assoziation

Donnerstag, 3. März 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (6)

(...) "Reuters verbreitet ein Pressemitteilung – Tunesien betreffend – von Amnesty International: “Tunesien muss Tötung von Demonstranten untersuchen”. Was für ein bürgerlicher Scheißdreck. Es geht darum, das ganze Scheißsystem hinwegzufegen – solche Forderungen, gerichtet an irgendwelche Nochimmerherrschenden oder nach demokratischen Wahlen Demnächstherrschenden stabilisieren deren System bloß, indem sie ihnen wohlmöglich nachkommen und irgendwelche armen Schweine unter den Polizisten oder Soldaten anklagen -. ihnen einen sauberen Prozeß machen. Gerichte, Rechtsanwälte – das alles gehört vielmehr mit weggefegt. Für immer. Alle tun hier so im Westen, als gäbe es nichts anderes als die Errungenschaften der Französischen Revolution – freie Wahlen, Presse, Regierungen, Gewaltenteilung etc.. Das alles gehörte längst auf den Misthaufen der Geschichte – es gibt ein viel größeres Revolutionsziel: die Abschaffung der Warenproduktion und die Aufhebung aller Trennungen." (...)

("Der Kairo-Virus - Chronik seiner Ausbreitung/Eindämmung (21)")

(...) "Niemand, der sich in Führungspositionen befindet, hat etwas davon, den eigenen Untergang zu prophezeien. (So wie jener Chefredakteur, der sich bei einem Essen weinschwer über den Tisch gebeugt und gesagt hatte: »Noch sitzen wir hier und essen Fischfilet. Aber Sie und ich wissen«, Kunstpause. »Sie und ich wissen, dass es nicht mehr lange dauern wird.« Einen Brunnen habe er schon gebohrt, über die nötigen Maße eines Gemüsebeets für eine vierköpfige Familie denke er nach." (...)


("Rette sich, wer kann!")

(...) "Mit dem Sturz der Diktatoren Nordafrikas wird der Flüchtlingsstrom nach Europa massiv wachsen", sagte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Dieser Ansturm lasse sich nur stoppen, wenn Europa zur Festung umgebaut werde." (...)


...und auch diese "festung" wird am ende fallen...

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so. derart eingestimmt, betrachten wir uns ein weiteres mal näher das, was ich neulich als "globales wetterleuchten an fast allen horizonten" bezeichnet hatte. es erscheint immer noch und immer mehr bitter nötig, das blog einerseits zur reinen informationsvermittlung zu nutzen, da sehr vieles, was zum verständnis bzw. mindestens für eine annäherung daran nötig ist, medial entweder gar nicht oder nur fragmentarisch vermittelt wird. andererseits habe ich die nächsten tage voraussichtlich etwas mehr raum, um einige grundsätzlichere fragen ebenfalls zu thematisieren:
  • aus der perspektive der bloginhalte hier wäre da bspw. die frage nach den wirkungen der z.zt. in libyien wahrscheinlich am massivsten, aber auch anderswo primär staatlicherseits ausgeübten gewalt - stichwort trauma. ich will versuchen, mich den aktuellen szenarien mal mit hilfe der bisherigen erkenntnisse aus der psychotraumatologie zu nähern, weil der umgang mit dieser gewalt und ihren folgen unweigerlich auch den weiteren weg der betroffenen gesellschaften mitbestimmen wird
  • verschwörungstheorien: von beginn an gab es besonders im netz unter den üblichen verdächtigen eine teils reflexartig anmutende reaktion zu bestaunen: diese ganze dynamik der aufstände seien - "wie üblich" - ein produkt von us-amerikanischer und israelischer einflussnahme, sie folgten einem drehbuch, und all die millionen in den revolten involvierten seien lediglich (ahnungslose) statisten. mich regt eine solche betrachtungsweise einerseits auf, andererseits scheint sie mir zumindest hierzulande letztlich auch der treffende ausdruck einer generationenalten mentalität in einer gesellschaft zu sein, die in ihrer bisherigen geschichte kein einziges mal wenigstens so etwas wie eine bürgerliche revolution hinbekommen hat und mit dem wort "selbstorganisation" mehrheitlich offensichtlich nichts anzufangen weiß. auch das lohnt der näheren betrachtung, wie ich finde
  • ich hatte ja zu beginn dieser reihe geschrieben, dass ich hier auch vorläufig die schon im letzten jahr begonnene debatte zum "kommenden aufstand" des "unsichtbaren komitees" weiterführen möchte - das wäre ein weiterer punkt, einmal zu schauen, wieweit sich die imaginationen des "kommenden aufstands" inzwischen in der globalen realität wiederfinden lassen
  • peak oil, peak water, nahrungsmittelkrisen, mögliche klimakrisen?, bevölkerungszahl: hinsichtlich der aufstände weitgehend völlig unterbelichtet, diese "megatrends". aber ich bin überzeugt davon, dass wir aktuell bereits mehr als nur die vorboten zumindest einiger dieser absoluten grenzen (für den globalen kapitalismus zumindest) sehen
soweit zum vorgesehenen programm; das ich dafür keinen zeitplan angeben mag und kann, sollte auf der hand liegen.

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bevor ich nun zu einem kurzen überblick zuerst zur situation in nordafrika und der arabischen halbinsel aushole, noch ein wort zu den quellen: wie in den letzten folgen versuche ich besonders, aus meiner sicht zu kurz gekommene meldungen ins blickfeld zu holen. dazu bevorzuge ich weiter neben einzelnen anderen quellen den britischen guardian sowie al jazeera, möchte jedoch auch speziell auf zwei weitere hinweisen: das erste einleitende zitat stammt aus dem
hausmeisterblog der "taz", und da möchte ich wirklich empfehlen, einmal alle folgen der "chronik" von beginn an zu lesen. das wird vermutlich ein paar stunden dauern, aber es lohnt sich, weil dort eine vielzahl an aktuellen und historischen informationen sowie eigenen gedanken des autors in einer ähnlich assoziativen art & weise zusammengetragen wird wie hier. es gibt dort eine menge zur geschichte der verschiedenen länder zu lernen sowie etliche hinweise auf weitere interessante artikel und quellen - tipp! und das gilt in anderer weise auch für die nahostinfos, die als meines wissens bisher einziges deutschsprachiges blog so etwas wie einen gesammelten überblick zu den aktuellen entwicklungen in den ländern der region bereitstellen. ich weiß nicht, wer der oder die autorInnen dort sind, aber von hier aus für die arbeit schon mal ein dickes danke! (das ist neulich direkt im blog offensichtlich an technischen problemen gescheitert).

wie in den letzten folgen auch, werde ich viele der infos nicht jeweils einzeln quellenmässig belegen, sondern nur diejenigen, die mir besonders relevant und/oder brisant erscheinen. und jetzt wirklich los, es ist so viel passiert und passiert weiterhin, dass dieser überblick vermutlich jetzt schon wieder veraltet ist...

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nordafrika/arabische halbinsel

tunesien: zu den wiederaufgeflammten riots und auch streiks im land, die mittlerweile zwar auch zum rücktritt des "übergangspräsidenten" und alten ben al-vertrauten ghannouchi geführt hat, aber das bedürfnis großer bevölkerungsteile nach einer tiefgehenderen sozialen veränderung - minimalkonsens ist der abgang alles personal der bisherigen diktatur - konnte dadurch nicht begrenzt werden. ich hatte von beginn an spontan bei tunesien die wenigsten bedenken, das wort "revolution" zu benutzen, und ich finde das bei der aktuellen entwicklung auch weiterhin berechtigt - es ist zwar i.d.r. unangemessen, die verschiedenen länder zu vergleichen, aber tunesien scheint im "eigenen" zyklus der revolutionären phasen, die eine gesellschaft im umbruch durchlaufen muss, am weitesten zu sein - dazu gehört auch, dass sich jetzt innerhalb der gesellschaft deutlicher die klassengegensätze beginnen abzuzeichnen. hatte die mittelklasse anfangs das gleiche unmittelbare interesse am sturz der diktatur wie die unterklassen sowie große teile der perspektivlosen jugend, so geht es jetzt eher darum, neben der abwicklung von ben alis altlasten durchaus sozialrevolutionäre inhalte in einem konflikt zwischen mittel- und unterklassen auszufechten. erstere können tatsächlich als solche gesehen werden, die primär eine "parlamentarische demokratie" westlichen zuschnitts - was real bereits sicher ein fortschritt darstellen würde im vergleich zur diktatur - anstreben, während für letztere das problem der armut weiterhin brisant bleibt und es zeit braucht, um diesbezgl. selbst eine art programm für die weitere entwicklung zu schmieden. so scheint tunesien, zusätzlich auch wg. des problems der vielen aus libyien kommenden flüchtlinge, von außen betrachtet in einem seltsamen schwebezustand zu hängen. zu all dem ein relatib aktueller - 27. februar -
bericht von drei aktivisten aus italien von einem besuch im land selbst, der mit den absätzen schliesst:

(...) "Eine Revolution ohne Anführer und ohne Waffen machen ist keine leichte Sache, das muss erfunden werden, die Tunesier und Tunesierinnen sind aber stolz darauf, dem Drama dieser Tage zum Trotz. Das Fehlen einer Mitte offenbart sich in einem vermeintlichen Chaos, das sich tatsächlich aber gerade durch die Vielfalt der Lebensformen ein weiteres Mal als kollektive Kraft und Intelligenz erweist.

Von der Platzbesetzung und dem Basispunkt der Gewerkschaft UGTT aus startet ein Aufruf an die Generaldirektion des Transportwesens, die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu gestatten, damit möglichst viele eine Chance bekommen, Tunis zu erreichen.

Seit heute haben die tunesischen Medien den Generalstreik ausgerufen, niemand hatte es gemerkt, dass sie statt dessen für Tunesien arbeiteten... Wer weiß, ob sie nicht die Freiheit erringen, von dem, was ihr Volk gerade tut zu berichten."


was auch immer noch weiter geschehen mag - die bevölkerung jenes kleinen landes "irgendwo da unten, an der peripherie" hat sich mehrheitlich für immer einen platz in den herzen all jener verdient, die sich für tatsächliche menschliche fortschritte begeistern können. hier wurde der funke entfacht, der tatsächlich zum steppenbrand wurde und das erste mal laut und vernehmlich gesagt "es reicht!". und bei dieser sachlage bin ich auch gerne pathetisch...

golfregion (bahrain, kuwait, oman...): hat irgendjemand den sog. bundespräsidenten neulich auch im tv beim emir von quatar bewundert, wie er weiter - bei gleichzeitigem "mahnen" für "demokratische reformen" - die guten wirtschaftsbeziehungen mit dem kleinstaat lobte? ich konnte bei dieser szene nur mit dem kopf schütteln angesichts einer "elitären" verfassung, die offenbar tatsächlich immer öfter auf nackte realitätsverdrängung hinausläuft - denen muss anscheinend wirklich erst alles hautnah so richtig um die ohren fliegen, bevor sie begreifen, dass das spiel aus ist.

es rumort weiter in der gesamten region - und die jeweiligen diktatoren und monarchen mobilisieren nicht nur in einem land ihre jeweilige
anhängerschar:

"Im Golfstaat Bahrain sind nach offiziellen Angaben 300.000 Anhänger des Königs Hamad bin Issa el Chalifa auf die Straße gegangen, um die sunnitische Herrscherfamilie zu unterstützen. (...)

Zur gleichen Zeit forderten tausende Regierungsgegner auf dem Platz der Perle den Rücktritt des Königs und demokratische Reformen." (...)


kuwait: weitere proteste von den ins land geholten und formal extrem rechtlosen arbeiterInnen werden vermeldet, die u.a. die staatsbürgerschaft sowie fundamentale rechte fordern und denen größtenteils repressiv begegnet wird. der infofluß ist diesbezgl. aber eher mau.


oman:

In Sohar im Sultanat Oman hat das Militär mit Panzern hunderte Demonstranten auseinandergetrieben, die den Zugang zu einer Brücke und eine Hauptstraße in Richtung der Hauptstadt Maskat blockiert hatten. Bei dem Einsatz der Militärfahrzeuge am Dienstag wurde niemand verletzt, wie ein AFP-Fotograf berichtete. Die Demonstranten waren für mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Sie forderten außerdem juristische Ermittlungen gegen in ihren Augen korrupte Minister.

Auch in anderen omanischen Städten wie Salala im Süden und in der Oasenstadt Buraimi im Norden des Landes gingen am Dienstag hunderte Menschen auf die Straße." (...)


saudi-arabien: wie ich schon früher einmal schrieb - eine der übelsten diktaturen des planeten, entscheidender öl-lieferant für den westen, nachweislich exporteur religiös-fundamentalistischen terrorismus in die ganze region - wenn und falls die ölprinzen fallen sollten, dann ist die ganze jetzige schon atemberaubende dynamik wahrscheinlich nur eine art vorspiel - die "mutter aller aufstände", wie ein entsprechendes szenario in us-amerikanischen foren gerne genannt wird, könnte von weltweiten massiven erschütterungen begleitet werden, bis hin zu denkbaren kriegerischen auseinandersetzungen in der region und dem endgültigen ausbruch einer neuen und schwereren phase der schwelenden weltweiten wirtschaftskrise, die dann angesichts der eh schon prekären situation vieler staaten tatsächlich das ganze globale system sehr sehr nahe an den finalen abgrund bringen würde. erster
stichtag: 11. märz:

"Am Mittwoch machte in saudischen Aktivisten-Kreisen das Gerücht die Runde, einer der zwei Administratoren einer Facebook-Seite von Regierungsgegnern sei von Angehörigen der Sicherheitskräfte in Riad erschossen worden. Von offizieller Seite wurde dies ebenso wenig bestätigt wie die Festnahme eines schiitischen Geistlichen im Osten von Saudi-Arabien am vergangenen Sonntag. Scheich Tawfik al-Amir, der in Ahsa predigte, soll in der Moschee dazu aufgerufen haben, Saudi-Arabien in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln.

Im sozialen Netzwerk Facebook, das von jungen Saudis stark genutzt wird, gibt es derzeit zwei Aufrufe zu Demonstrationen gegen Korruption und für eine stärkere Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen. Die Demonstrationen sollen am 11. und 20. März stattfinden." (...)


es sollte vielleicht besonders darauf hingewiesen werden, dass zumindest ein im netz bekannt gewordener aufruf von frauen initiiert worden ist, die speziell auf ihre situation in dem land focussieren - eine revolte unter einem derzeitigen vorzeichen wäre trotz der durchwegs in so ziemlich allen betroffenen ländern der region zu verzeichnenden teilnahme von frauen an den aufständen trotzdem qualitativ etwas neues.

die diktatur sieht sich, wenn ich das recht verstehe, gleich vier potenziellen konfliktpunkten gegenüber: einmal ein kulturell-religiös motivierter, nämlich den bereits stattfindenden protesten der schiitischen minderheit im osten des landes. dann wäre da zum anderen die situation der vielen jugendlichen, denen keine langfristige perspektive geboten wird. drittens die - analog den kleinen golf-monarchien - vielen als arbeitskräfte ins land geholten migranten aus anderen arabischen staaten, aber auch aus asien, die weitgehend rechtlos am untersten ende der gesellschaftlichen hierarchie stehen. und viertens die wie kaum in einem anderen land so offen patriachalische herrschaftsstruktur mit religiöser verbrämung, die potenziell große teile der weiblichen bevölkerung quer durch alle klassen hindurch zur rebellion bringen könnte.

und zu all dem kam mitte februar dann auch noch eine meldung, die seltsamerweise ohne größere resonanz blieb, deren brisanz aber gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, v.a., wenn man sich die praxis der dortigen herrschaften betrachtet, eventuelle proteste frühzeitig einfach mit geld zuzuschütten -
mittelfristig ist der ofen so oder so aus:

(...) "Die USA befürchten, dass Saudiarabien, die grösste Exportnation von Rohöl, nicht genug Reserven hat, um der Preisspirale Einhalt zu gebieten. Dies geht aus Dokumenten hervor, welche die Enthüllungsplattform Wikileaks im britischen «Guardian» veröffentlicht hat. Einmal mehr handelt es sich dabei um vertrauliche Depeschen von Diplomaten. Ein US-Diplomat, der in der saudischen Hauptstadt Riad stationiert war, appellierte in der Depesche an seine Regierung, sie solle die Warnungen eines arabischen Öl-Experten ernst nehmen.

Sadad al-Husseini, Geologe und ehemaliger Chef des staatlichen Ölkonzerns Aramco, hatte dem US-Diplomaten gegenüber gesagt, die Ölreserven im Land würden geschönt dargestellt. Gegenwärtig könne fast 40 Prozent weniger gefördert werden, als man dem Westen weismache." (...)


und das lässt sich durchaus als bestätigung eines gerüchtes lesen, welches schon seit langer zeit in diversen peak-oil-foren im netz herumläuft. die konsequenzen kann sich jeder selbst ausmalen - ich merke im moment gerade, dass dieser beitrag hier zu lang für die software zu werden droht und muss ihn splitten. fortsetzung folgt also, ich versuche das bis spätestens morgen - dann mit dem rest dieser rubrik, aber vor allem auch einigen höchst interessanten meldungen aus den usa, mittel- und südamerika sowie europa...

Montag, 21. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (5)

da es bitter nötig ist - die berichterstattung hierzulande ist unter aller sau und dazu mit dem quatsch der wahlsimulation gefüllt - ein paar anmerkungen zu den gegenwärtigen ereignissen, die wirklich interessant sind. da ich immer noch technikprobleme habe und nicht weiß, wie lange die leitung hält, wird´s eher ein kurzer überblick.

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libyien: unglaublich - es könnte bereits in dieser nacht so weit sein, dass das regime von gaddafi geschichte wird. die nachrichten aus dem land klingen böse, sind voller gerüchte und teils einfach wirr, aber ein paar dinge können zur stunde durchaus als fakt gelten (quelle ist u.a. der britische guardian):
  • die städte im osten des landes, speziell bengasi, sind weitgehend nicht mehr unter kontrolle des regimes
  • es gibt - leider ist das relativ sicher - hunderte von toten aufgrund einsatzes von schusswaffen bis hin zu maschinengewehren
  • teile der armee haben sich ebenso wie einige wichtige beduinenstämme dem aufstand angeschlossen, und es kam / kommt zu kämpfen mit schweren waffen gegen regimeloyale einheiten sowie söldnern aus afrikanischen ländern
  • die libyschen botschafter in china, indien und bei der arabischen liga haben offiziell und unter protest gegen die massaker ihre posten niedergelegt; der letztere will sich nach eigenen worten "der revolution anschließen"
  • es gibt zunehmend mehr gerüchte in den letzten stunden, dass gaddafi selbst bereits das land verlassen hat
  • einer seiner söhne hat zwischenzeitlich eine rede im staatsfernsehen gehalten, die eine mixtur aus wilden verschwörungstheorien, drohungen und versprechungen darstellt. hat durchaus chancen, als abstrusität in die geschichtsbücher einzugehen
  • die auseinandersetzungen haben inzwischen recht sicher die hauptstadt tripolis erreicht
folgen: unabsehbar. libyien hatte ich persönlich ähnlich wie syrien und auch saudi-arabien als diejenigen regime erwartet, die aufgrund ihrer brutalität, ihrer ausgebauten repressionsapparate und im falle libyiens auch aufgrund ihres (noch) vorhandenen ölreichtums als letzte fallen würden, wenn überhaupt. viele intensive beziehungen zu europäischen ländern, speziell italien, aber auch zu deutschland, österreich, großbritannien - aus diesen ländern gab´s auch viel militär- und polizeihilfe. im gegenzug bezieht europa einen recht großen anteil libyschen öls. es wird auch sehr interessant sein, heute den ölpreis zu beobachten. neben den inzwischen zur gewohnheit werdenden peinvollen windungen der politischen "eliten" in europa...

