Alles Geld, das in einer ‚Bedarfsgemeinschaft‘ von Eltern, Kindern, Gatten oder Lebensgefährten verdient wird, geht von dem eigenen Anspruch ab. So kommen Ehen, Partnerschaften, Groß- und Kleinfamilien, Patchworkverhältnisse aller Art auf den Prüfstand (...). Das Familienmodell zahlt sich nur aus, wenn noch kleine Kinder im Spiel sind.“ (...) "Hartz IV fördert die zeitliche und räumliche Zersplitterung der Gesellschaft. Seine Zielvorstellung ist die Monade. Der Menschentypus, den Hartz IV favorisiert, ist der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht.“
und damals hatte ich dazu u.a. kommentiert:
"was für ein typ mensch wird da gefördert? welche eigenschaften sind z.b. gefragt, wenn gefordert wird, für die rein ökonomische existenz von heute auf morgen notfalls den ort zu wechseln, unter hinnahme des verlustes aller sozialen bezüge (was übrigens durchaus als traumatisch im strengen sinne erlebt werden kann)? welche psychophysischen züge sind dafür wohl am nützlichsten?
beziehungsfähigkeit z.b. wohl kaum - die dürfte für derlei eher hinderlich sein."(...)
um in der folge dann auf etliche parallelen zu bestimmten eigenschaften der borderline-ps hinzuweisen. tatsächlich ist es doch sehr interessant zu sehen, was für effekte zentrale "politische" projekte der sog. eliten so nach sich ziehen können - effekte und konsequenzen, die sich ganz berechtigt das attribut antisozial gefallen lassen müssen. und die darüber hinaus aber möglicherweise auch die krankhaften persönlichkeitsstrukturen ihrer entwickler und propagierer nicht nur enthalten, sondern sogar weiter verbreiten können - vielleicht sogar in einem gewissen sinne sollen (zb. um die weiter oben erwähnten gesellschaftlichen dispositionen für ein günstiges entwicklungsmilieu der gestörten menschen weiter zu verbreiten - will sagen: soziopathische und beziehungsunfähige personen können weitgehend ungestört (aus-)agieren bzw. fallen nicht weiter groß auf bzw. entsprechen der gesellschaftlichen norm, wenn die gesamte gesellschaft in wesentlichen teilen selbst die wahnsinnigen normen, wertesysteme und ideologien als leitbilder anerkennt und praktiziert, die als pathologische konstrukte von schwer kranken personen entwickelt werden).
und das wären absolut fatale prozesse, die bspw. weder die etablierte soziologie noch die politikwissenschaft auf dem schirm hätten.
ob an solchen hypothesen etwas dran ist (und ich bin der meinung: ja, leider!) lässt sich allerdings nur mit einer wesentlich veränderten und verbreiterten psychophysischen diagnostik im speziellen herauszufinden; deren voraussetzung im allgemeinen aber ganz entscheidend in einer realistischen anthropologie liegt - sprich: in einem ganz wesentlich veränderten verständnis / einer veränderten wahrnehmung dessen, was wir als menschen eigentlich sind und was uns ausmacht. was für entwicklungsbedingungen und voraussetzungen wir brauchen, um zu liebes- und freiheitsfähigen, v.a. aber angstfreien menschen zu werden. denn solche menschen haben es schlicht nicht nötig, ihre macken u.a. durch das ansammeln von macht zu kompensieren.
normalerweise werden jubiläen ja eher als grund zum feiern betrachtet - in diesem fall wäre es mir ehrlich gesagt entschieden lieber, ich hätte dieses blog niemals beginnen müssen...oder besser ausgedrückt: die gesellschaftlichen verhältnisse wären so, dass ich gar nicht auf die idee kommen würde, solch ein blog zu führen - sondern die zeit lieber angenehmer verbringen könnte - ohne alles mögliche verdrängen zu müssen.
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tatsächlich musste ich vorhin ersteinmal schauen: wirklich schon ein jahr vergangen? doch. mit diesem beitrag - dessen zitate im übrigen bis auf weiteres von (leider) zeitloser aktualität sind -, habe ich im august 05 "eigentlich" erstmal nur für mich dieses projekt begonnen, um etliches niederzuschreiben, was mich bereits seit jahren beschäftigt.
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und wenn ich mir die zugriffszahlen anschaue (die - bereinigt - bei inzwischen ca. 1500 - 1700 besuchen monatlich liegen), so finde ich das schon einerseits interessant, andererseits vielleicht auch einen leichten - ganz leichten - hoffnungsschimmer, dass sich bei den immerhin doch teils schwer erträglichen und absolut unlustigen themen hier eine solche zahl von leserInnen findet, die sich dazu mit meiner schreibweise herumschlagen müssen ;-) doch, finde ich insgesamt erstaunlich.
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für mich selbst hat die ganze geschichte hier durchaus den effekt gehabt, den ich mir anfangs gewünscht habe: ich wollte genau zu den folgenden themen
"autistische zustände und ihre gesellschaftliche produktion und wirkung; psychotraumatisierungen als massenphänomene; lücken und blinde flecken in den heute verbreiteten menschenbildern; die ökonomischen zwangsstrukturen von arbeit und geld; neurowissenschaften und ihre bisherigen ergebnisse; borderline, soziopathie und als-ob-persönlichkeiten; psychiatriekritik; sowie einiges mehr. inzwischen haben die dinge ein stadium erreicht, welches es - leider - möglich macht, einen großteil der eben erwähnten bereiche anhand der täglichen nachrichtenlage beispielhaft zu demonstrieren. was mich nicht unbedingt ruhiger schlafen lässt."
für mich mehr klarheit gewinnen, struktur und einen - notwendigerweise unvollständigen - überblick schaffen. und ich denke, das mir das bis heute auch einigermaßen gelungen ist (gut, über die blogstruktur lässt sich sicher reden...).
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für meine verhältnisse habe ich sogar recht konsequent gearbeitet: es gibt einige noch offene fortsetzungen, die ich ärgerlich finde - u.a. die folgebeiträge zum autismus und zum nlp - , aber insgesamt ist inhaltlich doch so etliches zusammengekommen.
