Montag, 30. August 2010

notiz: "Ich fühle mich sehr deutsch"

trefflicher und prägnanter kann eine selbstdiagnose wie diese von einem gewissen thilo s. gar nicht ausfallen - vor allem dann, wenn noch die allzu typische und individuell angepasste symptompalette dieses zustands dazu kommt: dummschwätzerei, "rasse"hygienisches erbrechen, fulminante pseudowissenschaftlichkeit, verdinglichung als wahrnehmungsmodus und eine ordentliche egozentrik.

ich hatte die letzten tage großen widerwillen verspürt, an diesen wirklich deutschen sozialdemokraten - ich vermute, der espehdeh passt vor allem nicht, dass er ihr wirklich nur einen spiegel vor die nase hält - auch nur ein wort zu verschwenden. wozu? argumentativ ist gegen diese art von gehobenem stammtischgeschwätz nicht wirklich was zu machen, was nur z.t. daran liegt, dass das gerede von ganz weit rechtsaussen verlässlich abstrus daher kommt. eher ist entscheidend, dass solche typen und ihr anhang tatsächlich primär um das kreisen, was im zitat der überschrift zum ausdruck gebracht wird: sie "fühlen".. und zwar sich am liebsten in hierarchien, klaren oben-unten-verhältnissen und ganz allgemein gesprochen im binären modus: WIR und DIE.

zu den durchaus pathologischen bedeutungsebenen hinter einen aussage wie "ich fühle mich sehr deutsch" hat sich klaus theweleit vor jahrzehnten schon in seinen "männerphantasien" etliche, eher klassisch psychoanalytische gedanken gemacht. was ich von solchen attributen wie "deutsch" (wahlweise läst sich hier auch jedes andere adäquate wort einsetzen) halte, habe ich ausführlicher
hier dargestellt. ansonsten bleibt anzumerken, dass s. genau wie seine claquere mit einem veralteten und rein instrumentell definierten begriff von intelligenz herumfuhrwerken und gerade dadurch belegen, dass sie selbst keinesfalls als intelligent zu betrachten sind:

(...) "Nicht das bloße Vorhandensein von Gefühlen, Emotionen, Stimmungen und Affekten, sondern der bewusste Umgang mit ihnen macht eine hohe emotionale Intelligenz aus." (...)

auch in sachen genetik humpelt s. ungefähr ein halbes jahrhundert hinter dem
aktuellen stand hinterher, und der wird maßgeblich durch die epigenetik definiert:

(...) "Die neuen Entdeckungen erschüttern das bisherige Wissen über Genetik und gängige Vorstellungen von Identität. Stellen also infrage, was gemeinhin angenommen wird: dass die DNS unser Aussehen, unsere Persönlichkeit und unsere Krankheitsrisiken bestimmt. Die These "Die Gene sind unser Schicksal" ist bei vielen zur Überzeugung geworden. Solche eindimensionalen Vorstellungen aber sind nun obsolet. Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften." (...)

und seine beiträge zur "völkerkunde" besitzen schon eine regelrecht humoristische qualität - wie war das mit
"den basken" und ihrem gen, thilo?

"Die Geschichte der heutigen Europäer hat nach neuen Forschungsergebnissen Wurzeln im Baskenland und ist weit älter, als bislang angenommen. Mindestens drei Viertel der Europäer gehen demnach direkt auf Urahnen zurück, die schon in der Eiszeit auf dem Kontinent lebten, also vor mindestens 20.000 Jahren." (...)

ich ziehe die imaginäre (basken-)mütze vor Ihnen, das liegt nämlich irgendwo vergraben in meinen genen...

ganz großer sport ist natürlich auch die adäquate behauptung hinsichtlich "der juden", die in letzter konsequenz zwangsweise in der erstaunlichen erkenntnis mündet, dass die zugehörigkeit zu einer religiösen gruppe genetisch bedingt, wenn nicht gar determiniert ist - dann ist es nur noch eine frage der zeit, bis das christen-, hindu- oder buddha-gen gefunden ist. oder gar das scientology-gen? vom islam ganz zu schweigen, der ja eh das lieblingsthema solcher knallchargen der marke thilo s. darstellt. das problem ist nur wieder mal, dass sie in ihrer typischen manier aus einem restbestand an tatsächlicher realitätswahrnehmung (bezgl. der zustände in islamisch dominierten gesellschaften empfehle ich nochmals
diesen beitrag, der einige gründe dafür aufzeigt, warum besonders männliche migranten aus islamischen gesellschaften tatsächlich in gefahr sind, egal an welchen orten auffälliges(!) antisoziales verhalten zu entwickeln. das hat aber nichts mit "dummheit" und nur sehr peripher etwas mit genetik zu tun) einen widerwärtigen mix aus ihren mit pseudowissenschaftlichkeit unterlegten als-ob-gefühlen brauen - in der wahl der zielgruppe(n) mutet das alles eher beliebig an, und ich würde mir zutrauen, mittelfristig aus eben diesem spektrum auch genügend anhängerschaft für, sagen wir mal eine kampagne zwecks erzeugung von "problembewusstsein" hinsichtlich der fragwürdigen rolle von leuten mit sommersprossen im gesicht (die gene!) in dieser gesellschaft zu mobilisieren. you know what i mean?

echte antisoziale wie hitler haben regelmässig mit ihrer fähigkeit "geglänzt", die sozusagen frei flottierenden ansammlungen von hass innerhalb einer gesellschaft zu bündeln und ihnen ausdruck zu verleihen. auf einer komplexeren ebene manipulieren sie u.a. die minderwertigkeitsgefühle vieler gesellschaftlicher verlierer (die es im kapitalismus zwangsweise gibt, ja geben muss) in richtung des oben erwähnten binären modus und konstruieren sich zusammen mit denen eine art pseudokollektiv ("nation", "volk", "gott" [in allen varianten]), in dem sich die verlierer bzw. alle unter ähnlichen ängsten leidenden dann aufgehoben fühlen können (und der begriff darf ruhig wortwörtlich verstanden werden).

das alles ist eigentlich ausdruck abgrundtief trauriger verhältnisse, und gleichzeitig brandgefährlich, wie ein blick in ein beliebiges geschichtsbuch belegt. aber wie gesagt: mit rationaler argumentation ist den für derartigen unsinn auf sarrazinischem niveau anfälligen genausowenig beizukommen wie klassischen nazis. es geht dabei nicht um "politik", sondern um kollektive wie individuelle pathologische zustände und die möglichkeiten zu derem ausagieren - das ist das eigentliche geschäft jeder faschistischen / faschistoiden mobilisierung.

*

die säue, die seit geraumer zeit in ermüdender regelmässigkeit von leuten wie s., dem anderen s. (sogenannter philosoph) oder auch g. heinsohn durchs dorf getrieben werden, sind allerdings keine rein hiesige spezialität, wie ein blick auf die wahlergebnisse in so ziemlich allen europäischen ländern ebenso zeigt wie die an bizarrer weltwahrnehmung und expliziter dummheit sogar ihre europäischen brüder und schwestern im fundamentalistischen ungeiste noch übertreffende "teaparty"-bewegung in den usa. alles zusammengenommen bietet sich ein bild, welches ich öfter schon in den krisennews der vergangenen zwei jahre angesprochen hatte - ob es sich nun um berlusconis getöse gegen "ausländische vergewaltiger" in italien handelte, die pogrome offen faschistischer paramilitärischer gruppen gegen roma in osteuropa (v.a. ungarn), die "wilden streiks" in großbritannien gegen "ausländische" arbeiter oder auch die jagdszenen an der südgrenze der usa gegen die migranten aus mittel- und südamerika - in der großen und aufgrund vieler zusammenkommender einflüsse wahrscheinlich finalen krise nicht nur des kapitalismus, sondern auch des damit untrennbar assoziierten "way of life" ist es bei den bis auf weiteres ausbleibenden emanzipatorischen aktionen und massenwirksamen bewegungen eben alles andere als erstaunlich, dass sich "eliten" und die ahnungslos-vorahnenden ängstlichen bevölkerungsteile zusammen auf die suche nach sündenböcken machen, finanziert und moderiert natürlich von den ersteren.

sarazzin war "politiker" und ist jetzt banker, wenn auch im staatlichen sold, und damit real gesehen angehöriger zweier der antisozialsten und destruktivisten elitären schichten überhaupt (btw: er verhält sich übrigens ansonsten auch neben seiner ideologieproduktion
genau so :

(...) "Mit 46 Nebentätigkeiten war Sarrazin im Juni 2008 das Senatsmitglied mit den meisten Nebentätigkeiten. Er ist unter anderem Mitglied des Aufsichtsrats der Berliner Verkehrsbetriebe, der Charité, der Investitionsbank Berlin und der Vivantes GmbH. Im Rahmen der Tempodrom-Affäre wurde ihm vorgeworfen, Landesgelder regelwidrig vergeben zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob im November 2004 Anklage. Ermittelt wurde außerdem gegen zwei weitere SPD- und zwei CDU-Politiker, drei Unternehmer und zwei Wirtschaftsprüfer. Gegen den ermittelnden Oberstaatsanwalt reichte Sarrazin eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Das Landgericht Berlin lehnte es im Dezember 2004 ab, das Hauptverfahren zu eröffnen, da die Anklage als unschlüssig angesehen wurde.

Seit August 2009 ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Sarrazin wegen Untreue. Er soll dem Golf- und Landclub Berlin-Wannsee e. V. einen Golfplatz zu günstig verpachtet und jenen so finanziell begünstigt haben. Sarrazin wies die Vorwürfe mit der Begründung zurück, er sehe keinen Vermögensschaden für das Land." (...)
)

kurz: vermutlich ist s. aufgrund seiner rein instrumentellen intelligenz (die böseste von allen formen) durchaus in der lage zu erkennen, dass der ganze laden hier absehbar den bach runter gehen wird, allem aufschwungsgetöse zum trotz. und das nicht erst in jahrzehnten, sondern in jahren. und da müssen aus elitärer sicht nicht nur nach innen ("teile und herrsche"), sondern auch nach aussen die zügel angezogen werden. eine im vergleich zum medialen auflauf um s. völlig untergegangene nachricht der letzten tage macht auch hier einiges
deutlicher:

(...) "Zu den neuen Aufgaben der Bundeswehr gehöre auch die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Hans Heinrich Driftmann, dem Nachrichtenmagazin Focus. Für den Exportvizeweltmeister Deutschland "wäre es eine Katastrophe, wenn die Handelswege, insbesondere nach Südostasien dauerhaft eingeschränkt oder bedroht wären", sagte Driftmann. "Die dürfen wir nicht Piraten überlassen." (...)

Driftmann hatte vor seinem Eintritt in das Unternehmen der Familie seiner Frau bei der Bundeswehr und im Verteidigungsministerium Karriere gemacht und ist Vize-Vorsitzender der Expertenkommission zur Reform der Bundeswehr.