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iran: zur stunde ebenfalls weitere massenproteste und konfrontationen mit den schergen des regimes, es soll tote und verletzte geben.

marokko: hat sich heute endgültig in die reihe der nachbarn eingereiht - aus allen größeren städten wurden demonstrationen vermeldet, meist friedlich und - noch - mit focus auf geforderte reformen.

bahrein, yemen, jordanien, dschibuti... : es geht überall weiter. inzwischen wurden - ebenfalls zu meiner persönlichen nicht geringen überraschung - auch proteste und auseinandersetzungen aus kuweit gemeldet, und dort von denjenigen initiiert, die sich in der miesesten sozialen position befinden - als arbeitskräfte ins land geholte beduinen aus anderen arabischen staaten, die weitgehend rechtlos gehalten werden. die polizei setzte tränengas und gummigeschosse ein. aus dem osten saudi-arabiens wurden proteste - schweigend und ohne parolen und transparente durchgeführte märsche - der dort ansässigen schiitischen minderheit vermeldet, die durch die ereignisse in bahrein mit motiviert sein dürften. zu letzterem auch das folgende video - achtung, triggergefahr wg. gewaltszenen:



ein verbündetes regime des "freien westens", stützpunkt der fünften us-flotte...

algerien: ähnliches szenario wie vergangenes wochenende, zumindest in algier - massenhaft polizei und versuch der erstickung jeglichen protestes, wobei aber gleichzeitig versucht wurde, das etwas "unauffälliger" zu handhaben. die beteiligung war etwas größer als letzten samstag, aber insgesamt scheint die opposition dort mobilisierungsprobleme zu haben, und ich verweise nochmal auf das interview zu algerien im
vierten teil dieser reihe.

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die im letzten beitrag thematisierten
proteste im us-bundesstaat wisconsin halten nicht nur an, sondern weiten sich aus - inzwischen wird für die nächste woche in mehr als zwanzig weiteren bundesstaaten zu solidaritätsdemonstrationen mobilisiert; oft genug betrifft das staaten, denen ähnliche konflikte wie geschildert direkt ins haus stehen. am samstag wuchs die beteiligung an der täglichen demo nochmals - 60. - 70.000 leute waren rund um das capitol in madison auf den strassen, während eine gegendemo der "tea party" nur einige tausend auf die beine brachte. der konflikt spielt inzwischen usa-weit eine große (mediale) rolle, und es wird immer wieder auf ägypten bezug genommen, erst recht, seitdem vor ein paar tagen dieses photo aus ägypten bekannt wurde... lesen Sie sich auch mal die kommentare unten drunter durch - herzerwärmend.

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griechenland: ja hallo, was macht dieses land hier? kann ich Ihnen sagen - persönlich hatte ich sowieso darauf gewettet, dass die aufständische / revolutionäre welle in nordafrika und nahost, wenn sie denn über´s mittelmeer schwappen sollte, sich zuerst in staaten wie italien und eben griechenland bemerkbar machen würde. nun ist für die kommende woche in griechenland der erste große
generalstreik dieses jahres geplant:

(...) "Während die Zahl der Arbeitslosen täglich wächst, die Besatzungsmacht aus Troika und der Junta des amerikanischen Präsidenten Papandreou einen brutalen Privatisierungskurs fährt, um die griechische Arbeitskraft auf chinesisches Niveau der Ausbeutung zu zwingen und aus dem Land ein totales Disneyland für Kreuzfahrt- und andere asozial reiche Touristen zu machen, wird erwartet, daß die seit Monaten anhaltenden Streiks und Kämpfe zur Manifestation zusammenkommen und es erneut Rekordzahlen an Teilnehmer_innen gibt.

Jetzt tauchen Diskussionen auf, wie die Massen sich besser sichtbar verteilen können, damit Presse und Staat schwieriger die Teilnehmerzahlen runterlügen können.

Außerdem gibt es die Idee anschliessend einfach auf dem zentralen Syntagmaplatz zu bleiben. Damit würde die "arabische" Revolution zurück über das Mittelmeer schwappen... " (...)


ein durchaus polemischer text, der aber die realität des landes unter den "spar"diktaten von iwf und eu nichtsdestotrotz erfasst. der interessante absatz ist der letztere; und
direkt aus athen stammt folgender, ins englische übersetzte diskussionsbeitrag - schluß:

(...) "Such a gathering can become the beginning of the fall of the regime, the fall of the Junta of Government-IMF-EU. If they fall, everything becomes possible – not in order for another government one to come… But precisely because it won’t be easy for another one to come and to have consensus to apply the same policies against the People.

The supranational elites and the local bosses won’t have any easy solutions to replace this government. The people will say “Everyone must go”, just like in Argentina. The ability of the people from below to overturn the order-receiving government of PASOK will be a victory of the global movement, it will be equivalent to the revolts in Tunisia, in Egypt and other Arab countries.
Let’s turn Syntagma into our own Tahrir Square." (...)


ich bin sehr gespannt, ob die griechische opposition das hinbekommt - ich drücke jedenfalls schon mal alle daumen.

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china: es sollte auf jeden fall erwähnt werden, dass es gestern in ca. sechzehn chinesischen großstädten zu demonstrationsversuchen "gegen korruption, armut, schlechte wohnungen und zuwenig nahrung" gekommen ist, zu denen explizit unter bezug auf die tunesische revolution mobilisiert wurde. es gab wohl eine ganze menge verhaftungen, aber bislang liegt nicht viel nachrichtenmaterial vor. oder ich hab´s noch nicht gesehen.


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2011 - das jahr, das keine gnade kennt- so hatte ich nicht nur einen älteren beitrag betitelt, sondern das war auch die überschrift für das vorletzte geab. inzwischen gibt es eine neue ausgabe, und ich habe in diesem bulletin selten derart viel impliziten hohn und spott für die "eliten" und ihre "experten" zwischen den zeilen gelesen. aber vielleicht haben die autoren auch allen grund dazu? auszug aus einer "geab"-ausgabe im juni 2008 (!):

(...) "Nach unserer Auffassung trägt die umfassende weltweite Krise bereits im jetzigen Stadium dazu bei, die pro-westlichen Regierungen in den arabischen Staaten zu schwächen : Hungeraufstände, religiöser Fanatismus (der von dem erstarkenden Iran, Syrien, der Hisbollah und Hamas geschürt wird), westliche Verbündete (Washington und die europäischen Staaten), die sich auf eine Politik beschränken, die sich ausschließlich an ihren Sicherheitsinteressen ausrichtet... In Ägypten geht die Herrschaft Mubaraks allmählich zu Ende, das Land befindet sich innenpolitisch in einer Sackgasse, und die Unfähigkeit der Regierung, den Menschen bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, radikalisiert immer größere Teile der Bevölkerung. Nach unserer Auffassung wird das pro-westliche Regime Ägyptens unter den Schockwellen der Aufprallphase der umfassenden weltweiten Krise politisch zusammen brechen. Dessen Repressionsapparat wird es nicht vermögen, die sozialen Spannungen unter Kontrolle zu halten.

Dabei ist dieses Land die letzte Verteidigungslinie des Westens vor einem Maghreb, der ansonsten ungeschützt der Einflussnahme anti-amerikanischer Kräfte ausgesetzt ist, die im Mittleren Osten inzwischen dominieren. Wenn in Ägypten, wovon wir überzeugt sind, bis Anfang 2009 die politischen Verhältnisse instabil werden, werden auch sehr schnell Tunesien, Algerien und Marokko in den Strudel gerissen werden. Auf jeden Fall werden auch in diesen Staaten die sozialen Unruhen zunehmen, und zwar gerade zu einem Zeitpunkt, in dem ihr großer europäischer Partner selbst mit einer Wirtschaftsabschwächung zu kämpfen haben wird." (...)


na? war als prognose nicht sooo schlecht, würde ich mal sagen - lediglich das zeitliche eintreffen hat sich, wie wir jetzt ganz frisch wissen, anders gestaltet. und das wort "antiamerikanisch" würde ich in dieser form auch nicht verwenden wollen - die regimes, die jetzt in gefahr oder aber schon gefallen sind, lassen sich berechtigt als marionetten der usa und/oder der eu betrachten. das es jetzt für die westlichen "eliten" insgesamt unbequemer werden könnte, würde ich nicht als "antiamerikanisch" bezeichnen.

Montag, 14. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (4)

zumindest einen kurzen überblick soll´s heute geben, die nächsten tage werde ich kaum gelegenheit haben, etwas längeres zu schreiben.

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ägypten: sieht insgesamt etwas verworren und eher ungut aus - versprechungen gerade der führenden offiziere, die bereits unter mubarak jahre- und jahrzehntelang "gedient" haben, ist eben eher nicht zu trauen. aktuell wird das land von einer
streikwelle geflutet:

(...) "Am Montag protestierten Dutzende von Unteroffizieren der Polizei im Kairoer Stadtteil Giseh. Etwa 1000 Polizisten versammelten sich vor dem Innenministerium. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter. Ähnliche Forderungen stellten die Sicherheitskräfte auf dem Flughafen der Stadt Luxor. Arbeiter des Bauamtes von Kairo blockierten einen Tunnel in der Hauptstadt, um auf ihre schlechten Arbeitsbedingungen hinzuweisen. Auf der Sinai-Halbinsel kam es zu Protesten von Arbeitern und Angestellten der Behörden für Wohnungsbau, Straßenbau und Häfen.

In Kairo protestierten zudem Mitarbeiter der Telekommunikationsbehörde, der staatlichen Banken und einiger Medienbetriebe. Ihnen ging es nach eigenen Angaben auch darum, dass etwas gegen die Korruption in ihren Behörden unternommen wird." (...)


vermutlich dürften auch die bereits in den letzten wochen begonnenen streiks in vielen privaten sektoren an vielen orten andauern, darüber kann ich gerade nichts herausfinden. das militär reagiert, wie militär in so einer situation eben reagiert: forderungen nach "ruhe, ordnung, normalität, sicherheit" bei gleichzeitigen versprechungen, zukünftig alle "legitimen" ansprüche der bevölkerung umzusetzen. insgesamt ist dem militär ja durchaus das verhalten während des sturzes von mubarak positiv anzurechnen, selbst wenn ich glaube, dass das keinesfalls durchgängig freiwillig geschah. aber der immense - v.a. materielle - westliche einfluß in dieser armee dürfte auch potenziell alles stärken, was primär auf simulierte veränderungen alá "westliche parlamentarische demokratie" in einer noch autoritäreren form als hier aus ist. aber wie im letzten beitrag schon geschrieben, könnte da die rechnung ohne die aktiven vom tahrir-platz gemacht worden sein. es wird am freitag so oder so spannend werden, und weitere streiks könnten durchaus die situation derart verschärfen, dass sich die armee am ende dann doch definitv entscheiden muss, ob sie eine tatsächliche revolution - auch mit dem attribut "sozial" davor - mittragen will. und spätestens dann wird´s auf die einfachen mannschaften drauf ankommen.

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tunesien: zunächst zwei artikel, die sich mit tieferen hintergründen beschäftigen; der
eine noch von ende januar, dann eine direkte antwort darauf. es geht u.a. um den versuch, etwas klarer bei der frage zu sehen, welche gesellschaftlichen klassen die revolution - und ich finde, es spricht anders als z.zt. noch in ägypten, einiges dafür, diesen begriff hier zu verwenden - eigentlich tragen und welche interessen sie gemeinsam haben und welche nicht.

ich hatte ja in einer der vorherigen folgen der reihe schon davon geschrieben, dass die aufstände unabsehbare konsquenzen auf vielen ebenen mit sich bringen werden. angesichts der nun - wie üblich
abwehrend und schreckhaft - registrierten tatsache, dass die eu-südgrenze durch den sturz der dikatoren zwangsläufig wieder durchlässiger werden wird - u.a. auch zu diesem zweck der aus europäischer sicht bequemen niederhaltung von politischen und armutsflüchtlingen aus ganz afrika dienten (und dienen) die westfinanzierten diktatorischen marionetten, sie wurden und werden für die drecksarbeit gebraucht - , angesichts dieser tatsache also erhebt also nun als erstes betroffenes land italien zusammen mit sorgenvollen eu-bürokraten der sog. inneren sicherheit die ringenden hände. auch da sind die herrschaften kalt erwischt worden, und es durchaus eine der wünschenswerten folgen der revolution(-en), dass diese südgrenze so löchrig wie schweizer käse werden möge. auf die dauer können sich die europäischen kernländer (und damit sind auch große teile ihrer bevölkerungen gemeint!) nicht mit dem größtenteils bis heute zusammengeplünderten materiellem wohlstand innerhalb einer quasi globalen "gated community" verschanzen. fällig wären endlich mal öffentliche diskussionen auch über diese tatsache. und jetzt wäre abermals eine gelegenheit dafür (was aber eine auch emotionale rationalität voraussetzen würde - daran leiden wir hier bekanntlich einigen mangel).

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iran: die meldungen von heute sind bis zur stunde widersprüchlich, aber es dürfte tatsächlich im großen und ganzen
so ausgesehen haben:

(...) "Die Demonstrationen fanden auf dem Platz der Revolution, dem Imam-Hossein-Platz und angrenzenden Hauptstrassen statt. Die Polizei ging teils auf Motorrädern gegen die Demonstranten vor. Die Demonstranten ihrerseits zündeten Mülleimer an.

Wie die der Reformbewegung nahestehende Website kaleme.com berichtete, kam es auch in der zentraliranischen Stadt Isfahan und Schiras im Süden des Landes zu ähnlichen Kundgebungen. Die halbamtliche Nachrichtenagentur Fars, die den paramilitärischen Revolutionsgarden nahe steht, meldete, es sei zu Festnahmen gekommen." (...)


die zahlen der teilnehmerInnen schwanken zwischen "einigen hunderten" bis "zehntausende". diese differenzen innerhalb diversester westlicher internationaler medien finde ich auffallend, und ich kann mir das z.zt. auch nur spekulativ erklären. wenn ich mir die mir bekannten berichte bisher gesammelt anschaue, dann dürfte die beteiligung tatsächlich eher in den zehntausenden gelegen haben (in verschiedenen städten zusammen), was ich bereits für die iranische opposition als klaren achtungserfolg verstehen würde. die bedingungen im iran unterscheiden sich auf vielen ebenen dann doch erheblich bspw. von tunesien und ägypten, auch wenn die potenzielle brutalität der jeweiligen regimes und das vorhandensein einer riesigen zahl von relativ jungen menschen durchaus parallelen darstellen.

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yemen und bahrein: über beide länder weiß ich letztlich viel zu wenig, um das geschehen dort wirklich beurteilen zu können. im yemen gab es heute den vierten tag in folge demonstrationen und zusammenstöße, analog den gestrigen ereignissen. und es dürfte auch so sein, dass die westlichen darstellungen des yemen als "failed state" mit vorsicht zu genießen sind. die forderungen auf den demonstrationen jedenfalls kommen mir erstaunlich zeitgemäß vor und sprechen eher gegen die allseits proklamierte "besondere rückständigkeit" der dortigen bevölkerung. mögen auch clanwesen und islamistische fundamentalisten im land ein tatsächliches problem sein, so dürfte doch nicht die gesamte bevölkerung darunter zu addieren sein.

bahrein - das war für mich eine echte überraschung, weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass die emirate am golf - geringe bevölkerung und relativ großer (öl)reichtum bei westlichem "schutz" der herrscherschichten und in relation recht großen repressionsapparaten - ernsthaft in probleme geraten könnten, zumal mir hier auch noch dazu saudi-arabien eine art besondere wächterrolle zu spielen scheint. und heute nun
das:

"Im Golfstaat Bahrain ist es zu schweren Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Mindestens ein Demonstrant wurde getötet, über 20 wurden verletzt.

Nach den Unruhen in mehreren arabischen Ländern hatten Oppositionelle in Bahrain über das Internet zu einem «Tag des Zorns» aufgerufen, worauf es in mehreren Orten Proteste gegen die Staatsführung gab. (...)

Das arabische Königreich wird von einer sunnitischen Herrscherfamilie regiert, obwohl schiitische Muslime die Bevölkerungsmehrheit stellen. Mehrere politische Gruppierungen der Schiiten unterstützten den Protestaufruf, den Unbekannte im Internet verbreitet hatten."


falls es leute gibt, die dazu mehr sagen können - nur zu. mir kommt das beim ersten eindruck heikel vor, gerade wg. des erwähnten religiösen hintergrundes und der existenz des schiitischen irans am anderen golfufer, und ich könnte mir gut vorstellen, dass gerade in saudi-arabien heute ein paar leute noch schlechter schlafen werden als sie´s zur zeit eh schon tun. es wäre auch interessant zu wissen, inwieweit was für sozioökonomische verhältnisse hier eine rolle spielen.

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algerien: es gibt ein meiner meinung nach sehr lesenswertes
interview der "taz" mit dem algerischen schriftsteller boualem sansal. ich möchte den gesamten test empfehlen, weil er anfangs auf die verfassung gerade der jugendlichen im gesamten nordafrikanischen / arabischen raum focussiert, aber gerade die passagen zur situation im algerien sind sehr aufschlussreich:

(...) "Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Januar. Doch die Opposition hat die Rebellion verschlafen. Erst jetzt, am 12. Februar, mehr als einen Monat später, organisiert ein breites Bündnis Demonstrationen für einen demokratischen Wandel.

Die Bewegung, die jetzt zu Demonstrationen aufruft, ist keine spontane Angelegenheit, wie dies in Tunesien der Fall war. Die Frage ist, ob das Bündnis auch die Jugend mobilisieren kann.

Dabei ist die Opposition in Algerien wesentlich mehr strukturiert, als dies in Tunesien der Fall war.

In Algerien gibt es tatsächlich mehr sichtbare Strukturen aus Parteien und Verbänden. Doch die Jugendlichen haben Angst davor, dass sie politisch manipuliert werden. Die Parteien in Algerien sind keine echten Parteien. Sie stehen im Ruf, mit der Aristokratie des Systems im Kontakt zu stehen. Aber es gibt auch unsichtbare Strukturen. In jeder Straße hängen die Jugendlichen herum, sie stützen die Wände, wie man bei uns sagt. Sie diskutieren, sie tauschen sich aus, sie bilden informelle Strukturen. Die gesamte algerische Jugend ist auf diese Art und Weise vernetzt. Sie reden über Rebellion, über das, was sie anderswo sehen.

Aber diese Strukturen der algerischen Jugend haben bisher nur spontane, lokal oder regional begrenzte Aufstände hervorgebracht und keinen Flächenbrand, wie in Tunesien. Warum ist das so?

