lesen-sehen-hören

Samstag, 6. Oktober 2007

visualisiertes als-ob-leben im "anderland"?

tja, schon wieder etwas werbung:



- andererseits legen die herbstlichen abende neben langen spaziergängen sowie dem lesen dicker bücher auch das schauen von interessanten filmen nahe. und wenn es sich dann noch offensichtlich um die darstellung von verbreiteten varianten der als-ob-persönlichkeit handelt, wird das schon beinahe zum pflichtbesuch. selten haben mich jedenfalls rezensionen so neugierig gemacht - beispiel eins:

(...)"Selbiges gilt für "Anderland", der so viel mehr an beängstigenden Informationen über den Zustand der Welt zu bieten hat, als es die schlichte Form zunächst erahnen lässt. Das unorthodoxe Vorgehen hat eine beinahe paradoxe Wirkung auf den Zuschauer: In den folgenden Tagen begegnen einem zahlreiche Situationen aus diesem Drama."(...)

zwei:

"(...)Visuell beeindruckende Utopie des Norwegers Jens Lien, der ein kaltes, emotionsloses Weltbild zeichnet, das unserer aktuellen Gesellschaft mehr ähnelt als uns lieb sein kann."(...)

drei:

(...)"Er inszeniert eine Welt der Oberflächen, deren Einwohner sich kaum von den Objekten und Möbeln unterscheiden, über die sie reden und mit denen sie sich umgeben."(...)

und etwas ausführlicher:

(...)"In Anderland sind die Anzüge grau, und die Gesichter darüber ebenfalls. Die Häuser haben große Glasfassaden, die Räume sind leer und weit und die Menschen darin wirken verloren, aber sie lächeln alle sehr freundlich – ein bisschen maskenhaft vielleicht. Andreas soll sich hier wohlfühlen: Er bekommt ein Appartement zugeteilt, das aussieht wie ein Motel, einen Job, in dem er Zahlen von einem Papier in den Computer eingeben soll, und zur Dekoration seines Büros ein grünes Zimmergewächs. Aber irgendetwas scheint zu fehlen: Der Alkohol wirkt nicht, die heiße Schokolade schmeckt nicht, nirgendwo hört man Kinderlachen. Sex ist eine monoton-rhythmische Sportgymnastik und statt für Liebe interessieren sich die Frauen für Innenarchitektur. Alle sind zufrieden, aber zum Glücklichsein fehlt ihnen das Empfinden.

Anderland ist eine sterile Businesswelt, die so manchen realen Büroetagen aufs Erschreckendste ähnelt. Was zählt, sind Arbeit, Etikette und gesellschaftliche Zusammenkünfte in Edelrestaurants. Durch die Gewöhnung an den Luxus ist der Genuss abhandengekommen. Die liebes- und beziehungsunfähigen DINKS kompensieren ihre innere Leere mit äußeren Designgegenständen.(...)

Es ist eine beklemmend aktuelle Dystopie, die Jens Lien da geschaffen hat, indem er die Realität nur um Nuancen übersteigert. Seine Welt kommt ohne futuristische Technik aus, ohne Newspeak und ohne ein Staatssystem; sie ist ein Ausschnitt aus der unsrigen."(...)


und die wirkung dieses films wird von vielen rezensenten ähnlich beschrieben:

(...)"Was bleibt, ist das unangenehme Gefühl: Anderland ist schon mitten unter uns."(...)

(das sollte allerdings selbst mit nur rudimentären wahrnehmungsfähigkeiten seit längerer zeit auch ohne kinobesuch zu merken sein.)

"anderland" ist gerade in den kinos angelaufen.

Montag, 1. Oktober 2007

die schock-strategie (update)

nein, ich hab´s noch nicht gelesen:

»So funktioniert der Katastrophen-Kapitalismus:

Eine Katastrophe - ein Staatsstreich, ein terroristischer Anschlag, ein Wirtschaftskollaps, ein Krieg, eine Flutwelle, ein Hurrikan - katapultiert die gesamte Bevölkerung in einen kollektiven Schockzustand. Die fallenden Bomben, die brutalen Terror-Attacken, die tosenden Stürme dienen dazu, ganze Gesellschaften zu zermürben - genau wie dröhnende Musik und Schläge in Folterkammern Gefangene zermürben. Und so, wie der terrorisierte Gefangene die Namen von Kameraden preisgibt und seine Überzeugungen verleugnet, geben schockierte Gesellschaften ihre Werte und Überzeugungen auf, die sie sonst entschlossen verteidigen würde.«

Naomi Klein


- aber bei ansicht des folgenden films drängten sich mir diverse assoziationen auf:



für den moment nur soviel: ich vermute momentan, das naomi klein - von einer ganz anderen richtung her kommend als bspw. viele in der psychotraumatologie involvierte - vielleicht einen ersten schritt zu einem breiten und öffentlich wirksamen neuen geschichtsverständnis getan hat. zum warum siehe hier und hier. klein scheint letztlich eine bestimmte art der mehr oder weniger bewußten instrumentalisierung (und erzeugung) von (post-)traumatischen zuständen im interesse der machterhaltung seitens gesellschaftlicher "eliten" zum thema gemacht zu haben. mehr hier, wenn ich zum lesen gekommen bin.

*

edit am 25.10.07: eine rezension der bisherigen rezensionen des buches gibt´s beim labournet (gefunden dank hinweis hier.)

(...)"Auf gänzlich anderem Niveau wurde bisher die „Schock-Strategie“ in der Bundesrepublik verhandelt bzw. genauer: die Autorin wurde schlicht mit Unflat beworfen. Weder in der politischen Presse beispielsweise der USA, noch in kanadischen oder englischen Medien, in italienischen, oder auch griechischen, ist die Autorin Naomi Klein mit ihrer 763 Seiten starken Untersuchung zur „Schock-Strategie“ derart diffamiert worden, wie bisher in diesem Land. Das verwundert nicht: Zum einen brechen sich in keinem anderen westeuropäischen Mediensystem sexistische Wahrnehmungsweisen so ungehindert Bahn, wie dies seit Jahrzehnten in bundesdeutschen Printmedien der politischen Presse Tradition hat. Insbesondere gebildete, gesellschaftskritische Frauen ziehen sexistische Aggressionen hier traditionell auf sich.(...)

Zum anderen ist die bundesdeutsche Presse mittlerweile dermaßen gleichgeschaltet – und zwar von innen heraus und nicht durch staatliche Zensur-, wie dies ebenfalls in keinem anderen westlichen Land der Fall zu sein scheint, nicht einmal in den USA, aber auch nicht in Nachbarländern wie Österreich oder Frankreich. Neoliberale Mantren gelten in diesem Land schlicht als Richtschnur und „Wahrheit“ und solche gegen Frauen allemal."(...)