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letzteres bringt mich auf ein paar eigenarten dieses blogs: was der blogidee vielleicht regelrecht entgegenläuft, ist der permanent aktuelle charakter, den viele beiträge für mich haben - das betrifft selbst z.t. noch die "notizen", in denen ich i.d.r. aktuelle entwicklungen aufgreife; auf jeden fall aber würde ich die beiträge der rubriken "basis" und "assoziation", zum großen teil auch unter "kontext", als zeitunabhängig - im sinne einer chronologischen ereignisreihe - betrachten. was für die leserInnen hier wahrscheinlich jetzt schon zum problem geworden sein wird, zumindest wenn sie nicht seit längerer zeit hier lesen: es ist einfach eine fülle von material, welches dazu noch neuere beiträge z.t. erst verständlich macht. die immer wieder praktizierte verlinkung älterer beiträge meinerseits ist für mich dabei bisher nur eine notlösung - eine bessere idee ist mir dazu noch nicht eingefallen.
eine weitere besonderheit ist der zugang über suchmaschinen, über die hier doch so etliche leserInnen landen: im gegensatz zu den weitaus meisten anderen blogs dominieren hier themenspezifische anfragen - führend sind dabei die keywords "psychopathie" und "borderline" -, und ich finde es durchaus interessant, dass es "da draußen" doch so einige gibt, die sich auch anderweitig mit vielen themen dieses blogs beschäftigen.
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zukunft? nun, der gedanke an eine bloglesung ist mir mal neulich gekommen. auch eine - in welcher form auch immer - printversion vieler beiträge hier spukt mir von zeit zu zeit im kopf herum. ebenfalls spiele ich ab und zu mit der idee, ein forum anzuschließen (wobei ich das nicht alleine administrieren/moderieren könnte, und die vielzahl von foren finde ich eh schon erschlagend). es würde aber die potenzielle möglichkeit eröffnen, einiges intensiver diskutieren zu können.
vielleicht haben Sie ja lust, sich gerade zu den obigen punkten mal zu äußern?
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zukünftige beiträge hingegen kann ich bereits genauer skizzieren: der große komplex trauma / posttraumatische belastungsstörung ist vorgemerkt, gerade auch vor dem hintergrund der aktuellen reihe zum nahen/mittleren osten, deren nächste fortsetzung in den kommenden tagen hier zu lesen sein wird. ebenfalls halte ich das thema "sensorische deprivation" für etwas, das dringend breiterer beachtung bedarf. genauso wie grundsätzliches wissen zu pränatalen prägungen bzw. der pränatalen phase der menschlichen entwicklung. das werden grob die nächsten fixpunkte hier sein, wenn nix grundsätzliches dazwischenkommt.
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etliche beiträge sehe ich von heute aus als überarbeitungs- bzw. ergänzungsbedürftig an, aber bei erstaunlich vielen habe ich dann doch das gefühl: "yo, stimmt aus meiner perspektive weiter, kann ich vertreten". und das finde ich dann doch für mich persönlich recht erfreulich.
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zum schluß möchte ich mich bei allen leserInnen hier für ihr interesse bedanken, besonders aber natürlich bei denen, die mir immer wieder auch mittels ihrer kommentare weitere anstöße, infos und auch einfach feedback gegeben haben - ich wünsche mir natürlich, dass das auch zukünftig so weitergeht ;-) (und denjenigen, die sich noch nicht so recht entscheiden können, ob sie etwas schreiben möchten, zurufen: traut euch!)
(weiteres zum thema naher/mittlerer osten in der kommenden woche, ich brauche noch etwas mehr zeit.)
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aber auch jenseits der bedrückenden nachrichten aus der krisenregion gibt es nicht unbedingt besseres zu vermelden. ein kurzer und wie üblich unvollständiger rundblick:
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"In erster Linie bleibt die Wohlfahrt der Kinder Aufgabe der Gesellschaft selbst. Sie hat sich zur Scham zu erziehen, dass in ihrer Mitte hunderttausendfach Hilflose gequält, missbraucht und vernachlässigt werden."
so ein medienzitat vom ende des letzten jahres, an dem sich am silvestertag einige tatsachen über die realität vieler kinder in diesem land auf einige titelseiten verirrt hatten. damals ging es dabei um die offensichtliche gewalt. die allerdings als eine voraussetzung immer auch verschiedene varianten struktureller gewalt besitzt. und das stichwort "wohlfahrt" bildet eine passende überleitung zu folgendem artikel:
"Jedes sechste Kind lebt in Deutschland nach Angaben des Kinderschutzbundes in Armut. Der Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerkes "Die Arche", Bernd Siggelkow, spricht im Interview mit SPIEGEL ONLINE über die Auswirkungen von Hartz IV, Hunger und emotionale Armut."(...)
"SPIEGEL ONLINE: Liegt der Anstieg der Kinderarmut wirklich nur an staatlichen Maßnahmen wie Hartz IV oder kümmern sich immer mehr Eltern einfach nicht mehr um ihre Kinder?
Siggelkow: Wieviele Kinder sozial total verwahrlost sind, wird nicht erfasst. Die Zahl 2,5 Millionen bezieht sich auf die Hartz IV-Empfänger. Aber es verwahrlosen eben auch viele Kinder, die nicht von Hartz IV betroffen sind. Man kann hier von einer Art von Wohlstandsverwahrlosung sprechen: Beide Elternteile arbeiten, um ihre Familie durchzubringen und die Kinder sind von morgens bis abends auf sich allein gestellt - solche Fälle gibt es in Hülle und Fülle. Kinder werden immer mehr zu einem Luxusartikel und gleiten dadurch in Armut ab - in soziale Armut oder in Einkommensarmut.
SPIEGEL ONLINE: Ist finanzielle Armut in Deutschland heute gleichbedeutend mit sozialer Armut?
Siggelkow: Das Problem ist, dass es in Deutschland wenig Verständnis für Armut gibt. Kinder von reichen und Kinder von armen Eltern sitzen zusammen in einer Schule. Die armen Kinder trauen sich nicht sich als arm zu outen, weil sie Angst vor Ausgrenzung haben - dadurch ist Armut auch ein soziales Problem."(...)
SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten täglich mit armen Kindern. Was ist für sie das Erschreckendste an deren Situation?
Siggelkow: Zum einen beobachten wir, dass unsere Besucherzahlen ständig steigen. Wir sehen die Ergebnisse, die Statistiken dann belegen, also schon am Anfang: Ende des letzten Jahres hatte die Arche 250 Tagesbesucher, jetzt sind es fast hundert mehr. Das ist eine enorme Zahl von Kindern, die neu dazu kommt. Und obwohl viele Eltern zu Hause sind und eigentlich Zeit hätten, bleiben die Kinder oft auf der Strecke - denn ihre Eltern sind viel zu sehr mit ihrer eigenen Perspektiv- und Orientierungslosigkeit beschäftigt. Oft gibt es kaum Emotionen in den Familien. Es fehlt nicht nur das Geld, sondern die Kinder sind in den ganzen Prozess, der mit dem Mangel an Geld zusammenhängt, involviert: Sie wissen, dass sie arm sind und müssen sich als Kind sehr früh mit diesem existentiellen Problem auseinandersetzen. Dadurch sind sie nicht mehr richtig Kind. Verstärkt wird dieses Muster dadurch, dass in den Medien ständig eine Welt suggeriert wird, die die Kinder nicht haben können. Es wird Werbung für Fernseher und Reisen gemacht, die sich die Familien nicht leisten können. Jeder Erste des Monats wird so zum Höhepunkt - dann wird das Geld für Luxusartikel ausgegeben. Oft das einzige Highlight, das die Familie noch hat.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt auch Hunger in Deutschland. Wieviele Kinder bekommen nicht genug zu essen?
Siggelkow: Viel zu viele werden fehl- oder mangelernährt. Oft reicht das Geld nur bis zum 20. des Monats und dann gibt es eben zehn Tage nur noch nackte Nudeln. Es existieren aber keine Zahlen darüber, wieviele Kinder von Hunger betroffen sind. Denn kaum eine Mutter wird sagen: Meine Kinder kriegen vom 20. bis zum Monatsende zu wenig zu essen."(...)
nein, überraschend ist das durchaus nicht - und mir fällt bei derartigen berichten immer nur mehr auf, wie stark mittlerweile zwei gegensätzliche tendenzen zu beobachten sind: einmal die rasante zunahme von simulativen räumen und zeiten, will sagen: orte und events, in denen die angebliche "freiheit und lebensfreude" der westlich-kapitalistischen welt inszeniert und konstruiert wird (im großen maßstab war dafür die wm ein eindrucksvolles beispiel ) - der zugang zu solchen zonen des virtuellen pseudoseins ist natürlich nur gegen bares gestattet. und damit derartige konstruktionen überhaupt existenzfähig sind, müssen sie einerseits so beschaffen sein, dass sie eine möglichst totale bzw. totalitäre illusionsblase bilden - was nur dadurch geschehen kann, dass alle potenziell störenden aspekte der realität ausgeschlossen / wegdefiniert / beseitigt werden. andererseits ist so ein vorhaben überhaupt nur möglich, wenn die anvisierten zielgruppen nicht nur dabei mitspielen, sondern selbst entsprechende bedürfnisse verspüren bzw. meinen zu verspüren - "wir machen uns heute breit, alder; eure armut ist uns scheißegal, was interessieren uns leichen im mittelmeer, politik? bleib mir weg! sollen die da unten sich doch alle massakrieren, wir wollen paaaardie!" - so ein imo durchaus realitätstreues verbales konzentrat dieser haltung. die, nebenbei gesagt, übrigens noch nicht einmal mit hedonismus etwas zu tun hat - eher manifestiert sich in diesen meist völlig durchgeplanten events - egal ob sportereignisse, loveparade oder den notorischen stadtfesten - eine teils bestürzende unfähigkeit zu spontaneität, tatsächlicher lebensfreude und genuß. zu beobachten ist allseits mehr und mehr eine überaus häßliche karikatur der eben genannten fähigkeiten. bezeichnend und verräterisch gleichzeitig, dass derlei "wir-sind-jetzt-alle-unheimlich-geil-drauf"-aufläufe nur mittels massenhafter mengen von alkohol und einigen anderen drogen als quasi schmiermittel überhaupt funktionieren.
die andere seite der medaille besteht z.zt. darin, dass an immer mehr stellen ganz offen klartext geredet wird - hochgradig antisozialer klartext einerseits - dazu gleich ein paar beispiele. oder aber, wie im obigen interview, deutlich antisoziale entwicklungen beschrieben werden, die eigentlich - wenn tatsächlich von mündigen bürgerInnen in einer aufgeklärten demokratie gesprochen werden dürfte - bereits längst zu nachdrücklichen und breiten reaktionen führen müssten (und der umgang mit kindern ist nur ein, allerdings entscheidender, bereich, in dem sich die sozialen fähigkeiten einer gesellschaft manifestieren). nun, Sie und ich wissen (hoffentlich) zumindest ansatzweise , wie es in der realität tatsächlich aussieht - zum haareraufen und vor verzweiflung die wände hochgehen.
eine etwas gemäßigte version der letzteren reaktionen verspürte ich dann auch beim schluß des interviews:
"SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es also für die Zukunft unseres Landes, wenn soviele Kinder jenseits jeder Chance auf Teilhabe an Bildung und Kultur aufwachsen?
Siggelkow: Es gehen wahnsinnig viele Potentiale verloren. Bei unserer Arbeit merken wir: Wenn Kinder individuell gefördert werden, dann werden Begabungen ausgebaut, Kinder bekommen wieder Lust, etwas für die Schule zu machen, weil sie merken: Wenn ich mich anstrenge, habe ich auch Erfolg. Diese Wirkung wird viel zu wenig suggeriert. Die Lösung liegt nicht darin, Kinder noch früher in den Kindergarten zu schicken, sondern es muss ein gesundes Miteinander geben. Wir müssen unsere Kinder wieder in den Blick bekommen. Das, was wir heute in unsere Kinder investieren, bekommen wir auch wieder zurück. Und das, was wir nicht investieren, wird auch wie ein Bumerang zurückkommen."