Algerien ist sehr groß, vor allem ist es kein wirklich einheitliches Land. Die Berberregion Kabylei ist ein Land im Land. Das Gleiche gilt für die Region rund um Algier, für Oran, den Süden, den Osten …Wenn etwas in Oran passiert, interessiert das die Menschen in Algier kaum und umgekehrt. Das Nationalgefühl der Algerier ist nicht so ausgeprägt wie in Tunesien. Hinzu kommt die linguistische Aufspaltung Algeriens: Wir definieren uns als arabophon, frankophon oder sprechen die Berbersprache …

Es ist aber auch der Fehler der Opposition. Ihr ist es nicht gelungen, diese regionalen Unterschiede zu überwinden, das Land als solches zu mobilisieren.

Sicher, die Opposition ist ein Ausdruck dieser zersplitterten Realität. Es ist sehr schwierig, eine nationale Oppositionspartei ins Leben zu rufen.

Bis auf die Islamisten. Die waren in den 1990er-Jahren eine wirkliche nationale Kraft.

Die Islamisten sind keine Ausnahme. Am Anfang war es eine romantische Bewegung, die an das goldene Zeitalter des Islam glaubte. Doch sie haben ganz schnell gelernt, wie die anderen Parteien zu funktionieren. Auch sie zerfielen intern in Strömungen, Regionen, Interessengruppen. Heute haben wir zwei islamistische Parteien: Ennahda, die sich im Osten rekrutiert, und MSP-Hamas, deren Führer alle aus Blida, unweit von Algier, stammen.

Die Machthaber in Algerien scheinen gelernt zu haben, mit den immer wieder aufflammenden, spontanen und isolierten Aufständen zu leben.

Die ehemalige Einheitspartei FLN, die das Land in die Unabhängigkeit geführt hat und bis heute regiert, kennt das Land sehr gut. Sie kennen die regionalen Unterschiede sehr genau, mit diesem Wissen halten sie sich an der Macht. Hinzu kommt, dass die eigentliche Macht in Algerien seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich unsichtbar geblieben ist. Die FLN funktionierte im Untergrund ohne große, bekannte Führer. Das ist bis heute so geblieben. In Algerien trifft eine Gruppe der Mächtigen im Hintergrund die Entscheidungen. In einem modernen Staat ist es eigentlich unerlässlich, dass die Menschen die Entscheidungsträger kennen, dass diese sichtbar sind. Der moderne algerische Staat ist nur eine Fassade. Dahinter steckt noch immer dieses Kollektiv, die klandestine Gruppe." (...)


es lässt sich etwas von der vielschichtigen komplexität dieses landes erahnen, die tatsächlich für breitflächige aufstandsbewegungen erstmal ungünstig zu sein scheint. momentan könnten sich allerdings durch die schiere eigendynamik, die nach dem sturz mubaraks und dem damit initiierten beispiel erzeugt worden ist, selbst auf ungünstigen terrains überraschende entwicklungen ergeben. mal sehen, wie es am nächsten wochenende aussehen wird. und es dürfte auch eine rolle spielen, wie sich die eu und vor allem frankreich als ehemalige kolonialmacht in diesem fall verhalten.

*

marokko: ein weiterer neuer name auf der karte der aufstände und revolten, zu dem ich ebenfalls recht wenig sagen kann. ich verweise auf den folgenden
telepolis-artikel, der sich anfangs nochmal mit der lage in algerien beschäftigt, um dann so zu enden:

(...) "Für Sonntag, den 20 Februar, werden auch Proteste im Nachbarland Marokko angekündigt. Hinter der sogenannten #Feb20-Kampagne steht laut "The Arabist" die Mittelinkspartei PSU und "zivilgesellschaftliche" Gruppen:

Schon hat eine Gegen-Kampagne gegen diese Bewegung in Marokko begonnen, die Organisatoren werden als "Islamo-Linke" und "Nihilisten" und anderen derartigen Schlagworten bezeichnet, die vom lächerlichen Kommunikations-Ministerium favorisiert werden. Währenddessen haben es die Marokkaner zuhause und im Ausland satt, solchen Unsinn und leere Versprechungen zu hören [...]. Der König hat nichts dazu getan, den Marokkanern zu einem würdevollen Verhältnis zum Staat im 21. Jahrhundert zu verhelfen. Die marokkanische Regierung hatte in den vergangenen 10 Jahren Chancen, wirksame Reformen anzugehen, tat dies aber nicht. Die Einschüchterung der Bevölkerung geht weiter und die Folter erlebte ein Comeback. Es ist Zeit, dass die Regierung einen Stoß in die richtige Richtung erhält."


hier der
originalartikel im mir bisher unbekannten blog "the arabist". vielleicht sollte auch noch einmal mehr darauf hingewiesen werden, dass laut "expertenmeinungen" marokko ebenso wie die emirate am golf "niemals" vor ernsthaften problemen aufgrund sozialer unruhen stehen werden. so, wie das auch noch vor vier wochen in bezug auf ägypten gesagt wurde... (was natürlich nicht bedeutet, dass eine solche entwicklung zwangsläufig ist. aber es ist doch schon eindeutig, dass äygpten jetzt anscheinend in der ganzen region tatsächlich wie ein fanal wirkt.)

es gibt bei marokko übrigens auch etwas, was ich bezgl. seiner möglichen fernwirkungen überhaupt nicht einschätzen kann - den fast vergessenen und nur "halb befriedeten"
westsaharakonflikt. wie würde sich ein möglicher umsturz in marokko darauf auswirken? wie wären die folgen im gesamten nördlichen westafrika? fragen über fragen.

wer mir übrigens gerade einen zu kühlen blick auf all die ereignisse unterstellen sollte, die ohne zweifel auch überall mit großem menschlichen leid verbunden sind - den habe ich hier, wie auch bei sonstigen themen im blog, ganz bewusst. das thema gewalt und trauma will ich in einer der nächsten folgen gerade anhand der aktuellen ereignisse ausführlich und gesondert bearbeiten.

*

italien: gehört sicher nicht umstandslos in die vorherige reihe, allerdings für mich durchaus in der hinsicht, dass italien eines der ersten länder sein könnte, in denen außerhalb der aktuellen unruheregion die aufstände ihre funken schlagen können. ausführlich war dazu ja schon was gestern zu lesen, deshalb heute nur noch einige ergänzungen.

das die gestrigen massendemonstrationen durchaus nicht primär unter dem motto "moral und anstand", wie es medial öfter vermittelt wurde, standen und auch die teilnehmerInnen verschiedenste gründe hatten, zu protestieren, wird vielleicht
hier etwas deutlicher:

(...) "Ich bin nicht hier, um Porno-Feste zu kritisieren", sagt eine ehemalige Parteigenossin Berlusconis, "ich kritisiere die politische Klasse, die solche Feste zum herrschenden System macht. Wir wollen Protagonistinnen sein, nicht Lachobjekte in Männerwitzen, die der Premier in seinen Villen erzählt." Die Chefin des größten Gewerkschaftsbunds sagt: "Wir sind Statistinnen in einer endlosen Seifenoper." Eine Nonne, die in Turin mit afrikanischen Prostituierten arbeitet, sagt, Frauen seien zur Ware geworden, man benutze sie und werfe sie dann weg.

Sie verlesen jetzt Zahlen, die Italien in Sachen Gleichberechtigung als Entwicklungsland dastehen lassen: 90 Prozent der Italienerinnen haben einen Uni-Abschluss, aber nicht mal die Hälfte hat einen Job. "Wir arbeiten härter als die Männer, werden schlechter bezahlt und besetzen die wenigsten politischen Posten in Europa." Sie klagen über Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, dass man ihnen kündigt, wenn sie schwanger sind. "Eine von Angela Merkels ersten Amtshandlungen: Mehr Kindergartenplätze", sagt eine Aktivistin. "Und was macht Berlusconi? Er rät unseren Töchtern, sich möglichst früh einen reichen Mann zu angeln! In was für einem Land leben wir eigentlich?" (...)


nun ja, es ließe sich auch fragen, was das eigentlich für ein europa ist, in dem jemand wie merkel auch nur irgendwo für irgendwas als vorbild durchgeht...

aber durchaus positiv scheint die tatsache zu sein, dass gestern das erste mal sichtbar viele ältere frauen aus der mittelschicht beteiligt waren - das ist eine von berlusconis bisherigen stammwählerschichten gewesen. gut möglich, dass er den bogen inzwischen wirklich überspannt hat.

aus der huffington post eine art
erlebnisbericht aus florenz:

“I participat­ed in the protest in Florence yesterday, just one of the more than 200 cities where protests were held, and I want you all to know that it was HUGE!!! If any of you know Piazza della Repubblica in Florence, it was OVERFLOWIN­G into the surroundin­g streets. No one had anticipate­d so many people, and so the police had not blocked off the car traffic, and cars were stuck among the protesters­.

It was fantastic. Organized and motivated by women, but all kinds of people participat­ed. Many had never been to a protest before, but felt so strongly about Berlusconi that they came out into the piazza this time.

This is just the beginning - the Italian people will continute to protest against Berlusconi and his media-mogu­l system. Stay tuned!”


kurze sinngemäße übersetzung: der zentrale platz von florenz plus einmündende straßen waren völlig überfüllt, niemand hatte eine solche beteiligung erwartet. ebenso war es keine reine frauendemo, sondern ebenso waren männer und kinder vertreten. am ende geht es um eine vorhersage, die mir heute auch schon öfter unter die augen gekommen ist, die ich aber bisher nicht verifizieren kann: die proteste sollen ab jetzt regelmässig weitergehen - bis berlusconi weg ist. falls das stimmen sollte, wird es wirklich interessant.

Sonntag, 13. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (3)

es passiert derzeit so viel gleichzeitig, dass ich eine chronologie der ereignisse nur fragmentarisch erstellen kann - und dann bleiben auch immer fragen wie solche offen, welche prioritäten wo warum verteilt werden sollten. heute soll´s begründet um ein land gehen, welches "uns" in vielerlei hinsicht näher ist als die grummelnden regionen jenseits des mittelmeeres. allerdings hatte ich mir im stillen schon vor ein paar tagen die frage gestellt, wie die ereignisse in tunesien und ägypten bspw. in ländern wie griechenland und italien wahrgenommen und was für konsequenzen u.u. daraus gezogen werden. für griechenland wäre eine eigenständige analyse fällig, da ist meines wissens seit den großen massendemonstrationen und -streiks des letzten jahres einiges üble am laufen, was die aufrüstung und das agieren des repressionsapparates betrifft.

italien hingegen ist in anderer hinsicht ein sonderfall - das unglaubliche treiben von und unter dem regime des berlusconi war hier in der vergangenheit in verschiedenen aspekten schon öfter thema, seien es die pläne für (faschistisch unterwanderte) sog.
bürgerwehren, die unglaublichen (und mittlerweile in der medialen versenkung verschwundenen) geschichten um die im mittelmeer gemeinsam von staat & mafia "entsorgten giftmüllschiffe, oder auch sein narzißtischer größenwahn in kombination mit präfaschistischer logik - berlusconi ist in diverser hinsicht ein symbol für den offenen verfall der eh schon immer größtenteils simulierten "moral & ethik" des sog. westens geworden; sein lächerlicher chauvinismus stellt in diverser hinsicht die andere seite der medaille der diversen kriminellen vergehen besonders (aber nicht nur) der ebenfalls in jeglicher hinsicht bankrotten katholischen kirche dar. und das lange tolerierende schweigen oder gar unterstützende verhalten großer teile der dortigen bevölkerung findet seine gegenparts in (zu) vielen anderen europäischen ländern.

nun ist als erstes und nicht zufällig besonders den frauen der italienischen mittelschicht der kragen geplatzt, und es ist eine interessante frage, warum von all den antisozialen aktionen berlusconis und seiner gang gerade der offene sexismus und die praktizierte und ständig auf allen möglichen ebenen demonstrierte frauenverachtung an diesem wochenende die seit längerer zeit wirklich ersten großen landesweiten
massenproteste gegen berlusconi provoziert haben:

(...) "Nachdem seit Monaten die Sexaffären um Regierungschef Silvio Berlusconi das politische Leben und die Medien dominieren, sind die italienischen Frauen am Sonntag auf die Straße gegangen, um gegen den Premierminister und das der Politik und dem Fernsehen vermittelte Frauenbild zu demonstrieren. "Ora basta!" (Jetzt reicht's!) skandierten die Demonstrantinnen, die von Mailand bis Palermo auf die Straße gingen, um mehr Respekt für die Frauen zu verlangen. (...)

Dass Premier Berlusconi in seiner Privatresidenz wie ein alter Sultan ausschweifende Partys mit minderjährigen Callgirls organisierte, wie die Mailänder Staatsanwaltschaft behauptet, hat bei vielen Italienerinnen das Fass zum Überlaufen gebracht. Normale Bürgerinnen, Künstlerinnen, Politikerinnen und Schriftstellerinnen riefen im Internet dazu auf, ein Zeichen zu setzen und organisierten die landesweite Protestaktion. Mehr als 100.000 Mädchen und Frauen unterzeichneten ein Manifest gegen das frauenverachtende Bild in den Medien und in der Politik. Tausende Frauen schlossen sich spontan der landesweiten Mobilisierungsaktion an. "Italien ist kein Bordell" und "Wenn nicht jetzt, wann dann?" lauten Slogans der Frauenorganisationen. Zur Teilnahme an der Demonstration wurden auch Männer aufgerufen, die "Freunde der Frauen" sind.

Bei der Protestkundgebung in Rom, an der sich Frauen aus allen politischen Lagern beteiligten, war auch die Chefin des stärksten italienischen Gewerkschaftsverbands CGIL, Susanna Camusso, anwesend. "Wir protestieren gegen eine Führungselite, die alle Regeln missachtet. Die italienischen Frauen fühlen sich von diesem Premierminister beleidigt und degradiert", betonten die Initiatorinnen der parteiübergreifenden Protestkundgebungen." (...)


am sonntag wurden italienweit in 200 - 300 städten demonstrationen und protestaktionen gemeldet, alleine in rom sollen es bis zu 100.000 menschen gewesen sein. aber bereits gestern am samstag wurden von weiteren gegnern berlusconis
aktionen durchgeführt:

"Gegner von Ministerpräsident Silvio Berlusconi haben am Samstag in Rom, Mailand und weiteren 40 Städten Protestkundgebungen gegen den umstrittenen Regierungschef organisiert. Die Anti-Berlusconi-Aktivisten versammelten sich vor Justizpalästen und vor symbolischen Orte der italienischen Demokratie, um gegen Berlusconi und seine wiederholten Angriffe gegen Staatsanwälte und Richter zu protestieren. Einige hunderte Menschen demonstrierten in Mailand vor dem Justizpalast und forderten dabei den Rücktritt des Medienzaren.

Auch in Rom demonstrierten einige tausende Menschen gegen den Premierminister. Mit Spruchbändern wie "Entlassen wir ihn!" versammelten sich die Demonstranten auf dem Platz Santi Apostoli im Herzen der Ewigen Stadt. "Wir protestieren gegen diese Regierung, die sich mit Stimmenkauf über Wasser hält. Wir protestieren für die Würde der Frauen, die von Berlusconi zur Ware degradiert worden sind", betonten die Demonstranten." (...)


zu der erneuten massenmobilisierung besonders unter frauen, und dort klassen- und generationenübergreifend, hat augenscheinlich ein film beigetragen, der in italien bereits von millionen menschen gesehen worden ist: "der körper der frauen" -
il corpo delle donne- ist ein film, der eine unverblümt sexistische gesellschaft dokumentiert:

(...) "Im öffentlichen Raum dominieren die Starlets, die vulgären Edelnutten, die lasziv bekleideten jungen Damen, mit aufgespritzten Barbie-Lippen und prallen Silikon-Brüsten. Keine Fernsehshow kommt ohne sie aus, auch nicht im staatlichen RAI, selbst die Nachrichten werden von Journalistinnen präsentiert, die dem Schönheitsideal aus der Retorte nacheifern. Junge Mädchen wie die Ausreißerin „Ruby“ Karima el-Mahroug, Tochter marokkanischer Einwanderer auf Sizilien, träumen von Karrieren als Callgirls, die vielleicht sogar mit einem politischen Amt enden. Und nicht wenige werden dabei auch noch angefeuert von Eltern, die ein Leben als moderne Kurtisane für das größte Glück einer Tochter halten.

Geradezu prototypisch vorgemacht hat einen solchen Aufstieg Mara Carfagna, „die schönste Ministerin der Welt“, wie die europäische Boulevard-Presse jubilierte, als Berlusconi das Ex-Model ins Kabinett berief – als Frauenministerin. Andere sollten folgen, Nicole Minetti beispielsweise, die „Dentalhygienikerin“, der er zu einem Sitz im Regionalparlament der Lombardei verhalf. Einst trat sie als Haremsdame im goldenen Bikini auf, heute steht sie im Zentrum der Ermittlungen gegen ihn, soll dafür gesorgt haben, dass bei seinen Partys immer genug junges Fleisch zur Verfügung steht. Weder den Einschaltquoten noch den Auflagen der Zeitungen haben die Skandale geschadet, im Gegenteil. Die Fernsehsender reißen sich um die jungen Damen, die zum Harem gehören, und jeden Abend, zur besten Sendezeit, flimmern weiter Bilder, die an Pornografie grenzen, in die Wohnzimmer.

Monatelang hat Lorella Zanardo solche Shows aufgezeichnet und dann einen Film daraus zusammengeschnitten. „Der Körper der Frauen“ ist verstörend, schockierend, provozierend und wurde dennoch ein Kinoerfolg. Auch Zanardo engagiert sich heute in der Frauenbewegung. Die Werbefachfrau aus Mailand kennt die Welt des schönen Scheins, ist Schauspielerin, Tänzerin und hat lange im Ausland gelebt. Vielleicht bedurfte es dieses fremden Blicks. „Warum wehren wir uns nicht?“, fragt die 53-Jährige, die ihren Film auch Schulklassen zeigt. Am vergangenen Wochenende lief er in Auszügen auf einer Veranstaltung in Mailand, an der prominente Intellektuelle und Schriftsteller wie Umberto Eco und Roberto Saviano teilnahmen. In der Sporthalle mit zehntausend Menschen herrschte danach Totenstille."




eine der ersten deutsch untertitelten versionen auf yt, die ich gefunden habe - der begleitende kommentar der regisseurin ist in der form leider anfangs schwierig verständlich, die bilder allerdings sprechen absolut für sich selbst. der kapitalismus in seiner globalen verfallsphase bringt offensichtlich auch sämtliche assoziierten herrschafts- und gewaltverhältnisse nochmals zu bösartigen blüten. schon das hiesige tv schreibt diesbezüglich bekanntlich ja keine ruhmesblätter; was da in italien allerdings über die schirme flimmert, macht teilweise tatsächlich einfach nur sprachlos.

würde mich sehr interessieren, ob es vielleicht auch zu bündnissen bspw. mit den schülerInnen und studentInnen kommen kann, die vor einigen monaten ebenfalls zu zehntausenden die strassen bevölkerten. "basta berlusconi!" ist jedenfalls hoffentlich die parole der kommenden wochen in italien, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die bilder vom anderen ufer des mittelmeeres dabei einen nicht zu unterschätzenden einfluß haben werden.