Freitag, 29. Juni 2007

zufallsfund

so etwas macht mich natürlich neugierig:

cover autistische phaenomene...

"Psychogen autistische Phänomene spielen eine immer größere Rolle in der psychoanalytischen Behandlung nicht autistischer erwachsener Patienten, insbesondere in der Dynamik pathologischer Organisationen und seelischer Rückzüge. (...)

Neben einer allgemeinverständlichen Einführung und der Vorstellung aktueller kinderanalytischer Ansätze werden in zahlreichen Fallbeispielen autistische Phänomene bei unterschiedlichsten Psychopathologien untersucht, z.B. bei Borderline-Störungen, dem Als-Ob-Syndrom, Essstörungen und Hypochondrie."(...)


bei nächster gelegenheit mehr dazu; sollten sich hier leserInnen finden, die bereits mit dem buch vertraut sind, wäre ich um entsprechende kommentare oder sogar eine kurzrezension sehr dankbar.

Sonntag, 22. April 2007

Die Hochstapler

und gleich noch einen filmtipp möchte ich nachlegen: Die Hochstapler vom regisseur alexander adolph greift letztlich eines der zentralen blogthemen hier auf - die menschlichen fähigkeiten zur simulation, die existenz von als-ob-strategien sowie das psychiatrische modell der als-ob-persönlichkeit.

"Man nennt sie Hochstapler oder Millionenbetrüger. Sie selbst bezeichnen sich als Märchenerzähler. DIE HOCHSTAPLER zeigt vier Männer, die ein besonderes Wissen weitergeben: Wie man andere belügt, betrügt, manipuliert, für dumm verkauft, wie sie sich Geld, Aufmerksamkeit und Liebe erschwindelt haben – und was das Lügen mit einem anstellt.(...)

Mitunter mag den Zuschauer die Vorstellung überkommen, dass es virtuose Schauspieler sind, die einen dramatischen Text interpretieren. Doch diese Oberfläche bekommt langsam Risse.

Was auf den ersten Blick ein sensationeller und mitunter sehr komischer Einblick in die Welt des Verbrechens zu sein scheint – vier Protagonisten, die packend und unterhaltsam erzählen – birgt etwas ganz anderes: Ein Kammerspiel über den Mechanismus des Lügens. Über den Wunsch, nicht der zu sein, der man ist. Darüber, wie man sich über die Manipulation der Wahrnehmung anderer zu einem neuen Menschen stilisiert – bis man selbst in dieser Rolle gefangen wird und die eigene Persönlichkeit auseinander fällt. Vor allem aber handelt DIE HOCHSTAPLER von einer Gier, die in uns allen steckt – und das ist nicht die Gier nach Geld, sondern nach Anerkennung und Liebe."(...)


und bei mindestens zweien der vier dokumentierten protagonisten des als-ob finden sich sofort und ohne große umschweife hinweise auf destruktive bzw. traumatische strukturen in ihren - hm, biographien:

"Aufgewachsen in der Nähe von Bitterfeld, begann seine kriminelle Karriere mit einer Höllenfahrt durch Spezialkinderheime der DDR, deren traurigen Höhepunkt die Jugendstrafanstalt Torgau darstellte. Nach der Wende fand auf ihn Erwachsenenstrafrecht Anwendung und die Abstände zwischen den Gefängnis-Aufenthalten wurden immer kürzer.

In den spärlichen Momenten der Freiheit erfand er neue Identitäten, um sich für die Eigene „zu rechtfertigen.“ Diese selbst geschaffenen Märchenwelten entwickelten eine erstaunliche Eigendynamik."(...)
(torsten s.)

"Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, Weihnachten und Geburtstage wurden nicht gefeiert. Dafür hatten er und sein Bruder schon in frühen Jahren Kunden zu akquirieren."(...)
(peter g.)


das prä-, peri- und natürlich auch postnatale traumtische bedingungen (im weitesten sinne gemeint, also jenseits der zu engen kriterien der heutigen mainstream-trauma-definitionen) u.a. als bewältigungs- und kompensationsfunktion zu einem "aufblähen" unserer objektivistischen fähigkeiten führen können, ist nach wie vor ein these, die sehr ernst genommen werden muss - und vielleicht gerade deshalb hartnäckig beschwiegen wird. ich bin übrigens mißtrauisch bei einer aussage wie derjenigen im ersten satz zu mark z.:

"Eine behütete Kindheit hat er gehabt. In der Schule war er allseits beliebt und sie wählten ihn zum Klassensprecher. Dennoch sagt er, habe er den anderen Leuten stets etwas vorgemacht."(...)

meistens wird darunter inzwischen eine normale oder gar überdurchschnittlich gute materielle versorgung verstanden - was noch lange nichts über die qualität der sozialen beziehungen des mark z. aussagt. wer anderen stets etwas vormachen muss, sprich simulieren, ist jedenfalls weit weg von authentischen beziehungen.

(...)"Der „andere“ Mark Z. nutzte die Mittel der Empathie und verstand sich hervorragend im Lesen von körperlichen Signalen. Er schuf Situationen, in welchen ihm seine Opfer blind vertrauten. Dabei hielt er sich stets an die Regeln des „perfekten“ Verkäufers."(...)

das ist tatsächlich eine beschreibung, wie sie auch auf die in den beiträgen zur als-ob-persönlichkeit näher dargestellte virtuelle figur des tom ripley perfekt passen würde - oder auf eine antisoziale persönlichkeit, u.u. bei bestimmten hirnveränderungen auch auf einen soziopathen, im klinischen sinne.

ich denke ebenfalls, dass alle vier in dem sinne nicht repräsentativ für derartig strukturierte persönlichkeiten sind, als sie eben auf dauer nicht erfolgreich gewesen sind - nicht nur mertz, sondern auch andere praktiker / theoretiker aus psychiatrie und psychologie haben wiederholt darauf hingewiesen, an welchen bedenklichen stellen in den heutigen machthierarchien sich funktionelle oder strukturelle soziopathen finden lassen. wenn sie "gut" im simulieren und manipulieren sind, bleiben sie als die schwer gestörten personen, die sie faktisch sind, nahezu unsichtbar, d.h. lassen öffentlich nur ihre maske(n) sichtbar werden - und lassen gleichfalls nur durch die wirkungen ihres objektivistischen handelns ihre anwesenheit erahnen.

das könnte natürlich alles nicht so relativ glatt über die bühne gehen, wenn die erwähnten machthierarchien nicht selbst strukturell eine schwer objektivistische schlagseite aufweisen würden (dazu hatte ich bezgl. eines weiteren vertreters des als-ob hier mehr geschrieben).