Mit ähnlichen Äußerungen zu den Zielen der Bundeswehr hatte der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler scharfe Kritik auf sich gezogen." (...)


und trat dann bekanntlich beleidigt zurück. interessant, dass einer der führenden köpfe bei der "reform" der armee, für die sich von guttenberg gerade mächtig ins zeug legt, genau die gleiche vorstellung von den aufgaben einer berufsarmee hat. das finde ich ebenso interessant wie den verlag von sarrazins machwerk: die "deutsche verlagsanstalt" ist ein teil von bertelsmann, und dieser name steht in verbindung mit "stiftung" bekanntlich für genau jene extremistische neoliberale transformation des letzten jahrzehnts, die zur krise geführt hat. ich würde nun nicht soweit gehen, einen "masterplan" zu vermuten, aber die zeitliche und personelle abfolge der forderungen, dieses land nach innen quasi mit einem kapitalistisch-autoritären regime unter mobilisierung von nationalistischen und rassistischen affekten auszustatten bei gleichzeitiger umformung der bundeswehr in ein instrument zur imperialistischen intervention zwecks unterstützung der "deutschen wirtschaft" ist schon auffällig, von den personellen verquickungen ganz zu schweigen.

*

all dieser destruktive und hochgefährliche quatsch wird natürlich nicht verhindern können, dass das ganze system sein verdientes und überfälliges ende finden wird. aber dazu mehr demnächst.

Sonntag, 22. August 2010

notiz: (nichts grundsätzlich) neues aus der anstalt

liebe insassen der geschlossenen station der milchstraße,

heute möchten wir in einer weiteren folge unserer beliebten medialen rundblicke wieder einmal einen blick auf das vielfältige treiben unserer mitpatientInnen wagen. betrübliche verrückt- und tollheiten allerorten sind weiter zu verzeichnen und aufgrund der fülle sehen wir uns zum wiederholten male gezwungen, den focus eher auf die zwischenzeitlich angesammelten und zu kurz gekommenen fälle zu legen. die themen peak oil/öl sowie alles rund ums klima werden in nächster zeit mit eigenen beiträgen fortgesetzt.

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zum tödlichen geschehen auf der diesjährigen
loveparade gibt es eigentlich nur soviel anzumerken, dass das erwartetet schauspiel seinen trostlosen verlauf nimmt - der ob ist immer noch im amt, und bis dato geht das gegenseitige fingerzeigen zwischen stadt, veranstalter und polizei / innenbehörden fröhlich weiter. einer derjenigen gründe, warum diese katastrophe länger als sonst üblich zumindest in teilen der öffentlichen aufmerksamkeit präsent ist, liegt neben dem offen erkennbaren skandalösen versagen aller organisatorisch beteiligten auch darin, dass von beginn an quasi auch ausserinstitutionell "ermittelt" wurde, und zwar von direkt involvierten genauso wie von etlichen, denen aufgrund des schauspiels nach dem unglück der mund offen stehen blieb. die fülle von besonders im netz verfügbaren augenzeugenberichten und videomaterial machte das in diesem fall und in einem solchen ausmaß zumindest hierzulande zu einer premiere; ich kann mich jedenfalls an nichts vergleichsbares erinnern. exemplarisch für die relativ zahlreichen seiten und blogs, die in der zeit nach der katastrophe versuchten, zur aufklärung beizutragen, sei hier nur auf loveparade2010doku hingewiesen, die sich mit der inzwischen so ziemlich alles öffentlich zugängliche material enthaltenen sammlung zu einer art portal für alle entwickelt hat, die sich jenseits der öffentlichen verlautbarungen selbst ein bild machen möchten. die seite sollte im gedächtnis bleiben, falls es irgendwann in ferner zukunft dann doch noch zu juristischen konsequenzen kommen sollte.

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da ich vermute (und hoffe ;-), dass ein größerer teil meiner leserInnenschaft hier auch oder gerade trotz virtueller präsenz gerne umgang mit altmodisch analogen büchern pflegt, sei hier auf das
"Nichts" der autorin janne teller hingewiesen:

(...) "Kurz nach den großen Ferien beschließt Pierre Anthon, seine Klasse zu verlassen, weil ihm eben nichts etwas bedeutet. Er wird nie wieder in den Unterricht zurückkehren. Stattdessen sitzt er tagelang auf einem Pflaumenbaum in der Nähe der Schule und provoziert seine Kameraden mit Sprüchen: "In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist das mit allem." Oder er ruft ihnen nach: "Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel, das nur darauf hinausläuft, so zu tun als ob - und eben genau dabei der Beste zu sein." Und dazu wirft er mit reifen Pflaumen." (...)

ein stück sehr umstrittener, weil angeblich jugendverderbender, literarischer - nihilismus? klingt jedenfalls (und zwar nicht nur wegen den oben zitierten passagen) sehr interessant. als nachschlag gibt´s noch ein interview mit teller:
"Lehrer sagten, dieses Buch ist schädlich".

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womöglich wird es auch etwas einfältige zeitgenossen geben, die solche bücher mitverantwortlich machen für etwas, was sich schon seit jahren als tendenz immer wieder in klinischen studien, krankenkassenreports etc. ablesen lässt:
"Jedes vierte Kind wird krank":

(...) "Hoher Leistungsdruck führt bei Kindern und Jugendlichen zunehmend zu psychosomatischen und psychischen Problemen. Rund ein Viertel der bis zu 18-Jährigen in Deutschland leiden nach einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) etwa an Kopf- und Bauchschmerzen, Unruhe, Depression oder Ängsten. In den 90er Jahren lag der Anteil noch bei etwa 20 Prozent, wie der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort sagte. (...)

"Kinder sind heute unglaublich diszipliniert und leistungsbereit", betonte Schulte-Markwort. "Im Prinzip ist das ja etwas Gutes - aber nicht, wenn sie nicht mehr merken, dass sie sich überfordern, oder wenn ihre Eltern überhöhte Anforderungen stellen." (...)


im prinzip ist das ja etwas gutes - pfff. für wen denn eigentlich? und warum?

(...) "Ein großes Problem dabei: Diese Beschwerden sind häufig die "Eingangssymptomatik" für psychische Auffälligkeiten. "Wenn man das nicht behandelt, bilden sich psychische Symptome oder Störungen aus", sagte der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik.

Ursachen für die zunehmenden psychosomatischen und psychischen Probleme seien Reizüberflutungen und hohe Anforderungen an Kinder - vor allem in den weiterführenden Schulen. "Das ist Ausdruck der veränderten Umweltbedingungen, unter denen Kinder heute groß werden." Eltern, Ärzte und Erzieher seien bei solchen Symptomen aber auch aufmerksamer geworden, betonte der Wissenschaftler: "Früher wurde das eher bagatellisiert und für unwichtig erklärt." (...)


letzteres würde ich eher noch mal differenzieren wollen, und zwar ungefähr so: 1. es gibt einen realen anstieg realer psychophysischer störungen. 2. es gibt eine tendenz (gründe gerade außenvorgelassen), früher eher als "normal" betrachtetes verhalten gerade von kindern im schlechten sinne zu pathologisieren 3. beides kann die bezugspersonen von kindern ins rotieren bringen. 4. letzteres dürfte besonders in bürgerlichen und materiell (noch) besser gestellten milieus der fall sein, weniger in der sog. unterklasse.

ich bin gerade unwillig, alles nochmal herauszukramen, aber gerade das thema vielfältig gestörter kinder / jugendliche hat hier in all den jahren im blog in verschiedensten zusammenhängen eine traurige rolle gespielt. bei interesse sehen Sie bitte im
index nach. dazu passt auch die folgende meldung im juni aus berlin: Immer mehr Erstklässler müssen zum Psychiater:

(...) "Besonders angespannt ist die Lage in den Problembezirken, in denen die Hälfte der Kinder zur sozialen Unterschicht gerechnet werden. Ausgerechnet hier sind die Ärzte so knapp, dass sich die Einschulungsuntersuchungen zum Teil bis in den August ziehen. In den Vorjahren war hier etwa jedem fünften Kind akuter Förderbedarf bescheinigt worden.

„Rund 20 Prozent der Kinder sind gefährdet“, bestätigt Michael Aster, Chefarzt am DRK-Klinikum Westend. Wenn man sie nicht „massenhaft opfern“ wolle, müssten sich die Schulen genau auf ihre Bedürfnisse einstellen. Das aber gelinge offenbar nicht überall, und dann würden „die Kinder, die scheitern, schnell in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiesen“. (...)


das ist nebenbei auch ein weiteres lehrstück darüber, wie in diesem land die ökonomischen prioritäten gesetzt werden.

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nicht nur bezgl. des obigen spielt dabei die entwicklung immer ausgefeilterer diagnostischer methoden und entsprechender technik ebenfalls eine rolle. das folgende lasse ich für den moment mal unkommentiert, halte es aber als
information für durchaus wichtig:

"Es könnte eine Revolution in der Autismus-Diagnose sein: Forscher haben eine Methode entwickelt, die die psychische Störung per Hirnscanner aufspüren soll. Der Test soll binnen 15 Minuten ein zu 90 Prozent sicheres Ergebnis liefern. (...)

Das Team um Christine Ecker vom King's College London hat die Hirnstruktur von Freiwilligen mit Hilfe eines Magnetresonanztomografen und einer speziellen Software präzise untersucht. Unter den Probanden befanden sich 20 Autisten, bei denen Diagnose zuvor anhand von IQ-Tests, psychiatrischen Interviews und physischen Übungen sowie Bluttests erfolgt war. Als Kontrolle dienten 20 gesunde Menschen und 19 Probanden mit Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die psychische Störung ähnelt in ihren Symptomen einigen Autismusformen.

Mit Hilfe des Magnetresonanztomografen und der Software untersuchten die Wissenschaftler die graue Hirnsubstanz der Freiwilligen auf bestimmte Veränderungen in Form, Struktur und Dicke. Das Computerprogramm war auf Basis von Daten aus Gehirnscans anderer Autisten erstellt worden, schreiben die Forscher im "Journal of Neuroscience" (Bd. 30, Nr. 32). Die Ergebnisse hätten sie sich als erstaunlich präzise erwiesen: Die Trefferquote habe bei 90 Prozent gelegen. (...)

Das Computerprogramm gebe sogar Hinweise auf die Schwere der Erkrankung. Schon in einem oder zwei Jahren könne man die Untersuchung klinisch einsetzen. Dazu müsste man nicht einmal neue Geräte kaufen, betonte Ecker. "Alles, was man braucht, ist ein Software-Update für die Hirnscanner." (...)


(die rechtschreibung des originals im ersten absatz habe ich mal korrigiert; den begriff "psychische störung" jedoch müsste man eigentlich aufgrund gleich mehrfacher unsinnigkeit in diesem zusammenhang rausschmeissen.)

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auch nix neues, wenn ich mir nur mal entsprechendes material im index betrachte:
Der Konsum von Antidepressiva nimmt zu:

(...) "Demnach habe sich das Volumen der verschriebenen Antidepressiva unter Deutschlands Beschäftigten in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt: Im Vergleich zum Jahr 2000 gebe es eine Steigerung von 113 Prozent.

Statistisch gesehen erhielt jeder Berufstätige 2009 für acht Tage Medikamente zur Behandlung von Depressionen. Frauen erhielten im Schnitt mit 10,5 Tagesrationen deutlich mehr Antidepressiva als Männer, die Medikamente für sechs Tage verschrieben bekamen.

Zwischen einzelnen Bundesländern gibt es gravierende Unterschiede. Während die Berufstätigen in Bayern mit neun Tageseinheiten bundesweit das höchste Pro-Kopf-Volumen verschrieben bekamen, erhielten die Sachsen-Anhaltiner nur knapp sechs Tage Antidepressiva." (...)


lustig-bizarr finde ich ja die zitierte verwunderung darüber, warum ausgerechnet in bayern die verschreibungsquote am höchsten ist, wo doch gleichzeitig dort die "wenigsten psychisch bedingten krankschreibungen" zu verzeichnen wären. tja, diese welt ist halt voller rätsel - besonders, wenn man den kopf tief und fest im sand stecken hat.