*

nur in kürze aus diversen news gefischt : die demontrationsversuche in algerien gestern wurden in algier und anderen städten von polizei und geheimdienst regelrecht erstickt. etliche verletzte, mindestens 300 verhaftungen alleine in algier. für das nächste wochenende sind neue demonstrationen angesagt + in tunesien kommt es weiter zu konfrontationen mit anhängern des alten regimes, die in den ganzen vergangenen wochen u.a. mittels anschlägen versuchen, die lage zu destabilisieren + das quasimilitärregime in ägypten braucht scharfe beobachtung von außen; im land selbst wird für weitere massendemonstrationen an den nächsten freitagen mobilisiert - solange, bis die elementaren forderungen - der abgang des diktators war nur die erste und dringlichste - erfüllt sind + aus dem yemen werden am dritten tag in folge demonstrationen und auseinandersetzungen zwischen regimegegnern und repressionsapparat sowie herangekarrten anhängern des regimes gemeldet + im iran sind für morgen geplante und öffentlich bei den dortigen behörden angemeldete solidaritätsdemonstrationen aus den reihen der opposition für die aufstände in tunesien und ägypten verboten worden. es empfiehlt sich sehr, morgen auch den iran im auge zu behalten. weiteres und mehr in den nächsten tagen.

Freitag, 11. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (2)

congratulations and best wishes to the people in egypt! was für ein unglaublicher, bangig-spannender und am ende freudiger tag war das heute! und aller wahrscheinlichkeit nach wirklich einer, der das strapazierte attribut "historisch" verdient. ja, klar: das war allerhöchstens eine erste etappe, wenn politische freiheiten und ökonomische strukturveränderungen zusammengedacht werden; von nötigen psychosozialen veränderungen gar nicht zu reden. auch ist das regime keineswegs geschichte, nur weil der böse oberclown am ende doch hingeschmissen hat - seine basis mag sich in diesen stunden verkrochen haben, aber sie ist nicht aus der welt und wird zumindest teilweise auf boshafte rache aus sein. und klar, der status hat sich momentan vom autoritären polizeistaat in richtung eines - durchaus ungewöhnlichen und wie ich vermute, von bestimmten involvierten fraktionen der armee auch eigentlich nicht gewünschten - militärputsches gewandelt. so jedenfalls meine persönliche einschätzung. es gibt höchstens - allerdings würde ich da eher die das-glas-ist-halb-voll-wahrnehmung bevorzugen - erste schritte zu etwas, was den namen revolution rechtfertigen würde. aber das innerhalb von knapp drei wochen hinzukriegen - touché! (und nein, ich vergessse dabei nicht die jahrelange vorgeschichte sozialer unruhe(n) im land).

und das nörgeln und mäkeln sollte zumindest am heutigen abend erst mal weggepackt werden. trotz aller bedenken über die weitere entwicklung bleiben ein paar sehr wichtige dinge festzuhalten:

1. der lange widerstand des diktators dürfte nicht alleine auf seinem eigenen pathologischen mist gewachsen sein. mubarak war durchaus in verschiedener hinsicht eine symbolfigur, gerade in den vergangenen wochen. nicht nur die versammelte bagage des sog. "freien westens" incl. israels, sondern auch befreundete und nicht so befreundete (syriens assad bspw.) maronettendiktatoren der region dürften sich vor dem heutigen szenario schwer gefürchtet haben - so stark, dass es augenscheinlich bspw. zu
verstimmungen ernsterer art zwischen den saudischen ölprinzen und der us-administration gekommen ist:

(...) "Saudi-Arabien würde einspringen, wenn die USA Ägypten die Finanzhilfe entziehen, weil Kairo die Reformwünsche der USA nicht erfüllt: König Abdullah von Saudi-Arabien soll dies laut der britischen Times US-Präsident Barack Obama bereits Ende Jänner in einem Telefongespräch mitgeteilt haben. Abdullah sei schockiert darüber, wie die USA seinen persönlichen Freund Hosni Mubarak - mit dem er täglich telefonieren soll - demütigen und einen wichtigen Alliierten in der Region einfach fallen lassen." (...)

alle oben genannten parteien haben nachweislich mubarak mehr oder weniger solange rhetorisch oder auch materiell unterstützt, bis sie ihrer opportunistischen ader tribut zollen mussten, als klar war, dass sich der aufstand weder aussitzen noch zusammenschießen lassen würde. die falschen freudengesänge der westlichen politischen "eliten" sind an lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten; israel scheint das unvermeidliche zumindest aktuell hinzunehmen, während - und ich sehe mich genötigt, auch etlichen mainstreamkommentatoren zuzustimmen - bei den marionetten
das große zittern begonnen haben dürfte:

(...) "Ägypten ist das größte und wichtigste arabische Land, Mubarak galt bis vor zwei Wochen als einer der am sichersten im Sattel sitzenden Herrscher der Region - nicht zuletzt, weil er jahrzehntelang vom Westen gestützt wurde. Welcher Machthaber zwischen Atlasgebirge und dem Hedschas kann nun noch ruhig schlafen?" (...)

diese lektion aus ägypten lässt sich nicht mehr aus der welt schaffen - wenn ich mich noch an die vielzahl von sog. experten erinnere, die nach der revolution in tunesien bezgl. ägypten lässig abgewunken und gesagt haben "niemals dort!" mubaraks apparat wäre zu stark, die bevölkerung zu apathisch und überhaupt - dann ist seit heute neben der eindrucksvollen bankrotterklärung jener experten auch eben jenes menetekel an der wand, welches oben skizziert im zitat zu sehen ist. wenn mubarak fallen kann - wer kann dann prinzipiell nicht fallen, trotz aller unterschiede zwischen den diversen ländern? ich glaube, dass das ein im hintergrund ein wichtiger grund für viele interessierte fraktionen gewesen ist, mubarak so lange wie möglich zu "halten". aber in diesem fall haben sie ihre rechnung tatsächlich mal krachend in den wüstensand gesetzt.

2. der aufstand strahlt weltweit aus - ich habe mich in den vergangenen tagen und nächten durch eine vielzahl von internationalen quellen gelesen, und es war auffällig, dass eine klar globale rezeption zu verzeichnen ist - nicht nur in der arabischen welt / in nordafrika, sondern auch im restlichen afrika. glückwünsche aus vielen süd- und mittelamerikanischen ländern, aus asien... und sehr oft werden vergleiche gezogen zur situation im "eigenen" land - und sehr oft endet das mit der feststellung: "ist ja hier genauso wie in ägypten" - korruption, repression, breite verarmung... (interessanterweise scheinen besonders viele us-amerikanerInnen diesen vergleich zu ziehen). und das die botschaft aus kairo, alexandria und suez jetzt lautet: massenproteste, mehr massenproteste, kombiniert auch mit einer entschlossenheit zum militanten agieren, wenn´s nötig sein sollte, können ein als "stabil" begriffenes autoritäres regime schwer ins schwanken bringen - diese botschaft wird weltweit verstanden. und genau diese botschaft liegt den "eliten" von washington über moskau bis peking jetzt schwer im magen, zusätzlich kommt bei den westlichen charaktermasken noch die dämmernde erkenntnis dazu, dass sie sich nicht nur in den selbstproduzierten widersprüchen zwischen den eigenen hohlen phrasen von "demokratie" einerseits und der praktizierten "realpolitik" andererseits komplett verheddert haben, sondern - siehe die reaktion des saudischen dikators weiter oben - sie stehen bei ihren marionetten auch als leute da, die sie im falle des falles ohne weiteres fallen lassen werden. ich könnte mir vorstellen, dass wir demnächst eine stärkere hinwendung einiger dieser marionetten richtung russland und china erleben werden (falls sie solange existieren sollten).

3. die methoden und der verlauf des aufstands enthalten äusserst lehrreiche lektionen, die ebenfalls weltweit aufmerksam studiert werden dürften. die rolle der medien ist dabei durchaus etwas zentrales (und es war überfällig, dass heute in kairo tausende den staatlichen tv-propganda-sender belagert haben). aber ebenso war für mich der umgang mit der armee aufschlußreich, der letztlich zu einem nicht unwesentlichen teil zur jetzigen situation, in der die führenden offiziere sich nicht mehr länger über die loyalität ihrer mannschaften sicher sein konnten, geführt hat. auch die taktiken gegen die provokateure und schlägertrupps des regimes sind aller aufmerksamkeit wert; ebenso die spontan und selbstorganisiert entstandenen selbstschutzgruppen, in denen sich tatsächlich ein embryo einer wahrhaft revolutionären situation sehen lässt.

all diese punkte sind bereits jetzt ge- und erlebte historische erfahrungen der millionen direkt beteiligten, aber auch medial vermittelte erfahrungen von weiteren millionen, die nur von außen wahrnehmen konnten. aber hängen bleibt vor allem eine botschaft, heute abend durch die gigantischen freudenfeiern in ägypten nochmals positiv verstärkt: es ist möglich, wenn menschen zu einem kollektiven handeln kommen.

diese achtzehn tage und das, was noch kommt, werden alleine schon ganze generationen von historikern beschäftigen - von der revolution in tunesien und den weiteren unruhen in anderen ländern der region ganz zu schweigen. die geschichte hat gerade ein tempo angenommen, welches - ich wiederhole mich da zwar, aber sei´s drum - schlicht atemberaubend ist. wenn das jahr so weitergehen sollte... puh.

*

es gäbe noch sehr viel zu sagen, auch zu den sich nun ebenfalls beschleunigenden entwicklungen und reaktionen in anderen staaten der region - aber ein land sollte jetzt neben tunesien und ägypten besonders im focus stehen - nicht nur, weil es dort seit dezember ebenfalls schon kräftig rumort, sondern weil sich für morgen in
algerien ein übles szenario abzeichnet:

(...) "Die Nationale Koordination für den Wandel und die Demokratie (CNCD), ein Bündnis aus unabhängigen Gewerkschaften, Oppositionsparteien, Menschenrechts- und Jugendorganisationen, ruft für den heutigen Samstag - trotz Verbots - zu Großdemonstrationen in der Hauptstadt Algier, der zweitgrößten Stadt Oran sowie mehreren anderen Provinzhauptstädten auf.

Das Ziel der CNCD, die nach den Protesten gegen die hohen Lebensmittelpreise im Jänner ins Leben gerufen wurde, ist die Aufhebung des seit 19 Jahren geltenden Ausnahmezustandes. (...)

20.000 Polizisten werden laut Innenministerium am Wochenende in Algier "mit allen Mitteln" versuchen, den Protestmarsch zu unterbinden. Die Zufahrtsstraßen sollen gesperrt, Züge und Busverbindungen ausgesetzt werden. Alle 50 Meter wird eine Anti-Selbstverbrennungsbrigade stehen: Feuerwehrleute mit Brandschutzdecken und Feuerlöschern. Sie sollen Selbstmordaktionen verhindern. Seit Jahresbeginn gab es laut Presse rund 40 Versuche von Selbstverbrennungen."


bereits am
heutigen abend kam es in algier nach dem sturz von mubarak zu einer spontanen und von der polizei niedergeknüppelten kundgebung:

(...) "Nach Angaben eines Vertreters der Oppositionspartei RCD ("Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie") wurden am Freitagabend zehn Demonstranten verletzt, zwei von ihnen schwer. (...)

Bei den Protesten am Freitagabend seien zehn Oppositionelle vorübergehend festgenommen worden, sagte RCD-Sprecher Mohcine Belabbas der Deutschen Presse-Agentur. Unter den Sicherheitskräften gab es nach ersten Angaben keine Verletzten. RCD-Anhänger hatten sich nach dem Abgang von Präsident Hosni Mubarak in Ägypten spontan zu einem Protestmarsch entschlossen und auf Arabisch gerufen: "Mubarak ist gestürzt. Wir hoffen, dass (Präsident Abdelaziz) Bouteflika der nächste ist!" (...)


es geht weiter.

Montag, 7. Februar 2011

assoziation: von bleiernen zeiten und ihrem dahinschmelzen (1)

die ereignisse in nordafrika, dem nahen osten und der arabischen halbinsel sind in ihren konsequenzen nach wie vor unüberschaubar und bringen als sicherlich geringstes problem für mich selbst die frage mit, wie ich angesichts einer eh schon angesammelten menge an offenen themen und fragen aus den letzten monaten hier im blog damit umgehe. meine vorläufige lösung sieht so aus, dass ich ab sofort unter dem obigen titel eine kleine reihe starte, unregelmässig, mit bewusst fragmentarischen inhalten und folgerichtig ohne den anspruch auf vollständigkeit, die schwerpunktmässig die folgenden bereiche beleuchten soll:
  • diverse aspekte der anfangs angesprochenen veränderungen, egal ob sie nun als aufstände, revolten oder gar revolutionen gesehen werden
  • damit einhergehend der schon früher zumindest begonnene versuch, aus der perspektive des blogs besonders die psychosoziale matrix in diesen regionen besser zu verstehen
  • aber auch die weitere diskussion über "der kommende aufstand" soll vorläufig erst mal hier stattfinden - es liegt einfach sehr nahe, afrikanische bzw. arabische wege des aufstands mit realen entwicklungen in europa in bezug zu setzen und, soweit möglich, zu vergleichen
andere weitere themen liegen auf der hand, die hier aller wahrscheinlichkeit nach auftauchen werden - aber für den moment sollten die drei obigen punkte zur skizzierung deutlich genug sein. und das bündeln innerhalb einer reihe hat auch für mich den vorteil, dass ich ich mich wahrnehmungsmässig dann bei anderen themen, die gerade nicht im focus sind, flexibler fühle, um sie hereinzuholen. soweit dazu. dann springen wir mal hinein in den zug der geschichte...

*

ägypten: lehrreich und beängstigend in vielerlei hinsicht ist die aktuelle situation. diejenigen ansonsten unsichtbar bleibenden linien von einflüssen, machtinteressen und motivationen der "eliten" werden durch den aufstand gut erahn- bis offen sichtbar. klar ist, dass das regime nach anfänglichem schock versucht, zu einem status quo zurückzukehren, der dem alten möglichst ähnlich sieht. das kann allerdings nur unter dem protektorat der usa, der eu und auch israels gelingen, deren doppelzüngige botschaften in diesen tagen absehbar zu einer schweren hypothek in der zukunft führen werden, falls die konterrevolution sich endgültig durchsetzen sollte. letzteres wird aber zumindest bisher durch die entschlossenheit eines großen teils der aufständischen verhindert, denen ebenso wie ihren gegnern auf der anderen seite auch die persönlichen konsequenzen im falle des scheiterns bewusst sind - das regime wird sich rächen, wenn es die gelegenheit dazu bekommt.

ein frischer
artikel in der "taz" beschreibt reaktionen und umgang der aktivsten, jüngsten und "unorganisiertesten" fraktionen auf dem tahrir-platz:

(...) "Die Leute auf dem Platz haben eine klare politische Linie: Erst wenn Mubarak geht, sind sie bereit zu sprechen. Das Regime versucht indes, möglichst viel vom alten System in die neue Zeit hinüberzuretten, während Mubarak offiziell noch im Amt ist. Und Teile der Opposition wollen das Spiel mitspielen, um sich selbst einen Platz für die Zeit nach Mubarak zu sichern.

Doch bisher hat sich der Tahrir-Platz nicht instrumentalisieren lassen. Dabei ist es seine Stärke, dass er bisher keine Sprecher und keine politische Führungen hervorgebracht hat. Niemand konnte bislang von einer organisierten Opposition vereinnahmt oder vom Regime verhaftet werden." (...)


dann, selten genug in diesen tagen, eine explizit
linke stimme aus ägypten:

(...) "Wie stark ist denn gegenwärtig die bis heute verbotene linke Opposition in Ägypten?

Das ist äußerst komplex im Moment. Gerade die linke Opposition ist extrem zerstritten und fragmentiert und für Außenstehende schwer durchschaubar. Zudem spielt sich die Reorganisation der Linken noch immer im Untergrund ab. Wir können jedoch feststellen, dass die legalen Parteien, also die »dekorativen« Parteien, nicht mehr die wichtigsten politischen Kräfte sind. Das sind jetzt die illegalen politischen Gruppen." (...)


weiter aufgefallen ist mir ein sehr spannender
text des ägyptischen autors khaled alkhamissi, der mit den folgenden bemerkenswerten sätzen endet:

(...) "Es ist ein erster Schritt auf dem Weg, auf dem die vier Milliarden Menschen unter vierzig Jahren auf der ganzen Welt eine neues System schaffen werden, das den Platz der abgenutzten Weltordnung einnehmen wird, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde und die heute im Sterben liegt und nur darauf wartet, dass jemand ihr Grab gräbt."

noch jemand, der das geab liest? (kleiner scherz am rande).

dann wäre da daeva mit einem antiparanoiden beitrag zum schreckgespenst-thema
islamisten und der umsturz in ägypten. tipp!

*

zum letzteren hat sich ja
neulich schon die islamistische regimeführung aus dem iran ausgelassen und die revolution in tunesien plus die ägyptische revolte gleich mal als "islamisches erwachen" vereinnahmt. und auch eine verwandte hackfresse ein verwandter "geistlicher führer", nämlich der sog. großmufti von saudi-arabien, hat sich erwartungsgemäß regelrecht euphorisch geäussert... äh, moment mal....

"Der Großmufti von Saudi-Arabien, Abdelaziz al-Sheikh, hat die Volksaufstände in anderen arabischen Ländern als von "Feinden des Islam gesteuerte chaotische Aktionen" verurteilt, deren Ziel es sei, "die muslimische Welt zu spalten". Die "Feinde des Islam und ihre Knechte" stifteten zur Revolte an, um "die muslimische Nation im Herz zu treffen und sie zu spalten", wurde der höchste geistliche Würdenträger des Königreichs am Samstag von der Tageszeitung "Asharq al-Awsat" zitiert." (...)

"der islam" halt. alles eine sauce. wissen wir ja alle. vor allem die hiesigen islamophobiker. fast genauso gut wie die tatsache, dass saudi-arabien eine der widerwärtigsten, religiös-fundamentalistisch geprägten und von einem mafiösen clan beherrrschten diktaturen auf dem planeten darstellt. richtig? folgerichtig ein enger und guter verbündeter des westens, und vor allem ein verlässlicher öllieferant. würden lügen und heuchelei als folge zu dicken pickeln im gesicht führen, so würden so ziemlich sämtliche führungsfiguren des sog. "freien westens" spätestens (!) seit ein paar tagen mit wahren blumenkohlgesichtern herumrennen.

wo ich gerade bei saudi-arabien bin, noch der hinweis auf eine
aktion dieser tage, die in diesem staat ähnlich wie die neulich erwähnten proteste wirklich mut verlangt:

(...) "In der Hauptstadt Riad forderten am Samstag etwa 40 Frauen vor dem Innenministerium die Freilassung von Gefangenen. Die Häftlinge würden ohne Gerichtsverfahren festgehalten, sagten Aktivisten.

Den Frauen standen zahlreiche Polizisten gegenüber, die aber nicht eingriffen. Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen werfen Saudi-Arabien seit langem vor, tausende Reform-Aktivisten unter dem Deckmantel einer Kampagne gegen die Extremisten der Al-Kaida festzuhalten. Riad bestreitet dies." (...)


ich kann mich nur den bezeichnend wenigen postings in zugehörigen forum anschließen: totalen respekt dafür an diese frauen!