"das, was wir heute....investieren..." - bah. das problem derjenigen, die immer noch meinen bzw. hoffen bzw. glauben, dass die katastrophalen entwicklungen nicht nur dieser gesellschaft sich korrigieren ließen, ohne ganz wesentliche strukturelle veränderungen - zu denen u.a. eine andere und realistischere anthropologie gehören muss, ein anderes selbstverständnis von uns als menschen - in die wege zu leiten, drückt sich u.a. genau in der art des dingdenkens (verdinglichender wahrnehmung) aus, wie sie sigglekow oben demonstriert. kinder sind kein humankapital, kein mensch ist das! und argumentationen, die sich kriecherisch an den herrschenden mainstream anbiedern, stützen ihn auf dauer nur, statt ihn ganz deutlich zu stigmatisieren. diese elementarsten selbstverständlichkeiten wieder wahrnehmungsmäßig präsent zu machen, den objektivistischen wahn auf seinen platz zu weisen - das ist u.a. die herausforderung dieses jahrhunderts.
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was ich oben mit "antisozialem klartext" meinte? bitte sehr:
(...)"Schon im Mai 2005 hatten Auswertungen des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR) gezeigt, dass von 1.530 im Handel befindlichen Mineralwässern 34 Proben über 15 Mikrogramm pro Liter des giftigen Urans enthielten. Dies ist der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Höchstwert. Für die Zubereitung von Säuglingsnahrung empfiehlt das BfR sogar nur Wasser mit maximal zwei Mikrogramm. Foodwatch fand heraus, dass einige der stark belasteten Mineralwässer aus Sachsen-Anhalt stammten. Anders als Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg verweigerte das Gesundheitsministerium in Magdeburg jedoch jegliche Information. Zuerst bestritt es, dass es überhaupt einen Informationsanspruch gebe."
und das mit einer begründung, die an deutlichkeit nun wirklich nichts zu wünschen übrig lässt:
"Nachdem Foodwatch Klage eingereicht hatte, argumentierte das Ministerium mit den schutzwürdigen Interessen der Abfüllbetriebe: Die Messergebnisse fielen unter "dem Begriff des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses". Das Ministerium gab auch freimütig zu, dass es befürchte, die Veröffentlichung der Messergebnisse könnte bei den betroffenen Abfüllbetrieben zu "Umsatzrückgängen" führen."(...)
die rendite ist also in der wahrnehmung dieser technokratischen bürokraten - oder auch bürokratischen technokraten, wie´s Ihnen gefällt - ein deutlich "höherwertiges gut" als die menschliche gesundheit. warum bloß kann das nicht überraschen? selbst dann nicht, wenn justizielle institutionen so wie hier ab und zu aus ihrem dämmerzustand erwachen und derartige offenheit sanktionieren (ich frage mich im übrigen wirklich, ob gerade diese geradezu dreiste aussage aus dem ministerium nicht der primäre grund gewesen ist, mithilfe juristischer maßnahmen zumindest so etwas wie einen schein zu wahren...)
an einem anderen beispiel lässt sich haargenau die gleiche logik betrachten - das folgende passt eigentlich auch noch zum ersten wm-beitrag zum profifußball allgemein - ich zitiere mich von einem anderen virtuellen ort:
"der örtliche buli-club hier, werder bremen, hat für diese und die nächsten saisons einen trikotwerbungs- und sponsorenvertrag mit "bet&win", neuerdings "bwin". die bieten als privates unternehmen sportwetten an, was diverse behörden und politfritzen nicht nur hier in bremen, sondern zb. auch in münchen (bwin hat auch mit münchen 1860 einen trikotwerbevertrag) für etliche reaktionen und sanktionsdrohungen gegen vereine und unternehmen gesorgt hat. eine argumentationsschiene war dabei das staatliche wettmonopol - auszug:
"Das Stadtamt Bremen hatte die Werbung für betandwin e. K. jeweils in Verfügungen vom 7.7.2006 untersagt und hatte darauf verwiesen, betandwin e. K. verfüge über keine in der Freien Hansestadt Bremen gültige Erlaubnis zur Veranstaltung oder Vermittlung von öffentlichen Glücksspielen. Das staatliche Glücksspielmonopol verstoße weder gegen Europarecht noch gegen deutsches Verfassungsrecht. Betandwin e. K. könne sich auch nicht auf eine 1990 in der DDR erteilte Genehmigung berufen."
eine andere war diejenige, eigentlich durchaus sympathische, dass generell werbung für sportwetten nur eingeschränkt möglich sein soll, u.a. wg. belangen des jugendschutzes und der suchtprävention (spielsucht natürlich). in der heute veröffentlichten gerichtlichen entscheidung ist nun folgendes dazu zu lesen:
"Abzuwägen war das öffentliche Interesse, Gefahren für die Allgemeinheit wie Spielsucht und Vermögensverlust abzuwehren sowie Belange des Jugendschutzes zu berücksichtigen, mit dem durch Art. 12 GG geschützten wirtschaftlichen Interesse der Antragsteller. Hinsichtlich der Frage, ob eine Beeinträchtigung der öffentlichen Belange bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann, war dabei die Entwicklung der letzten Jahre zu berücksichtigen. Die staatlichen Lotto und Toto-Gesellschaften und insbesondere der Sportwettanbieter Oddset haben in den vergangenen Jahren massiv für ihr Angebot geworben und damit gegen genau die öffentlichen Belange gehandelt, die durch die streitgegenständlichen Verfügungen nun geschützt werden sollen."
wenn das öffentliche interesse gegen wirtschaftliche interessen antritt - wer geht da in der regel als verlierer vom platz? eben. es liegt an uns, wie lange wir diesen perversen mist noch dulden wollen.
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perversen mist stellt auch das folgende dar (danke an wednesday für den hinweis!):
"Weil Ärzte und Psychiater sich weigern, als Berater bei Verhören von Gefangenen mitzuwirken, sucht die US-Armee Ersatz - und findet ihn bei Psychologen. Deren Dachverband gibt sich patriotisch, viele Mitglieder aber sind empört.