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die junge welt hatte neulich einen lesenswerten text rund um die zusammenhänge von medialer beeinflussung, schönheitsidealen, "selbstoptimierung" des "eigenen" körpers und essstörungen veröffentlicht - der eignet sich aufgrund der fülle an auslösenden assoziationen für eine ruhige stunde.
"Wow, das sieht aber geil aus". dazu empfehle ich nochmals verschiedene adäquate blogbeiträge hier - keywords sind dafür borderline, tattoos, piercing, models, popkultur und narzissmus.

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abteilung evolutionsbiologie: unter der überschrift
Sex macht einsam gibt es bei spon ein eindrucksvolles beispiel dafür, wie man mit fehl- und kurzschlüssen sowie unzulässiger analogiebildung vermutlich in ihrem rahmen durchaus zutreffende wissenschaftliche beobachtungen in ein schäbiges stück ideologie verwandelt. das wird besonders hübsch deutlich im letzten absatz:

(...) "Es gibt keinen Grund, warum der Grad der Treue nicht auch bei Säugetieren inklusive den Primaten die Ausbildung eines sozialen Netzwerks beeinflussen sollte", sagt Griffin. "Sex behindert, zumindest was die Evolution betrifft, tatsächlich das Sozialverhalten."

So könnte der Mensch etwa von der Blattschneiderameise noch eine Menge lernen. Zumindest, wenn es um Selbstlosigkeit geht. Tag für Tag arbeiten die Insekten unentwegt für ihren Staat, schleppen Blätter zum Bau, zerkauen sie und ernähren mit dem Brei ihre Nahrungsgrundlage, einen Pilz - eine perfekte Symbiose. Jede der Arbeiterinnen ist ein kleines Puzzlestück in einem großen Kollektiv. Das soziale Geflecht kann aus zwei Gründen bestehen: Die Insekten sind sich genetisch ähnlich - die Arbeiterinnen sind Schwestern. Und sie sind unfruchtbar. Sexabstinenz hält den Ameisenstaat zusammen."


das hier selbstlosigkeit und sexabstinenz umstandslos als (positive) grundlagen für ein (menschliches) staatswesen dargestellt werden, ist eine wertvolle erkenntnis, die ich jedoch aller wahrscheinlichkeit nach leicht *hüstel* anders begreife als spon. ansonsten hat es sich dort offensichtlich auch noch nicht herumgesprochen, dass es zwischen menschen und (staatenbildenden) insekten doch so ein paar nicht unwichtige unterschiede gibt. aber insgesamt passen die aussagen des artikels durchaus zum zeitgeist, in dem sich ja sowieso heuschrecken und parasiten tummeln...

der vollständigkeit halber sei aber auch noch angemerkt, dass ich den oben zitierten letzten satz des forschers nicht grundsätzlich für falsch halte - es gibt durchaus formen von sexualität bzw. von pseudosexuellem verhalten, die ich selbst als hochgradig antisozial betrachten würde. überall da nämlich, wo sich machtbedürfnisse in sexualisierter art und weise ausdrücken oder sich quasi sexuell "maskieren". ich fürchte aber, dass der satz nicht unbedingt in diesem sinne gemeint wurde.

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bleiben wir noch etwas bei der (sozio-)biologie, diesmal in der abteilung
olfaktorische belästigungen:

"taz: Deopflicht am Arbeitsplatz - das fordert Ursula Frerichs, die Präsidentin des Unternehmerverbands mittelständische Wirtschaft. Herr Hatt, warum stört uns Schweißgeruch so sehr?

Hanns Hatt: Das ist ein kulturelles Problem. Es gibt keine genetische Disposition, Schweiß als unangenehm zu empfinden. Durch unsere Erziehung definieren wir Schweißgeruch als negativ. Eltern erzählen ihren Kindern, sie würden nach Schweiß "stinken". Das war nicht immer so. Vor 200 Jahren war Schweißgeruch für manche Nasen durchaus attraktiv. Napoléon hat seiner Joséphine immer geschrieben: "Wasche dich nicht, ich komme!" (...)


finde ich persönlich ein sehr spannendes thema - ich fühle mich durchaus nicht von schweißgerüchen belästigt (klar, es gibt da durchaus ausnahmen), sondern in aller regel von aufdringlich-betäubenden parfüm- und sonstigen duftwolken, gerade in öffentlichen räumen. ebenfalls verzichte ich seit jahrzehnten auf deos und kann nicht sagen, dass das von anderen groß als störend empfunden wird.

(...) "Botox für die Achseln, die Schweißdrüsen entfernen lassen: Die Methoden zur Schweißhemmung werden immer extremer. Herrscht in unserer Gesellschaft ein Hygienewahn?

Wir haben mit der Zeit sicher ein gestörtes Verhältnis zu den natürlichen Dingen entwickelt, die unser Körper produziert. Im Moment ist die Gesellschaft in einer gegenüber Düften sehr zurückhaltenden Phase. Ich persönlich finde es schade, dass wir diesen Sinn so ausklammern.

Warum ist das so?

Wir leben in einer technologischen Welt und denken, wir kommunizieren gar nicht mehr auf diese Weise. Wir gehen nicht mehr mit offener Nase durch die Welt, sondern nur noch mit offenen Augen. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich das ändern wird und wir uns in zehn oder zwanzig Jahren wieder mehr der Nase zuwenden. Man sieht das ja auch mit dem Rauchverbot in Lokalen. Da kommt wieder viel mehr Eigenduft zutage und plötzlich erstaunt es einen, was man alles wieder riechen kann.

Wenn unsere Gesellschaft Gerüchen so zurückhaltend gegenübersteht, verlernen wir dann auch das Riechen?

Riechen hat mit Übung zu tun und die Nase arbeitet 24 Stunden am Tag. Aber auch wenn wir nicht mehr so stark auf Gerüche achten, die Nase registriert sie trotzdem. Das heißt, die Duftinformation läuft ständig und verändert so unser Gehirn, beeinflusst unsere Erinnerungen und Emotionen. Würden wir die Düfte bewusst wahrnehmen, könnten wir mit den Informationen mehr anfangen. So entscheiden wir uns für etwas, wofür eigentlich der Duft die Ursache war, rechtfertigen unsere Entscheidung aber mit visuellen Faktoren." (...)


yo. das vergessen anscheinend die meisten, die sich da täglich einnebeln: gerüche sind informationen, und innerhalb unserer spezies auch und gerade im sozialen bereich relevant - ein satz wie "ich kann dich nicht riechen" verweist unmittelbar auf diese tatsache. es gibt da ja eine schon etwas ältere these, die sinngemäß ungefähr besagt, dass die verbreitung von synthetischen "wohl"gerüchen auch damit zusammenhängen würde, dass wir uns inzwischen bevorzugt auf relativ engem raum innerhalb großer städte tummeln und ein quasi "reiner" geruchstransfer von mensch zu mensch allerhand unerwünschte, weil das soziale leben sehr komplizierende, folgen haben würde; als herausgehobenes beispiel wurde dann immer etwas skizziert, was sich als territorialprobleme unter (männlichen) säugetieren bezeichnen ließe - fremdgerüche, die u.a. hormonell induziertes kampf- und revierverhalten induzieren würden. keine ahnung, wieviel da wirklich dran ist, wobei sich das teilweise für mich plausibel anhört. aber insgesamt finde ich, dass sich die abneigung nicht nur gegen fremde, sondern auch eigene körpergerüche bei vielen zeitgenossen durchaus als symptom der umfassenden entfremdung verstehen lässt. interessantes thema allemal.

*

so. fast zum schluß noch etwas, was ich als eines der bisher wenigen erfreulichen ereignisse dieses jahres in erinnerung behalten werde. meinen persönlichen sommerhit nämlich, der heisst "tightrope", kommt von janelle monáe aus new york, und ist teil des letzten albums von ihr, "the archandroid" - ein heutzutage seltenes exemplar aus der spezies der konzeptalben, welches sich thematisch mit sci fi-haften visionen der kommenden interaktionen von menschen und maschinen beschäftigt. und zu allem überfluss passt das ambiente des videos auch noch perfekt zu diesem beitrag...

also, wer auch nur den hauch von gefallen an black music - funk, soul - findet, sollte sich das nicht entgehen lassen. mich persönlich treibt der bass immer in den lachenden wahnsinn, und dazu ist der song voll von verschiedensten stimmungen und hat schlicht einen umwerfenden groove (herrjeh, ich rede schon wie ein verdammter werbetexter ;-) - aber in diesem fall: sei´s drum.




*

die musik ist auch durchaus als untermalung für das nun wirklich letzte fundstück für heute geeignet, welches mal wieder aus der beliebten rubrik "psychiatry meets popculture" stammt. und ganz im ernst:
haben wir das nicht immer schon geahnt?

"Der Psychiater Eric Bui diagnostiziert bei Anakin Skywalker eine Borderline-Persönlichkeitsstörung - und sieht in der Krankheit einen Grund für den Erfolg der "Star Wars"-Filme." (...)

(und ich finde, da ist durchaus nicht alles nur an den haaren herbeigezogen).

Donnerstag, 12. August 2010

notiz: "third world america"

...titelt aktuell die huffington post auf ihrer ersten seite, und bezieht sich damit auf das geschehen der letzten tage in atlanta (bundesstaat georgia), wo es städtischerseits einen öffentlich angekündigten termin gab, bei dem sich menschen mit wohnungsproblemen auf eine warteliste (!) für ein diesbezgl. öffentliches hilfsprogramm setzen lassen konnten.

was dann folgte, waren szenen, die aktuell in teilen der us-amerikanischen (medialen) öffentlichkeit für echte verstörung sorgen:



nach allerletzten schätzungen waren es rund 30.000 menschen, die sich teils bereits am tag und in der nacht vor dem behördlich angesetzten termin in den straßen rund um die ausgabestelle (eine art shopping mall) zusammenfanden bzw. dort übernachteten. an den ausgabetagen (dienstag und mittwoch) selbst bildeten sich in den umliegenden straßen lange schlangen und es kam zu einem derartigen gedränge, dass am ende riot police angefordert wurde - da es auch in atlanta gerade sehr heiss ist, kam es nicht nur im gedränge, sondern auch durch die hitze zu dutzenden von verletzten, die in krankenhäuser gebracht werden mussten. gleichfalls kam es zu kaputten scheiben und die verteilung der berechtigungsscheine musste von polizei übernommen werden.

laut verschiedenen quellen war dort übrigens ein großer anteil der leute den "working poor" zugehörig, also menschen ohne wohnung (oder nur mit drecklöchern), aber durchaus mit schlecht bezahlten jobs.

wie nennt der reporter vor ort im video das? "this is a very disgusting scene..." - yo. land of the free, home of the brave...

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edit am 14.08.: das ursprüngliche video ist auf yt entfernt worden (danke für den hinweis @NIM), ist aber auf der eingangs verlinkten seite der huffpost noch zu sehen. ich hab´s jetzt ersetzt.