ebenfalls wird etwas deutlich, was bereits in der diskussion zu den thesen von mertz ein punkt gewesen ist: mehr oder weniger zufällig können menschen in einem solchen modus auch gegen die herrschenden machtstrukturen aktiv werden - ich hatte damals schon das beispiel von oskar schindler angeführt, und bei torsten s. wird etwas strukturell ähnliches sichtbar:

(...)"Mit keinem Pfennig in der Tasche hat er sich als Diplomat und persönlicher Freund Joschka Fischers ausgegeben. Gern ging er luxuriös einkaufen, das meiste davon hat er wieder hergeschenkt. Nachdem er für die Darstellung des erfundenen Diplomaten eine weitere Haftstrafe verbüßt hatte, begab er sich in einen kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern und organisierte als amerikanischer Major eine Nato-Sicherheitskonferenz. Innerhalb weniger Stunden stellte er eine ganze Stadt auf den Kopf, vom Hotel, über das Krankenhaus, Einrichtungs- und Autohäuser bis hin zum Bürgermeister - so glaubhaft, dass ihn die örtliche Polizei entkommen ließ."(...)

das problem bei derlei aktionen (wenn sie eben nicht von grundsätzlich sowohl authentizitäts- als auch simulationsfähigen menschen im sinne eines bewußten widerstands ausgeführt werden) - der ich selbst aufgrund ihres inhaltes mit einer gewissen sympathie gegenüberstehe - ist nur der punkt, den ich bereits früher von mertz zitiert hatte:

"Es sind hier, um es einmal ganz unmißverständlich auszudrücken, ausschließlich situative Zufälle, nämlich die günstigen Gelegenheiten oder externalen Kontrollmechanismen der jeweiligen historischen Situation, die aus ein und derselben Als-Ob-Person beispielsweise einen weithin respektierten Moraltheologen oder einen begnadeten Folterer machen. Bei entsprechender Intelligenz und persönlichem Geschick ist auch ein völlig reibungsloser Wechsel von einem zum anderen möglich."(...)

(mertz, "borderline..."; s. 56)


mehr bleibt dem aus meiner sicht momentan nicht hinzuzufügen.

*

abschließend möchte ich auf einen auszug aus einer rezension seitens des deutschen ärzteblattes hinweisen, die sich im pressespiegel zum film finden lässt:

„Die Geschichten, die die vier inhaftierten Männer in Alexander Adolphs Interviewfilm „Die Hochstapler“ aus ihrem Leben erzählen, sind unglaublich, sind ebenso aberwitzig wie tragisch. Ihre Berichte reichen von den prägenden Erlebnissen ihrer Kindheit bis zur detaillierten Darlegung der Methoden, mit denen sie zunächst die Zuneigung und später das Geld ihrer Mitmenschen erschwindelten. Unkommentiert werden die Interviews aneinander gereiht, ergänzt durch die Stimmen von Eltern, Anwälten und Opfern.

Das Ergebnis ist eine ebenso behutsame wie vielschichtige Charakterstudie, durch die zwischen den Zeilen die Pathogenese zutiefst menschlicher Sehnsüchte scheint. Dass die Erfüllung dieser Sehnsüchte im Endeffekt – von den Tätern wie von den Opfern – über die Anhäufung des Placebos Geld erreicht werden soll, wirft ein Schlaglicht auf die Prioritäten, die sich in unserer Wirtschaftsordnung verfestigt haben. Und so ist „Die Hochstapler“ gleichzeitig eine hintersinnige Gesellschaftsstudie, die unausgesprochen die Frage nach der Wertigkeit menschlicher Gefühle in einer Welt aus Renditen und Gewinnmargen stellt. Der Betrüger erscheint in dieser Welt als die Gallionsfigur einer Gesellschaft, in der Geldscheine eine größere Inspiration darstellen als die Menschen, die sie besitzen.”


und die in den letzten sätzen genannten aspekte halte ich nicht nur für sehr treffend und bezeichnend, sondern sie veranlassen mich auch auch zur besuchsempfehlung, ebenfalls ohne ihn bisher gesehen zu haben. und ich habe das gefühl, dass es sehr aufschlußreich sein könnte, diese dokumentation mit der hier gestern vorgestellten vom großen ausverkauf als zusammengehörig zu betrachten - zwei seiten der gleichen medaille, die da heißt: das system der verwertung (im kapitalistischen sinne), verdinglichung und objektivierung bzw. der in diesen übergriffen strukturell und zwangsläufig enthaltenen gewalt erzeugt sich über diverse psychophysische mechanismen die ihm kompatiblen menschen. und diejenigen menschen, die in modellen wie der als-ob-persönlichkeit beschrieben werden können, sind zu begreifen als solche sich in konkreten (pseudo-)lebensläufen manifestierenden versuche des überlebens unter grundsätzlich pathologischen und antisozialen bedingungen.

*

wenn Sie den film "brazil" kennen und mögen, werden Sie sich vielleicht an den unsterblichen dialog der hauptfigur sam lowry mit dem guerilla-klempner harry tuttle erinnern:

"Aber...aber...das ist ja Scheisse!"

(tuttle, sich ruhig eine zigarette ansteckend):

"Ganz recht, mein Junge. Wir stecken alle tief drin".


und das ist der präziseste und zusammenfassendste kommentar zu unserer welt in ihrer heutigen erbärmlichen verfassung, der mir bis dato bekannt ist. einen schönen sonntag noch.

Samstag, 21. April 2007

DER GROSSE AUSVERKAUF [update - jetzt mit film]

und wieder ein filmtipp, den ich nach ansicht der bisher vorliegenden infos ohne große bedenken weitergeben möchte - nach "the corporation", "we feed the world" und anderen ähnlichen dokumentationen dürfte sich dieser film mit dem thema "privatisierung" bruchlos in die reihe der eben genannten und im besten sinne aufklärerischen und v.a. aufwühlenden arbeiten einreihen:

"Ein britischer Lokführer, eine philippinische Mutter, ein südafrikanischer Aktivist und die Bürger einer bolivianischen Stadt: Sie kämpfen bereits gegen das, was uns alle erwartet: den GROSSEN AUSVERKAUF.

„Ich habe einmal bestimmte Aspekte der Wirtschaftspolitik mit moderner Kriegsführung verglichen. In der modernen Kriegsführung versucht man zu entmenschlichen, das Mitgefühl zu beseitigen. Man wirft Bomben aus 15 000 Metern, aber man sieht nicht, wo sie landen, man sieht keine Schäden. Es ist fast wie in einem Computerspiel. Man spricht von „body counts“. Das entmenschlicht den Prozess. Genauso ist es in der Wirtschaft: Man redet über Statistiken und nicht über die Menschen hinter diesen Statistiken.“
(Joseph E. Stiglitz / Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften)


damit dürften auch weitere und neue bilder zur verfügung stehen, die zumindest einiges von den themen auch hier im blog visuell anschaulicher machen werden.

sehr interessant und vielleicht auch in naher zukunft in diesem land hier relevant finde ich die informationen über die trupps von
"guerilla-elektrikern" in südafrika.

der film soll ab dem 17. mai in den kinos zu sehen sein.