Tut das wohl weh? Machen die Schmerzen bald gefügig? Wie könnte man das noch beschleunigen? Hat der Verdächtige vielleicht eine besondere Phobie, über die man ihn noch schneller zum Reden bringen könnte? - Dass ein Psychologe im Folterkeller zuweilen recht nützlich sein könnte, lässt sich schon mit ein wenig schrecklicher Phantasie ausmalen. Doch gar so fiktional ist die Vorstellung überhaupt nicht.
Die American Psychological Association (APA) wird gerade von Mitgliedern und externen Fachleuten wegen einer Erklärung bedrängt, nach der Psychologen bei militärischen Verhören mitwirken dürfen. Einer Online-Petition gegen diese Haltung schlossen sich bislang 1300 Unterstützer an. Manche Mitglieder haben ihre Zahlungen an die APA eingestellt oder mit Austritt aus der Berufsorganisation gedroht."(...)
eigentlich - wieder mal das schöne wörtchen - , eigentlich also kann es gegenüber solchen ansinnen von militärischer seite keine anderen reaktionen geben:
"Medienberichte hatten ans Licht gebracht, dass Verhörkräfte des US-Militärs Zwangstechniken entwickelt hatten, bei denen unter anderem durch Schlafentzug und das gezielte Spiel mit Angstvorstellungen der Verhörten Informationen erpresst werden. Dabei halfen auch Berater mit intimen Kenntnissen über die seelische Gesundheit.
Erst im vergangenen Monat hatte die American Medical Association eine entschiedenere Haltung gegen den Einsatz von Ärzten bei Verhören eingenommen. Sie entspricht der Position der American Psychiatric Association. Beide Gruppen wollen nicht mehr Foltern helfen. Das US-Militär hatte daraufhin erklärt, dass künftig verstärkt Psychologen bei Verhören zum Einsatz kommen sollen, da sie keine Ärzte seien - und damit auch nicht an die Verhaltensregeln von deren Berufsverbänden gebunden.(...)
Reisner setzt sich nun - wie andere APA-Mitglieder auch - dafür ein, dass die 150.000 Psychologen zählende Organisation in einem neuen Verhaltenskodex jede Teilnahme an Gefangenenbefragungen verbietet. Der Ethikausschuss der APA bereitet derzeit immerhin einen Leitfaden zu angebrachtem und unangebrachtem Verhalten für Verhörsituationen vor.
Einen Tag vor dem APA-Jahreskongress im August in New Orleans soll außerdem der Vorstand der Berufsorganisation eine Erklärung gegen Folter und unmenschliche Behandlung abgeben. Einen Tag später allerdings wird auch der oberste Mediziner der US Army, General Kevin Kiley, in New Orleans darüber sprechen, wie das Militär künftig Psychologen einsetzen möchte.
Reisner und seine Mitstreiter haben angekündigt, dann mit Flugblättern und Diskussionsrunden "eine Welle der Beschämung und Empörung" auszulösen, "weil die APA bislang diese Verhöre erleichtert hat, anstatt die Menschenrechtsverletzungen zu stoppen."
tja. eigentlich... - jede wette, dass sich trotzdem natürlich einige soziopathische / antisoziale persönlichkeiten mit diplom finden werden, die sich ihre rechtfertigungen für ihr tun herbeikonstruieren - und dafür dann von den sie aushaltenden und nutzenden eliten womöglich mit orden behangen werden - "ist ja alles im interesse der nationalen sicherheit" - perverser mist halt.
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vor ein paar wochen hatte ich hier über ein - ich sag´s schon wieder - eigentlich recht spektakuläres urteil des europäischen gerichtshofs geschrieben:
"Der Einsatz von Brechmitteln gegen Kleindealer verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Deutschland wurde deshalb gestern vom Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Der Brechmitteleinsatz sei eine "inhumane und erniedrigende Behandlung", entschieden die Richter mit 10 zu 6 Stimmen. Wenn der Staat auf diese Weise gewonnene Beweismittel im Strafprozess verwendet, verstoße dies gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Die Bundesrepublik muss dem Kläger Abu Bakah Jalloh jetzt 10.000 Euro Schmerzensgeld bezahlen."(...)
ist Ihnen aufgefallen, dass über dieses urteil kaum etwas berichtet worden ist? auch das passte ganz offensichtlich nicht in die illusionäre blase der reduzierten selbstwahrnehmung der ach-so-gastfreundlichen-und-offenen-gewandelten-bundesrepublik-deutschland.
bzw. derjenigen, die es nötig haben, sich mit einem solchen konstrukt zu identifizieren.
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zum schluß einige telepolisartikel, die die laune auch nicht unbedingt heben werden: über das gefängnissystem in den usa, kinder als zielgruppe von werbung, sowie die stinkbanalen kapitalistischen praktiken eines stinknormalen lebensmitteldiscounters.
sollen wir es als tröstlich ansehen, dass die virtuellen blasen der als-ob-realitäten gegenüber der wirklichen - und wirklich miesen - realität am ende totsicher den kürzeren ziehen werden? leider wird es dann mit hoher wahrscheinlichkeit keine möglichkeiten mehr geben, noch irgendetwas zu retten...
na, Sie eu-bürger/-in, das "vor unserer haustür" können und müssen wir in diesem fall wortwörtlich nehmen. erinnern Sie sich noch an diese begebenheiten? jetzt ertönt im (medialen) schatten der ereignisse im nahen osten folgender rettungsruf:
"Mit einem dramatischen Appell haben die südlichen EU-Staaten um Hilfe im Umgang mit den vielen Flüchtlingen aus Afrika gefordert. Bei einem Treffen der europäischen Innenminister sagte der maltesische Ressortchef Tonio Borg am Montag: "Hunderte ertrinken praktisch vor unserer Haustür." Ständig würden Leichen eingesammelt. Doch das Problem sei größer "als würden da ein paar tote Fische angeschwemmt", fügte Borg hinzu. "Das ist zu einer echten Krise geworden im Mittelmeerraum".