Dienstag, 10. August 2010

notiz: krisennews spezial - wenn die menetekel am himmel erscheinen

"Das Jahr 2010 ist voller Merkwürdigkeiten und es ist noch lange nicht beendet."

so drückt es ein fachlich durchaus versierter user in einem
meteorologischen forum am ende seines beitrages in einem thread zur aktuellen hitzewelle in russland aus, und bezieht sich damit primär auf atmosphärische strömungsmuster der ganzen letzten monate bis in den letzten winter hinein, die nicht nur in deutschsprachigen foren verbreitet als seltsam, wenn nicht gleich als anomalien bezeichnet werden.

nun hatten wir hier im blog ja schon in der vergangenheit längere
auseinandersetzungen hinsichtlich eines möglichen anthropogenen klimawandels, aber ich finde, dass die derzeitigen globalen wetterextreme....

(...) "Kältewelle in Südamerika, Dürre und Hitzwelle in Russland, die verheerende Brände auslösen, Starkniederschläge in Pakistan, Afghanistan, Indien und China, die gewaltige Überschwemmungen und Zerstörungen verursachen, auch in Deutschland, Polen und Tschechien heftige Regenfälle und Überschwemmungen. Dazu schnell voranschreitende Schmelze des arktischen Eises, das erste Halbjahr 2010 war das wärmste seit Beginn der Messungen 1880, jedes der drei letzten Jahrzehnte war wärmer als das zuvorkommende gewesen …" (...)

...zumindest in ihrer objektivierbaren
häufung innerhalb der letzten jahre jenseits aller streitereien um den menschlich verursachten anteil durchaus unterstreichen, dass etwas mit dem planetaren klima ( = ich verstehe das wort u.a. im sinne von statistischem wetter, wobei die statistik anhand von realen ereignissen über einen zeitraum von mindestens 30 jahren als klima gelten kann) passiert. da das globale klima lange nicht bis ins letzte verstanden ist und auch einflüsse wie die sonnenaktivität eine rolle spielen, erscheint es leicht, den möglichen (und für mich wahrscheinlichen) menschlichen einfluss als übertreibung, panikmache etc. abzutun. wir werden gerade diesen speziellen punkt hier im blog bestimmt nicht abschließend klären können; aber ich denke mir, dass selbst bei @sansculotte, der damals sehr klar und mit durchaus nachvollziehbarer argumentation (ansonsten eine seltenheit bei den "skeptikern") gegen einen relevanten einfluss gerade von co2 stellung bezogen hatte, ein minimalkonsens vorhanden sein könnte in der weise, dass wir uns darauf einigen können, dass wir aktuell die wirkungen von klimatischen anomalien besichtigen können - die ursachen sind ein anderes kapitel.

*

das diese wirkungen nun v.a. in russland und pakistan so katastrophal wie selten zuvor ausfallen, hat natürlich sehr direkt auch mit menschlichem tun bzw. unterlassen zu tun. wenn die these des (anthropogenen) klimawandels aber zutrifft, dann haben wir heute die gelegenheit, so etwas wie eine mögliche blaupause dafür zu betrachten, was uns in zukunft noch alles blühen könnte, vor allem hinsichtlich der reaktion von regierungsoffizieller seite. und bezgl. dieser scheint es fast egal, in welchem land sich die wetterdramen abspielen - das russische desaster ähnelt für mich strukturell sehr der
nichtreaktion der damaligen us-administration nach dem hurricane katrina 2005. sicher, formal unterschiedliche systeme und unterschiedliche ursachen - und doch erscheint die mentalität der jeweils handelnden "politischen eliten" nicht nur in diesen fällen gleich, und zwar gleich ausgeprägt antisozial.

bevor ich letzteres gleich speziell am beispiel russland näher deutlich machen will, nochmal direkt zum thema klima und den derzeitigen
anomalien:

(...) "Die extremen Wetterereignisse stehen laut Atmosphärenforschern in einem direkten Zusammenhang.

Das stationäre Hoch über Russland sorgte für sehr hohe Temperaturen, die wiederum zu den Waldbränden geführt haben. Östlich des Hochs liegt ein Trog, und der verstärke den Jetstream über dem Himalaya, sagt Olivia Romppainen-Martius, Atmosphären-Forscherin an der ETH Zürich. Der starke Jetstream seinerseits begünstigte die starken Niederschläge. «In Kombination mit einem aussergewöhlich starken Monsun kam es zu heftigen Niederschlägen über Pakistan und Nordindien», so die Wissenschaftlerin. «Dieses Jahr ist der Jetstream über dem Himalaya anomal stark. Aussergewöhnlich ist auch, dass er genau über Pakistan beginnt. Normalerweise ist er im Sommer weiter nördlich gelegen.» Worauf die Anomalien zurückzuführen sind, kann Romppainen-Martius nicht mit Bestimmtheit sagen, es wäre Spekulation." (...)


und um die dimensionen auch in historischer hinsicht nochmal ganz deutlich zu machen:

(...) «Seit der Gründung unseres Landes, also in den vergangenen tausend Jahren, ist eine vergleichbare Hitzewelle weder von uns noch von unseren Vorfahren beobachtet worden», sagte der Chef des staatlichen Wetterdienstes Rosgidromet, Alexander Frolow. (...) «Das ist ein einzigartiges Phänomen, so etwas gibt es in den Archiven nicht», so Frolow.

Auch die Folgen der Flutkatastrophe in Pakistan werden immer dramatischer beschrieben. Bisher seien 13,8 Millionen Menschen betroffen, dies übertreffe vorangegangene Naturkatastrophen, sagte Maurizio Giuliano, ein Sprecher des UN-Büros für die Koordination Humanitärer Angelegenheiten. «Dieses Desaster ist schlimmer als der Tsunami, das Erdbeben in Pakistan von 2005 und das Erdbeben in Haiti.»


hat aber weit weniger öffentliche aufmerksamkeit.

*

nun ist es durchaus so, dass ein sommerliches hochdruckgebiet bzw. strömungsverhältnisse, die über wochen subtropische heisse luftmassen ununterbrochen richtung nordosten befördern - selbst teile von finnland hatten bisher schon viele tage mit temperaturen von weit über 30° C; eine stadt wie archangelsk am weißen meer hoch im nördlichen russland verzeichnete tropennächte, d.h. dass die temperatur nachts nicht unter 20 ° C fällt - , nicht unbedingt derartig verheerende auswirkungen auf die menschliche gesellschaft haben muss wie zurzeit. sicher, eine derartige hitze in regionen, die eigentlich eher mit schnee und eis assoziiert werden, trifft unvermeidlich auf eine solches ungewohnte bevölkerung und es sollte spätestens seit dem hitzesommer 2003 in mitteleuropa bekannt sein, dass ein derartiges wetter besonders in verstädterten gebieten nicht nur aufgrund der temperatur mehr herz-kreislauf-tode verursacht, sondern auch für eine starke luftverschlechterung sorgt. und das wochenlange hitze die waldbrandgefahr steigen lässt, ist ebenso eine binse.

das jetzige geschehen in russland jedoch hat eine vorgeschichte, aus der sich eigentlich direkt auch verantwortlichkeiten ableiten lassen. die zentralen punkte sind meines wissens nach die folgenden:
  • die nicht stattgefundene rekultivierung entwässerter moorgebiete besonders rund um moskau. die wurden teils schon in den 1920er jahren trockengelegt; einerseits zur brennstoffgewinung, andererseits aber auch, weil sie lediglich als brutstätten für moskitos und damit assoziierte krankheiten begriffen worden sind. innerhalb der frühen sowjetischen industrialiserung / modernisierung war allerdings eine andere als eine sehr technokratische, d.h. verdinglichende wahrnehmung von natur auch schier undenkbar
  • alles andere aber ist der post-sowjetischen phase zuzuordnen - da wäre die aushöhlung bzw.regelrechte zerschlagung jeglicher feuerprävention und - bekämpfung
  • ebenso wie die zerschlagung des staatlichen forstwesens (nicht nur wichtig zur hege des waldes, sondern auch zur früherkennung von bränden)
  • vor ein paar jahren wurde das umweltministerium faktisch aufgelöst und - ausgerechnet und bezeichnenderweise - dem rohstoffministerium eingegliedert
  • was sicher die neuen "besitzer" vieler wälder gefreut hat, oligarchen und großindustrielle, die in der einschlägigen holzverarbeitung tätig sind, und denen besonders unter putin die "privatisierung" ehemals öffentlichen gutes sehr leicht gemacht wurde - das lässt sich nicht ohne bezug zu den in russland zu beobachtenden quasi-mafiösen strukturen in politik & wirtschaft begreifen
  • zu schlechter letzt müssen aber auch große teile der russischen bevölkerung genannt werden, in denen so etwas wie umweltbewusstsein na sagen wir mal nicht allzusehr ausgeprägt ist. und die durch ihre weitgehende apathie auch das gesamte und auch in anderen bereichen destruktive treiben der alt-neuen russischen "eliten" faktisch duldet (was sie allerdings nicht groß von vielen anderen regionen der welt unterscheidet)
all das zusammengenommen führt dann zu jenen apokalyptischen bildern von feuerwalzen, vernebelten millionenstädten und hustenden menschen in masken, wie sie gerade täglich über die fernsehschirme flackern - bis hin zu vögeln, die
tot vom himmel fallen:

(...) "Vor allem Exoten wie Papageien und Kakadus würden derzeit in großer Zahl sterben, schrieb die Zeitung "Moskowski Komsomolez" unter Berufung auf Tierärzte. Der Leiter der Moskauer Vogel-Klinik, Wladimir Romanow, sagte, dass Tierbesitzer zu Dutzenden ohnmächtiges Federvieh einlieferten. Bei einigen Tiere seien Blutgefäße geplatzt und schwere Kohlenmonoxidvergiftungen festzustellen.

Nur wenige Papageien hätten noch in speziellen Sauerstoffkammern gerettet werden können. In freier Wildbahn seien besonders Bussarde und Milane betroffen. Auch sonst fielen in der Stadt, in der seit Wochen eine Hitze um die 35 Grad herrscht, viele Vögel einfach tot vom Himmel, schrieb das Blatt. Gründe seien der Sauerstoffmangel in der Luft und der hohe Gehalt an giftigen Schadstoffen." (...)


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die "frankfurter rundschau" hat kürzlich aus einem russischem blog zitiert, in dem in einer sehr direkten sprache etliches von den obigen punkten
aufgegriffen wurde:

(...) „Unter den perversen Dreckskommunisten, über die jetzt alle schimpfen, gab es drei Löschwasserbrunnen und eine Alarmglocke, die geschlagen wurde, wenn es brannte, und oh Wunder: ein Feuerwehrauto, zugegeben nur eines für drei Dörfer, aber es gab eines. Und dann kamen die demokratischen Herrschaften und die ganze Scheiße begann. Als erstes wurden die Löschwasserbrunnen zugeschüttet und das Land verkauft, das Feuerwehrauto ist auch irgendwohin verschwunden, wahrscheinlich von Außerirdischen geklaut, und die Alarmglocke wurde durch ein Telefon ersetzt (Drecksmodernisierung!) bei dem die Scheißkerle irgendwie vergaßen es anzuschließen.“

Diesen Beitrag übersendete am Mittwoch Alexei Wenediktow, der Chefredakteur des unabhängigen Radiosenders Echo Moskwa, mit einem Begleitschreiben an Putin. Ob dieser denn wisse, wie unzufrieden die Bevölkerung mit der Arbeit seiner Regierung sei? Dass sich die meisten nicht trauten, ihm ins Gesicht zu sagen, was sie denken, das Internet aber überquelle vor wütenden Beiträgen.