*

edit am 04.12.08: inzwischen ist der film online - darum keine langen worte mehr, sondern nur die empfehlung: anschauen, wenn Sie ihn bisher noch nicht gesehen haben!


Mittwoch, 12. Juli 2006

heute im tv: todkrank und abgeschrieben

auch das folgende thema wurde hier vor ein paar monaten schon erwähnt - falls Sie nachher um 23.00 h noch nichts vorhaben, können Sie sich über die aktuellen varianten einer versteckten "euthanasie" bzw. einer schon nicht mehr versteckten selektion anhand ökonomischer kriterien in diesem land informieren - in der vorankündigung ist u.a. zu lesen:

(...)"Menschen, die schwer erkranken, stehen oft alleine in ihrem Kampf ums Überleben. Sie brauchen Kraft, um gegen die Krankheit zu kämpfen und müssen sich zusätzlich gegen ihre Kasse und deren Weigerung wehren, die Kosten für eine lebenserhaltende oder lebensverlängernde Therapie bei ihrem behandelnden Arzt zu übernehmen. Eine bittere Erkenntnis für Patienten, gerade wenn sie auf Sicherheit und Zuversicht angewiesen sind.

Eine von ihnen ist die 38-jährige Julia L. aus München."Wollt Ihr uns sterben lassen, nur weil wir diesem System ausgeliefert sind?" fragt die schwer kranke Patientin. Mit ihrem Arzt und einer Anwältin kämpft sie um eine Therapie, doch die Kasse lehnt ab. Die Behandlung wird abgebrochen. Ebenso wie bei der 28-jährigen Stefanie R. "Ich will behandeln, darf aber nicht", sagt ihr Arzt, "man zwingt mich, gegen meinen medizinischen Eid zu verstoßen".(...)


ja doch, wir leben in einer dingwelt:

(...)"Viele Menschen sterben einen leisen Tod, weil sie keine Kraft haben, neben der Krankheit auch noch die Vorschriften, Absagen und bürokratische Entscheidungen zu bekämpfen. Sie werden zerrieben in einer Maschinerie, in der die Kosten das zentrale Kriterium zu sein scheinen und in der über Schicksale von Menschen nur nach Aktenlage entschieden wird."(...)

es ließe sich auch als eine sehr perfide art von mord bezeichnen.

Dienstag, 23. Mai 2006

vom welthunger und "psychischer und sozialer destruktion im neoliberalismus"

einen film, der imo am besten im zusammenhang mit "the corporation" geschaut werden sollte, möchte ich hiermit nach eigener anschauung empfehlen: "we feed the world" setzt zwar meiner meinung nach (leider) einiges wissen bereits voraus und hat auch ein etwas zu abruptes ende, kann aber aufgrund der ausgewählten beispiele durchaus einen tieferen eindruck in die dimensionen des ökonomischen und sozialen wahns präsentieren, der sich letztlich in der verdinglichung alles lebendigen in seiner ganzen zerstörerischen wucht selbst demaskiert. diese verdinglichung kommt im film am beispiel des "lebens" von industriell erzeugten hühnern (auf dieser seite ist die "lebendware" auf den fließbändern zu sehen) am eindrucksvollsten heraus. und der im interview am ende gezeigte chef eines großen lebensmittelkonzerns (namen sind in diesem fall austauschbar) hat mich in seiner starren maskenhaftigkeit und formal "korrekten" art spontan an die beschreibung zu beginn dieses beitrags erinnert...

"WE FEED THE WORLD - ESSEN GLOBAL ist ein Film über Ernährung und Globalisierung, Fischer und Bauern, Fernfahrer und Konzernlenker, Warenströme und Geldflüsse - ein Film über den Mangel im Überfluss. Er gibt in eindrucksvollen Bildern Einblick in die Produktion unserer Lebensmittel sowie erste Antworten auf die Frage, was der Hunger auf der Welt mit uns zu tun hat."

sehen Sie´s sich an.

*

beim stöbern im lieblingsbuchladen kam mir vor einiger zeit ein titel unter die augen, der bei mir spontan für große neugier gesorgt hat:

Solidarisch Mensch werden
besonders interessant fand ich dabei diese (Sie müssen leider bis zum titel "Solidarisch Mensch werden" scrollen) herangehensweise:

"Interdisziplinär werden aus ökonomischer, politologischer, psychologischer und theologischer Perspektive Traumatisierungserfahrungen der Verlierer, der pathologische Narzissmus der Gewinner und die Situation der Mittelklassen untersucht."

und an diesem punkt möchte ich auch lob und kritik gleichzeitig äußern: lob dafür, dass endlich einmal ein neuer ansatz existiert, eine analyse der heutigen sozioökonomischen verhältnisse zu versuchen und dabei nicht zu trennen von - hm, psychologischen und auch medizinischen aspekten - so wird immer wieder berechtigt, z.b. hinsichtlich erfahrungen von mobbing und erwerbslosigkeit, aber auch hinsichtlich der folgen von kriegen und staatlicher repression, auf aktuelle forschungen der psychotraumatologie bezug genommen. ebenso werden - imo absolut überfällig und bislang viel zu wenig betrieben - sowohl die gesellschaftlichen auswirkungen massenhafter dissoziation als auch die psychopathologischen strukturen der globalen "eliten" ins zentrum der aufmerksamkeit gerückt. dafür nutzt das autorenkollektiv eine bestimmte richtung der psychoanalyse, der relationalen pa. wie in der besprechung eines werkes eines der maßgeblichen vordenker dieser richtung zu sehen ist, besteht die besonderheit dieser strömung darin, dass sie die unauflösbare interpersonale bzw. intersubjektive beziehungsrealität des menschlichen lebens ins zentrum rückt - was ich hinsichtlich der "klassischen" pa für einen echten fortschritt halte:

"Überzeugend führt der Autor vor Augen, in welch hohem Maß der Einzelne in Beziehungen eingebunden ist, sodass der Einfluss ihrer Funktionsweisen und ihrer inneren Konturen kaum jemals in ihrer vollen Bedeutung erfasst werden.