Die öffentliche Meinung reagiere mit Entsetzen, betonte der spanische Staatssekretär Antonio Camacho Vizcaino: "Unsere Bürger können nicht akzeptieren, dass sich unsere Meere zu Massengräbern entwickeln." Der italienische Innenminister Giuliano Amato sieht dabei auch die nördlichen EU-Staaten in der Pflicht: "Das Problem ist ein Problem der Europäischen Union insgesamt." Mehrere Staaten, darunter Deutschland, versprachen "europäische Solidarität".
yo. die "solidarität" von antisozialen eliten (und ihren bütteln) - was davon zu halten ist, machen die bisher bekannten planungen bzw. bereits einfach ein blick auf die derzeitige realität deutlich:
"solidarität" 1:
"Die Mittelmeeranrainerstaaten Frankreich und Spanien wollen einen gemeinsamen Polizei- und Justizraum mit Marokko aufbauen. Diese Initiative, die im wesentlichen als Anti-Terrormaßnahme verkauft wird, richtet sich aber vor allem gegen die illegale Einwanderung und wurde ohne Abstriche auf dem Treffen der Innen- und Justizminister in Newcastle abgenickt. Der Vorschlag soll zum zehnten Jahrestag des sogenannten Barcelona-Prozesses konkretisiert und auf der Europa-Mittelmeerkonferenz (Euromed) verabschiedet werden."
"solidarität" 2:
"Die von Spanien finanzierten Lager sollen der "Rückführung" und Wiedereingliederung von Minderjährigen dienen; Ghana stimmte der Rückführung von Migranten zu, Algerien schiebt nach Druck der EU Schwarzafrikaner ab (...)
Warum die Eingliederung ins Arbeitsleben ausgerechnet im armen Marokko geleistet werden soll, statt im reicheren Spanien, wird nicht beantwortet. Tatsächlich will man vor allem die Schwarzafrikaner schlicht loswerden. Die spanische Staatsekretärin für Einwanderung und Sicherheit Consuelo Rumí hat dies deutlich erklärt: "Das Ziel der Regierung ist es, so viele Jugendliche wie möglich zurückzuführen." Erst im danach sprach sie von Garantien, Familienzusammenführung und der Fürsorge durch Marokko.
Dabei hat Marokko gerade gezeigt, welche Garantien es bietet. Mehr als ein Dutzend Einwanderer wurden erschossen, als sie versuchten die Armutsgrenze in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta zu überqueren. Es sperrt Hunderte in Militärlager. Im besseren Fall werden sie per Charterflug in ein Land deportiert, aus dem sie angeblich kommen. Migranten wurden aber auch schon mit Lastwagen mitten in die Wüste gefahren und zum Teil in vermintem Gelände ihrem Schicksal ohne Wasser und Nahrung überlassen."
"solidarität" 3:
"Der Versuch, die Grenzen zu überqueren, wird zum Angriff erklärt. Wer es trotzdem schafft, europäischen Boden zu erreichen, muss damit rechnen, dass er durch seine Existenz einen Verstoß gegen die Gesetze darstellt.(...)
Die so genannten Illegalen stellen ein unsichtbares Heer von Billiglohnarbeitern, ohne die unter anderem im Pflegebereich, in der Landwirtschaft, in privaten Haushalten und auf dem Bau oft gar nichts mehr gehen würde. Nach Schätzungen leben in der Bundesrepublik zwischen 500.000 und 1,2 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus in totaler Rechtlosigkeit. Dazu kommen 200.000 langjährig Geduldete, wie sie in der Behördensprache genannt werden. Real bedeutet das, dass sie ständig von Abschiebung bedroht sind und alle paar Wochen oder Monate auf der Ausländerbehörde ihre Papiere verlängern lassen müssen. Inzwischen bekommen sie als Folge der Einführung des neuen in vielen Fällen auch keine Arbeitsgenehmigung mehr, selbst wenn sie schon seit Jahren erwerbstätig waren und sie bekommen sowieso nur die Jobs, die nachweislich kein Deutscher oder EU-Ausländer will."
ja, sie ist schon eine feine sache, diese "europäische solidarität". mit reellen ergebnissen :
"Nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl starben allein seit Anfang 2002 mehr als 1.000 Menschen an den europäischen Außengrenzen. Im Mittelmeer zwischen Nordafrika und Südeuropa kamen demnach in den vergangenen Jahren mehr als 5.000 Flüchtlinge bei dem Versuch ums Leben, mit klapprigen und meist völlig überfüllten Booten die spanischen, französischen, italienischen oder griechischen Küsten zu erreichen. Pro-Asyl-Europareferent Karl Kopp spricht gar von einem regelrechten "Massengrab" in der Straße von Gibraltar."
im märz hatte ich dazu folgende notiz geschrieben:
"Auf dem Weg von Mauretanien zu den Kanaren sind am Wochenende 45 Flüchtlinge ertrunken. Zwei mit insgesamt 84 Afrikanern besetzte Fischerboote seien im Atlantik gekentert, berichtete die El País gestern. Gestern drohte erneut ein Flüchtlingsboot mit 40 Passagieren zu kentern."
schlimm? eigentlich eher ein völlig unerträglicher tatbestand - aber schauen Sie sich das folgende an:
"Nach Angaben des Roten Halbmonds kamen in den vergangenen vier Monaten 1.200 bis 1.300 Menschen beim Fluchtversuch auf spanisches Territorium ums Leben."
die älteren leserInnen hier können sich vielleicht folgendes ausmalen: was wäre in diesem land losgewesen, wenn es ähnliche zahlen in einem ähnlichen zeitraum auch nur einmal an der ehemaligen grenze zur ddr gegeben hätte? eben. die von unseren westlichen gesellschaften immer wie ein popanz vor sich hergetragenen bekenntnisse zu "menschenrechten" sind nicht das papier wert, auf denen sie geschrieben werden. unter menschen werden ganz offensichtlich nur bestimmte menschen verstanden - und die sind immer noch reich und weißhäutig.