„Wohin fließen unsere Steuern?“ fragt der Blogger weiter, „befreit mich von meinen Steuern und Rentenbeiträgen, denn ich werde so eh nicht mehr lange leben, und ich kaufe dafür ein Feuerwehrauto. Wenn wir euch verehrten Abgeordneten und Beamten scheißegal sind, dann sind wir uns selbst nicht scheißegal. Nehmt eure Gesetze und lasst uns leben wie wir wollen. Und leben wollen wir glücklich und zufrieden. (…) Gebt mir meine Scheißalarmglocke zurück, ihr Schweine, und nehmt euer Dreckstelefon wieder mit.“


angeblich hat putin höchstpersönlich dem blogger geantwortet (im verlinkten artikel zu lesen) und sich dabei implizit an der benutzten sprache ergötzt:

(...) "Sie sind ein bewundernswert geradliniger und aufrichtiger Mensch. Einfach ein Prachtkerl. Und Sie sind zweifelsfrei ein begnadeter Autor. Der von seinem Schreiben ganz sicher ebenso gut wie Lenins Lieblingsschriftsteller Gorki leben könnte.“ (...)

das nun finde ich einen sehr interessanten punkt, weist er doch direkt auf eine tieferliegende spezifische struktur hin, die für das verständnis der heutigen russischen verhältnisse sehr hilfreich ist. im artikel wird das bezgl. der sprache nicht nur von putin so angerissen:

(...) "Er benutzt gerne die Schimpfwortsprache, die im Russischen oft als „nicht normative Sprache“ bezeichnet wird. Er möchte den georgischen Präsidenten an seinen primären Sexualorganen aufhängen, Terroristen auf der Toilette ertränken und widerspenstigen Wirtschaftsmagnaten mal einen Doktor vorbeischicken.

Die bildhafte Ausdrucksweise, derer sich Putin dabei bedient, ist der Ganoven- und Kriminellen-Jargon, der über die sowjetischen Lager in alle Teile der Gesellschaft vorgedrungen ist und von Alkoholikern und schimpfenden Waschweibern über Intellektuelle und Dissidenten bis zu Polizisten und Geheimdienstlern gesprochen wird." (...)


das könnte nun vor allem bei leserInnen von solschenizyns "archipel gulag" ein aha-erlebnis produzieren; zumindest mir ging es dabei so. solschenizyn hat sehr detailliert die entstehung einer privilegierten parallelgesellschaft im sowjetischen lagersystem beschrieben, bestehend aus all jenen, die als "normale kriminelle" (im gegensatz zu "politschen") verurteilt wurden. die strafen für diese kriminellen waren aus gründen, die rückblickend nur als völlig missverstandener pseudomarxismus bezeichnet werden können, i.d.r. weitaus geringer als für die "politischen" - "sozial nahestehende elemente", wie sie die kriminellen für die ideologen des stalinismus darstellten, wiesen mit einiger wahrscheinlichkeit genau jene persönlichkeitsstrukturen auf, die sich ausserhalb der lager auch bevorzugt in der sowjetischen "elite", aber auch im bürokratischen sowie polizeilich-militärischen apparat sammelten. mit stalin an der spitze eine gang von teils rücksichtslosen funktionärsgestalten, antisoziale vollstrecker eines pseudorevolutionären programmes ohne rücksicht auf verluste und widerstände. die sprache war dabei auf beiden seiten durchaus die gleiche; man verstand sich. putin stammt als ehemaliger kgb-funktionär selbst aus den späten formen dieser strukturen, und so kann seine begeisterung für diese sprache nicht erstaunen. es kann aber auch nicht erstaunen, dass ihm und seinen regime bei näherer betrachtung die not seiner untertanen schlicht am arsch vorbeigeht und like den finstersten stalinistischen zeiten alles dafür getan wird, um den schein von (be-)sorgnis und aktivität aufrechtzuerhalten. das drückt sich dann einerseits in solchen aktionen aus, wie ein paar offiziere hinauszuwerfen, die angeblich bei der brandbekämpfung an militärstützpunkten versagt hätten; andererseits ist bisher niemand von diesen herrschaften auf die idee gekommen, wenigstens in großstädten wie moskau während der schlimmsten smogtage ein fahrverbot für autos auszusprechen. stattdessen werden
maulkörbe verteilt:

(...) " Moskauer Ärzte gaben gegenüber Reuters Africa an, dass sie es kaum wagten, bei Patienten Krankheiten zu diagnostizieren, die mit der Hitze und dem Rauch zusammen hängen, aus Angst, ihre Stelle zu verlieren.

Als Ärzte in Internet-Blogs klagten, dass sich die Leichenhallen mit Menschen füllten, die an den Folgen der Brände gestorben waren, und dass die Situation in allen Moskauer Spitälern ähnlich sei, stritt die Regierung dies erst einmal reflexartig ab." (...)


kurz: wir sehen auf so ziemlich allen ebenen, von der sprache bis hin zum verhalten, von den gesellschaftlichen "eliten" (ignorante antisoziale frechheit) bis hin zu großen teilen der bevölkerung (apathie, fatalismus, egozentrismus) das unheilvolle zusammenwirken von vergangenen kollektiven traumatisierungen (durch diktatur & kriege) und heutigen (die offen mafiöse struktur des russischen kapitalismus). ersteres hat letzteres in vielfacher hinsicht begünstigt und es ist ganz und gar kein zufall, dass diejenigen persönlichkeitsstrukturen, die auch in den stalinistischen phasen der sowjetunion in einer art negativen auslese bevorzugt in elitäre positionen gelangten, das gleiche nun auch heute unter formal entgegengesetzten ideologischen und realen prämissen schaffen. diese spezifisch russische traumatische matrix ist es, die im hintergrund einiges zur aktuellen situation beiträgt.

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wer nun vor dem hintergrund des oben stehenden auf die idee kommen sollte, mir "antirussische" ressentiments o.ä. vorwerfen zu müssen, sollte vorher seinen/ihren kopf geraderücken - russland lässt sich noch nicht mal als als-ob-demokratie des durchschnittlich mitteleuropäischen typs bezeichnen; es ist ein autoritäres system, und der kapitalismus dort zeigt deutlicher als anderswo (vielleicht ähnlich wie bestimmte zonen in mittel- und südamerika) seine direkte innere verwandschaft bzw. wesensgleichheit mit dem, was sich als organisierte kriminalität begreifen lässt. für die gesellschaft "als ganzes" wie auch das, was normalerweise als "politische kultur" bezeichnet wird, hat das die zu erwartenden folgen - exemplarisch zu sehen an einem sehr langen, aber empfehlenswerten
beitrag auf indymedia, in dem anhand des widerstands gegen die abholzung von wäldern für eine autobahn in der nähe von moskau schlaglichtartig etliches der russischen verhältnisse besser erkennbar wird. lesetipp!

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ein ebenfalls sehr spezifischer aspekt der russischen katastrophe liegt in der gefahr möglicher radioaktiver kontaminationen durch neuen fall out, wenn nämlich die brände verstrahlte gebiete erreichen sollten, die es nicht nur rund um tschernobyl (in der ukraine) gibt, sondern auch rund um die russische wiederaufarbeitungsanlage und atomare lagerstätte in
majak, bei der nach einem schweren (und mir bisher unbekannten) störfall in den 1950er jahren zu einer bis heute andauernden verstrahlung eines ca. hundert quadratkilometer großen gebietes kam. es gibt tatsächlich eine gewissen wahrscheinlichkeit dafür, dass ein feuer in verstrahlten zonen radioaktive partikel in den obersten bodenschichten und auch innnerhalb von pflanzen wieder freisetzen, aufwirbeln und transportieren kann - die eigentliche gefahr jedoch könnte eine andere sein, wie es in diesem interview mit dem leiter des instituts für risikoforschung an der uni wien deutlich wird - da ich nicht weiß, wie lange das video beim orf noch online sein wird, in stichworten das wichtigste: er berichtet davon, dass durch brände auch viel stromtrassen zerstört worden sind, was bei zwei akw durch rückkoppelungseffekte zum brand und zur zerstörung der jeweiligen transformatorenstationen geführt habe. das aber bedeutet, dass die akw von jeglicher externen stromversorgung abgeschnitten seien, was zu schweren und sehr gefährlichen problemen führen kann, wenn die akw wg. der feuer im prozess des herunterfahrens seien - da muss nämlich für die brennstäbe eine dauernde kühlung gesichert sein. falls diese nicht mehr aufrechterhalten werden könne, dann...

tja. erstens: ein unglück kommt selten alleine. zweitens: alles, was schief gehen kann, wird auch schiefgehen. drittens: eine kernschmelze ist genau das, was diesem desolaten jahr als "krönung" noch fehlen würde. das wäre dann wirklich ein vernünftiger grund, sich mal hemmungslos zu betrinken... (bevor dann kollektiv zur abrechnung mit den "eliten" geschritten wird).

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wer sich fragt, warum ich das wort menetekel in der überschrift habe, sollte sich die beiträge der letzten wochen und monate zum ölGAU im golf noch mal betrachten. zur situation in pakistan fehlt es mir z.zt. noch an material, auch wenn beim oberflächlichen betrachten ähnliche strukturelle eigenschaften der dortigen administration zu erkennen sind wie in russland. ansonsten kann es sein, dass ich die nächste zeit wilde thematische sprünge mache: es ist zuviel material aufgelaufen, wie neulich schon mal angemerkt. und ich muss das für mich erst mal alles sortieren. auch für mich ganz persönlich - es werden insgesamt szenarien sichtbar und zur realität, die ich zwar befürchtet habe, aber deren ausmaß und eintreffen dann doch erst mal emotional verkraftet werden muss.

Freitag, 6. August 2010

fünf jahre...

...alt ist dieses blog vorgestern geworden - das finde ich einerseits bedauerlich, weil ich mir zustände wünschen würde, bei denen ich nie auf die idee für dieses projekt gekommen wäre. andererseits bin ich selbst überrascht über diese zeitspanne, und auch darüber, was sich währenddessen alles so angesammelt hat. mir hat das immer wieder zu einigen stückchen mehr klarheit verholfen; und ich hoffe, dass das auch das mindeste ist, was es für die leser und leserinnen hier leistet.

an letztere geht auch heute explizit mein dank für viele und meistens inspirierende kommentare - auch wenn ich nicht auf jeden reagiere, so lese ich doch alles und habe oft genug weitere anregungen bekommen, die dann wieder ins blog geflossen sind.

wer will, kann
hier und hier einen kleinen zeitsprung ins jahr 2005 veranstalten - das waren die ersten beiden postings, und sie besitzen leider bis heute weiterhin gültigkeit.

Donnerstag, 29. Juli 2010

assoziation: nochmal "duisburg" - gedanken und links [update]

(der erste beitrag zur katastrophe findet sich hier.)