Ein interessanter Ansatz von Mitchells relationaler Psychologie ist seine implizite Kulturkritik, die den Umstand fokussiert, dass die psychologischen Lehren der westlichen Kulturen dazu neigen, die eigene Seele als exklusiven individuellen Besitz darzustellen, „der unter unserer omnipotenten Kontrolle steht, während der intersubjektive Austausch mit anderen eine Frage der Intention ist“.


der letzte satz stellt imo eigentlich eine umschreibung der dominanz des objektivistischen modus in der westlichen kultur dar - und trotz der impliziten kritik an eben dieser dominanz bleibt auch dieser eigentlich begrüßenswerte ansatz immer noch von den unsichtbaren grenzen des mainstreams der westlichen psychologie/psychiatrie umschlossen, was sich u.a. in der betonung des "pathologischen narzissmus" als quasi hauptsächliche pathologie der "eliten" ausdrückt - das ich diese einschätzung für einen möglicherweise folgenschweren irrtum halte, habe ich hier im blog an vielen stellen deutlich gemacht, gerade in den beiträgen zum autismus und zur als-ob-persönlichkeit (und dabei geht es durchaus nicht um einen intellektuellen wettstreit, welcher ansatz denn nun letztlich zutreffend ist - es ergeben sich aus der widerlegung bzw. bestätigung der verschiedenen betrachtungsweisen letztenendes ganz verschiedene konsequenzen und handlungsnotwendigkeiten).

die autoren des buches, um das es hier eigentlich geht, arbeiten jedenfalls u.a. auch mit dem begriffspaar "falsches selbst vs. authentisches selbst" - und gerade diese möglicherweise "falsche" alternative wird bspw. mittels des modells der als-ob-persönlichkeit deutlich. letzte gewissheiten, falls solche hier überhaupt möglich sind, werden vermutlich erst weitere fortschritte der neurowissenschaften bringen können. aber solange können weder die spezies noch der planet warten, d.h., dass ich dafür plädiere, vom worst-case-scenario auszugehen - und das wäre die erkenntnis, dass ein mehr oder weniger großer teil der globalen "eliten" als soziopathisch bzw. mindestens schwer antisozial im klinischen sinne angesehen werden muss, mit allen daraus folgenden konsequenzen. das wort "narzisstisch" stellt imo im bestimmten maße eine verharmlosung dar.

trotz aller einwände möchte ich das buch wg. seiner materialfülle und dem durchaus weiten blick auf viele unterschiedliche phänomene empfehlen, auch, wenn ich persönlich mit den durch die befreiungstheologie motivierten theologischen perspektiven und "alternativen" bibelauslegungen nicht so sehr viel anfangen kann.

Sonntag, 7. Mai 2006

benutzt und weggeworfen

ein neuer us-amerikanischer dokumentarfilm, When I Came Home, thematisiert die realität des lebens jener männer (und frauen), die unter der sich im zweiten weltkrieg herausbildenden und imo sehr treffenden bezeichnung "GI" (für Government Issue, also regierungseigentum), in jener armee "dienen", die neben ihrem - zweifellos zu respektierendem - anteil an der niederschlagung des naziterrors ansonsten von den indianerkriegen über vietnam bis zum heutigen weltweiten "krieg gegen den terror" auch angst und schrecken in vielen ländern verbreitet (hat), und sich als machtinstrument einiger der wichtigsten teile der herrschenden globalen "eliten" am treffendsten begreifen lässt.

täter und opfer zugleich, sind bis heute überproportional viele angehörige der deklassierten us-amerikanischen bevölkerungsteile als kerne der kämpfenden truppen vertreten - schwarze, latinos und viele sonstige arme, auch mit weißer hautfarbe. während die offizierskaste immer noch mehrheitlich aus der schicht der sog. wasps, white-anglo-saxon-protestants, stammt, also der privilegiertesten und auch formal "gebildesten" klasse der usa. mittels der struktur der army schaffen es also bis heute die angehörigen der us-eliten, gleich zwei aus ihrer sicht nützliche funktionen zu verbinden: zum einen gewährt die army eine gewisse materielle und ökonomische sicherheit, die unter den sich verschärfenden kapitalistischen bedingungen für viele verlockend ist, ebenso wie die aussicht auf ein mögliches höhersteigen innerhalb der gesellschaftlichen hierarchien (was gerade für angehörige der verarmten afroamericans ansonsten hauptsächlich nur per sportlicher karriere oder aber im show- und musikbusiness möglich ist - und dieser weg ist real nur für ganz wenige offen. die army lässt sich also bereits durch diese option als instrument zur abschöpfung sozial produzierter frustration begreifen. zum anderen aber verheizen die sog. eliten diese soldaten dann regelmässig bei ihren verschiedenen und groß angelegten globalen antisozialen aktionen zwecks eigenem machterhalt und expansion (die überlegene technik der us-army dient in diesem zusammenhang nicht nur einer immer perfekteren und tödlicheren kriegsführungsfähigkeit, sondern ebenso der reduzierung menschlicher verluste seitens der usa - letzteres aber keineswegs aus humanistischen motiven, sondern zur sedierung der öffentlichen meinung - eine lektion aus dem vietnamkrieg, die im übrigen dann, wenn z.b. wie im irak die militärmaschine auch immer mehr eigene tote produziert, auch ganz klassisch mittels zensur und medienmanipulation umgesetzt wird.)

und nirgends wird diese tatsache deutlicher als am schicksal derjenigen, die im film gezeigt und in diesem artikel beschrieben werden:

"Richtig zusammengebrochen ist der 26-jährige Schwarze aber erst später, nach der Rückkehr von jenem Ort, an dem das alles passierte - dem Irak. Da krümmte er sich eines Abends in seinem alten, roten Jeep am Straßenrand in Brooklyn mit einem Weinkrampf übers Steuerrad. "Ich habe drei Kinder", schluchzte er. "Ich habe für mein Land gekämpft. Wie kann mein Land mir das jetzt nur antun?"