ähem, haben wir hier vorhin über die brutalität des nahost-konflikts geredet?
in anbetracht der tatsache, dass derzeit das thema der kriege und konflikte im nahen und auch mittleren osten wieder einmal größere aufmerksamkeit erfährt, nun eher spontan der zweite beitrag einer kleinen reihe (diejenigen, die vielleicht auf den angekündigten beitrag zum "party-patriotismus" anläßlich der vergangenen wm warten, möchte ich um geduld bitten - der wird noch kommen).
ich muß dabei ehrlich gestehen, dass es mich regelrecht überwindung kostet, mich an das knäuel von ineinander verschlungenen dynamiken zu wagen, die sowohl den israelisch-palästinensischen als auch den umfassenderen sog. westlich-islamistischen konflikt kennzeichnen. mein überdruß rührt dabei vor allem aus der hemmungslosen instrumentalisierung der realen - vergangenen und aktuellen - opfer her, die sich sowohl bei allen direkt beteiligten seiten als auch bei denen finden lässt, die sich - aus eigenen und durchaus fragwürdigen motiven, wie ich finde - in diesen konflikten gerade in d-land unbedingt positionieren wollen.
ich kann in den folgenden beiträgen lediglich fragmente darstellen, die allerdings aus meiner sicht primäre bedeutung haben. nicht zuletzt geht es auch um den versuch, eine einigermaßen realistische wahrnehmung zu erlangen, die von den involvierten menschen und den sie bestimmenden psychophysischen zuständen ausgeht - und nicht von irgendwelchen relativ beliebigen und teils auch austauschbaren "politischen" bzw. ideologischen konstruktionen.
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welche macht die im letzten beitrag angesprochene traumatische vergangenheit der shoa bis in die israelische gegenwart herein hat - und wie sie gleichzeitig, neben ihren realen psychophysischen folgen selbst noch bei den kindern der zweiten und dritten generation der überlebenden, für aktuelle zwecke instrumentalisiert wird - zeigt ein schon älterer artikel aus der taz, geschrieben von idith zertal - "...lebt als Historikerin und Publizistin in Tel Aviv. Sie unterrichtet Geschichte und Kulturwissenschaften am Interdisciplinary Centre Herzliya und der Hebräischen Universität Jerusalem."(...).
zertal argumentiert dabei ohne direkten rückgriff auf die heute vorliegenden verschiedenen modelle bzw. diagnostischen konstruktionen aus der psychotraumatologie, ist aber quasi durch die natur ihres gegenstands immer wieder gezwungen, sich mit den traumatischen folgen aus einer eher konventionellen historischen perspektive auseinanderzusetzen. daraus ergeben sich nach meinem verständnis einige lücken in ihrer beschreibung, die aber nichtsdestotrotz sehr lesenswert ist - auszüge:
(...)"Die Shoah und ihre Millionen Toten sind in Israel vom Tag der Gründung an allgegenwärtig gewesen, und die Verbindung dieser zwei Ereignisse bleibt unauflöslich. Die Shoah war dabei in der Sprache der israelischen Gesellschaft ebenso präsent wie in ihrem Schweigen, im Leben und in den Albträumen von Hunderttausenden von Überlebenden, die sich in Israel niedergelassen haben, ebenso wie in der himmelschreienden Abwesenheit der Opfer; in Gesetzgebung, Reden, Feierlichkeiten, Gerichtssälen, Schulen, in der Presse, in der Dichtung, auf Grabsteinen, Monumenten, Gedenkbüchern.
Die israelische Gesellschaft hat sich im Lauf der Jahre in einem dialektischen Prozess von Aneignung und Ausschluss, von Erinnern und Vergessen in ihrer Beziehung zur Shoah definiert: Sie vertrat zugleich das Erbe und die Anklage der Opfer, stand für ihre Sünden und Verfehlungen ein und sühnte ihren Tod. Die metaphorische Erteilung der Staatsbürgerschaft an die sechs Millionen ermordeten Juden in den Anfangstagen des Staates und ihre symbolische Integration in den politischen Korpus Israels zeigte diese historische, materielle und psychologische Gegenwart in der israelischen Gemeinschaft.
Die Opfer der Shoah wurden, den Umständen von Ort und Zeit entsprechend, wieder und wieder ins Leben zurückgerufen und zu einer zentralen Größe in der politischen Debatte in Israel, speziell im Zusammenhang mit dem israelisch-arabischen Konflikt und besonders in Momenten der Krise und des politischen Flächenbrands, genauer gesagt in Kriegszeiten. Es hat von 1948 bis zum aktuellen Gewaltausbruch, der im Oktober 2000 begann, keinen Krieg in Israel gegeben, der nicht unter Bezug auf die Shoah wahrgenommen, definiert und konzeptualisiert worden wäre.
Diese Maßnahme, die ursprünglich, vor mehr als einem halben Jahrhundert, relativ entschlossen und auf das Ziel konzentriert war, Macht und Machtbewusstsein Israels aus der totalen jüdischen Machtlosigkeit zu erschaffen, wurde im Laufe der Zeit, als die historische Situation Israels sich durch Zeit und Umstände zunehmend von der Shoah entfernte, zu einem vollständig entwerteten Klischee. Auschwitz als die Verkörperung des absoluten, ultimativen Bösen wurde und wird immer noch in allen Militär- und Sicherheitsangelegenheiten sowie politischen Zwangslagen beschworen, die die israelische Gesellschaft nicht in Angriff zu nehmen, zu lösen und zu bezahlen bereit ist, wodurch sich Israel in eine ahistorische und apolitische Grauzone verwandelt hat, in der Auschwitz nicht ein vergangenes Ereignis ist, sondern drohende Gegenwart und ständige Möglichkeit."(...)
besonders im letzten satz sind - wie gesagt, ohne das es die autorin so explizit geäußert hätte, wie´s eigentlich nötig wäre - ganz deutlich einige der typischen eigenschaften skizziert, wie sie individuell bei diagnostiziertem ptbs beobachtet werden können, aber eben auch in kollektiven strukturell vorhanden sind. das "ahistorische" verweist auf die erwähnte traumatypische veränderte zeitwahrnehmung, in der das eigentliche traumatische erlebnis bereits jahrzehnte zurückliegen kann, aber quasi "eingefroren" - und zwar im moment der entstehung - in sowohl "aktueller" als auch abgespaltener form vorliegt (in modifizierter form kann das übrigens auch bei den kindern der betroffenen der fall sein - in solchen fällen wird heute von tradierten bzw. intergenerationellen traumata gesprochen, und derartiges wurde imo tatsächlich zuerst an den kindern aus familien von überlebenden der shoa registriert.)