*

israel: die bei den letzten beiträgen unten angefangenen diskussionen besonders mit w-day und demon driver finde ich umgekehrt ebenso nicht besonders "erquicklich", zumal ich auch nach bewusstem sackenlassen nichts finden kann, was meine ursprüngliche wertung der entsetzlichen dummheit und extremen kurzsichtigkeit der aktuellen israelischen politik irgendwie negieren würde. diese diskussionen, nicht nur bezgl. israels, werde ich nochmals stück für stück aufgreifen. für den moment aber erstmal nur weiteres material: ein
gastbeitrag eines ehemaligen israelischen verteidigungs- und außenministers macht die bisherigen prämissen der israelischen politik nochmals nachdrücklich deutlich:

(...) „Frieden schließt man mit Diktatoren.“

Diese traurige Wahrheit kommt uns angesichts der Unruhen in Ägypten wieder in den Sinn. Schließlich stellt sich für Israel die Frage, ob unser Friedensvertrag mit Kairo noch gültig ist, wenn Präsident Hosni Mubarak aus dem Amt gejagt wird. Eben dieser Umstand erinnert uns an die hässliche Tatsache, dass Israel mit zwei Staaten Friedensverträge abgeschlossen hat, mit Ägypten und Jordanien – gezeichnet von zwei Diktatoren, Anwar El Sadat und König Hussein.

Darüber hinaus gab es noch weitere Verhandlungen, von denen wir uns den Frieden versprachen, mit Syrien und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Auch hier versuchten wir, uns mit zwielichtigen bis widerwärtigen Diktatoren einig zu werden. Doch jedem, der sich naserümpfend abwandte, wurde erklärt: „Frieden schließt man mit seinen Feinden.“ Hätte sich jemals die Gelegenheit geboten, Israel hätte selbstverständlich auch mit Demokratien verhandelt – allerdings sind die in unser unmittelbaren Nachbarschaft eher selten anzutreffen." (...)


na, aber warum denn bloß?

(...) "Diese beiden Bedingungen, territoriales Zugeständnis und militärische Aufrüstung, konnte ein Diktator im Zweifelsfall schneller und besser erfüllen. Solange er in der offiziellen Propaganda verkünden konnte, dass es in seinem Land keine Gebietsansprüche gebe, gab es auch kein Problem mit Israel. Außerdem durften sich neben dem Militär auch Polizei und Geheimdienste über die bessere Ausstattung freuen, schließlich hatte der Repressionsapparat offiziell die Sicherheit Israels zu garantieren.

Kurzum, Sadats und Mubaraks Ägypten erfüllten die israelischen Bedingungen, genauso wie Jordaniens König Hussein und dessen Nachfolger, König Abdullah. Vollkommen zu Recht wurde angenommen, dass auch Syriens Hafez Assad und Jassir Arafat von der PLO diese Bedingungen zu erfüllen in der Lage gewesen wären, schließlich verfügten sie als Diktatoren über die entsprechenden Machtmittel." (...)


relativ offen wird das wichtigste fazit gezogen:

(...) "Keine der israelischen Regierungen hat jemals darauf bestanden, nur mit demokratischen gewählten arabischen Regierungen zu verhandeln.

Die implizite Unterstellung dabei wird wohl gewesen sein, dass Diktaturen absolut verlässlich sind – etwas, das Demokratien mit ihren wechselnden Mehrheiten nie sein können." (...)


ebenfalls und gar nicht mal so implizit, sondern eher explizit, dürfte ein bis heute in israel virulenter antiarabischer rassismus eine rolle spielen, der seinen gegenpart im antisemitismus der vielen nationalistischen und islamistischen fraktionen in diversen staaten des nahen und mittleren ostens findet. so weit, so schlecht. ich habe schon früher ausführlicher auf die aus meiner sicht offenliegende tatsache hingewiesen, dass nicht nur israel, sondern auch die arabischen opponenten in etwas gefangen sind, was sich im großen und ganzen als
kollektive re-inszenierungen traumatischer strukturen begreifen lässt, und was mit den übrigen einflüssen wie ökonomischen, religiösen und "politischen" interagiert und sie individuell wie kollektiv erst emotional so richtig auflädt. unter diesem aspekt betrachte ich die aktuellen aufstände langfristig als nötigen schritt ion eine richtung, um überhaupt erstmal die voraussetzungen dafür zu schaffen, um diese alte und eingefahrene, ganz spezifische traumatische matrix dort zu durchbrechen.

im übrigen heißt es ja immer, israel wäre die "einzige demokratie" in dieser region. was einerseits bei den vorhandenen vergleichsmaßstäben bisher (!) nicht sooo wahnsinnig schwer gewesen sein dürfte, andererseits aber auch fragen danach aufwirft:
was für eine "demokratie"?:

(...) "Eine Demokratie, einen Rechtsstaat von der Art, wie sie Dershowitz vorschweben, gibt es in angenäherter Form tatsächlich. Wie es der Zufall wollte, erschien genau an dem Tag seines Leitartikels ein ausführlicher Bericht des Korrespondenten Glenn Frankel in der "Washington Post", der sich mit der Folter beschäftigte - nicht in Abu Ghraib, sondern in Israel (Prison tactics: A longtime dilemma for Israel). Ein Palästinenser namens Anan Labadeh schildert dort, daß er als Gefangener der Israelis durchaus ähnliches erlebte wie die gefangenen Iraker von seiten der amerikanischen Sicherheitskräfte: Schläge, Erniedrigungen, Trophäen-Fotos mit männlichem und weiblichem Sicherheitspersonal.

Der Unterschied, den Anan Labadeh festgestellt zu haben glaubt, ist nun genau das Dershowitz-Kriterium: Die Israelis gehen nach Regeln vor, und im übrigen sei ihre Technik durchdachter als die der Amerikaner. "Drei Tage ohne Essen und Schlaf, und du erzählst alles. Die Amerikaner sind Amateure." Glenn Frankel rollt die Geschichte der Folter in Israel auf. Das Wort selbst werde nie verwendet, aber Israel sei dennoch der einzige Rechtsstaat, der die Mißhandlung von Gefangenen bei Verhören erlaube.

Nach einer weitgehend ungeregelten Zeit habe man 1987 ein Regelwerk zum "maßvollen physischen und psychischen Druck" festgelegt, das Geheimsache blieb. Immerhin wisse man, so Frankel, daß es dabei darum ging, Gefangene tagelang zum Stehen zu zwingen oder sie zusammengekrümmt zu fesseln, ihnen den Schlaf zu entziehen, sie mit überlauter Musik zu beschallen, sie am Gang auf die Toilette zu hindern oder sie extrem hohen und niedrigen Temperaturen auszusetzen.

1999 entschied dann der Oberste Gerichtshof Israels, daß Folter unter allen Umständen unerlaubt sei. Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst des Jahres 2000 aber und vor allem nach der Serie verheerender Selbstmordattentate seien die Inlandsgeheimdienste zum physischen Zwang zurückgekehrt. Frankel beruft sich für seine Behauptung auf israelische Menschenrechtsanwälte, auf Bürgerrechtlerinnen wie Hannah Friedmann, auch auf Gefangene." (...)


im großen und ganzen lässt sich das als erweiterte fassung dessen begreifen, was selbst in einem "demokratischen rechsstaat" alá brd als sog.
"weiße folter" nicht nur an den sog. terroristen aus der raf praktiziert wurde, sondern auch als ein sehr unbekannter deutscher exportschlager in viele andere staaten exportiert wurde - die türkei würde mir da einfallen, aber auch bspw. spanien hat sich von derart "unsichtbaren" methoden durchaus inspirieren lassen. wer israel also als "demokratie" bezeichnet, sollte das ebenso wie bei anderen westlichen staaten nur mit hochkommata tun. zu diesem komplex auch noch ein interview mit dem vertreter einer israelischen menschenrechtsgruppe von 2007. dem ich übrigens bei seiner definition von folter ausdrücklich widerspreche: isolationshaft (sensorische deprivation) ist folter, von den übrigen "maßnahmen" mal ganz abgesehen.

was die gemeinsamkeiten und unterschiede zu den neulich geschilderten praktiken in äygptischen polizeiwachen angeht, können Sie sich jetzt selbst ein bild machen.

*

gaza-streifen: passend zum thema dürften viele sog. antideutsche dieser tage nicht nur durch die aufstände an sich verwirrt sein, sondern auch durch solche details wie jenes, das die islamistische "regierende" hamas in gaza bereits palästinensische solidemonstrationen mit dem aufstand in ägypten
niederschlug. im verlinkten bericht ist auch der hinweis auf ein manifest der "free gaza youth" enthalten, welches das lesen wirklich lohnt und den eindruck bestärkt, dass es sich die bisherigen opponenten der konflikte in dieser region womöglich in ihren jeweiligen positionen und stellungen klammheimlich regelrecht gemütlich gemacht haben und stillschweigend alle an der macht befindlichen "eliten" ähnliches interesse am bisherigen status quo hatten und haben. die überflüssigen jungen, nicht nur in gaza, spucken ihnen allen dabei aktuell mächtig in die suppe:

"Fick dich, Hamas. Fick dich, Israel. Fick dich, Fatah. Fick dich, UN. Fick dich, UNWRA. Fick dich, USA! Wir, die Jugend aus Gaza, haben Israel, die Hamas, die Besatzungsherrschaft, die Verletzung der Menschenrechte und die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft so satt! Wir schreien, um diese Wand des Schweigens zu durchbrechen, wir wollen diese Ungerechtigkeit und die Gleichgültigkeit durchbrechen wie die israelischen F-16 die Schallmauer; wir schreien mit der ganzen Kraft unserer Seele, um die riesige Frustration rauszulassen, die uns auffrisst." (...)

unbedingt lesen, weil das, was da steht, in variationen in der ganzen region gültig sein dürfte - zumindest was die elementare und grundsätzliche frustration anbelangt. in gaza kommen ein paar besonders destruktive faktoren noch dazu:

(...) "Wir haben die Operation "Cast Lead" (Vergossenes Blei) nur knapp überlebt, während derer Israel sehr effektiv die Scheiße aus uns rausgebombt hat, tausende von Häusern zerstörte und noch mehr Leben und Träume. Die Hamas sind sie nicht wie beabsichtigt losgeworden, aber sie haben uns auf Ewigkeit Angst eingejagt und das posttraumatische Stresssymptom verpasst, denn wir konnten ja nicht wegrennen.

Wir sind eine Jugend mit schweren Herzen. Wir tragen eine Traurigkeit in uns, die es uns schwer macht, den Sonnenuntergang zu genießen. Wie soll das auch gehen, wenn wir schwarze Wolken am Horizont und düstere Erinnerung sehen, sobald wir die Augen schließen? Wir lächeln, um den Schmerz zu verstecken. Wir lachen, um den Krieg zu vergessen. Wir hoffen, um nicht Selbstmord begehen zu müssen, hier und jetzt.

Wir haben Israel so satt

Während des Krieges hatten wir das untrügliche Gefühl, Israel will uns vom Erdboden tilgen. In den letzten Jahren hat die Hamas alles getan, um unsere Gedanken, unser Handeln und unsere Wünsche zu kontrollieren. Wir sind eine junge Generation, die an Raketen gewöhnt ist.

Wir haben die unlösbare Aufgabe, ein normales und gesundes Leben zu führen, obwohl wir kaum toleriert werden von dieser Organisation, die sich in unserer Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet hat, das alles Lebendige abtötet und die Leute mit ihrem Terrorregime lähmt. Vergessen wir aber auch nicht unser Gefängnis, das von einer sogenannten demokratischen Regierung unterhalten wird.

Wir haben Angst

Die Geschichte wiederholt sich aufs Grausamste, und niemanden scheint das zu kümmern. Wir haben solche Angst. Hier, in Gaza, haben wir Angst, eingesperrt zu werden, verhört, geschlagen, gefoltert, bombardiert, getötet. Wir haben Angst zu leben, weil jeder Schritt wohlüberlegt sein will, überall gibt es Grenzen, wir können uns nicht bewegen, wie wir wollen, manchmal können wir noch nicht mal denken, was wir wollen, weil die Besetzung unsere Gehirne und Herzen so sehr okkupiert, dass es weh tut und wir endlose Tränen vor Wut und Schmerz vergießen wollen!

Wir wollen nicht hassen, wir wollen all diese Gefühle nicht fühlen, wir wollen keine Opfer mehr sein. Genug! Genug Schmerz, genug Tränen, genug Leid, genug der Kontrolle, der Begrenzung, der unrechten Rechtfertigungen, des Terrors, der Folter, der Entschuldigungen, der Bomben, der schlaflosen Nächte, der toten Zivilisten, der schwarzen Erinnerungen, der düsteren Zukunft, der herzerweichenden Gegenwart, der verstörenden Politik, der fanatischen Politiker, der religiösen Scheiße, genug der Verhaftungen!

Wir sagen HALT! Das ist nicht die Zukunft, die wir haben wollen! Wir wollen drei Dinge: Wir wollen frei sein. Wir wollen ein normales Leben leben können. Wir wollen Frieden. Ist das zu viel verlangt? (...)


das ist der geist, aus dem die aktuellen und künftigen revolten und aufstände entspringen und entspringen werden. und zwar völlig berechtigt entspringen werden. eine ganz bittere ironie an der geschichte ist die, dass nicht wenige der jungen leute in all den ländern, die jetzt in unruhe geraten, bei ihren visionen einer besseren zukunft besonders materiell gerade jenes westliche "modell" im auge haben werden, dessen zukunft aufgrund diverser gründe , die hier im blog auch schon oft genug thema waren, bereits vergangenheit ist. was "wir" hier im westen mehrheitlich nicht kapieren (wollen): diese aufstände werfen bereits indirekt auch die frage nach dem eigenen verzicht hier auf (ein wort, welches bekanntlich in dieser gesellschaft durch alle fraktionen und klassen hinweg ein tabu ist, wenn es denn in seiner ganzen radikalität gemeint ist - und ich meine keineswegs jenen obligatorisch einseitigen verzicht, der im zuge von klassenkämpfen von "oben" von denen unten gefordert wird). auch in indien und china werden "die massen" absehbar und mehrheitlich nicht mehr die gelegenheit haben, das in verschiedener (und keinesfalls positiver) hinsicht völlig wahnsinnige level des westlichen materiellen wohstands zu erreichen. und das gilt auch für die hunderte von millionen in der arabischen welt. wer da glaubt, angesichts dieses szenarios können "wir" hier so weitermachen wie bisher, sollte ganz dringend einen realitätscheck veranstalten!

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so, für heute erstmal schluß. in der nächsten folge werde ich mich u.a. mit der situation in tunesien und algerien beschäftigen.

Montag, 17. Januar 2011

assoziation: "2011 - Das Jahr, das keine Gnade kennt"

nein, der obige titel stammt nicht von mir, sondern aus der headline des heute auf deutsch erschienenen neuesten geab - stammleserInnen werden sich aus vergangenen krisennews an dieses bulletin erinnern. die autoren von leap2020 sind damit konsequenter- und, wie ich denke, auch realistischerweise in der doomer-fraktion gelandet. ironischerweise kommt dieser hochwissenschaftlich daherkommende think tank in anderen worten zu einem ähnlichen ergebnis bei der allgemeinen situationsbeurteilung wie das unsichtbare komitee:

"Es gibt keinen Grund mehr zu warten – auf eine Aufheiterung, die Revolution, die atomare Apokalypse oder eine soziale Bewegung. Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht, was kommt, sondern was da ist. Wir verorten uns bereits jetzt in der Bewegung des Zusammenbruchs einer Zivilisation. Dort ist es, wo man Partei ergreifen muss."

und das geab:

"Seit September 2008 ist allen klar, dass diese Krise in der Tat umfassend und global ist. Dennoch haben sich die USA und in ihrem Windschatten ihre westlichen Verbündeten damit zufrieden gegeben, an den Symptomen herumzudoktern und die Risse des Systems zu übertünchen. So blieb verborgen, wie weitgehend die Ursachen der Krise die Grundlagen des gegenwärtigen internationalen Systems zerstört haben. 2011 wird nach unserer Auffassung das Jahr sein, in dem die staatlichen Maßnahmen, die nur die oberflächlichen Folgen der Krise beheben konnten, ihre Wirkung verlieren. Dann wird die Krise wieder ihre volle Kraft entfalten können, und offensichtlich werden, wie weit der Zerfall der Welt – und öffentlichen Ordnung in den letzten Jahren fortschreiten konnte.

Daher gehen wir gehen davon aus, dass 2011 geprägt sein wird von einer Reihe brutaler Schocks, die die unzureichenden Schutzmechanismen gegen die Krise, die seit 2008 eingerichtet wurden, zerschlagen werden. Diese Schocks werden nach und nach die Fundamente wegbrechen, auf denen seit Jahren die Dollarmauer ruht. Nur die Länder, Gebietskörperschaften, Organisationen und Privatpersonen, die in den letzten drei Jahren die Schlussfolgerungen aus der Krise gezogen haben und die Konzeptionen, Ziele, Werte und Gewohnheiten der Welt von Gestern abgelegt haben, werden dieses Jahr unbeschadet überstehen. Die anderen werden in einer Abfolge von finanziellen, währungspolitischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen, mit denen das Jahr 2011 uns konfrontieren wird, beträchtlichen Schaden erleiden." (...)

"Das internationale System ist inzwischen in einem so jämmerlichen Zustand, dass es in jeder Art von Katastrophe größeren Ausmaßes zusammenbrechen kann" (...)


kann und hoffentlich endlich auch wird, wie ich ausdrücklich hinzufüge, wobei ich den blick der leap-leute noch für zu beschränkt halte - wir haben es mitnichten "nur" mit einer wirtschaftskrise zu tun.

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ich habe mich die letzten wochen rar gemacht hier und zwar hauptsächlich deshalb, weil mir einiges schlicht die sprache verschlagen hatte. etliches aus dem vergangenen jahr verlangt nach aktualisierungen und tieferer betrachtung - der öl-gau vom golf ist keineswegs geschichte, sondern hat sozusagen nur ein fortgeschrittenes stadium erreicht, im dezember gab´s die riots von schülerInnen und studentInnen in london und rom, ominöse pakete belebten das gespenst des bombenwerfenden anarchisten, wikileaks brachte wöchentlich neues geahntes und dann letztlich bestätigtes über das treiben verschiedener "eliten" (aber wo zum teufel bleibt das angekündigte bankleak?) . dann kam der jahreswechsel, tote vögel stürzten plötzlich an vielen orten vom himmel und millionen fische trieben kieloben, die verwendung von industriefetten in der menschlichen "nahrung"smittelproduktion wurde publik und in arizona fielen schüsse. dabei hatte ich mich gerade angefangen, näher mit dem massensterben bei unseren tierischen mitgeschöpfen zu beschäftigen, weil da einige durchaus interessante dinge durchschimmern, nicht zuletzt lässt sich dabei etwas über menschliche wahrnehmungsarten lernen.

aber auch der shooter von arizona bzw. das ganze setting seines attentats verdienen einen blick mehr - von der situation der psychiatrischen versorgung in den usa angefangen bis hin zu den thematischen dauerbrennern waffenkontrolle und rechts-religiös-fundamentalischer polit- mainstream sowie der frage, was eigentlich eine diagnose wie "paranoide schizophrenie" wirklich aussagt. ach! die - wie soll ich das nennen? ereignisdichte? komprimierung der ereignisse?, die ich im letzten jahr schon teils kaum noch erträglich fand, setzt sich einfach ungebrochen fort. ich werde als eine konsequenz hier zwangsläufig unaktueller werden (müssen).