Verheizt, verstoßen, vergessen: Herold Noel gehört einer wenig beachteten, doch immer schneller wachsenden Randgruppe in den USA an - obdachlose Kriegsveteranen. Jedes Jahr finden sich nach Zählung der National Coalition for Homeless Veterans über eine halbe Million US-Kriegsheimkehrer ohne Dach über dem Kopf. Fast die Hälfte sind kranke, gealterte Vietnamveteranen. Doch ein rasant steigender Prozentsatz kommt, oft noch ganz jung, aus dem derzeit noch brennenden Konfliktherd - dem Irak."


von denen wie schon nach dem vietnamkrieg sehr viele mit einer wohlbekannten diagnose leben müssen:

"Die Ärzte diagnostizierten bei ihm außerdem ein posttraumatisches Stress-Syndrom (PTSD). Fast jeder fünfte Irak-Veteran leidet an solchen Traumaschäden. Er bekam Antidepressiva, doch nur befristet. Dann kehrten die Angstzustände und Wutanfälle zurück. Noel wurde erwerbsunfähig geschrieben, doch Invalidenrente erhielt er keine, da es oft bis zu einem Jahr dauert, bis neue Fälle bearbeitet sind. Das System ließ ihn im Stich."

mehr noch, es machte ihn zuerst zum opfer (des der us-gesellschaft immanenten rassismus´), dann zum täter (u.a. zur aufrechterhaltung und zur expansion eben dieses rassistischen systems), der wieder zum opfer wurde:

"Mit 19 meldete sich Joel zur Armee, wie so viele arme Schwarze auf der Suche nach Geld. Im März 2003 zog er in den Irak. Er war Hauptgefreiter in der 3rd Infantry Division, die als "Speerspitze" der Invasion den Weg freischlug. Noels Job war es, Panzersprit an die Front zu schaffen. Sein Sattelzug war eine Bombe auf Rädern. "Es knallte rechts und links", lacht er leise. "Ich habe oft nur die Augen zugemacht und blind aus dem Fenster geschossen."

Dafür zeichnete die Armee Noel mit mehreren Orden aus. Doch nach der Heimkehr begann das wahre Elend. Noel zog mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern zurück in seine Heimatstadt New York - ohne Geld, ohne Unterkunft. Sein Sozialwohnungsantrag wurde abgelehnt. Die Stadt steckte ihn in ein Asyl. Das war aber dreckig und verwahrlost, und sie klauten ihm dort alle Kleidungsstücke und Armee-Orden. "Asyl?", sagt Noel. "Nie wieder!"


"patriotismus"? der "dank des vaterlands"? "the american dream?" all diese leeren phrasen werden als die lügen sichtbar, die diese begriffe seit und je - und keineswegs nur in den usa - sind. und bevor jetzt jemand aus diesem land hier kommt und sich hinstellt: "das hätte er doch alles wissen können - kein mitleid", möchte ich kurz nur daran erinnern, dass auch die mehrheit der hiesigen bevölkerung bis heute dreiste und übelste lügen der hiesigen herrschaftsschichten bereitwillig schluckt - ich sehe keinen so großen unterschied ausser dem, dass das leben mit schwarzer hautfarbe in einem typischen ghetto einer beliebigen us-amerikanischen city doch noch um einiges übler ist als die überwiegenden lebensumstände für die meisten von uns in d-land (wobei schon seit einiger zeit fleißig daran gearbeitet wird, diese us-verhältnisse in entsprechend modifizierter form auch hier einzuführen).

es ist natürlich trotzdem berechtigt, notwendig und imo auch zumutbar, gerade die sog. "einfachen" soldaten nicht nur der us-arny klar mit ihrer funktion zu konfrontieren: sie gleichen dem kondom eines vergewaltigers (der selbst keine spuren hinterlassen will), welches nach der tat schlicht und einfach als müll irgendwo weggeworfen wird. mittels bestechung zum ding gemacht, das andere in - tote - dinge verwandelt. und sehr wahrscheinlich unter kontrolle und im auftrag von leuten, denen die ganze welt als ein einziges großes ding zu ihrer beliebigen verfügung erscheint. ich wiederhole mich zwar, aber es muss wahrscheinlich noch oft wiederholt werden, bis die meisten von uns es tatsächlich begreifen: dieser wahrnehmungsmodus in dieser besonderen form ist schlicht und einfach als wahnsinn im übelsten und gefährlichsten sinne zu verstehen. und wir müssen schnellstens begreifen, dass es davor kein ausweichen gibt - nirgendwo und für niemanden. dieser besondere wahnsinn vergiftet bis heute unser gesamtes soziales leben und wird über kurz oder lang die gesamte spezies existenziell bedrohen - wenn wir ihm nicht radikal alle grundlagen entziehen und sehr, sehr deutliche und harte grenzen setzen.

edit: zum thema empfehle ich auch diesen artikel in der zeit - auszüge:

"Joshua Key war Soldat im Irak. Auf Heimaturlaub desertierte er. Seitdem lebt er mit seiner Frau und den vier Kindern im Untergrund.(...)

Allerdings erkennen sie, dass es zum Traum vom Familienglück auch die passende Realität geben muss. Dazu gehört eine Krankenversicherung, die sie nicht haben, und ein festes Einkommen, das sie nicht haben, und eine Perspektive, die sie noch nie hatten. Und da die Armee im Fernsehen, im Radio, auf der Straße großartige Perspektiven verspricht, lässt sich Joshua Key im Februar 2002 auf ein Gespräch mit einem Rekruteur ein.

Er will Computerfachmann werden, und tatsächlich bietet ihm die Armee eine Fülle von Jobs. Sie bietet ihm auch eine College-Ausbildung für die Kinder und seine Frau und Krankenversicherung auf Lebenszeit und obendrauf die Gewähr, nicht in den Krieg zu müssen. Der Rekruteur sagt: Falls ein Krieg ausbrechen sollte, wärest du der Allerletzte, der eingezogen wird, weil du so viele Kinder hast. Und überhaupt müsste das ein Krieg wie der Zweite Weltkrieg sein, sonst kommt einer wie du gar nicht in Betracht.

»Ich habe denen geglaubt«, sagt Joshua Key.(...)

Wie nimmt man eine Stadt ein? »Dein Herz pumpt wie verrückt vor Angst. Das erste Mal mussten wir es um vier Uhr morgens machen. Wir sind mit einem Zivilfahrzeug hin, das wir in der Nacht vorher gestohlen hatten. Du klopfst an die Tür eines Hauses, wenn keiner öffnet, bringst du vier Pfund Sprengstoff an, gehst um die Ecke und sprengst die Tür weg. Dann läufst du mit sechs Leuten rein, ich immer als Dritter, ich sollte Terroristen abknallen, falls der Erste und der Zweite beschossen werden (plötzlich fahren seine Hände durch die Luft, er zeigt, in welcher Türhöhe Sprengstoff angebracht wird, lacht unvermittelt, holt tief Luft, seine Miene erstarrt wieder), das alles passiert nur in Sekunden.

Dann bist du im Haus und gehst ins Wohnzimmer, holst alle männlichen Personen raus und verhaftest sie. Die Frauen und Kinder schreien dich wie verrückt an, weil wir diejenigen sind, die ihre Brüder, Väter, Männer holen. Die geben nicht der Bush-Regierung daran die Schuld, sondern dir. Du bist derjenige, der ein Gesicht hat.«

Wenn Zivilisten erschossen wurden, musste er ihre toten Körper aufreihen, damit die Verwandten sie leichter identifizieren konnten. »Du stehst dann neben Männern, die grundlos getötet wurden, und ihre Familien beweinen sie. Was soll man da sagen? Tut mir leid, dass das passiert ist? Mein Land entschuldigt sich dafür? Geht nicht. Also stehst du da und lächelst freundlich, als seist du überzeugt davon, das Richtige getan zu haben.«(...)