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da immer neue materialien dem geschehen weitere aspekte hinzufügen, kommt nun doch ein weiterer beitrag.

bis heute unbekannt war mir
julias loveparade blog, obwohl das anscheinend schon breit verlinkt ist. das, was da steht, ist heftig. ich finde es schwierig, nach dem lesen des kernbeitrags über ihre erlebnisse am samstag noch anmerkungen zu machen, ohne irgendwie herzlos zu erscheinen - aber dann doch ein paar kurze: nein, ich glaube nicht, dass das ein fake ist. und julia beschreibt in ihren ganzen postings eigentlich so ziemlich alle symptome einer massiven und akuten traumatisierung, was ja nun kein wunder ist - von der "schuld der überlebenden" über alpträume, offensichtlich dissoziativen und de-realisierenden phasen bis hin zu einem totalen emotionalen chaos. es tut regelrecht weh, das zu lesen, und ich hoffe bloß, dass sie die nötige hilfestellung bekommt - wenn sie vorher ein relativ unbelastetes leben geführt haben sollte, ist die chance gar nicht mal schlecht, dass sie selbst ein trauma eines solchen kalibers verarbeiten kann. die therapeutischen möglichkeiten gibt es heute dafür. die frage stellt sich aber auch: wieviele julias laufen jetzt eigentlich nach diesem desaster herum? neben den toten und massiv körperlich verwundeten haben die verantwortlichen auch diese menschen auf dem gewissen - und ja, im strengen sinne sind das letztlich auch körperliche wunden im gehirn und nervensystem.

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vielleicht hat sich der eine oder die andere ja schon gefragt, warum ich dem thema trauma nach der katastrophe bisher keinen platz gegeben habe, zumal in einem blog wie diesem. ich habe mir selbst einige statements und interviews von traumatherapeutInnen seit samstag angehört und fand dabei keines so bemerkenswert und/oder wichtig, dass ich das gefühl hatte, mich dazu äussern zu wollen. meistens ist die eingeräumte zeit bzw. spaltenzahl für die leute zu kurz, um wirklich tiefgehender zu erklären. regelrecht falsches habe ich noch nicht vernommen, und als einen schritt in die richtige richtung betrachte ich die erklärung einer therapeutin, dass das erbärmliche schauspiel der verschiedenen funktionäre gerade für viele traumatisierte weiteren schaden anrichten kann. insgesamt wäre das jetzt aber zum wiederholten male eine notwendigkeit, sich seitens der psychotraumatologie massiv in die öffentliche debatte einzumischen - dieses überwiegende (es gibt ein paar ausnahmen) schweigen zu letztlich gesellschaftlich (d.h. durch die herrschenden verhältnisse) produzierten traumata betrachte ich nach wie vor als manko.

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in vielen foren, kommentaren und erlebnisberichten taucht öfter mal das wort vieh auf - meistens als assoziation zur situation in und vor den tunnels. wie vieh seien dort die menschen hineingetrieben und zusammengepfercht worden. daran musste ich auch denken bei einem weiteren
augenzeugenbericht, einem sehr speziellen, weil er von einem 60jährigen erziehungswissenschaftler stammt:

"Es war ein befremdliches Bild, das Duisburg am Samstagvormittag bot: ein riesiges Polizeiaufgebot; dutzende Beamte vor Spielplätzen oder Grünanlagen, denen man, wie mir eine Polizistin bestätigte, aufgetragen hatte, die Besucher abzuwehren. Schon der Anblick der Jugendlichen, die auf der Straße saßen, weil man ihnen keine Parkbank gönnte, erweckte bei mir den Eindruck: Hier geht es nicht darum, die Jugendlichen zu schützen, es geht darum, Duisburg vor den Jugendlichen zu schützen.

Diese schlechte Behandlung der Besucher setzte sich auf dem Gelände fort: der Schotter, den man ausgelegt hatte und der alles in eine schwarze Staubwolke hüllte; die Zäune, mit denen das Gelände doppelt und dreifach abgesperrt war - eine gigantische Geringschätzung mit diesem beängstigenden Tunnel als traurigem Höhepunkt.

Spätestens als ich mittags dort durchging, war mir klar: Die Belange und Bedürfnisse der Besucher zählen hier kaum, man will lediglich im Rahmen der "Kulturhauptstadt Ruhrgebiet" ein Event inszenieren und bestimmte Bilder produzieren." (...)


ein eindeutig stellung beziehender bericht, und die schilderung finde ich interessant - tatsächlich kann ich mich manchmal des eindrucks nicht erwehren, als wäre das alles, was da am samstag in duisburg passiert ist, auch als eine art unbewusste inszenierung zu begreifen, und zwar inszenierung als ausdruck eines enormen hasses auf all diejenigen, die da erwartet wurden: es liegen viele berichte vor, die vom ankunftspunkt vieler teilnehmerInnen - dem hauptbahnhof - von mangelhafter ausschilderung sprechen, d.h. dass viele erst mal ein paar stunden herumirrten, bevor sie überhaupt das gelände fanden. dann: die geplanten hauptrouten scheinen allesamt mittels zäunen und polizei abgegrenzt gewesen zu sein. und wurden wie auf einen trichter zu immer enger (durch die konzentration immer mehr menschen), je näher es dem gelände zuging. dann die falle des tunnels, über die man nichts mehr sagen muss. das gelände selbst ein schottergelände, mit etlichen baufälligen und gesperrten gebäuden, eingezwängt zwischen autobahn und bahnlinie. "eine gigantische geringschätzung" - ja, das dürfte noch positiv formuliert sein. selbst die loveparade in ihren letzten berliner jahren, dort schon bereits zu einem mega-konsum-event mutiert, mutet gegen dieses szenario noch regelrecht unbeschwert an. von dem, wofür "techno" vor langer langer zeit zumindest mal teilweise stand (speziell in detroit), ist das alles weltenweit entfernt.

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(...) "Das bringt uns zu dem zweiten Eindruck, der sich beim Betrachten der Duisburger Bilder aufdrängt: Durch die Anwesenheit zu vieler Menschen hat nun gerade jene Musik zur größten Massenkatastrophe der jüngeren Pop-Geschichte geführt, die einst durch die katastrophale Abwesenheit von Menschenmassen entstand - eine Musik, die sich in entleerten und verfallenden Städten entwickelte, in verlassenen Häusern, Fabriken, Theatern. Fast auf den Tag genau ein Vierteljahrhundert ist es jetzt her, dass der Produzent Juan Atkins mit "No UFOs" jene Single aufnahm, die rückblickend als erstes Techno-Stück angesehen werden kann. Er lebte in Detroit, einer jener "schrumpfenden Städte" des US-amerikanischen Nordens, aus denen die wohlhabende Bevölkerung in die Speckgürtel geflohen war und in deren Zentren nun lediglich noch die Ärmeren, Unterprivilegierten hausten. Und die Künstler und DJs, die ihre Partys in leerstehenden, von keinem Besitzer mehr beanspruchten Fabriken und Warenhäusern feierten.

Ohne diese aufgelassenen Räume, ohne die große Leere in den Zentren der de-industrialisierten Städte hätte es Techno niemals gegeben. Darum fiel die Musik nach dem Mauerfall in Berlin auf so fruchtbaren Boden: weil es in der Mitte der wiedervereinigten Stadt so viel Leere gab und - vergleichsweise - so wenig Menschen, so viel Räume, die man erobern konnte, in einer steten Bewegung von einem Ort zum anderen, von einer zum Party-Ort umgewidmeten Ruine zur nächsten." (...)


("Die Musik, die Stadt und der Tod")

ja. eigentlich wäre das desolate duisburg, mit seinen mafia- und rockergeschichten, seiner schier aussichtslosen ökonomischen lage, seinen sozialen widersprüchen und der riesigen leere rund um den verfallenen güterbahnhof bestens geeignet für jene teils traurig-düstere melancholie, für die der detroit-techno so berühmt ist (und die ich persönlich so liebe). aber das wäre dann definitiv ein ganz anderer beat als derjenige, der leuten wie den handelnden protagonisten in diesem fall vorgeschwebt hat...

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denn die letzteren (incl. des herrn schaller) haben sich einen dreck nicht nur dafür interessiert, welche interessanten aspekte techno (als oberbegriff) tatsächlich hat, sondern sie haben durch ihre planung des debakels auch gezeigt, dass ihnen ihr publikum - ausser in der rolle von möglichst nicht störenden, geldausgebenden konsumenten - letztlich nicht von bedeutung gewesen ist. aber das scheint insgesamt zur hybris des größenwahnsinnigen "metropolenregion ruhr"-projektes zu gehören, und ich danke quirinus für den hinweis auf einen sehr interessanten text zum thema, den ich gleichfalls empfehlen möchte:
Die Erfindung der "Metropole Ruhr" und ihre tödlichen Folgen. da wird durchaus einiges von dem größeren kontext sichtbar, in dem die loveparade eingebettet gewesen ist, incl. der sozio-ökonomischen verwerfungen der vergangenen jahrzehnte. sichtbar wird aber der noch größere hintergrund einer ebenso wie alles andere inzwischen gnaden- und rücksichtslos geführten standortkonkurrenz um die krümel vom kapitalistischen kuchen.

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ein weiterer
augenzeugenbericht, anders, aber ähnlich bedrückend wie von julia. mit einem schwerpunkt auf die drogen, besonders speed - "pep" - , also amphetamine. das thema drogen kommt hier im blog ja schmählich zu kurz, ihre gesellschaftlichen funktionen und wirkungen halte ich für immens, aber in diesem zusammenhang nur das folgende: es gibt durchaus plausible untersuchungen darüber, wie sich innerhalb der raver-szene ende der 90iger jahre immer mehr speed statt mdma ("exstasy"; sicher geht es in beiden fällen um amphetamine, aber von sehr unterschiedlicher wirkung) verbreitete und das durchaus auch direkte wirkungen auf den umgang innerhalb der szene hatte. speed passt eigentlich wie kokain (nicht umsonst neben alkohol die beliebteste börsendroge) perfekt zum neoliberalismus - eine leistungsdroge, scharfe highs, tiefe depressionen als folge auf die mittelfrist bezogen, fördert narzisstische tendenzen und die eigene selbstüberschätzung. während mdma aus folgenden gründen immer wieder auch in psychotherapeutischen settings erprobt wurde:

(...) "Der Konsum von MDMA führt zu Euphorie, steigert meist die Fähigkeit zur ungezwungenen Kontaktaufnahme mit anderen Menschen (empathogene Wirkung) und die Fähigkeiten zum Verständnis der eigenen inneren Gefühle (entaktogene Wirkung). Es wird Empathie und Liebe stärker empfunden und die Harmonie mit stereotypen Rhythmen (Technomusik oder Sex (...)"

körperlich schädliche wirkungen sind wie bei allen, und nicht nur synthetischen, psychoaktiven stoffen durchaus eine gefahr, gerade bei häufigem und mischkonsum (speed und alkohol ist eine der übelsten kombis überhaupt). aber es ist schon auffallend, wie im laufe der jahre und mit zunehmender massenkompatibilität von techno neben der niedergehenden musikalischen qualität ("kirmestechno", oh graus) auch das eine amphetamin durch das andere mit geradezu entgegengesetztem wirkungsspektrum ersetzt wurde (es gibt sogar leute, die das für keinen zufall halten. ich bin mir da unschlüssig, was die genaue natur des "keinen zufall" angeht).

jedenfalls finde ich persönlich viele menschen auf aktuellen massen-techno-events von ihrem auftreten und verhalten her nicht besonders sympathisch; ebenfalls könnte ich das auch überhaupt von meiner wahrnehmung vieler leute unter 25 sagen. andererseits versuche ich mir bei entsprechender mißgelauntheit auch immer zu sagen, dass die kids von heute das logische produkt des versagens meiner und der vorhergehenden generation sind und dafür noch am wenigsten verantwortlich sind. und bei aller aufregung über wie geklont erscheinende modellhafte mädchen und den dicken max markierende jungen: wenn ich mir die erbärmlichkeit nicht nur von duisburg vor augen halte, dann weiß ich, auf welcher seite - trotz aller vorbehalte und kritik - ich mich eher verorte. die jugendlichen von heute haben in vieler hinsicht die absolute arschkarte gezogen, und von daher ist es kein wunder, wenn sich etliche auch entsprechend verhalten. es ist schon okay zu sagen, dass das letztere natürlich nicht okay ist - aber dabei sollte auch immer der größere zusammenhang präsent sein.