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und dann tauchte vergangenen freitag plötzlich und ausnahmsweise nicht in einem werbe- oder marketingkontext ein wort auf, das zu denen gehört, auf die das unsichtbare komitee nicht mehr warten will: revolution! sollten wir den titel erweitern? "das jahr, das für selbsterklärte "eliten" keine gnade kennt?" zu schön wär´s...

ich kann das unmöglich einschätzen, was da in allen details wirklich alles passiert, habe zu dem land auch kein spezielles wissen, möchte Ihnen jedoch ein paar links mitgeben, die für ein bißchen klärung sorgen können (zumindest für mich war das meiste ganz lehrreich):
a tunisian girl bloggt schon länger und wurde (?) bis vergangene woche in tunesien staatlicherseits geblockt. bei spreeblick schreibt ein in frankreich lebender mann aus tunesien von seinen eindrücken aus den vergangenen tagen. der u.a. für die "taz" schreibende journalist karim el-gawhary befindet sich seit heute in tunis und wird regelmässig über die aktuellen entwicklungen bloggen. das labournet bietet einen schwerpunkt, der zwar noch nicht ganz auf dem aktuellen stand der dinge ist, aber dafür schon mal interessante rückblicke auf ereignisse in den vergangenen jahren enthält, die für das verständnis der situation durchaus relevant sind.

ansonsten scheint dieses mal nicht nur die mediale öffentlichkeit im westen kalt erwischt worden zu sein - waren die unruhen in tunesien und auch algerien in den letzten wochen doch in den vergangenen wochen immer nur anlaß für oberflächliche und eine sozusagen streifende berichterstattung, so musste jetzt zwangsweise die eigene marschrichtung nicht unwesentlich geändert werden - und siehe da: tunesien hat sich als klassische marionettendiktatur von westlichen - speziell französisch-europäischen - gnaden entpuppt. wie es ein ziemlich pessimistischer
kommentar, nochmals aus der "taz", formuliert:

(...) "Und der Westen? Das salbungsvolle Geschwätz der europäischen und amerikanischen Politiker über die Etablierung von echter Demokratie, von Meinungs- und Pressefreiheit ist nichts als eine hohle Phrase. Weder in Algerien noch in Palästina hat der Westen demokratische Wahlergebnisse anerkannt, weil der Sieg an die Falschen ging. Und auch im finsteren Polizeistaat Tunesien hat sich die westliche Politik um demokratische Werte nicht gerade verdient gemacht. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Für die westliche Politik heißt das Zauberwort "Stabilität". Wer sie garantiert, findet den Beifall des Westens." (...)

zur widerwärtigen heuchelei des sog. westens gleich noch mehr. medial teils noch ganz informativ ist der
themenschwerpunkt im wiener "standard", ansonsten auch einzelne artikel wie jener über eine wiedergängerin der unsäglichen imelda marcos - oder war´s doch elena ceaucescu? - mit namen leila trabelsi. meist informativ sind auch die artikel auf telepolis, wo heute zb. nochmals sehr deutlich wird, wer da erstens in den letzten nächten wahllos geschossen und geplündert hat und zweitens, was für ein abgrundtief kriminell-asoziales pack bisher dieses land und die große bevölkerungsmehrheit ausgeplündert hat:

(...) "Aus dem letzten Krisentreffen der Führung zitiert der Regierungsberater eine Aussage von Ben Alis Sicherheitschef Ali Seriati (mittlerweile verhaftet), der, so heißt es, vorausgesehen habe, dass die Armee, "Söhne von Bastarden", sich mit der Bevölkerung verbrüdern würden. Weswegen man für den Fall des Falles Gegenmaßnahmen getroffen habe:

"Vielleicht müssen wir das Land verlassen, aber wir werden Tunis in Flammen aufgehen lassen: ich habe 800 Männer, die bereit sind, sich zu opfern. In zwei Wochen werden uns die selben Leute, die demonstrieren, auf Knien darum bitten, die Sache wieder in die Hand zu nehmen."


da steckt so nebenbei auch so das einzige rationale argument für wehrpflichtarmeen drin, was ich mir vorstellen kann.

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der "offizielle" westen, speziell die alte kolonialmacht frankreich, wurde augenscheinlich genauso überrumpelt wie alle anderen - hatte noch vor knapp zwei wochen ein mitglied der regierung dem regime die unterstützung französischer aufstandsbekämpfungstruppen nahegelegt, so wurde vergangenen freitag in letzter minute die landung des diktators (warum der wohl zuerst paris ansteuern ließ...?) verweigert - offenbar hatte irgenjemand sarkozy auf die nicht unwesentliche tatsache hingewiesen, dass nach all der deutlichen französischen parteinahme der vergangenheit ein asyl für ben ali bei den ca. 600.000 exil-tunesiern in frankreich nicht auf große begeisterung stoßen würde - untertrieben ausgedrückt. aber in die theokratische und us-gestützte wüstendiktatur saudi-arabiens passen leute wie der eh besser. gleich und gleich gesellt sich gern.

ganz aktuell muss leider konstatiert werden, dass sich der anfängliche schock in vielen westlichen regierungen und ihren medien zu legen scheint und tendenzen einer einheitliche sprachregelung zu erkennen sind: ruhe und ordnung wieder herstellen und bewahren! die sog. übergangsregierung ist immer noch gefüllt von attrappen des alten regimes, und ganz offensichtlich muss in der systemlogik irgendjemand auf jeden fall führung übernehmen - eine revolution ist für die eh schon unheimlich und schwer verdaulich, ein west-gestützter und geduldeter diktator als "opfer" noch mehr. und dazu sind noch nicht mal islamisten oder wenigstens kommunisten als drahtzieher im hintergrund, um altbewährte reflexe ausrufen zu können. nein, es sind überhaupt keine "führungspersönlichkeiten" zu sehen - nur eine große, offensichtlich im allgemeinen gut ausgebildete, wütende und erbitterte menge vieler (aber nicht nur) junger menschen. sozialer aufruhr. für eine soziale revolution fehlt noch einiges. aber das hier ein menetekel zu sehen sein könnte, und zwar nicht nur für den maghreb und die arabische welt, sondern eines, was auch in ganz anderen weltecken für nachdenkliches interesse sorgen könnte - diese befürchtung ließ sich zwischen den zeilen der bisherigen kargen verschiedenen regierungsverlautbarungen westlicher staaten schon herauslesen bzw. -hören.

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mich hatte die vergangenen tage eine - gefühlt sehr echte - grippe niedergestreckt, die am freitag so richtig losging. aber als ich da am späten abend nochmal die nachrichten betrachtete, fühlte ich trotz der krankheit wieder einmal die gleich hoffnungsvolle erregung, die ich bspw. vor vielen jahren bei der revolution in nicaragua oder dem aufstand der ezln in chiapas gespürt habe - endlich mal nachrichten, die nicht nur eine wiederkehr der täglichen alpträume verkünden, sondern ein wie kleines stückchen auch immer das fenster zu möglichen anderen realitäten aufmachen. pessimismus hin, realismus her - ich betrachte solche stunden, wenn ein tyrann fällt, als magisch im besten sinne und wünsche den menschen in tunesien wirklich alles erdenklich gute auf ihrem weiteren weg.

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zur situation in anderen ländern der region gibt es anderswo schon genügend zu lesen, aber ein interessanter
kommentar aus einem spon-forum zur situation in algerien verdient nähere betrachtung (auszug):

"El Watan berichtet heute über zwei interessante Ereignisse:

1. sei Obamas wichtigster Antiterror-Berater, ein hochrangiger CIA-Beamter, in Algier eingetroffen

2. riegelt die Regierung seit letzter Nacht Städte ab, verbietet Sport- und Kulturveranstaltungen, stört Internet- und Mobilfunknutzung.

Das zeigt, weshalb die G20 Tunesien relativ wenig interessiert: die Aufmerksamkeit gilt Algerien, oder viel mehr seinen Petroreserven. Ausser Öl und Gas gibt's auch jede Menge Bärtige, aktive Terroristen (AQMI) und milliardenschwere Generäle, die ihre Pfründe verteidigen werden. Geht jetzt noch das Volk auf die Strasse, wird's kompliziert..."(...)


wir können nur mal wieder ahnen, was jetzt in vielen ministeriumszimmern und -fluren diverser staaten wirklich los ist - klar mehr jedenfalls, als es die spärlichen äusserungen vieler "staatsführungen" vermuten lassen. das irgendjemand von denen die - auch womöglich unvollendete - revolution in tunesien als positiv wahrnehmen kann, besitzt ungefähr die gleiche unmöglichkeit wie diejenige, von einem soziopathen empathie einzufordern. eher gilt hier etwas, was einmal mehr das unsichtbare komitee schön formuliert hat:

"Es bedeutet, aufs Neue das leicht erschreckte Zittern in der Stimme unserer Regierenden zu hören, das sie nie verlässt. Denn regieren war niemals etwas anderes als mit tausend Listen den Moment, wo die Menge sie aufhängen wird, zu verschieben, und jeder Akt des Regierens ist nichts als die Weise, die Kontrolle über die Bevölkerung nicht zu verlieren."

wie wahr.

*

btw: die letzten kommentare weiter unten, die sich mit dem "kommenden aufstand" beschäftigen, habe ich schon gelesen. und ich habe dazu eine sehr andere meinung, wobei sich das geschehen in tunesien gerade auch in dieser hinsicht anbietet, um das deutlich zu machen. aber dazu in den kommenden tagen mehr.

Montag, 13. Dezember 2010

assoziation: von leaks, lügen, (falschen) verschwörungen und virtuellem widerstand (2)

(zum ersten teil)

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geleaktes: eine weitere folge der depeschen sehe ich darin, dass in vielen fällen auch bereits gewusstes, aber bisher ignoriertes und verdrängtes, wieder zum vorschein kommt - in der art der zusammenballung mit den weiteren materialien könnte das bei großen teilen der öffentlichkeit zu interessanten reaktionen führen - später mehr.

aber wenn man sich alleine das treiben von
"shell" und dem pharmakonzern "pfizer" in einem land wie nigeria betrachtet, sollte das alleine für ausreichend übelkeit sorgen. sicher, der komplex "shell in nigeria" ist lange und alt bekannt, wenn ich auch für mich sagen muss, dass ich das tatsächliche ausmaß der präsenz von shell dort dann doch überraschend finde - es sollte klar sein, dass es sich bei nigeria nicht mehr um einen souveränen staat handelt, sondern um eine staatssimulation unter maßgeblicher kontrolle von shell, wobei letztere mittels der kontrolle von shell in so ziemlich jeden nigerianischen ministerium sichergestellt wird. es ließe sich auch sagen, dass sich shell dann in der folge dort eine kaste von wahren marionetten hält, die nach außen als "regierend" verkauft wird, sich jedoch im großen und ganzen in der rolle von his masters voice wohlfühlt.

bei so einem szenario ist dann nicht weiter überraschend, dass sich eine gleichfalls international tätige kapitalistische vereinigung wie pfizer auf einem derart bereiteten boden wohl fühlt und die eigenen kriminellen aktivitäten dort für sicher hält, incl. der inanspruchnahme der örtlichen korrupten institutionen im falle des falles. wer bei solchen und ähnlichen zuständen gelangweilt abwinkt "das ist ja alles nichts neues", sollte dann doch den eigenen zynismus- und verdrängungsgrad dringend überprüfen. mich macht jedenfalls das meiste, was bisher aus dem us-bestand bekannt ist, noch wütender als eh schon. und nein, ich glaube nicht, dass die probleme der menschen in nigeria mit einem "souveränen staat" wirklich lösbar wären - aber das wäre möglicherweise ein erster schritt hin zu den allernötigsten verbesserungen der dortigen lebensumstände, weil das die entmachtung der kapitalistischen kolonisatoren bedeuten könnte.

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wl/assange: hinsichtlich der vergewaltigungsvorwürfe muss ich sagen, dass ich mich da zu einer persönlichen wertung aufgrund eines absoluten infooverkills schlicht und einfach nicht in der lage sehe. das netz ist voll von teils sich absolut einanander ausschließenden versionen, behauptungen und (angeblichen) tatsachen - das beispiel der einen betroffenen frau, anna a., reicht dafür schon aus - ich habe berichte gesehen, in denen sie a) als funktionärin der schwedischen christdemokraten, b) mitglied der dortigen piratenpartei, c) feministin, d) anti-abtreibungsaktivistin, e) radikale linke und f) aktiv in der arbeit gegen die castro-regierung auf cuba bezeichnet wird. wahlweise auch noch mit cia-kontakten, wie die geheimrätin weiter unten in den kommentaren zu einem älteren beitrag ausgeführt hat. ebenfalls sind die berichte über die angeblichen abläufe des als vergewaltigung bezeichneten geschehens derart grotesk, dass ich mich schlicht weigere, da noch eine eigene wertung zu wagen. als sicher finde ich im moment nur das folgende: natürlich ist assange als westlich sozialisierter mann keineswegs frei von den üblichen patriarchalen und sexistischen verhaltens- und denkmustern. also ist jede bestrebung, ihn von vorneherein als unbedingt unschuldig anzusehen, unsinnig. zweitens ist das verhalten der schwedischen justiz gelinde gesagt seltsam. drittes ist das ganze timing bei dieser geschichte - wer hat wann wie gehandelt - etwas, was nochmals dringend der genaueren recherche bedarf (so habe ich momentan bspw. nicht die ressourcen zu überprüfen, ob es tatsächlich einen zeitlichen zusammenhang zwischen assanges erster ankündigung des bank-leaks nächstes jahr und der herausgabe der fahndungsorder von "interpol" gab). und viertens steckt darin auch eine wahre bombe, nämlich wiederholt die frage nach dem definitionsrecht von betroffenen frauen. fünftens ist das teils extrem frauenverachtende und sexistische gekreische, wie es teils zb. in den telepolis-foren zu lesen ist, wenn es um diesen aspekt der wikileaksgeschichte geht, schlicht widerlich. und das wäre es selbst dann noch, falls sich anna a. bspw. tatsächlich als agentin herausstellen sollte.

insgesamt wäre etwas zur klärung hilfreich, was zumindest ich nicht einfordern kann und werde: eine persönliche und öffentliche stellungnahme der beiden frauen nämlich. es wäre vielleicht eine aufgabe feministischer frauen / organisationen, da nachzuhaken - ansonsten steht nämlich zu befürchten, dass zukünftig ein gewaltiger flurschaden für viele beteiligte entsteht, wenn es um vergewaltigungen bzw. sexualisierte gewalt auf der ebene von "promis" geht. ich finde diesen ganzen komplex in allen teilen schlicht deprimierend.

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verschwörungen: in den kommentaren von sansculotte zu den beiträgen weiter unten existiert ja schon eine variante; ähnlich ablehnend hat sich in mehrere beiträgen drüben das
opablog geäussert. die argumentation dreht sich zunächst zentral darum, dass das alles ja verdächtig nach der vorbereitung eines angriffs auf den iran aussehen würde. ich habe nun weiter unten in mehreren kommentaren ebenfalls schon etwas dazu gesagt; und muss heute dazu anmerken, dass ich diese hypothese inzwischen für noch größeren unsinn halte als in der letzten woche schon. zu meinen argumenten, die ich nicht wirklich widerlegt finde, kommt zwischenzeitlich noch die tatsache hinzu, dass das thema iran im zusammenhang mit dem leak weitgehend wieder aus den schlagzeilen verschwunden ist - und damit ein für die entsprechende vt zentraler punkt schlicht nicht mehr existiert. und das die veröffentlichung der depeschen aus der botschaft in tel aviv noch bevorsteht, hatte ich ebenfalls schon erwähnt.

das opablog hat in einem beitrag drüben auf einen gewissen oliver jannich verwiesen, seines zeichens ein ultrakapitalist (das wort "libertärer" für solche leute finde ich eine überflüssige und falsche auszeichnung), 9/11-skeptiker und sog. "klimaskeptiker" (das wikileaks damals das sog. "climategate" mit internen e-mails von klimaforschern ins rollen gebracht hat, scheint er inzwischen vergessen zu haben...). ebenfalls in der illustren runde der cia-wikileaks-verschwörungstheoretiker findet sich der notorische peak-oil-leugner und kopp-autor william engdahl. hingegen ist bspw. ein ebenfalls in der szene der 9/11-skeptiker bekannter matthias bröckers sehr begeistert von wl. diese hier bereits sichtbare deutliche spaltung quer durch die fraktionen finde ich einen der interessanteren aspekte des leaks. es ließe sich fortsetzen mit dem berühmt-berüchtigten "alles-schall-und-rauch-blog" (pro wl), der sog. infokrieger-szene (contra), dann den einzelnen positionen in der republikanischen partei in den usa, wo sich bspw. eine sarah palin und ein ron paul (ultra"libertärer") ebenfalls schroff gegenüberstehen. hierzulande wittern einige kommunistische splittergrüppchen ebenfalls eine "imperialistische verschwörung" (gegen wen auch immer), und selbst die szene der sog. antideutschen ist gespalten - während sich einige der dortigen protagonisten anfangs freudig auf die iran-depeschen gestürzt haben, vermuten andere schlicht antiamerikanischen geheimnisverrat. die jeweiligen links finden Sie mit ein paar recherchekenntnissen leicht selbst heraus; ich möchte hier nicht auf die genannten direkt linken.

insgesamt also ein gar lustiges bild, welches sich in gewisser weise auch weltpolitisch wiederspiegelt - die reaktionen des türkischen ("verschwörung") und iranischen ("verschwörung") präsidenten passen da genaus hinein wie die
reaktionen von pakistanischen medien und staat, die nicht nur ebenfalls eine verschwörung vermuten, sondern gleich noch ihr eigenes verschwörungsprojekt mittels gefälschter depeschen gegen indien starteten.

statt vieler weiterer worte dazu nur noch diese: klar kann jede "leakende" plattform theoretisch auch für desinformation benutzt werden. in diesem fall jedoch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass das leak für so ziemlich alle involvierten seiten unverdauliche brocken enthält (und ähnliches sage ich auch für israel voraus). und genau dieser fakt spricht für mich als deutlichstes gegen jede vt. es müsste schon eine schar von auserlesenen dummköpfen gewesen sein, die die bisher nur ansatzbar sichtbaren und übrigens in ihren langzeitkonsequenzen für viele staaten und gesellschaften schlicht uneinschätzbaren fern- und nebenwirkungen dieser veröffentlichung bewusst einkalkuliert hätte. sollte das trotz aller unwahrscheinlichkeiten so gewesen sein: herzlichen glückwunsch für einen beitrag zur weiteren destabilisierung des weltweiten kapitalismus! orden gibt´s dafür aber später eher nicht.

ansonsten empfehle ich die lektüre vieler bücher von robert anton wilson, besonders seine interviews in "die illuminati-papiere", wo er u.a. empfiehlt, auch und besonders skeptisch gegenüber der eigenen skepsis zu sein. einfach deshalb, weil übertriebene skepsis in eine alptraumhafte welt voll von paranoia und ohne jegliche feste basis führt. das hat schlußendlich viel mit den funktionsweisen des objektivistischen modus zu tun, aber das thema würde jetzt den rahmen sprengen. suchen Sie im blogindex, wenn Sie dazu mehr erfahren möchten.