und u.a. genau aus letzteren eigenschaften heraus kann ein trauma bzw. das auslösende ereignis in der vergangenheit deshalb sowohl "drohende Gegenwart und ständige Möglichkeit" sein. nicht viel anders als bspw. bei vergewaltigten frauen, bei denen es - wenn denn die gewalttat aus der normalen erinnerungsverarbeitung abgespalten ist bzw. aus was für günden auch immer nicht bearbeitet werden konnte/sollte/durfte - im extremfall nur eines vielleicht ganz unscheinbaren triggers bedarf, um sie quasi wie in einem zeitsprung in die ursprügliche situation der vergewaltigung zu versetzen. das kann ein geruch bewirken, ein bestimmtes kleidungsstück, vielleicht auch eine sprechweise - einfach alles, was an die traumatische situation bzw. den täter erinnert, kann potenziell die "verkapselten" neuronalen netzwerke, in denen die entsprechende erinnerung gespeichert ist, aktivieren - mit dem ergebnis des gefürchteten flashbacks. das muss sich nicht bei allen traumabetroffenen so abspielen, ist jedoch bereits so oft beobachtet und untersucht worden, dass mittlerweile auch die beteiligten neurophysiologischen prozesse zumindest grob skizziert werden können.
nun lassen sich individuelle strukturen nicht eins zu eins auf kollektive übertragen - diesen einwand teile ich weitgehend. wenn aber innerhalb eines kollektives genügend individuen mit ähnlichen erfahrungen vorhanden sind - und im falle von psychotraumata müssen i.d.r. auch die sozialen netzwerke und umfelder der opfer als in gewisser weise ebenfalls betroffen angesehen werden, weil es u.a. zu komplexen kommunikativen interaktionen mit stark verzerrten inhalten kommen kann -, dann darf davon ausgegangen werden, dass die traumaspezifische erfahrung in verschiedenen und nicht immer auf anhieb erkennbaren formen beginnt, das leben und das selbstverständnis des gesamten kollektivs zu beeinflussen, wenn nicht gar zu prägen - und das natürlich meistens negativ.
"Die Übertragung der Situation, in der die Shoah stattfand, auf die Realität im Nahen Osten, welche - so rau und feindselig sie auch war - eine vollkommen andere war, hat nicht nur ein fälschliches Gefühl einer bevorstehenden und stets präsenten Gefahr der Massenvernichtung erzeugt. Sie hat auch das Bild der Shoah erheblich verzerrt, das Ausmaß der von den Nazis begangenen Gräueltaten verharmlost, das beispiellose Leiden der Opfer und der Überlebenden trivialisiert und die Araber und ihre Anführer vollkommen dämonisiert. Darüber hinaus ist Israel, während es zu Recht auf dem singulären Charakter der Shoah in einer Epoche des Genozids und der großen menschlichen Katastrophen bestanden hat, wegen seiner alltäglichen und kontextlosen Verwendung der Shoah zu einem erstrangigen Beispiel für die Entwertung der Bedeutung und der Ungeheuerlichkeit der Shoah geworden - ein Phänomen, das Elemente einer anderen, paradoxen und tragischen Art der Holocaustleugnung enthält."(...)
jein. hier finde ich einige beispiele für die oben erwähnten lücken, die sich aus dem mangelndem verständnis der autorin für die eigenarten einer traumabeeinflussten wahrnehmung ergeben. das "fälschliche Gefühl" ist in der selbstwahrnehmung der betroffenen eben nicht fälschlich, sondern beruht u.a. auf der ständigen unterbewußten - und in einem gewissen sinne realen - präsenz der drohenden gefahr. die in dieser form der wahrnehmung keinesfalls gebannt ist, und auch nicht "realistisch" - nach "objektiven" normen - eingeschätzt werden kann. das ist das eine. zum anderen, wenn ich mal in der traumaperspektive bleibe, sind etliche offizielle äußerungen - von den kriegerischen bzw. terroristischen handlungen gar nicht zu reden - der jeweiligen gegner israels in der arabischen welt als monströseste trigger anzusehen, wie zb. die mehr oder weniger offene drohung, den staat israel (sinngemäß) von der landkarte zu löschen.
solche und ähnliche drohungen gegenüber einem kollektiv, welches in seinem selbstverständnis massiv von einem der traumatischten ereignisse der menschlichen geschichte geprägt ist, und von dem eine nicht unbeträchtliche zahl seiner mitglieder dergestalt beeinflusst worden ist, alles zu tun, um nie wieder opfer zu werden - vergleichen Sie das einmal mit dem individuell bezogenen beispiel einer vergewaltigten frau, der gegenüber ein ignoranter (aus welchen gründen auch immer) mann massiv in wort und tat übergriffig wird - im extremfall kann das für den mann tödlich enden. und das wäre eine dynamik, die zumindest ich ein ganzes stück weit verstehen kann - ohne das ich sie akzeptieren muss. wer in diesem blog regelmäßig liest, wird sich sicher die vielen inzwischen angesammelten prozeßberichte vor augen rufen können, in denen es in deprimierender regelmäßigkeit zur feststellung massiver persönlichkeitsstörungen und/oder traumatisierender einflüsse in der biographie der täter kommt - und genau diese art von verständnis einer belegbaren täter-opfer-dialektik ist imo unverzichtbar, um nicht nur die konflikte im nahen/mittleren osten zu begreifen.
und dieses begreifen wäre auch für die israelische gesellschaft in vielfältiger hinsicht wichtig. denn auch die bevölkerung vieler islamischer länder ist massiv traumatisierenden bedingungen ausgesetzt, deren folgen im falle derjenigen, die direkt in den konflikt mit israel involviert sind, zusammen mit der gerade skizzierten innerisraelischen dynamik zu unglaublich destruktiven aktionen führen können - und bekanntlich auch führen.
zu diesem aspekt mehr im nächsten beitrag dieser reihe, der allerdings vermutlich erst am wochenende zu lesen sein wird.
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mehr zum thema trauma, gerade im kontext "krieg", auch z.b. hier und hier.