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lotta hat drüben in ihrem beitrag ihr generelles unwohlsein mit massenveranstaltungen an sich angesprochen; und ich kenne durchaus viele, denen das ähnlich geht. bei mir sieht das anders aus: ich erinnere mich gerne an die meisten erfahrungen mit großen menschenmassen (bis 100.000); ausnahme sind bestimmte demonstrationen (wobei hier negative und gefährliche erlebnisse ja eigentlich von vorneherein einkalkuliert werden müssen, was dann den umgang mit ihnen von vorneherein anders gestaltet - im gegensatz zu einer veranstaltung wie in duisburg, wo ich nicht glaube, dass auch nur ein einziger mensch (besucherIn) im vorfeld ein solches szenario in erwägung gezogen hat, was dann den terror der katastrophe für alle betroffenen aufgrund ihrer unmittelbarkeit und des scharfen kontrastes - party, feier, musik - nochmals größer werden lässt).

aber gerade mit kleinen und größeren festivals, aber auch mit stadionbesuchen, verbinde ich eigentlich viele besondere und auch schöne momente. ich finde eine masse durchaus nicht per se ent-individualisierend, das kommt immer sehr auf die art der masse und den anlass an. eine masse kann durchaus auch positive geborgenheit bedeuten, und sie kann v.a. eine art gegenmacht darstellen, eine erfahrung gerade auf bestimmten demonstrationen, die ich für enorm wichtig halte, weil sie gefühle von vereinzelung und ohnmacht stark relativieren kann. und massen können durchaus auch spaß machen, und damit meine ich nicht den typischen und drogeninduzierten als-ob-spaß bei den einschlägigen megaevents, sondern eine besondere art der spontanen interaktion, wie sie zumindest früher bspw. auf festivals stattfand (aus diesem grund wäre ich auch zu gerne in woodstock dabeigewesen - das muss auch in letzterer hinsicht gigantisch gewesen sein).

allerdings kann ich mir durchaus vorstellen, dass analog zu den steigenden eintrittspreisen bei den heutigen festivals die spontanen und authentischen aspekte immer mehr verschwinden. und auch das vermutlich generell veränderte verhalten vieler heutiger besucherInnen eine große rolle spielt. nein, früher war nicht alles besser. aber teils entscheidend anders.

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edit am 30.07.: nochmals eine kurze und teils kommentierte zusammenstellung neuer materialien und entwicklungen.

- zur derzeitigen öffentlichen stimmung in duisburg -
ohne worte:

(...) "Die Tür des Sitzungssaales lässt Oberbürgermeister Adolf Sauerland am Freitagvormittag von innen abschließen. Unbekannte Gäste dürfen im Rathaus längst nicht mehr selbst zu den Zimmern gehen, sondern werden begleitet. Auf der Straße sind seit Tagen keine Politessen zu sehen, weil die wütenden Duisburger sie anpöbeln und bedrohen. Im Callcenter der Stadt weinen Mitarbeiter offen, weil sie reihenweise Schmähungen ertragen müssen.

Die Katastrophe der Loveparade, für die Verwaltungschef Sauerland verantwortlich gemacht wird, und seine Weigerung, Konsequenzen zu ziehen, hat in der Industriestadt Duisburg für einen Ausnahmezustand gesorgt. „Das ist Agonie hier", sagt ein Rathaus-Mitarbeiter, der nicht zitiert werden will." (...)


- wenn sich das folgende bestätigen lässt, wäre das ein nachdrückliches beispiel für
"an ihrer (macht-)sprache sollt ihr sie erkennen":

(...) "Höherrangige CDU-Quellen kolportieren indes mittlerweile, daß die Bundeskanzlerin Merkel wünsche, daß “das Problem Sauerland” bis zu ihrem Eintreffen zur Trauerfeier in der dem Rathaus benachbarten Salvatorkirche morgen, Samstag vormittag, “zu lösen” sei. Dies würde “verbindlich” von der Duisburger CDU erwartet." (...)

- nochmal die ruhrbarone mit einer interessanten
chronik der geschichte der loveparade im ruhrgebiet seit jahresanfang 2007

- und noch eine lüge bröckelt: wie es sich von beginn an schon abgezeichnet hat und auch aus vielen augenzeugenberichten zu vernehmen war, ist die polizei aller wahrscheinlichkeit nach
nicht so unschuldig, wie es vor allem der innenminister von nrw neulich suggerierte:

(...) "Ein neues Dokument aus der Einsatzleitung der Feuerwehr belastet die Polizei im Zusammenhang mit der Loveparade-Katastrophe. Dem Papier zufolge (...) gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen Polizei und Feuerwehr über eine geplante Sperrung des Zulaufs auf das Festgelände der Loveparade in Duisburg. Nach Ansicht der Feuerwehreinsatzleitung sei diese Maßnahme „aus einsatztaktischer Sicht sehr problematisch“. Aus diesem Grund „ist die Feuerwehr dagegen“.

Die Feuerwehr wollte dem Dokument zufolge der Sperrung nur unter der Maßgabe zustimmen, wenn gleichzeitig die zweite Rampe zum Gelände „als Zulauframpe“ geöffnet werde. Zudem bestand die Feuerwehr darauf, dass der Zustrom von Festivalbesuchern durch den Karl-Lehr-Tunnel „durch die Polizei verhindert wird“, heißt es weiter. Das Papier entstammt dem Einsatztagebuch der Feuerwehr zur Loveparade. (...) Demzufolge sah die Feuerwehr offenbar die Polizei und nicht den Veranstalter in der Pflicht, den Tunnel zum Gelände zu sperren, damit es nicht zu einem Chaos im Eingangsbereich des Loveparade-Geländes kommt." (...)


wie schon neulich geschrieben: ein gesellschaftliches lehrstück erster qualität, bei dem einem allerdings die haare zu berge stehen.

Mittwoch, 28. Juli 2010

notiz: öl. mehr öl. noch mehr öl.

ich bin mal gespannt, ob es die beiden folgenden störfälle überhaupt in irgendwelche deutschsprachigen medien schaffen - ich selbst werde versuchen, mich beim kommentieren zurückzuhalten, weil es hier ansonsten zu gar garstigen szenen und wörtern kommen könnte...

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die situation am golf wird demnächst wieder thema sein, aber bis dahin dürfen wir uns alle mit einem neuen und anderen leck beschäftigen - relativ nahe vor der küste von louisiana, ca. 104 km von new orleans entfernt, mitten im marschgebiet, passierte vor noch nicht langer zeit - acht bis zehn stunden - das folgende: ein schlepper mit einem schwimmbagger im schlepp rammte offenbar einen knapp - die rede ist von ca. 1,20 m - unter der oberfläche liegenden versiegelten (?) bohrlochkopf (in anderen berichten war die rede von einem "natural leak", aber wie geht das bitte zu rammen?)

seitdem schießt dort das öl bis in eine höhe von ca. 30 metern in die höhe, hat bereits einen film auf dem wasser produziert und ist inzwischen mit den in der gegend ja reichlich vorhandenen ölsperren eingegrenzt worden. das versiegeln sollte ja bei dieser tiefe nicht so ein thema sein, trotzdem ist es bemerkenswert, dass anscheinend niemand weiß, wer für diese vermutlich aufgelassene quelle verantwortlich ist bzw. mal war. ebenfalls war die stelle überhaupt nicht irgendwie gesichert oder zumindest mittels einer boje gekennzeichnet. alles wunderhübsch. achja, es tritt - kein wunder - wohl auch gleichzeitig gas aus. und die art des austritts deutet auf einen ordentlichen druck dahinter hin.

näheres (in english) mit bild
hier.

*

während dessen kommen aus dem us-bundesstaat michigan
meldungen über die "größte ölverschmutzung in der geschichte des mittleren westens". offizielle schätzungen sprechen von über einer millionen gallonen ( = ca. 3 780000 liter = ca. 23 757 barrel ) öl, welches aus einer lecken pipeline in bzw. an einem kleineren zulauf des kalamazoo river stammt, sich bereits in diesem befindet und auf dem weg in den michigansee ist. aufmerksam wurden wohl anwohner durch einen penetranten ölgestank in der luft - letzteres hat wohl auch zur evakuierung von bis zur stunde ca. 20 häusern am fluß geführt.

verantwortlich für die pipeline und also auch das leck ist eine relativ kleine gesellschaft, die sich bereits jetzt aufgrund ihrer offensichtlich mangelhaften wartung und eines gleichartigen umgangs mit der ölpest verschärfter beliebtheit bei den zuständigen behördenvertretern erfreut - aber das ist ja auch nicht bp, mit der sich die leute da anlegen müssen.

*

wie sagte ich irgendwo in einem der vielen ölbeiträge der letzten wochen ? so sieht die normalität des ölzeitalters aus. einmal mehr.

Sonntag, 25. Juli 2010

notiz: katastrophe mit ansage - loveparade [3. update, 27.07.10]

nein, das war kein "gewöhnlicher" unfall, wie er auf veranstaltungen dieser größenordnung auch bei bester planung immer wieder mal vorkommen kann. in diesem fall gibt es inzwischen immer mehr indizien für ein multidimensionales und möglicherweise mutwilliges versagen auf mehreren ebenen - stadt, behörden und veranstalter. um das nachzuvollziehen, lese man sich sorgfältig zb. nicht nur diesen artikel vom 20. juli durch, sondern auch und vor allem die zugehörigen kommentare, in denen fast haargenau der heutige verlauf schon geschildert wurde.

motive dafür, diese geschichte - bochum hatte letztes jahr, glaube ich, aus der einsicht heraus, für eine veranstaltung dieses kalibers schlicht nicht die infrastruktur zu haben, auf die durchführung verzichtet - dann doch um, wie heute zu sehen ist, so ziemlich jeden preis in duisburg durchzuführen, könnten etwas mit der situation zu tun haben, die
hier in den krisennews 14 ziemlich in der mitte geschildert ist. duisburg war und ist faktisch pleite, und es ist nicht allzu abwegig anzunehmen, dass die vorstellung konsumierender massen plus die möglichkeit einer ordentlichen selbstdarstellung / imagepolierung wie üblich grundsätzliche bedenken hinweggefegt hat.

18 19 tote und dutzende schwer- und leichtverletzte als letzter stand - kein wunder, dass die behördlich verantwortlichen bereits rückzugslinien basteln ("keine panik im tunnel, kein fehlverhalten der polizei, keine überfüllung des geländes, die opfer haben unbefugt verbotene wege genommen" - so einige gesammelte aussagen dieses abends aus tv und presse). bei der vielzahl von augenzeugenberichten werden wir sehen, ob die herrschaften damit durchkommen. vermutlich wird´s wieder auf niedere chargen als sündenböcke hinauslaufen...