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wl/assange: interessant fand ich ja die selbstcharakterisierung des julian a., die sich in einem seiner
zitate über sinn und zweck von wikileaks kenntlich macht:

(...) "Mit den neuen Enthüllungen von Wikileaks wird es Assange zufolge für ehrliche Spitzenmanager einfacher, ihre Unternehmen zu führen. Unehrliche Firmen seien von Veröffentlichungen stärker negativ betroffen. "Und genau darum geht es." Er empfahl Unternehmen, so offen und ehrlich wie möglich zu sein und Mitarbeiter gut zu behandeln. "Wikileaks ist dazu da, mehr Freiheit und Ethik in den Kapitalismus zu bringen." (...)

das ist eigentlich eine handfestes sozialdemokratisches unterfangen, lässt sich aber auch von dem wl unterstützenden teil der sog. "anarcho"kapitalisten alá ron paul als bekenntnis gegen staat und für "freie märkte" interpretieren. wo sind eigentlich die explizit marxistischen stimmen, die allen drei oben genannten verständlich nachweisen, dass das nicht klappen kann? und wo ist eine radikale linke, die die depeschen als das nötige material nutzt, welches bei vielen noch vorhandene zweifel an der grundsätzlich perversen, kriminellen und a-sozialen grundhaltung des systems beseitigen kann?

assange wird, allem zum trotz, nun immer mehr zum tatsächlichen popstar, in der folge leibhaftig beim rappen zu sehen:



ein wie ich finde wirklich großartiges video, noch vor "cablegate" produziert, voller boshafter kleiner und großer anspielungen auf aktuelle und vergangene us-politik und vor allem auf die us-medien. dieses video und die darin untergebrachte popkulturelle symbolik - "the matrix" und "soma" sollten zb. bekannt sein - lassen mich zusammen mit dem im ersten teil skizzierten rund um "anonymous" vermuten, dass hier etwas zu sehen ist, was vielleicht später im rückblick einmal als erster authentischer ausdruck von gesellschaftlichem bewusstsein seitens mit popkultur und virtuellen welten aufgewachsenen generationen bezeichnet wird. die große frage: wie virtuell wird das alles bleiben? letztlich wird sich das schicksal von plattformen wie wikileaks und möglichen nachfolgern sowie auch die wirksamkeit der aktuellen und künftiger proteste, noch mehr die möglichen reaktionen auf die durch die dokumente sichtbar gewordenen zustände, allesamt im "real life" manifestieren müssen - das virtuelle ist dabei nur begleitung, illustration, vorbereitung. die von anonymous inszenierten demonstrationen am wochenende in europa und südamerika weisen da aus meiner perspektive schon den richtigen weg.

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geleaktes: wiederum bestätigtes bzw. neu in die erinnerung gerufenes (und für die beteiligten absolut unwillkommen) - einmal zur rolle und verhalten der us-administration beim
klimagipfel in kopenhagen, zum anderen zum verhalten des vatikans bei der versuchten aufklärung der tausenden übergriffe gegen kinder und jugendliche in katholischen institutionen in irland.

ich hatte in einem der vorherigen beiträge schon irgendwo geschrieben, dass ich als eine mittel- und langfristige folge des leaks die eh schon vorhandene legitimationskrise von politik, wirtschaft/banken und kirchen nochmals verschärft sehe - wir werden die nächsten monate eine nicht mehr abreissende kette von meldungen wie den obigen erleben, wenn nicht noch seitens der usa eine nicht vorstellbare notbremse in form einer massiven intervention im netz gezogen wird. das aber würde vermutlich nur noch öl ins feuer gießen. jedenfalls wird die schon wahrnehmbare gesellschaftliche polarisierung in den westlichen staaten ebenfalls schärfer werden in dem sinne, dass die informationsstände zwischen denjenigen, die das netz nutzen (können) und der offline bleibenden gemeinde extrem auseinander klaffen werden. ebenfalls vermute ich, das bei der genannten ersteren gruppe ebenfalls das spektrum zwischen resignation/verdrängung im angesicht der fratze des systems und einer zunehmenden radikalisierung andererseits sich ebenfalls schärfer ausprägen wird. und das alles findet ja nicht im luftleeren raum statt, sondern in einer scharfen wirtschafts- und allgemeinen systemkrise. ich sehe "wikileaks" - in diesem fall als synonym für alles damit verbundene - keinesfalls getrennt von entwicklungen wie den massiven schüler- und studentenportesten in großbritannien und italien, den teils massiven streiks und protesten in südeuropa, der enormen und breiten verarmung in den usa... die inhalte vieler depeschen können dort und an vielen anderen konfliktpunkten, zur richtigen zeit und im passenden kontext bekannt gemacht, als krasser verstärker in richtung von bewusstseinszuständen wirken, die einerseits die eigene wut und den zorn endlich die eigenen (und überaus verständlichen) ängste überwinden lassen können, und andererseits den blick soweit klären, dass am ende vielen deutlich wird: dieses system unter quasi kontrolle von weltweit tätigen mafiös agierenden staatlichen institutionen und konzernen ist nicht mehr in irgendeiner form "reformfähig", sondern muss restlos abgewickelt werden. doch, das sehe ich als eine mögliche variante an - und letztlich als vollentwickeltes ziel einer aufklärung, für die wikileaks momentan an erster stelle und im kreuzfeuer steht.

assoziation: von leaks, lügen, (falschen) verschwörungen und virtuellem widerstand (1)

so, ohne viele weitere worte soll´s gleich mitten rein gehen in einen zumindest mich gerade sehr faszinierenden themenkomplex rund um wikileaks und die folgen - neben neuen bekanntgewordenen leaks gibt es dazu unsortiert kommentare, gedanken, hinweise... zu einigen aspekten, die sowohl hier in den vorherigen beiträgen als auch anderswo eine rolle spielen.

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geleaktes: das die - bisher bekannten - dokumente nicht die ganz großen "knaller" enthalten, hat bei etlichen leuten zu enttäuschungen und abwinkender skepsis geführt. diese beklagenswerte anspruchshaltung, die womöglich auch das uneingestandene bedürfnis nach sensationen und "hype" symbolisiert, übersieht dabei neben der eigentlich allgemein bekannten tatsache, dass hier kein "top-secret"-material vorliegt (wobei ich "geheim" und "vertraulich" nicht unterschätzen würde), vor allem die möglichen konsequenzen der tatsache, dass die bisherigen depeschen nicht nur viele bisher hauptsächlich auf verdacht beruhende annahmen über prozesse und funktionsweisen innerhalb dieses systems ziemlich stark untermauern und eine weitere leugnung sehr erschwert bis unmöglich gemacht wird. damit zusammenhängend sind die jetzt möglichen tiefen innenblicke in die vorgehensweisen der einzigen übriggebliebenen "weltmacht" plus ihrer sog. verbündeten bestens dazu geeignet, den kapitalistischen normalbetrieb als das permanent kriminelle, wenn auch keineswegs zufällig meistens nicht justiziable, handeln zu illustrieren, was es nun mal unter den bedingungen von defektem individuellen und kollektiven sozialverhalten und zwang zur profitakkumulation ist. vor diesem hintergrund ist die folgende geschichte rund um den
weltgrößten australischen bergbaukonzern "bhp billton" zu lesen - eine geschichte um imperialistisches konkurrenzgerangel und die innenpolitische macht von konzernen dieses kalibers.

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wl/assange: ich habe ja den verdacht, dass es bei der ablehnenden fraktion gegenüber wikileaks auch zu einem ganz großen teil um die person des julian assange geht. das ist teils nachvollziehbar, und zwar nicht nur wegen der vergewaltigungsvorwürfe, die später nochmal gesondert behandelt werden. der mann hat nach meinem eindruck nicht nur einen filmreifen lebenslauf, sondern auch einen ordentlichen schuß narzissmus mitbekommen. ich finde seine rolle bezgl. wikileaks zwiespältig: einerseits sorgt er wie ein popstar für allgemeine aufmerksamkeit und ist in sachen pr für wikileaks schlicht unbezahlbar (um mal auch in seiner wahrscheinlichen logik zu bleiben), andererseits führt diese allgemeine aufmerksamkeit zu einem verlust an spezieller aufmerksamkeit auf das eigentlich zentrale, nämlich die inhalte der geleakten dokumente. und er macht es vielen medien zu leicht, dieses letztere zu forcieren und zu unterstützen. letztlich ist wikileaks ja nur eine art vermittlungsstation, und ich frage mich, wie es aussehen würde, wenn sich wl auf diese nicht unbedingt spektakuläre rolle kommentarlos und weitgehend anonym beschränkt hätte.

wieder andererseits ist durch die enorme öffentlich polarisierung durch die person assange und die staatlichen und medialen reaktionen auf ihn möglicherweise erst einiges von den aktivitäten möglich geworden, die in den letzten tagen unter dem namen "cyberkrieg" für furore gesorgt haben. dazu ebenfalls gleich mehr mehr, aber u.a. auch aus diesem grund ist mein eindruck zwiegespalten.

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geleaktes: was da so weiter unten in einem kommentar als "allerplattestes pipifax-gossip" bezeichnet wurde, enthält dann u.a. folgende dokumente - unter der sog. reference-id
09KABUL1651 ist eine als "vertraulich" eingestufte depesche zu lesen, die sich kurz gesagt um etwas dreht, was in afghanistan als "baccha baazi" bezeichnet wird und insbesondere unter der herrschaft der mit den nato-truppen kooperierenden warlords zu alt-neuer blüte gefunden hat: eine sehr spezifische form der kinderprostitution, genauer gesagt der vergewaltigung von männlichen kindern und jugendlichen. das ist im letzten jahr deshalb in der us-botschaft zum thema geworden, weil diese praxis auch innerhalb eines zentrums zur ausbildung afghanischer polizisten "gepflegt" wurde, und zwar unter den augen, der offensichtlichen billigung und der mitwisserschaft von führungspersonal der us-amerikanischen söldnerfirma "dyncorp" aus texas. überflüssig zu erwähnen, dass die eng mit der us-army zusammenarbeitet, und demzufolge dreht sich die depesche v.a. um die sorge der diplomaten, wie man das alles am besten unter der decke hält, bevor die presse daraus ein großes thema macht.

warum und wozu genau ist "der westen" nochmal in afghanistan? war da nicht auch was mit "demokratie und menschenrechten" ? (übrigens fand das alles in der unmittelbaren nähe von kunduz im norden statt, also dem bereich, in dem auch die bundeswehr agiert.) aber klar, solche verbrechen sind nur "gossip". vor diesem hintergrund mit so einer wertung zu kommen, wirft ebenfalls die beliebte skeptikerfrage auf: cui bono?

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"anonymous":



- oder das "hacker-kollektiv", was keines ist. ich hatte mich vor ein paar monaten schon mal kurz mit dieser - hm, losen vereinigung beschäftigt, und zwar im zusammenhang mit "stuttgart 21". damals tauchten nach dem wasserwerferweinsatz in stuttgart videos auf, in denen anonymous in typischer machart - computerstimme, verweise auf den film
v wie vendetta - die sympathisanten zu protesten "gegen die regierung" in stuttgart und berlin aufrief. daraus ist dann nichts geworden, weil u.a. direkt in den kommentaren zu den videos eine auseinandersetzung unter diversen anonymoussen losging, in denen die eine seite von nötiger einmischung in freiheitsgefährdende regierungsmaßnahmen sprach und sich u.a. auf die bekannten aktionen gegen scientology berief, während die anderen das als eine art "verrat" von "neuen" gegenüber der "eigentlichen" idee von anonymous bezeichneten - was diese "eigentliche idee" ist, darüber gibt es durchaus verschiedene auffassungen, von denen eine mit vorsicht wiedergegeben sinngemäß so lautet: (virtuelle) sabotage um des spaßes wegen, mach böse dinge, um andere zu ärgern und dich zu amüsieren. das schrieb damals jemand bei indymedia, der sich offensichtlich genauer mit der historie von anonymous beschäftigt hatte.

inzwischen ist aber im zuge der wikileaks-geschichte eine erstaunliche entwicklung zu konstatieren, und zwar eine, die im weitesten sinne vielleicht als ungewollte und auch ungeplante art von politisierung vieler mit anonymous sympathisierender zu bezeichnen ist. war die "operation payback" - der vielzitierte erste "cyberwar" - mittels ddos-angriffen (die nichts mit hacken zu tun haben) gegen die bekannten verdächtigen firmen und konzerne noch als "typisches" aktionslevel von anonymous (miß-)zuverstehen (und auch ein beweis dafür, dass tausende zumindest virtuell die grenzen zwischen "legal" und "illegal" inzwischen realistisch betrachten), so besitzt die oben im video vorgestellte "operation leakspin" einen qualitativ anderen und hinsichtlich der unterstellten zumindest teilweisen "spaß"orientierung seitens anonymous´ sehr ungewöhnlichen charakter. ebenfalls sind etliche
veröffentlichungen von anonymous in diesen tagen von einem ungewöhnlichen ernst geprägt. ich kann persönlich nur darüber spekulieren, was das genau ist und wie tragfähig das ist. operation leakspin jedenfalls finde ich von der idee her faszinierend: die depeschen durchforschen nach bisher im mainstream nicht behandelten themen, und dann selbst eine zusammenfassung - text, video, comic, flugblatt etc. - zu produzieren, um diese dann zunächst im gesamten virtuellen raum, in foren, videoplattformen und überall sonst, aber auch im real life, direkt oder auch als "trojanisches pferd" mittels irreführender keywords u.ä. zu präsentieren. infoguerilla im wahrsten sinne des wortes, was arbeitsaufwand, ernsthaftigkeit und kreativität erfordert. wer bei you tube unter "operation leakspin" sucht, kann bereits eine reihe von unter diesen prämissen produzierten videos betrachten.

es wird interessant sein zu sehen, wie es am ende mit der kontinuität der aktivistInnen - im anonymous-sinne könnten das übrigens auch ich und Sie sein - aussieht, wenn in ein paar wochen oder auch monaten wikileaks nicht mehr mindestens jeden zweiten tag die schlagzeilen beherrscht. wobei das mit der bisherigen veröffentlichungspraxis sowie dem für januar angekündigten leak aus einer us-großbank vielleicht absehbar noch kein ende finden wird...

es gibt für "operation leakspin" als hilfreiches tool eine speziell für die depeschen entwickelte suchmaschine namens
LeakySearch, die auch dann gute dienste leisten kann, wenn sie nicht im kontext der aktion verwendet wird. im übrigen sei für an anonymous interessierte noch auf das weltweite forum der aktivistInnen hingewiesen. nicht nur die direkt verlinkte sektion zu wikileaks ist dabei interessant, sondern beim gesamtbild fand ich es bei meinen ersten besuchen schon beeindruckend, dass anonymous tatsächlich auf eine wie auch immer geartete weltweite präsenz und vernetzung zurückgreifen kann. ich persönlich hätte diese jungs und mädels nicht gerne als gegner...

der oben erwähnte film "v wie vendetta" könnte übrigens aus meiner sicht eine nicht unwesentliche motivation für viele "anons" darstellen - mehr zu wikileaks und science fiction-szenarien später.

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journalismus / medien: alleine die existenz von plattformen wie wikileaks (zu der sich demnächst auch das wiki-aussteiger-projekt "openleaks" gesellen soll), sollte eigentlich für jeden journalisten, der sich nocht nicht selbst völlig machtkompatibel zugerichtet hat und zumindest einen hauch berufsehre verspürt, ohrfeige und ansporn zugleich darstellen. und eine der konsequenzen des aktuellen leaks sehe ich eben auch darin, dass die unrühmliche rolle der sog. "vierten gewalt" so wie vieles andere auch nochmals überdeutlich kenntlich wird. und ähnlich wie bei anonymous stellt sich auch hier die frage, ob das langfristige und strukturelle konsequenzen für das handeln vieler medien haben wird. ob sich wirklich etwas entwickelt, was die "monitor"-moderatorin sonia mikich in einem aktuellen
blogeintrag am ende so formuliert:

(...) "Fakt ist: Internet-Aktivisten setzen zunehmend politische Themen auf die Agenda, und diese Entwicklung ist nicht umkehrbar. Das ist ein Weckruf für die klassischen Medien, über ihr Selbstverständnis nachzudenken. Die Verbandelung zwischen Politik und Medien wird unter Beobachtung stehen, zu viel kuscheln und talken wird unangenehm auffallen, wenn gleichzeitig die harten Fragen im Internet stattfinden."

kurzfristig war jedenfalls in den letzten tagen einiges an entsprechenden reaktionen sichtbar, was die themenauswahl in etlichen medien anbelangt: so veröffentlichten "zeit" und "tagesspiegel" in kooperation nicht nur einen durchaus erhellenden artikel über die zusammenhänge zwischen
deutscher bank, riester-rente und streubombenmunition, sondern legten auch noch kurze zeit später mit einem langen artikel zum einfluss von lobbyisten auf die hiesige politik nach - natürlich mit schlußfolgerungen ("stärkung der parlamentarier"), die sich ebenso wie ihre ansonsten eher contra-berichterstattung hinsichtlich wikileaks im systemtragenden rahmen halten. wer sich aber die kommentare zu beiden artikeln durchliest, wird merken, dass es für derartige schlußfolgerungen keineswegs großen beifall gibt.

übern großen teich machte die "new york times" analog mit einem bericht zu einem geheimen treffen von führenden gestalten der großen us-banken auf, bei dem es um
absprachen hinsichtlich des derivate-marktes ging - ich habe auf den entsprechenden hinweis der "huffington post" gelinkt, weil die dortigen tausenden kommentare für englischsprachige leserInnen ebenfalls durchaus interessant sein können und einiges über die stimmung in einem teil der us-bevölkerung deutlich machen.

jedenfalls enthalten die genannten beispiele genau solche themenbereiche, die ansonsten von wikileaks analog in die öffentlichkeit gebracht werden. das finde ich zumindest auffällig. den vogel bei den bisherigen medialen reaktionen schießt allerdings bisher die "westdeutsche allgemeine" ab, die sich offenbar hals über kopf in ein
eigenes upload-portal für whistleblower gestürzt hat und dafür von etlichen leserInnen zurecht viel häme kassiert - zu offensichtlich erscheint der versuch, u.a. an wikileaks verlorengegangenes terrain sowie ebenfalls verlorengegangene glaubwürdigkeit mit so einer aktion zurückgewinnen zu wollen.

*

so, und wie ich es mir schon gedacht habe, passt von der länge her höchstens die häfte von dem hier rein, was ich schreiben will. also kommt ein
zweiter teil.

Samstag, 13. November 2010

assoziation: "der kommende aufstand" - zum inhalt (1)

(hier geht´s zur einführung.)

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ich kann diese knapp
hundert seiten hier natürlich nicht von anfang bis ende kommentieren, sondern werde mir ein paar meiner meinung nach besonders interessante abschnitte heraussuchen. und es dürfte nicht zufällig sein, dass sich das unsichtbare komitee gleich zum beginn des eigentlichen textes im ersten kreis die - westlich geprägten - aktuellen formen der ICH-struktur vorknöpft. auf den seiten 15 bis 18:

»I AM WHAT I AM.« Das ist die letzte Opfergabe des Marketing an die Welt, das letzte Entwicklungsstadium der Werbung, und vor, weit vor all den Mahnungen, anders zu sein, man selbst zu sein, und Pepsi zu trinken. Jahrzehnte von Konzepten, um dort anzukommen, bei der reinen Tautologie. ICH = ICH. Er rennt auf einem Laufband vor dem Spiegel in seinem Fitnesscenter. Sie fährt am Steuer ihres Smart von der Arbeit nach Hause zurück. Werden sie sich treffen?