In Falludscha sieht Key die ersten Kameraden sterben. Wen, wie, wann, darüber spricht er noch heute nicht. Und dort sieht er auch zum ersten Mal diese großen Schilder. »Kill Americans« stand darauf. »Ich hatte das Gefühl, diese Schilder haben wir verursacht. Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn die in unser Land eingefallen wären. Wir würden doch nicht anders reagieren. Meine Kameraden und ich haben viel darüber geredet. Wir hatten Angst, jeden Tag Angst um unseren Arsch. Vergiss all das Heldengeplapper. Du hast eine Scheißangst.»(...)

Trotzdem versteht sie ihren Mann. Sie sieht, wie verändert er ist, am Flughafen erkennt sie ihn nicht einmal. Er ist abgemagert, benimmt sich komisch, er trinkt zu viel Bier. Er scheint zu leiden. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, was ein Trauma ist, aber ihr Gefühl sagt ihr: Wenn Joshua in den Krieg zurückgeht, verliere ich ihn endgültig. Er schreit die Kinder ja jetzt schon den ganzen Tag an und sie im Schlaf, er, der sonst geduldigste Mann auf der Welt, stoisch und passiv. Sie beschließt, mit Joshua unterzutauchen.(...)

Fast jede Nacht träumt er vom Krieg und durchlebt die Häuserkämpfe und sieht Leichen. Einmal würgt er seine Frau im Schlaf. Sie befreit sich und rüttelt ihn wach. Mit Kissen baut sie von jetzt an einen Schutzwall zwischen ihn und die Kinder. Ein anderes Mal reißt er den Ventilator aus der Decke, die Nachbarn alarmieren die Polizei wegen Ruhestörung, Brandi kann sie mühsam abwimmeln. Am nächsten Morgen erinnert sich Key an nichts.(...)

»Joshua ist ein anderer Mann geworden«, sagt Brandi mit ernstem Gesicht, »und das wird so bleiben. Du kannst lernen, mit einem Trauma umzugehen, aber ablegen kannst du es nicht.« Flashback, Trauma, Begriffe, von denen sie vor wenigen Monaten noch nie gehört haben, gebrauchen sie nun genauso selbstverständlich wie ihre Mikrowelle."(...)


nein, ablegen sicher nicht. aber es gibt inzwischen immerhin gewisse chancen, ein trauma zumindest emotional soweit zu entschärfen, dass es nicht mehr das ganze leben bestimmen kann. und zur heilung kann auch das folgende gehören, die bewußte entscheidung für aktivitäten gegen die antisozialen strukturen, die permanent neue traumata erzeugen:

"Joshua und Brandi Key leben fortan von Spenden und Vorträgen, die Key hält. Vor Gewerkschaftern, Schülern, Studenten. Er spricht von seinen Erlebnissen im Irak und von der Schuld, die er empfindet, aber dass man ihn nicht verdammen möge, er sei Teil eines Systems gewesen, von dem er sich distanziere und das er für falsch halte. Er tritt selbst in Moscheen auf und entschuldigt sich für das Unheil, das er und seine Männer angerichtet hätten. So sieht er das. Da steht dann ein junger vierfacher Familienvater, der aus der Unterschicht kommen mag, der unpolitisch gewesen sein mag, aber nun packend erzählt und scharf analysiert. Und manchmal weint.(...)

respekt! finde ich absolut gut und nötig, genau wie das handeln derjenigen frauen und auch männer, die z.b. opfer sexualisierter gewalt geworden sind und in einem meist anstrengenden kampf lernen, öffentlich genau darüber zu sprechen - und derart den finger genau auf die wunde legen, die auch der deserteur im obigen beitrag anspricht: verdinglichung findet auf verschiedensten wegen statt, aber das ergebnis ist immer ähnlich - und trostlos.

mit dem auch oben angesprochenen system (was nicht auf ein land beschränkt ist) aber kann es weder kompromisse noch eine tolerierung geben - es ist auf expansion und unterwerfung angelegt und eine unmenschliche maschine, die zwar komplex, aber auch unsagbar dumm ist. und in der letzten eigenschaft dürfte auch eine große chance liegen. für die, die wirklich leben wollen.

edit am 14.05.: heute gibt es noch dieses nachzutragen:

"Das US-Militär setzt nach einem Zeitungsbericht im Irak kranke und labile Soldaten ein, die zum Teil schwere Antidepressiva einnähmen. Ärztliche Hilfe komme so gut wie gar nicht in Frage.(...)"

"In einigen Fällen seien Soldaten, die nach einem Irak-Einsatz traumatisiert zurück gekommen seien, wieder in den Krieg geschickt worden. Um sie im Kampfeinsatz zu lassen, würden zunehmend Anti-Depressiva mit teils gefährlichen Risiken verabreicht. US-Soldaten seien auch in Kampfzonen geblieben, selbst wenn Vorgesetzte über die gesundheitlichen Probleme informiert gewesen seien.(...)"

Montag, 17. April 2006

filmtipp/-termin für bremen und umzu: "the corporation" im kino 46

da er bisher nur selten öffentlich zu sehen ist und in de. nur von einem einzigen einschlägig bekannten vertrieb auf dvd geführt wird (wo er auch noch oft genug ausverkauft ist), möchte ich an dieser stelle - noch mit genügend vorlauf - auf den folgenden termin hinweisen:

mittwoch, 26.04., um 19.30 h im kino 46 an der waller heerstr.

"the corporation" wurde im blog in verschiedenen beiträgen ja schon öfter erwähnt - inhaltlich finden sich nähere angaben/rezensionen dazu z.b. hier, hier und hier.

eingeladen zur anschließenden diskussion ist rudolf hickel - betrachte ich mit etwas gemischten gefühlen. aber vielleicht finden ja auch ein paar psychiatrisch/psychotherapeutisch tätige den weg nach hb-walle.

ja, und ich vermute, dass eine kartenreservierung empfehlenswert sein dürfte.

edit: nicht unterschlagen möchte ich den link auf die homepage der regisseure.

Dienstag, 24. Januar 2006

kleine vorstellung (noch) nicht gelesener bücher

wie es der titel schon sagt: bücher, über die ich beim stöbern virtuell und im buchladen gestolpert bin, die hinsichtlich der hier behandelten themenbereiche von interesse sein könnten und die ich entweder noch nicht selbst gelesen habe oder aber noch nicht erschienen sind.