*

edit: das folgende möchte ich dann doch nicht in den kommentaren versacken lassen - wenn sich
das als real herausstellen sollte ...

(...) "Wie SPIEGEL ONLINE erfuhr, wurden bei der Bundespolizei inzwischen sämtliche Unterlagen zur Love Parade - Einsatzbefehle, Lagemeldungen, Karten - von den Computern der Beamten sowie aus deren E-Mail-Accounts gelöscht. "Da kam sehr schnell der ganz große Staubsauger", sagte ein Beamter, der sogar eine konzertierte "Vertuschungsaktion" im Gang wähnt." (...)

... dann erhalten nicht nur die in den letzten stunden zunehmenden massiven vorwürfe seitens der polizeigewerkschaft gegen veranstalter und auch die stadt ein interessantes g´schmäckle, sondern es stellt sich auch die frage, welche instanz da überhaupt in der lage sein sollte, so etwas wie wirkungsvolle ermittlungen zu führen - auch gegen behörden und teile der polizei. ich glaube, ich kann mir das ergebnis dieser ermittlungen schon jetzt lebhaft vorstellen...

und noch ein edit: obiger spon-bericht wurde sehr schnell verbreitet, und auch sehr schnell von der bundespolizei dementiert - jetzt schreibt spon in einem nachtrag das folgende:

"In einer ersten Version dieses Artikels hieß es, von Rechnern der Bundespolizei seien sämtliche Unterlagen zur Love Parade gelöscht worden. Dies ist nach unseren Recherchen auch der Fall - bei mindestens einer Dienststelle, aber nicht unbedingt flächendeckend bei der gesamten Bundespolizei."

*

edit am 26.07.: weil ich gerade über zwei dokumentarische materialien gestolpert bin, ergänze ich mal hier: einmal wäre da der bericht einer augenzeugin, der unten in einem
kommentar thema ist. dazu passen dann auch folgende private fotos:

-
dieses hier dürfte den hauptsächlichen bereich der katastrophe erfassen, in dem sich auch - weiter nach rechts zur treppe (nicht auf dem bild) hin die oben erwähnte augenzeugin befunden hat. die sichtbare rote werbetafel wird in etlichen augenzeugenberichten ebenfalls erwähnt.

laut der bisherigen offiziellen aussagen müssten an der da sichtbaren tunnelwand auch die ominösen kletterversuche stattgefunden haben - ich finde das, was zu sehen ist, sehr deutlich - an einer solchen wand bzw. den kleineren reklametafeln klettert man nicht mal eben aus jux hoch, oder um schneller irgendwo zu sein (wie es diese offiziellen aussagen suggerieren), sondern das sieht nach absolutem notklettern aus. abstürze verwundern mich da ebenfalls nicht.

- das
darauf folgende foto zeigt dann diesen bereich im geräumten zustand, und es sind sieben oder acht bedeckte körper zu sehen. alle von der wand gefallen? schwere rückenmarks- und/oder schädelverletzungen jedenfalls, wie sie als erste aussagen von ärzten zu den toten im umlauf sind, kann ich mir auch als resultat massiver (und durchaus unfreiwilliger) tritte vorstellen. wer in so einer menge fällt, kommt mit einiger wahrscheinlichkeit nicht wieder hoch.

es kursieren übrigens auch etliche augenzeugenberichte, die von einigen toten im tunnel selbst berichten - und zwar nicht säuberlich aufgereiht, wie es vielleicht zu erwarten wäre, wenn die leichen erstmal an einen etwas geschützteren ort gebracht worden wären.

jedenfalls schätze ich, dass das gerede von "individuellem fehlverhalten", wie es der oberbürgermeister von duisburg gestern in die welt setzte, aus keiner perspektive wirklich haltbar ist. erstmal ist fraglich, ob wirklich alle toten beim bzw. durch das klettern gestorben sind. und selbst wenn, wäre das klettern wie schon erwähnt deutlich (!) als versuch in panik und todesangst zu begreifen, einer echten falle entkommen zu wollen.

*

noch ein trauriges
update:

"Bei der Katastrophe während der der Love Parade sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft Duisburg deutlich mehr Menschen verletzt worden als zunächst angenommen. Die Staatsanwaltschaft bezifferte ihre Zahl am Montag auf mehr als 500. (...) 43 Menschen befänden sich noch im Krankenhaus, ein Opfer schwebe in Lebensgefahr." (...)

und mir scheint auch einiges darauf hinzudeuten, dass in der stadt duisburg selbst jetzt noch andere dinge eine rolle spielen, für die die katastrophe eine art trigger darstellt - der regelrechte
wutausbruch einer empörten menschenmenge gestern abend am ort des geschehens gegen den oberbürgermeister ist bemerkenswert:

(...) "Dort traf ihn die Wut der Trauernden mit voller Wucht - ein Mann soll ihn sogar mit Müll beworfen haben. Die restlichen Anwesenden sollen eine Traube um den Bürgermeister geildet und ihren Unmut mit Buh-Rufen und Beschimpfungen kundgetan haben.

Ein Leibwächter brachte den 55-Jährigen schließlich vor den etwa 120 Menschen in Sicherheit. Er flüchtete in seinem Dienstwagen." (...)


der bericht wurde inzwischen vom ob selbst bestätigt.

*

edit am 27.07.: ach, welch´überraschung:
Alle Opfer wurden zu Tode gequetscht.

ich hatte ja weiter oben schon meine skepsis bezgl. der version von den stürzen (hoffentlich) sichtbar werden lassen; aber das am sonntag gleich von drei seiten - nämlich stadt, polizei und "panikforscher" schreckenberg - derart massiv im brustton der überzeugung - ja nun, gelogen wurde (dazu eine lüge, die implizit die toten selbst für "fehlverhalten" verantwortlich machte), ist selbst im zynismusmodus, in dem ich mich gerade immer im angesicht der zustände befinde, schwer erträglich. warum ich das ein lüge nenne? entweder die herrschaften wussten an dem tag absolut noch nichts über die tatsächliche todesursache, dann ist das zumindest ein widerwärtiger versuch gewesen, sich selbst präventiv aus der schußlinie zu nehmen. aber ich erinnere mich an die auch oben zitierten "ärztlichen aussagen", von denen ich inzwischen gerne mal wissen würde, welcher arzt tatsächlich soetwas wann und wo gesagt hat. wer bereits sonntag tatsächlich "rückenmarksverletzungen" diagnostiziert hat, sollte ja wohl kaum nicht in der lage sein, massive quetschungen im brustbreich auch wahrzunehmen. mein gefühl ist dazu deutlich: der oder die zitierten ärzte befanden sich mit einiger wahrscheinlichkeit einzig im kopf der herren... oder sie haben vorläufige ärztliche aussagen in ihrem sinne gedeutet.
oder aber auch: sie wussten direkt bei ihren öffentlichen aussagen, dass sie da nicht die wahrheit erzählen. kann mich nicht entscheiden, was ich schlimmer finden würde.

die oben verlinkte aussage einer augenzeugin wird dadurch im großen und ganzen verifiziert. ebenso ist bis jetzt kein mir bekanntes video aufgetaucht, auf denen die angeblichen stürze zu sehen wären - bei der ballung von kameras an dem tag dort eh schon ein wunder für sich.

*

der oberbürgermeister kommt inzwischen nicht nur politisch, sondern auch persönlich massiv unter druck: es gibt offene
morddrohungen, aufgrund derer er und seine familie erst mal abgetaucht sind. ich hatte ja schon nach dem angriff einer wütenden menge auf ihn am sonntagabend das gefühl, dass die katastrophe zumindest in duisburg selbst auch als eine art trigger für ganz anderes wirkt, und das verstärkt sich bei mir gerade - es könnte sein, dass die durch die parade sichtbar werdenden strukturen der (kommunal-)politik nicht nur in duisburg, sondern auch im ruhrgebiet insgesamt, eher die spitze eines eisbergs darstellen. und für viele leute offenbar das faß jetzt endgültig übergelaufen ist. der klüngel (nicht nur der kölner) ist seit jahrzehnten legendär, und nach eben diesem sieht es im zusammenhang mit der katastrophe aus.

vor dem hintergrund wird es auch interessant sein zu beobachten, wie sich eine für donnerstag angesetzte
demonstration vor dem duisburger rathaus entwickelt - gerüchte darüber gab es schon seit zwei tagen, aber inzwischen wird offen mobilisiert - anscheinend von nicht näher beschriebenen privatpersonen. in dem zusammenhang sind auch die kommentare unter den beiden eben verlinkten artikeln interessant, weil sie teils ein maß an wut und verachtung widerspiegeln, welches ich mir nicht alleine aus der katastrophe erklären kann, schon gar nicht bei leuten, die aller wahrscheinlichkeit mehrheitlich nicht direkt betroffen sind.

*

weil ich hier jetzt öfter aus dem portal "der westen" der "westdeutschen allgemeinen" zitiert habe, möchte ich auch nicht unterschlagen, dass die massive contra-berichterstattung, die jetzt im nachhinein aus dieser ecke gegen alle befürworter der parade stattfindet, eine erstklassige 180°-wendung darstellt - vor der parade nämlich pfiff nicht nur die "waz", sondern so ziemlich alle relevanten ruhrgebietsmedien, aus einem
ganz anderen loch:

(...) "Als führende Regionalzeitung legte sich auch die Westdeutsche Allgemeine (WAZ) ins Zeug. Würde die Loveparade von der Duisburger Stadtverwaltung um CDU-Oberbürgermeister Adolf Sauerland "ausgerechnet im Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt wieder abgeblasen, wäre es peinlich für das Revier", kommentierte die WAZ. Und nachdem Sauerlands Stadtverwaltung aller Sicherheitsbedenken zum Trotz grünes Licht gab, lief die Werbemaschine richtig an: "So geil ravt die Loveparade", schrieb Bild und zeigte knapp bekleidete Technofans. (...)

Bis zur Katastrophe dürfte die Duisburger Stadtverwaltung das Gefühl gehabt haben, alles richtig zu machen. Zudem hatten die Bürokraten wohl das Schicksal des ehemaligen Bochumer Polizeipräsidenten Thomas Wenner vor Augen, der sich 2009 mit seinen Sicherheitsbedenken durchgesetzt hatte und daraufhin als Bedenkenträger abgekanzelt wurde. "So richtig peinlich" sei die Absage, befand die WAZ-Gruppe damals: "Bochum reißt die ganze Region mit rein. Wie stehen wir jetzt da?" (...)


die "waz" und auch "rp-online" haben in den letzten tagen eine relativ gute und vor allem aggressive (im sinne von fordernd) berichterstattung gefahren (und ich habe nicht das gefühl, dass das primär zur selbstentlastung dient - kann mich natürlich aber auch täuschen), aber gerade bei der ersteren wäre ein eigenes eingeständnis der miesen rolle vor dem tödlichen samstag auch überfällig.

*

jedenfalls bis hierhin alles in allem ein gesellschaftliches lehrstück allererster güte - es ist ein bodenloser abgrund sichtbar. wobei ich inzwischen das gefühl habe, immer genau schauen zu müssen, wohin der nächste schritt geht - es wimmelt hier ja nur von solchen schlünden...

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