»ICH BIN WAS ICH BIN.« Mein Körper gehört mir. Ich bin Ich, Du bist Du und es geht schlecht. Die Personalisierung der Masse. Die Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens, der Arbeit, des Unglücks. Diffuse Schizophrenie. Schleichende Depression. Atomisierung in feine paranoide Partikel. Hysterisierung des Kontakts. Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl einer Leere. Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr trockne ich aus. Je mehr ich hinter mir herlaufe, desto erschöpfter bin ich. Ich betreibe, du betreibst, wir betreiben unser Ich wie einen geschäftigen Schalter. Wir sind die Vertreter unserer selbst geworden – dieser seltsame Handel, die Garanten einer Personalisierung, die letzten Endes einer Amputation ähnelt. In mehr oder weniger versteckter Unbeholfenheit schaffen wir es zum Bankrott.

Bis es soweit ist, verwalte ich, kriege ich es hin. Die Suche nach sich selbst, mein Blog, meine Wohnung, der letzte angesagte Scheiß, die
Pärchengeschichten, die Affairen... was es an Prothesen braucht, um ein Ich
zusammenzuhalten! Wäre »die Gesellschaft« nicht zu dieser definitiven
Abstraktion geworden, würde sie die ganzen existentiellen Krücken
bezeichnen, die mir gereicht werden, damit ich mich weiterschleppen
kann, die ganzen Abhängigkeiten, die ich um den Preis meiner Identität
eingegangen bin. Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit.

Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern."


es sind solche sätze wie dieser - "Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr trockne ich aus" -, die ich in der einführung gemeint habe (und die vermutlich bei den zitierten feuilletonisten zu geistigen zuckungen geführt haben). aber wie sieht´s nun mit dem zitierten befund aus? nicht zum erstenmal wird hier von links das attackiert, was unter dem begriff "identität" mehr oder weniger unser aller bürgerliche haut geworden ist:

"Die allgegenwärtige Anordnung, »jemand zu sein«, erhält den pathologischen Zustand, der diese Gesellschaft notwendig macht. Die
Anordnung, stark zu sein, erzeugt die Schwäche, durch die sie sich erhält,
so dass alles einen therapeutischen Aspekt zu bekommen scheint, sogar arbeiten, sogar lieben. All die »Wie geht‘s?«, die jeden Tag ausgetauscht
werden, lassen ans Fiebermessen denken, wodurch die einen den anderen die Patientengesellschaft aufzwingen. Gesellschaftlichkeit besteht heute aus tausend kleinen Nischen, aus tausend kleinen Unterschlüpfen, in denen man sich warm hält. Wo es immer besser ist als draußen in der großen Kälte. Wo alles falsch ist, weil alles nur ein Vorwand ist, um sich aufzuwärmen. Wo nichts entstehen kann, weil man dort taub wird beim gemeinsamen Schlottern. Diese Gesellschaft wird bald nur noch durch die Spannung zwischen allen sozialen Atomen in Richtung einer illusorischen Heilung zusammengehalten. Sie ist ein Werk, das seine Kraft aus einem gigantischen Staudamm von Tränen zieht, der ständig kurz vor dem Überlaufen ist.

»I AM WHAT I AM.« Niemals hatte eine Herrschaft ein unverdächtigeres
Motto gefunden. Das Erhalten des Ich in einem Zustand permanenten
Halb-Verfalls, chronischer Halb-Ohnmacht ist das bestgehütete
Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte,
selbstkritische, virtuelle Ich ist im Wesentlichen dieses unendlich
anpassbare Subjekt, das von einer Produktion gefordert wird, die auf
Innovation beruht, auf dem beschleunigten Veralten der Technologien, dem stetigen Umbruch der sozialen Normen und der verallgemeinerten Flexibilität. Es ist gleichzeitig der gefräßigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, welches sich mit einem Maximum an Energie und Gier auf das kleinste Projekt stürzt, um später wieder in
seinen larvenartigen Originalzustand zurückzukehren.

»DAS, WAS ICH BIN«, ja und? Von Kindheit an durchdrungen von
Flüssen von Milch, Gerüchen, Geschichten, Klängen, Affektionen, Reimen,
Substanzen, Gesten, Ideen, Eindrücken, Blicken, Gesängen und Fressen. Was ich bin? Von allen Seiten gebunden an Orte, Leiden, Ahnen, Freunde, Liebschaften, Ereignisse, Sprachen, Erinnerungen, an Dinge aller Art, die mit aller Offenkundigkeit nicht Ich sind. Alles, was mich an die Welt bindet, alle Verbindungen, die mich ausmachen, alle Kräfte, die mir innewohnen, verstricken sich nicht zu einer Identität, die zur Schau zu stellen wir aufgefordert werden, sondern zu einer Existenz: einzigartig, gemeinschaftlich, lebendig, aus der stellenweise, im Moment, dieses Wesen aufsteigt, das »ich« sagt. Unser Gefühl der Inkonsistenz ist nur eine Auswirkung dieses dummen Glaubens an die Permanenz des Ich, und der wenigen Sorgfalt, die wir dem entgegenbringen, was uns ausmacht.

Es macht schwindelig, das »I AM WHAT I AM« von Reebok an einem
Wolkenkratzer von Schanghai thronen zu sehen. Das Abendland rückt
überall vor wie sein bevorzugtes trojanisches Pferd, diese tödliche Antinomie
zwischen dem Ich und der Welt, dem Individuum und der Gruppe, der Verbundenheit und der Freiheit. Die Freiheit ist nicht die Geste, uns von unseren Verbundenheiten loszulösen, sondern die praktische Fähigkeit, auf sie einzuwirken, sich in ihnen zu bewegen, sie zu erschaffen oder zu durchtrennen. Die Familie existiert nur für denjenigen als Familie, das heißt als Hölle, der darauf verzichtet hat, ihre Mechanismen zu verderben, die uns schwachsinnig machen, oder der nicht weiß wie. Die Freiheit sich loszureißen war schon immer das Gespenst der Freiheit. Wir entledigen uns nicht von dem, was uns fesselt, ohne gleichzeitig das zu verlieren, worauf sich unsere Kräfte ausüben könnten.

»I AM WHAT I AM«, also, keine bloße Lüge, keine bloße Werbekampagne,
sondern ein Feldzug, ein Kriegsschrei, gerichtet gegen alles, was es zwischen den Wesen gibt, gegen alles, was ununterscheidbar zirkuliert, alles, was sie unsichtbar miteinander verbindet, alles, was die perfekte Verwüstung hindert, gegen alles, was bewirkt, dass wir existieren und dass die Welt nicht überall wie eine Autobahn aussieht, wie ein Vergnügungspark oder eine Trabantenstadt: pure Langeweile, ohne Leidenschaft und wohl geordnet, leerer Raum, eiskalt, nur noch durchquert von registrierten Körpern, automobilen Molekülen und idealen Waren. Frankreich ist nicht das Vaterland der Anxiolytika, das Paradies der Antidepressiva und das Mekka der Neurose, ohne gleichzeitig Europameister der Stundenproduktivität zu sein. Die Krankheit, die Müdigkeit, die Depression können als individuelle Symptome dessen wahrgenommen werden, was geheilt werden muss. Sie arbeiten also am Erhalt der existierenden Ordnung, an meiner folgsamen Anpassung an dumme Normen, an der Modernisierung meiner Krücken. Sie umfassen die Selektion der opportunen, konformen und produktiven Neigungen in mir, von jenen, die brav zu betrauern sind. »Man muss sich verändern können, weißt du.« Werden sie aber als Fakten angenommen, können meine Störungen auch zur Zerschlagung der Hypothese des Ich führen.

Sie werden also zu Akten des Widerstandes im laufenden Krieg. Sie werden zur Rebellion und zum Energiezentrum gegen alles, was sich verschwört, uns zu normalisieren, uns zu amputieren. Es ist nicht das Ich, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzuzwingen versucht. Es sollen wohl abgegrenzte, wohl getrennte Ichs aus uns gemacht werden, zuordenbar und zählbar nach Qualitäten, kurz: kontrollierbar; während wir Kreaturen unter Kreaturen sind, Einzigartigkeiten unter unseresgleichen, lebendiges Fleisch, welches das Gewebe der Welt bildet. Entgegen dem, was uns seit der Kindheit immer wieder erzählt wird, besteht Intelligenz nicht darin, sich anpassen zu können – oder wenn das eine Intelligenz ist, dann die der Sklaven.

Unsere Unfähigkeit zur Anpassung und unsere Müdigkeit sind keine
Probleme, außer aus der Sicht dessen, was uns unterwerfen will. Vielmehr
deuten sie auf einen Ausgangspunkt, einen Verbindungspunkt für neue Komplizenschaften. Sie eröffnen den Blick auf eine noch viel verfallenere, aber unendlich viel teilbarere Landschaft als all die Trugbilder, die diese Gesellschaft von sich selbst bereithält. Wir sind nicht deprimiert, wir streiken. Wer sich weigert, sich zu verwalten, für den ist die »Depression« kein Zustand, sondern ein Übergang, ein Auf-Wiedersehen, ein Schritt zur Seite hin zur Aufkündigung einer politischen Zugehörigkeit. Davon ausgehend gibt es keine andere Schlichtung als die medikamentöse und die polizeiliche. Genau deswegen scheut sich diese Gesellschaft nicht, ihren zu lebhaften Kindern Ritalin aufzuzwingen, zu jeder Gelegenheit Laufleinen pharmazeutischer Abhängigkeiten zu flechten, und vorzugeben, schon bei Dreijährigen »Verhaltensstörungen« festzustellen. Weil die Hypothese des Ich überall Risse bekommt."


ich bin bei diesem ersten kreis durchgängig zwiegespalten, wie eigentlich bei allen aussagen von "links", die ich in den letzten jahren zu themen wie subjekt, identität und individualität so wahrgenommen habe. und anlässlich einer entsprechenden kritik von robert kurz hatte ich dazu in der vergangenheit mal die folgenden sätze
grundsätzlich formuliert:

"ich betrachte das "subjekt" im kapitalismus immer als ein als-ob-subjekt, weil es sich von seinen dominierenden psychophysischen funktionsweisen her betrachtet eher um ein schwer beschädigtes subjekt handelt, welches diese beschädigungen - die sich vor allem im gesamten bereich der sozialen beziehungen manifestieren - kompensatorisch versucht, mittels verdinglichung/objektivierung seiner selbst und auch aller anderen, genauer gesagt alles lebendigen anderen, auszugleichen - es geht also um überlebensversuche, die bei einer postulierung des subjekts als "eigentlich überflüssig" an stärke und verzweiflung nur noch zunehmen werden. die sog. subjektform, die kurz als identisch mit der "kapitalistischen daseinsform" begreift, ist aus meiner perspektive eigentlich keine authentische subjektform mehr, besser gesagt, es ist ihre totale negierung: nämlich der soziopath (unabhängig davon, unter welchen namen diese extreme manifestation der kapitalistischen normen in körperlicher gestalt nun historisch bisher aufgetreten ist). hier haben wir den meiner meinung nach einzigen tatsächlichen fall, in dem das subjekt aufgrund psychophysischer prozesse tatsächlich zu einer art objekt im totalitären, d.h. allumfassenden sinne, und damit zur kapitalistischen daseinsform, geworden ist.

es bedarf zu einer tatsächlichen emanzipation bei den meisten menschen also eher des zurückdrängens der objektivistischen, konstruktivistischen und simulativen prozesse, was ich gleichbedeutend mit gesundung begreifen würde - und zwar nicht mit einer gesundung im sinne kapitalistischer verwertungs- und leistungsfähigkeit, wie hoffentlich klar sein sollte. wir brauchen gerade mehr authentische subjektivität und auch individualität, um zur authentischen kollektivität zu kommen!"


das unsichtbare komitee greift aus meiner sicht einiges vom obigen auf, wenn sie bspw. schreiben: "wir sind vertreter unserer selbst geworden" - "... was es an Prothesen braucht, um ein Ich
zusammenzuhalten! Wäre »die Gesellschaft« nicht zu dieser definitiven
Abstraktion geworden, würde sie die ganzen existentiellen Krücken
bezeichnen, die mir gereicht werden, damit ich mich weiterschleppen
kann, die ganzen Abhängigkeiten, die ich um den Preis meiner Identität
eingegangen bin."
wobei sie die wichtigsten und auch destruktivsten dieser krücken vergessen haben, nämlich die identitätsprothesen der konstrukte von "nation" und "gott".

auch der begriff "virtuelles ich", der im laufe des kapitels auftaucht, bringt das von mir oben gemeinte auf den punkt. ich halte eine krititk an den konstruierten bzw. simulierten (pseudo-)identitäten, wie sie sich im gefolge der bereits in der kindheit der allermeisten vollzogenen subjektzerstörenden gewalt einnisten, nicht nur für legitim, sondern für sehr notwendig. all die konsumierbaren und käuflichen identitätssurrogate, wie sie ständig durch den medienapparat und die unterhaltungsindustrie produziert und verworfen werden, sind in ihrem wesen vampiristisch, und das durchaus im buchstäblichen sinne, weil sie die lebenskraft und -energie zu vieler absorbieren. ich sehe allerdings auch hier das gleich problem wie schon damals bei robert kurz: es wird nicht genau bzw. gar nicht unterschieden zwischen authentischer und simulierter identität, und individualität zu oft mit vereinzelung verwechselt. gerade der begriff der individualität muss den klauen der werbe- und marketingabteilungen wieder entrissen werden, weil er - zu recht - positiv besetzt ist, aber das damit eigentlich gemeinte unter den bedingungen des totalitären kapitalismus zwangsläufig nur antagonistisch, d.h. als widerspruch und im widerstand, existieren kann. "der konsument" aka "der bürger" ist kein individualist - auch bzw. gerade dann nicht, wenn er viel kapital investiert (mode, autos, dreck), um sich das einbilden zu können - und lebt auch kein authentisches subjekt aus. er ist im normalfall ein vereinzeltes und vereinsamtes etwas, welches sich mit allerlei simulierten pseudoidentitäten über die runden seiner verplanten und verwalteten existenz schleppt. im schlimmsten fall noch mit einer art von makaberer begeisterung im angesicht der eigenen existenziellen amputation.

und möglicherweise ist das hier...

Von Kindheit an durchdrungen von Flüssen von Milch, Gerüchen, Geschichten, Klängen, Affektionen, Reimen, Substanzen, Gesten, Ideen, Eindrücken, Blicken, Gesängen und Fressen. Was ich bin? Von allen Seiten gebunden an Orte, Leiden, Ahnen, Freunde, Liebschaften, Ereignisse, Sprachen, Erinnerungen, an Dinge aller Art, die mit aller Offenkundigkeit nicht Ich sind. Alles, was mich an die Welt bindet, alle Verbindungen, die mich ausmachen, alle Kräfte, die mir innewohnen, verstricken sich nicht zu einer Identität, die zur Schau zu stellen wir aufgefordert werden, sondern zu einer Existenz: einzigartig, gemeinschaftlich, lebendig, aus der stellenweise, im Moment, dieses Wesen aufsteigt, das »ich« sagt. Unser Gefühl der Inkonsistenz ist nur eine Auswirkung dieses dummen Glaubens an die Permanenz des Ich, und der wenigen Sorgfalt, die wir dem entgegenbringen, was uns ausmacht.

... jenseits der schönen sprache ein beleg für nötige und überfällige definitionen: das, was da als "existenz" beschrieben wird, würde ich als authentische identität bezeichnen, die sich u.a. genau durch das eigene bewußt-sein über die beschiebenen unauslöschlichen beziehungen in der welt auszeichnet. ich finde es einen fehler, den begriff identität einfach dem gegner zu überlassen. ebenso wie individualität berschreibt er eigentlich etwas sehr positives, was innerhalb dieses systems zu einer negativen verzerrten karikatur des ursprünglichen geworden ist. aber begriffe lassen sich, wie oben gesagt, auch zurückerkämpfen.

*

an mehreren stellen des kapitels werden ja diverse psychophysische störungen bzw. krankheiten angesprochen, und zwar in einem sinne, der mich sofort an die ferne gegenwart von linker psychiatriekritik, foucault und thesen des
sozialistischen patientenkollektivs erinnerte. mein auch hier zwiespältiges gefühl zu der, kurz auf den punkt gebrachten, definition von krankheiten bzw. analog begriffenen zuständen als quasi automatisch auch irgendwie widerständige, wenn auch unbewußte, "handlung", hatte ich vor jahren beim beginn des blogs mal so formuliert:

"eine besonders aus den linkeren teilen des politischen spektrums stammende sichtweise, die sich teils auch in der sog. antipsychiatrie manifestiert hat (...), hat sicher in bestimmten bereichen der psychiatriekritik notwendiges geleistet. aber mit der konstruktion eines bildes vom wahnsinnigen menschen als quasi heroischem outdrop, der mit seiner verrückten art ein mörderisches system ins leere laufen lässt, an die stelle berechtigt demontierter mythen letztlich nur neue gesetzt. und das könnte ein gewaltiges eigentor in der hinsicht gewesen sein, dass sich eine progressiv gemeinte linke psychiatriekritik damit unfreiwillig an der vernebelung äußerst bedrohlicher gesellschaftlicher entwicklungen beteiligt."

und wie damals auch schon gesagt: nichts gegen eine absolut nötige psychiatriekritik, aber eine depression kann durchaus viel mehr als ein schritt zur "aufkündigung der politischen zugehörigkeit" eben auch eine persönliche hölle erster klasse bedeuten, gar nicht so selten mit einem tödlichen ausgang. ich halte die entsprechenden interpretationen im aufstand keinesfalls für völlig falsch - natürlich existiert nicht nur ein zusammenhang zwischen individueller krankheit und kollektivem wahnsinn -, aber für unerfreulich verkürzend. ich sehe durchaus dispositionen und verhältnisse, in denen auch unter anderen gesellschaftlichen verhältnissen zumindest eine krankheit wie depression weiter vorkommen dürfte. und bis auf weiteres ist es einfach ein eiertanz zwischen der nötigen kritik der verhältnisse gerade bei psychophyischen störungen, und dem bewußtsein über ihre multidimensionale matrix im hintergrund. vielleicht das in bezug auf die aktuelle situation: in der heutigen lage ist es womöglich tatsächlich notwendig, die bedingtheit gerade von beziehungskrankheiten auf die ge- und beschädigte kollektive sozialität immer wieder herauszustellen, weil diese bedingtheit nun mal auf jeden fall vorhanden ist. nur sollte niemand dem irrtum verfallen, dass es diese störungen - wenn auch wahrscheinlich nicht in ihren heutigen ausprägungen und v.a. ihrer häufigkeit - unter qualitativ anderen sozialen verhältnissen gar nicht mehr geben würde.

*

soviel für den moment zum ersten kreis. die folgenden in den nächsten wochen; je nach zeit, lust und laune.

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