*

eine noch recht frische veröffentlichung ist vor allem im hinblick auf den sich abzeichnenden krieg gegen den iran zu empfehlen: "Zur Logik des modernen Krieges. Politische Strukturen und verborgene Motive" enthält diverse beiträge u.a. von autoren wie klaus theweleit, noam chomsky, lloyd deMause und hans-jürgen wirth.

"Warum werden Kriege geführt? Hinter den offiziellen Rechtfertigungen verbergen sich fast immer psychologische Mechanismen, die zum Verständnis der Dynamiken kriegerischer Auseinadersetzungen ebenso wichtig sind wie die politischen und geostrategischen Fakten. Gewalt ist dabei das Mittel, Erfahrung mit sich selbst im Spiegel des Anderen zu vereiteln, teils, indem die Anderen nach Maßgabe des eigenen Selbstbildes zugerichtet werden, teils, indem sie aus der Sphäre der eigenen kollektiven »Wahrnehmung« ferngehalten werden. Insofern authentische Erfahrung immer Erfahrung mit Fremdheit ist, kann man daher den Krieg als Erfahrungsverhinderung verstehen. Von diesen Gedanken gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes aus und untersuchen psychologische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte moderner Kriege vom Zweiten Weltkrieg bis zum aktuellen Konflikt im Irak.(...)"

daten: reihe "Psyche und Gesellschaft" im psychosozial-verlag /178 seiten / isbn: 3-89806-475-1 / Preis: 19,90 € / erschienen: januar 2006

*

im gleichen verlag werden im laufe des jahres zwei titel erscheinen, auf die ich bereits jetzt sehr gespannt bin. einmal wäre da "Borderline-Mütter und ihre Kinder. Wege zur Bewältigung einer schwierigen Beziehung" von christine ann lawson:

"Christine Ann Lawson beschreibt einfühlsam und verständlich, wie Kinder von Borderline-Müttern unter den Stimmungsschwankungen und psychotischen Anfällen leiden und verzweifelt nach Strategien der Bewältigung dieser Erlebnisse suchen. Kinder von Borderline-Betroffenen laufen zudem Gefahr, selbst diese komplexe und destruktive Persönlichkeitsstörung herauszubilden."

reihe "edition psychosozial" / 250 seiten / isbn: 3-89806-256-2 / 24,90 € / erscheint im juni 2006

neben dem in der linkliste aufgeführten online-material zu borderline-kindern und den ausführlichen (und unerfreulichen) gedanken im buch zum mertz zur rolle der mütter bei der borderlineentwicklung könnte dieses buch endlich mehr klarheit in einen (gleichzeitig verständlicher- und unverständlicherweise) bisher völlig unterbelichteten bereich bringen - ich bin sehr gespannt.

*

der andere titel beschäftigt sich, so könnte man sagen, mit dem gleichen thema, jedoch in einem viel breiteren zusammenhang. "Nabelschnur der Seele. Psychoanalytisch orientierte Förderung der vorgeburtlichen Bindung zwischen Mutter und Baby" von györgy hidas und jenö raffai scheint sowohl neuere erkenntnisse der pränatalforschung als auch gleich präventive maßnahmen zu präsentieren:

"György Hidas und Jenö Raffai zeigen neue Zusammenhänge zwischen Störungen der Mutter-Fötus-Bindung und Störungen der Persönlichkeitsentwicklung nach der Geburt auf. Ihre unvergleichliche Methode zur Analyse der Bindung zwischen Mutter und Fötus eröffnet neue Therapiemöglichkeiten für Fachleute der prä- und perinatalen Psychologie und weist werdenden Eltern Wege zur vorgeburtlichen fördernden Kontaktaufnahme mit ihrem Baby.(...)"

reihe "edition psychosozial" / 260 seiten / isbn: 3-89806-458-1 / 24,90 € / erscheint im februar 2006

lloyd deMause hat in "Das emotionale Leben der Nationen" bereits eine zusammenfassung der bisherigen und wichtigsten erkenntnisse der pränatalen forschung über die interaktionen und möglichen störungen zwischen mutter und embryo geliefert, die zum eindrucksvollsten gehört, was ich bisher zu diesem bereich kenne. ich möchte bei gelegenheit hier daraus einige auszüge vorstellen, da wesentliche und sehr konsequenzenreiche aspekte der pränatalforschung bis heute in der öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind, gerade, was den bereich der prä- und perinatalen traumata anbelangt. und das hat fatale folgen - für uns alle.es ist zu hoffen, das das obige buch weitere erkenntnisse bringen kann.

*

von noch nicht erschienenen titeln zu einem buch, welches bereits in den 1990er jahren erschienen ist, mir bisher unbekannt war (und inhaltlich immer noch ist), und alleine schon vom titel her in den bereich dieses blogs fällt:
3466304180-03-MZZZZZZZ
"Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren?" von einem autor namens reinhart g.e. lempp, der mir bisher ebenso unbekannt wie sein buch gewesen ist. interessant fand ich die information, dass es sich bei lempp um einen (emeritierten) professor für kinder- und jugendpsychiatrie handelt, mithin also ebenso um einen "professionellen" wie den bereits hier oft zitierten mertz. an rezensionen konnte ich bisher nichts wirklich brauchbares finden, allerdings bietet das deutsche ärtzteblatt in seinem online-archiv eine leseprobe , bei der ich allerdings hin- und hergerissen bin - die auführungen zur medien- und familienpolitik sind sehr allgemein gehalten, wobei mich zuerst interessieren würde, wie lempp zu seiner "diagnose" kommt - gerade seine arbeit im kinder- und jugendpsychiatrischen bereich könnte dabei eine rolle spielen. jedenfalls wird das für mich sozusagen ein "pflichtitel" sein, und sobald es möglich ist, werde ich es lesen und hier näher vorstellen. die augenscheinlich vorhandenen verbindungen zu den hier vorgestellten entwicklungen und thesen jedenfalls verstärken ein sehr schlechtes gefühl bei mir - einerseits. andererseits: es kann wirklich nur hilfreich sein, wenn mehr und mehr veröffentlichungen zu den fatalen entwicklungen auch wirklich öffentlich werden.

*

zum schluß: ein vorsichtiger und kleiner optimismus keimt bei mir bei solchen aussagen:

"Kriege sind aus psychohistorischer Sicht in wesentlicher Hinsicht Inszenierungen pränataler, perinataler und frühkindlicher Traumatisierungen. Darum müssen hier insbesondere Pränatale Psychologie und Psychohistorie zusammenarbeiten, um der Komplexität der Problematik gerecht werden zu können. Deshalb wird diese Tagung von beiden Gesellschaften, der DGPF und der ISPPM, organisiert."

das scheint mir eine interdisziplinäre zusammenarbeit zu sein, die wirklich nötig, nützlich und vielversprechend erscheint. beide institutionen finden sich in der linkliste.

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